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FRAUEN IM SINN

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Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de

Ian Hamilton

DER SCHOTTISCHE BANKIER
VON SURABAYA

Ein Ava-Lee-Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Krug

K+S DIGITAL

Für meine Tante Margaret Burns und in Gedenken an ihren
Gatten und meinen guten Freund Dr. Archie Burns

Inhalt

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

DANKSAGUNG

PROLOG

MIT RACHEGEFÜHLEN UMZUGEHEN war sie nicht gewohnt.

In geschäftlichen Angelegenheiten gab es Zeiten, in denen die Dinge anders liefen als geplant und sie sich als Verliererin wiederfand. Dennoch betrachtete sie es als rein geschäftliche Angelegenheit, und diejenigen, die ihr Probleme bereiteten, übten einfach nur ihr Recht aus, die Dinge so zu regeln, wie sie es für richtig hielten.

Das hier war anders. Er hatte es in etwas Persönliches verwandelt – in etwas sehr viel Persönlicheres, als sie es sich je hätte vorstellen können.

Sie lag im Dunkeln da, fror trotz der dicken Bettdecke, und dachte an den Tag, der in Kürze anbrechen würde.

Sie würde ihn kriegen. Sie würde ihm wehtun. Der Gedanke brachte keinen Frieden. Er flitzte ungehemmt in ihrem Kopf herum, sprang von Schmerz zu Schmerz.

Sie betete, dass sie ruhig und beherrscht sein würde, wenn der Augenblick kam. Vielleicht war es Rache, die sie suchte, aber sie sollte still vonstattengehen und diskret.

1

ES WAR DER FREITAG vor dem Labour Day Wochenende, dem letzten Wochenende des kanadischen Sommers, und Ava Lee erwachte in dem Bewusstsein, dass die beiden Monate, die sie in relativer Zurückgezogenheit verbracht hatte, dem Ende zugingen.

Einen Augenblick lag sie still da, lauschte auf das Gezwitscher, mit dem die Vögel sie jeden Morgen durch das offene Schlafzimmerfenster begrüßten. Sie hörte die Blätter rascheln und das Wasser des Sees gegen den Steg schwappen und wusste, dass Wind aufgekommen war.

Sie bewegte ihre Beine und verspürte ein Brennen im rechten Oberschenkel. Zweieinhalb Monate zuvor war sie beim Eindringen in ein Haus in Macao angeschossen worden. Zum Glück hatte die Kugel keinen Knochen erwischt und keine Arterie verletzt. Sie war zwei Tage später nach Kanada zurückgeflogen und hatte Krücken benutzt, die bald durch einen Stock und später durch Humpeln ersetzt worden waren. Zu ihrer Überraschung war sie in der Lage gewesen, kurz nach ihrer Ankunft in dem Cottage mit einem bescheidenen Workout zu beginnen. Da sie außerordentlich fit war und die Kugel keinen tiefergehenden Schaden angerichtet hatte, ging es im Wesentlichen um die Behandlung der Schmerzen. Morgens spürte sie in dem Bein für gewöhnlich gar nichts, doch dann meldete sich der Schmerz wieder, willkürlich, brennend und pochend; er schien zu zucken, schien fast lebendig.

Ava war auf Schuldeneintreibung spezialisiert. Es war ein Job, der Gefahr mit sich brachte, und im Laufe der mehr als zehn Jahre, die sie mit Onkel, ihrem Partner in Hongkong, inzwischen zusammenarbeitete, hatte man mit dem Messer auf sie eingestochen, sie getreten und mit Fausthieben traktiert, mit einem Montiereisen geschlagen und mit einem Gürtel ausgepeitscht. Nichts von alledem hatte sie dauerhaft gezeichnet; nichts davon suchte sie so beharrlich heim wie die Muskelerinnerung an diese Kugel.

Sie schlug die Decke zurück und betrachtete ihr Bein. Der Arzt in Macao hatte gute Arbeit geleistet, als er die Kugel aus ihrem Schenkel entfernt und die Wunde versorgt hatte, aber er war kein kosmetischer Chirurg. Maria, ihrer Geliebten, hatte es den Atem verschlagen, als sie die rohe rote Narbe das erste Mal sah, die sich schließlich in einen weniger hässlichen rosafarbenen Wurm verwandelt hatte.

Sie glitt aus dem Bett, zog ihre Adidas-Trainingshose an und verließ das Schlafzimmer. Sie tappte leise durch den Flur, um ihre Mutter nicht zu stören, und trat in die Küche. Heißes Wasser stand in der Thermosflasche, die sie aus ihrer Wohnung in Toronto mitgebracht hatte, auf dem Küchentresen bereit. Sie öffnete ein Tütchen Starbucks VIA Instant Coffee und bereitete sich ihre erste morgendliche Tasse Kaffee zu.

Die Sonne stand schon ein gutes Stück oberhalb des Horizonts, aber Ava konnte noch die letzten Reste des Morgentaus auf dem Holzsteg glitzern sehen. Sie öffnete die Küchentür und verspürte eine leichte Kühle in der Luft. Sie zog ihre Adidas-Trainingsjacke über, steckte das Handy ein, schnappte sich ein Geschirrtuch, klemmte sich den Laptop unter den Arm und ging, den Kaffee balancierend, über das nasse Gras zum Steg hinunter.

Ava begann jeden Morgen mit einem Kaffee und ihren elektronischen Geräten auf dem Steg. Sie wischte den Tau von dem hölzernen Muskoka-Stuhl und ließ sich darin nieder. Ihr Kaffee fand auf der einen breiten Armlehne Platz, ihr Laptop bequem auf der anderen. Sie schaltete den Computer ein und dann das Handy.

Es war kurz nach neun, und die E-Mails aus jenem Teil ihrer Welt, in dem der Tag gerade anbrach, kamen als Erstes. Maria hatte um acht Uhr gemailt. Ich habe eine Platzkarte für den Bus nach Casino Rama, der heute Nachmittag um vier hier abfährt. Ich werde gegen 17:30 beim Rama ankommen. Soll ich ein Taxi zum Cottage nehmen?

Ava wollte gerade antworten, doch dann griff sie zum Telefon. Maria würde inzwischen an ihrem Schreibtisch in der kolumbianischen Handelskommission sitzen. Sie wählte ihre Durchwahlnummer.

»Hallo, mein Liebling«, sagte Maria.

»Ich hole dich am Casino Hotel ab«, sagte Ava.

»Deine Mutter zieht wieder ins Hotel?«

»Ja.«

»Sie mag mich nicht.«

»Das ist nicht wahr.«

»Sie mag mich nicht um sich haben, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, sagt sie nie mehr als zwei Dinge zu mir: dass ich gute Manieren habe und dass mir kräftige Farben gut stehen.«

»Das sind Komplimente.«

»Sie fühlt sich unbehaglich in meiner Gesellschaft.«

»Nein, sie fühlt sich unbehaglich in unserer Gesellschaft. Obwohl wir nie darüber gesprochen haben, weiß ich, dass sie nicht im Cottage bleiben kann, wenn du hier bist, weil sie nicht aufhören könnte, daran zu denken, was in unserem Schlafzimmer vorgeht. Sie ist sehr chinesisch und sehr katholisch, und so sehr sie sich auch um Verständnis bemüht – es hat Grenzen. Ist deine sehr kolumbianische, sehr katholische Mutter anders?«

»Nein«, erwiderte Maria leise.

»Dann sehe ich dich also heute Abend. Die Wettervorhersage für das Wochenende ist phantastisch.«

Ava wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Ihre Schwester Marian hatte ihr eine ihrer typischen neuigkeitsgespickten E-Mails geschickt. Die Mädchen gehen ab Dienstag wieder in die Schule. Neue Uniformen für sie dieses Jahr. Ich habe sie vor über einem Monat gekauft, und währenddessen musste ich daran denken, wie Mummy das immer bis auf den letzten Drücker aufgeschoben hat und wie wir dann immer in langen Schlangen anstehen mussten, was Stunden dauerte, und am Ende hatten wir Glück, wenn wir noch Uniformen in unserer Größe bekamen.

Ava seufzte. Ihre Mutter und ihre Schwester waren Persönlichkeiten, die nicht gut zusammenpassten, eine Tatsache, die noch brisanter wurde, als Marian einen spießigen Beamten heiratete, einen gweilo, der nicht in der Lage war, eine Frau wie Jennie Lee zu verstehen.

Und ich fasse es nicht, dass sie tatsächlich zwei Monate lang bei Dir im Cottage geblieben ist, fuhr Marian fort. Uns hat sie in unserem Cottage in den Gatineaus nur ein einziges Mal besucht und für nicht mal eine Woche. Sie hat gesagt, sie mag keine Kriebelmücken, Eichhörnchen, Waschbären, Pferdebremsen, Stechmücken, unbefestigten Wege und kalten Seen.

Umarme die Mädchen von mir, antwortete Ava. Sie werden bestimmt ein tolles neues Schuljahr haben. Und was Mummy angeht, tja, anfangs kam sie, weil sie wusste, dass ich ihre Hilfe brauchte, und sie blieb, weil ich den Kühlschrank mit chinesischem Essen gefüllt habe, weil ich chinesisches Kabelfernsehen organisiert habe, weil ich ihr gesagt habe, sie könne ihre Freundinnen aus Richmond Hill einladen, um Mah-Jongg zu spielen, und weil ich sie fast jeden Abend zum Casino Rama gefahren habe, um Baccara zu spielen.

Das Cottage befand sich am Lake Couchiching, in der Nähe der Kleinstadt Orillia, ungefähr eine Autostunde von den nördlichen Ausläufern Torontos und nur fünfzehn Minuten von dem Casino entfernt. Ava hatte es im Internet entdeckt; sie war erstaunt, etwas zu finden, das ihr die Abgeschiedenheit bot, die sie sich wünschte, und sich dennoch in der Nähe guter Restaurants befand und der Dienstleistungen, die sie gewohnt war.

Sie arbeitete ihre E-Mail-Liste ab, löschte die meisten Nachrichten, bis sie zu dem Teil ihrer Welt gelangte, an dem der Tag sich dem Ende neigte. Es gab E-Mails von Amanda Yee, der Verlobten ihres Halbbruders, aus Hongkong und von May Ling Wong aus Wuhan. Ava hatte Amanda während der Macao-Sache kennengelernt, und sie waren Freundinnen geworden. Amanda war Jack Yees einziges Kind. Jack besaß ein Handelsunternehmen, das gelegentlich – keineswegs ungewöhnlich für Händler – Probleme mit Lieferanten oder Kunden hatte. Er hatte Onkel und Ava bereits zwei Mal beauftragt, sein Geld wiederzubeschaffen. Sie waren beide Male erfolgreich gewesen und hatten einmal sogar sein Leben gerettet.

Ava hatte nicht gewusst, dass Amanda und Jack miteinander verwandt waren, als sie Amanda als Verlobte ihres Halbbruders kennenlernte. Es war ein Kennenlernen unter schwierigen Umständen gewesen, inmitten einer Entführung und dem finanziellen Fiasko, das das Unternehmen ihres Halbbruders Michael und das Wohlergehen der gesamten Familie bedrohte. Doch Amanda hatte sich als Fels in der Brandung erwiesen und sich Avas Respekt verdient. In ihrer E-Mail schrieb Amanda von ihren Sorgen um Hochzeitstermine und geeignete Lokalitäten, und – Freundschaft und Respekt hin oder her – das waren zwei Themen, für die Ava kein Interesse aufbrachte.

May Lings Mail war bunt und ausführlich. Ava hatte May Ling als Klientin kennengelernt. Sie und ihr Mann Changxing waren das wohlhabendste Paar in der Provinz Hubei und zählten zu den wohlhabendsten in ganz China. Sie hatten Ava und Onkel engagiert, um die Betrüger ausfindig zu machen, die ihnen gefälschte fauvistische Gemälde verkauft hatten, und ihr Geld zurückzuholen. Es war kein einfacher Job gewesen, der noch komplizierter wurde, als die Wongs beschlossen, auch noch Rache üben zu wollen. Lügen wurden erzählt, böse Taten folgten, und gleich zu Beginn der Bekanntschaft von Ava und May Ling kamen Misstrauen und Zorn ins Spiel. Doch die Unstimmigkeiten wurden beigelegt, und May hatte zu Avas Erfolg in Macao beigetragen, ja ihn nachgerade erst ermöglicht. Inzwischen waren die beiden Frauen Freundinnen. Und vielleicht wurde sogar mehr daraus. Mays E-Mails waren mitteilsam, voll von Neuigkeiten aus ihrem Geschäftsleben und anderen Dingen, die sich in ihrem Leben ereigneten. Sie stellte Fragen, bat um Rat, aber im Grunde schrieb sie an Ava, als schriebe sie Tagebuch. Anfangs war Ava irritiert gewesen, wenn May sehr persönlich wurde. Sie fand, sie müsse nichts von Mays Ängsten wissen, müsse keine Details aus ihrer Ehe und ihrem Sexleben erfahren. Doch dann gewöhnte sie sich an Mays Offenheit und stellte fest, dass sie – zögerlich – anfing, May auch von sich zu erzählen. Sie waren nie körperlich intim gewesen und würden es auch nie werden, aber es gab eine gefühlsmäßige Bindung zwischen ihnen. May Ling, eine Taoistin, sagte, es sei das qi – die Lebensenergie –, das zwischen ihnen fließe.

Ungefähr einmal in der Woche rief May an. Sie war klug, tough und witzig und konnte Avas Stimmung im Nu aufhellen. Während eines dieser Telefonate hatte May Ava gefragt, ob sie Interesse hätte, geschäftlich bei ihr einzusteigen. Es sei an der Zeit, dass sie und ihr Mann in Nordamerika investierten, und sie bräuchten jemanden, der dieses Engagement in die Wege leitete.

»Ich würde keine gute Angestellte abgeben«, sagte Ava.

»Dann eine Partnerin«, erwiderte May.

»Ich habe einen Partner, und ich habe ein Unternehmen.«

»Ava, du weißt, dass Onkel das nicht mehr lange machen kann, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das ohne ihn fortführen möchtest.«

Seit zehn Jahren waren Ava und Onkel Partner im Inkassogeschäft. Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide unabhängig voneinander denselben Dieb verfolgten, und sie hatten fast auf Anhieb eine Verbindung gespürt. Er war mittlerweile Ende siebzig oder vielleicht auch schon in den Achtzigern – sie wusste es nicht –, und er war längst mehr als ein Geschäftspartner geworden. Er war ein Mentor, beinahe ein Großvater, und er war der wichtigste Mann in ihrem Leben. Das war die Ursache ihres Dilemmas. Sie war den Stress, den ihr Job mit sich brachte, leid; sie hatte die Art von Menschen, die sie verfolgen musste, satt, und sie fing an, sich zu fragen, wie lange ihr Glück noch andauern mochte, wenn es darum ging, Kugeln und Messern auszuweichen.

Während ihrer Genesung hatte sie darauf gewartet, dass der Drang, wieder an die Arbeit zu gehen, sich bemerkbar machte. Das war nicht geschehen. Schließlich begann sie sich zu fragen, ob er möglicherweise überhaupt nicht zurückkehren würde.

Während ihrer Rekonvaleszenz war Onkel telefonisch mit ihr in Verbindung geblieben. Er schnitt keine geschäftlichen Themen an und fragte auch nicht, wann sie zurückkäme; seine Fragen galten allein ihrer Gesundheit sowie ihrer Familie und ihren Freundinnen. Er sprach über May Ling, mit der er gut bekannt war. Er hatte Ava gedrängt, sich mit ihr zu versöhnen, als ihre Beziehung auf dem Tiefpunkt war, und seine Einschätzung von May Lings Charakter hatte sich als richtig erwiesen.

»Die Frau hat guanxi, Einfluss, und könnte dir in den kommenden Jahren eine sehr mächtige Verbündete sein. Du musst ihr nahe bleiben«, hatte er einmal am Telefon gesagt.

Ava hatte keine Ahnung, ob Onkel von Mays Angebot wusste, und sie hatte nicht vor, ihm davon zu erzählen. »Ich habe einen Geschäftspartner«, erwiderte sie.

»Ja – einen, der nicht ewig da sein wird.«

»Ich habe einen Geschäftspartner«, wiederholte sie.

»Ich behaupte nichts Gegenteiliges«, sagte er.

Ava glaubte, dass sie und May Ling sich im Laufe der Zeit so verbunden fühlen könnten wie sie und Onkel – es war die Art Verbundenheit, bei der das Vertrauen absolut und Vergebung niemals nötig war. Die Chance, richtige Geschäfte zu machen, ein Unternehmen aufzubauen, war ein attraktives Angebot. Ava war Wirtschaftsprüferin mit Abschlüssen von der York University in Toronto und dem Babson College bei Boston, und ihr gefiel die Vorstellung, ihre Qualifikation für etwas anderes zu nutzen als dafür, gestohlenes Geld aufzuspüren und zurückzuholen. Doch wie sie es auch drehte und wendete – es lief immer auf dasselbe hinaus: Sie konnte Onkel nicht verlassen. Er liebte sie, das wusste sie, und ihr war klar, dass sie die Tochter – oder zutreffender: die Enkelin – war, die er nie gehabt hatte. Sie liebte ihn ebenfalls. Weder er noch sie hatte das Wort Liebe je ausgesprochen. Ihre Beziehung beruhte auf Dingen, die nie gesagt worden waren und auch nicht gesagt werden mussten.

Ava trank ihren Kaffee aus und überlegte, ob sie noch einen trinken oder mit ihrem Workout beginnen sollte. Zu Beginn ihrer zweiten Woche im Norden hatte sie ihr Training wiederaufgenommen. Sie hatte mit einem Morgenspaziergang begonnen, war dann dazu übergegangen, im Wechsel zu gehen und zu laufen, dann zu joggen, und inzwischen war sie in der Lage, eine ziemliche Strecke in fast ihrem alten Tempo zurückzulegen. Jeden zweiten Tag beschränkte sie ihren Lauf und ging zum Seeufer hinunter, um in langsamer Abfolge Bak-Mei-Bewegungsformen zu absolvieren, wie sie es gelernt hatte. Nur eine Handvoll Menschen in Kanada übten diese Kampfkunst aus. Sie wurde eins zu eins gelehrt, traditionellerweise vom Vater an den Sohn weitergegeben oder, in ihrem Fall, vom Lehrer an die Schülerin. Bak Mei war nicht schön anzusehen, aber sehr effektiv – es war darauf angelegt, größtmöglichen Schaden anzurichten. Ava war eine Expertin darin geworden.

»Ava, darf ich mich zu dir gesellen?«

Die Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie blickte hoch und sah ihre Mutter mit zwei Tassen neben sich stehen.

»Ich habe dir noch einen Kaffee gemacht«, sagte Jennie Lee.

»Danke. Ich bin überrascht, dass du so früh auf bist.«

»Ich konnte nicht schlafen.«

»Bedrückt dich etwas?«

Jennie reichte ihrer Tochter einen Kaffee und ließ sich dann ungeachtet der Feuchtigkeit in dem zweiten Muskoka-Stuhl nieder. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie, den Blick auf den See gerichtet.

Jennie ging auf die Sechzig zu, aber selbst ohne Make-up und im Licht der Morgensonne sah sie aus wie eine Frau in den Vierzigern.

»Worum geht’s?«, fragte Ava.

»Ich möchte, dass du mich um drei Uhr zum Casino fährst.«

»So früh, Mummy? Maria kommt erst um halb sechs dort an.«

»Ich weiß, aber ich möchte, dass du dort mit jemandem redest.«

»Mit wem?«

»Mit Theresa Ng.«

»Wer ist Theresa Ng?«

Jennie Lee holte eine Schachtel du Maurier extra mild Kingsize Zigaretten aus der Tasche ihres Morgenmantels, zündete sich eine an und blies den Rauch in Richtung See. »Sie arbeitet als Baccara-Dealerin im Rama.«

»Warum sollte ich mit einer Baccara-Dealerin sprechen?«

»Sie hat ein Problem.«

»Ich bin keine Lebensberaterin.«

Jennie nahm zwei weitere tiefe Züge von ihrer Zigarette und warf sie dann auf den Boden. »Sie hat ein Geldproblem.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe sie gefragt, warum sie so bedrückt aussieht.«

Avas Mutter schloss schneller Freundschaften als andere Menschen ihre Kleidung wechselten. Es gab kein Geschäft, das sie betrat, kein Restaurant, das sie besuchte, in dem sie die Bedienung oder die Verkäuferin nicht nach ihrem Namen und ihrem Befinden fragte.

»Was hat das mit mir zu tun?«

Jennie legte den Kopf an die Rückenlehne des Stuhls und wandte ihn dann langsam ihrer Tochter zu. »Nur weil wir nie darüber reden, wie du deinen Lebensunterhalt verdienst, heißt das nicht, dass ich es nicht weiß.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Ich hatte immer schon den Verdacht, dass du all das Geld, das du verdienst, nicht machst, weil du eine gute Wirtschaftsprüferin bist. Ich fand es auch seltsam, dass du mit Onkel zusammenarbeitest, aber ich habe all die Gerüchte über seine Triaden-Verbindungen ignoriert und mir gesagt, dass er ein alter Mann ist, der inzwischen zu anderen Dingen übergegangen ist. Doch alle Zweifel, die ich hatte, waren ausgeräumt, nachdem du in Hongkong und Macao warst und das Leben von Michaels Partner und ihr Unternehmen gerettet hast.«

»Michael war nicht in Macao.«

»Ava, bitte behandele mich nicht wie eine Idiotin oder als könnte ich die Wahrheit nicht verkraften.«

Ava trank in kleinen Schlucken ihren Kaffee und schaute auf das Wasser hinaus, das mit Menschen getüpfelt war, die von Kanus und kleinen Booten aus angelten. Die Jetskis bevölkerten den See gewöhnlich erst nach dem Mittagessen, und sie verschwanden wieder vor dem Abendessen und überließen den See bis zum Einfall der Dämmerung wieder den Angelnden. »Macao war emotional wie physisch sehr hart für mich«, sagte sie. »Ich rede nicht gern darüber.«

»Andere Mitglieder der Familie, einschließlich Michael, haben genug geredet, so dass alle wissen, was passiert ist.«

»Und ich bin sicher, dass es übertrieben ist.«

»Wie – hast du Michaels Partner und das Unternehmen etwa nicht gerettet?«

»Ich hatte Hilfe.«

Jennie machte eine wegwerfende Geste. »Du hast die Hauptrolle gespielt. Das wissen wir alle. Als dein Vater von der Geschichte erfuhr, konnte er seine Gefühle nicht beherrschen. Es war das erste Mal, dass ich ihn habe weinen sehen. Und dann habe auch ich geweint, weil ich wusste, dass du nicht nur Michael gerettet hast, sondern die gesamte Familie. Wenn du nicht das ganze Geld zurückgeholt hättest, dann hätte dein Vater seine Bankkonten geleert, um Michaels Verluste abzudecken. Und wo stünden wir dann? Seine Arbeit all die Jahre wäre verloren, und meine Absicherung und die der anderen Frauen und Kinder wäre gefährdet gewesen.«

»Ich habe getan, was ich tun musste.«

»Du meinst, du hast getan, wozu du dich entschieden hattest, und deshalb bin ich sehr stolz. Als ich dich und Marian großgezogen habe, habe ich genau darum gebetet – dass meine Mädchen zu Frauen heranwachsen, die sich selbst treu sind.«

»An manchen Tagen ist das schwerer als an anderen«, sagte Ava. »An solchen Tagen denke ich oft an dich und wie unbeirrbar du bist.«

»Ava, du brauchst nicht –«

»Ich meine es, wie ich es sage.«

»Nun, es stimmt, dass die Beziehung zu deinem Vater eine Prüfung für mich war. Als ich ihn geheiratet habe, wusste ich, worauf ich mich einlasse: die zweite Frau eines Mannes, der seine erste nicht verlassen würde. Ich dachte, ich könnte damit umgehen, aber wir alle zusammen in Hongkong – das ging nicht. Also bin ich mit euch nach Kanada gezogen. Das war meine Entscheidung, Ava, nicht seine. Und als wir erst einmal hier waren, habe ich meine Ehe auf eine neue Basis gestellt, die mir genehm war und mir den Raum ließ, mich um euer Wohlergehen zu kümmern. Ich hätte alles für euch Mädchen getan.«

Ava beugte sich hinüber und legte ihre Hand kurz auf die ihrer Mutter. »Das wissen wir.«

»Und euer Vater und ich haben es inzwischen für mehr als dreißig Jahre hingekriegt.«

»Ich weiß, dass das nicht einfach war.«

»Nein, das war es nicht und das ist es nicht. Ich weiß, was andere, insbesondere nicht Nicht-Chinesen, über meine Ehe sagen und denken. Sie verstehen unsere Kultur und unsere Tradition nicht, und in ihren Augen bin ich manchmal eine Geliebte und manchmal eine Hure. Ich tue einfach so, als ob ich sie nicht höre und kümmere mich um meine Angelegenheiten und mein Leben in dem Wissen, dass es das Leben ist, für das ich mich entschieden habe – nicht ein Leben, das mir aufgenötigt wurde.«

»In der Hinsicht sind wir uns ähnlich. Keine von uns kann es leiden, gesagt zu bekommen, was sie tun soll.«

»Was dich angeht, betrachtet dein Vater es als Segen, bei mir hingegen als Fluch«, erwiderte Jennie.

Ava schloss die Augen. Sie hatte keine Lust auf eine Diskussion über ihren Vater oder die komplizierten Familienverhältnisse, die er geschaffen hatte – ihre Mutter und ihre Schwester und sie selbst allein in Kanada, ihr Vater und seine erste Frau und vier Söhne in Hongkong und eine dritte Frau mit zwei kleinen Kindern in Australien.

»Diese Theresa Ng – ist das eine Freundin von dir?«, fragte Ava.

Ihre Mutter trank einen Schluck Kaffee und holte eine weitere Zigarette hervor. Ava sah, wie sich ihr Kiefer entspannte. »Mittlerweile schon.«

»Und du sagst, sie hat ein Geldproblem?«

»Ja, und ich habe ihr erzählt, dass du gut darin bist, diese Art von Problem zu lösen, und deshalb hat sie mich gebeten, dich zu fragen, ob du mit ihr sprechen würdest.«

»Onkel und ich nehmen normalerweise keine kanadischen Klienten.«

»Sie ist halb Vietnamesin, halb Chinesin.«

»Aber ihr Problem liegt hier in Kanada?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Nun, hierzulande kann sie andere Optionen verfolgen. Sie könnte sich eine Anwältin nehmen, einen guten Steuerberater oder sogar eine hiesige Inkassofirma beauftragen. Das hier ist ein Land, in dem Gesetze tatsächlich greifen.«

»Sie würde sich da nicht gut aufgehoben fühlen. Und soweit ich das verstanden habe, ist ihr Problem ziemlich kompliziert.«

»Inwiefern?«

»Sie ist sehr ausweichend, was die Details angeht. Wenn ich sie darauf anspreche, schüttelt sie bloß den Kopf und seufzt.«

»Mummy, ehrlich … Ich glaube nicht, dass das ein Job für mich ist.«

Jennie Lee nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, und Ava sah, wie sich ihre Kiefermuskeln wieder spannten. »Die Sache ist die: Ich habe ihr schon gesagt, dass du mit ihr sprechen würdest.«

»Ich wünschte, das hättest du nicht getan.«

»Nun, das habe ich aber, und jetzt ist es nicht mehr rückgängig zu machen.«

»Warum?«

»Sie hat heute eigentlich gar keinen Dienst. Sie kommt den ganzen Weg von Mississauga hierher, nur um sich mit dir zu treffen.«

Ava seufzte. »Ich wünschte, du würdest so etwas nicht tun.«

»Es tut mir leid. Aber du brauchst sie doch nur anzuhören und ihr den richtigen Weg aufzuzeigen.«

Ava legte die Hände aufs Gesicht und rieb sich frustriert die Augen. »Versprich nie wieder irgendwelchen Leuten, dass ich sie treffen würde. Onkel und ich haben unsere eigene Vorgehensweise, und ich übernehme keine freien Aufträge.«

»Heißt das, dass du mich heute früher zum Casino fährst?«

»Ja, ich fahre dich früher zum Casino.«

»Danke. Und wirst du dir die Zeit nehmen, mit Theresa zu sprechen?«

»Ja, ich werde mit der Frau sprechen, aber das ist auch alles. Du hast weiter keine Versprechungen gemacht, hoffe ich.«

»Nein.«

»Gut. Also: Wie groß ist das Problem, das diese Baccara-Dealerin hat?«

»Zwischen drei und dreißig Millionen Dollar.«

»Was?!«

»Wie gesagt, sie hält sich bedeckt, was die Details angeht.«

2

DER PARKPLATZ DES CASINOS füllte sich bereits, und spätestens um sechs Uhr würde er über das lange Wochenende übervoll sein.

»Fahr weiter um die Ecke. Ich habe Theresa gesagt, wir würden sie da treffen, wo die Busse alle ankommen.«

Dort war keine Parklücke zu sehen, und die Autos kreisten umher wie die Geier. Ava fädelte sich in den Reigen ein; sie begann sich über die Vagheit ihrer Mutter zu ärgern. »Noch fünf Minuten – dann setze ich dich ab und verschwinde«, sagte sie.

Jennie Lee hielt ihre Aufmerksamkeit auf den Casino-Eingang gerichtet und ignorierte die Bemerkung ihrer Tochter.

»Hast du mich gehört?«

»Da ist sie«, sagte sie dann. »Die kleine Frau in Jeans und der roten Bluse.«

Ava fuhr so nah wie möglich an den Eingang des Casinos heran und hielt. Jennie öffnete die Tür und lief zu Theresa hinüber. Sie sprachen kurz miteinander; Jennie schien ins Casino hineingehen zu wollen, aber Theresa schüttelte den Kopf. Dann kamen die beiden Frauen auf den Wagen zu. Jennie stieg vorn ein, Theresa hinten.

»Theresa sagt, sie kann nicht im Casino mit uns sprechen. Angestellten ist es nicht erlaubt, mit Gästen Umgang zu haben«, erklärte Jennie. »Auf dem Highway 14 gibt es kurz vor der Rama Road einen Tim Hortons Coffee-Shop. Warum fahren wir nicht dort hin?«

Ava versuchte an sich zu halten. Wenn Theresa doch wusste, dass sie im Casino nicht miteinander sprechen konnten, warum bat sie dann darum, sich hier mit ihr zu treffen? Warum nicht direkt bei Tim Hortons? Abgesehen davon wusste ihre Mutter, dass Ava Tim Hortons nicht leiden konnte; mit ihrem Vorschlag zahlte sie Ava heim, dass sie bei der Parkplatzsuche so grantig gewesen war.

»Es tut mir so leid, Ihnen diese Umstände zu bereiten«, sagte Theresa Ng.

Ava schaute im Rückspiegel in Theresas rundes Gesicht: blasse Lippen, kein Make-up; das Haar zu einem strengen Zopf zurückgebunden, so dass ihre nervös und verschüchtert blickenden Augen noch betont wurden. Die Frau lächelte, zeigte wunderschöne weiße Zähne, und ihre rechte Hand zupfte den Saum ihrer roten Seidenbluse zurecht.

»Kein Problem«, sagte Ava.

Tim Hortons war so typisch kanadisch wie Curling und das Tragen von Shorts, kaum dass die Frühlingstemperatur zehn Grad Celsius erreichte. Das Land liebte diese Kette, das wurde einmal mehr deutlich, als Ava sich mit ihrem Audi A6 auf dem Highway 12 dem Lokal näherte. Vor dem Drive-Through-Schalter hatte sich eine Schlange gebildet, die fast bis zur Hauptstraße reichte, und das war keineswegs ungewöhnlich – so sah es vermutlich in diesem Moment bei jedem Tim Hortons in ganz Kanada aus.

Ava fand eine Lücke auf dem vollen Parkplatz. Sie stieg aus und ging schnellen Schrittes zu dem Coffee-Shop hinüber; ihre Mutter und Theresa folgten ihr, ins Gespräch vertieft. Ava hörte, wie Theresa sich bei Jennie dafür entschuldigte, ihr so viel Mühe bereitet zu haben. Die Entschuldigung ist an die Falsche gerichtet, dachte Ava, aber sie schien aufrichtig gemeint, und die Frau machte einen sympathischen Eindruck.

Theresa bestand darauf, für Avas Flasche Wasser und Jennies Tee zu bezahlen. Sie fanden einen Tisch hinten im Lokal und wischten die Donut-Krümel und Kaffeeflecken mit einer Serviette fort.

»Theresa ist halb Vietnamesin, halb Chinesin«, erklärte Jennie noch einmal. »Ihre Mutter stammt ursprünglich aus Shanghai. Sie sind in den siebziger Jahren hierhergekommen, als die Kommunisten auch den Süden übernahmen. Sie und ihre Mutter und ihre drei Schwestern.«

»Meine beiden Brüder sind später nachgekommen«, fügte Theresa hinzu.

»Sie sind alle katholisch – so wie wir«, ergänzte Jennie.

Katholisch und teils aus Shanghai stammend. Kein Wunder, dass meine Mutter helfen will, dachte Ava.

»Wir wohnen alle in Mississauga, in derselben Straße«, fuhr Theresa fort. »Anfangs haben wir alle zusammen in einem Haus gelebt – meine Schwestern, meine Mutter und ich. Wir sind alle arbeiten gegangen, haben das Haus abbezahlt und dann ein weiteres gekauft, in das meine älteste Schwester nach ihrer Heirat mit ihrem Mann gezogen ist. Als wir auch das abbezahlt hatten, haben wir ein weiteres Haus gekauft und so weiter. Heute besitzen wir sechs Häuser in der Straße. Alle wohnen nah beieinander – es ist perfekt.«

»Sie haben es weit gebracht.«

Theresa senkte den Kopf, und um ihre Mundwinkel erschienen Sorgenfalten. »Wir hatten es zu noch weit mehr gebracht.«

Ava wartete darauf, dass sie fortfuhr. Als das nicht geschah, tätschelte Jennie Theresas Hand. »Sie müssen sich nicht schämen.«

»Erzählen Sie mir, was passiert ist, und lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Ava.

Theresa blickte auf. Zorn blitzte durch die aufsteigenden Tränen. »Meine Familie hat Geld in einen Fonds investiert, der von einem Mann verwaltet wurde, der der Freund eines Freundes meines ältesten Bruders ist. Angeblich war es eine sichere Geldanlage, mit einer Rendite von ungefähr zehn Prozent im Jahr.«

Der Name Ponzi schoss Ava durch den Kopf. Der Mann hatte mit seiner Betrugsmasche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Anleger in den USA um ein beträchtliches Vermögen gebracht.

»In den ersten zwei Jahren trafen die Schecks mit der Ausschüttung jeden Monat pünktlich wie ein Uhrwerk bei uns ein, also haben wir mehr und mehr Geld investiert«, fuhr Theresa fort. »Dann begannen die Probleme, und es ging alles sehr schnell. Eines Tages kam der Scheck zu spät – vielleicht zwei Wochen später –, und die Leute wurden schon nervös. Aber dann kam die Zahlung, zusammen mit einem Schreiben, in dem es hieß, bei der Bank habe es ein kleines technisches Problem gegeben. Doch im darauffolgenden Monat ließ die Zahlung wieder auf sich warten. Mein Bruder ist zum Büro des Anlageberaters gegangen und stand vor verschlossenen Türen. Das war’s dann. Ende. Aus.«

»Wie hieß der Finanzdienstleister?«

»Emerald Lion.«

Ava ging ihr Gedächtnis durch, wurde aber nicht fündig. »Ich erinnere mich nicht, von denen je gelesen oder gehört zu haben.«

»Sie wurden in Sing Tao und den anderen chinesischen Zeitungen erwähnt«, sagte Jennie.

»Und in den vietnamesischen«, fügte Theresa hinzu.

»Wann?«

»Vor etwa sechs Monaten.«

»Und was hatten die Zeitungen zu sagen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie wurde darüber berichtet? Wurde davor gewarnt?«

»Zwischen den Zeilen. Aber sie waren sehr vorsichtig, weil niemand von ihnen mit Lam Van Dinh gesprochen hatte.«

»Er hat den Fonds verwaltet?«

»Ja.«

»Und was haben die zuständigen Behörden gesagt?«

Theresas Gesicht wurde ausdruckslos.

Ava fragte weiter: »Der Fonds war registriert, oder? Die Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde hat ihn doch sicherlich geprüft?«

»Ich weiß von keiner Aufsichtsbehörde, und ich habe keine Ahnung, ob der Fonds registriert war.«

»Theresa, eine Abteilung der Ontario Securities Commission befasst sich mit Investmentfonds. Um legal in der Provinz operieren zu dürfen, musste Emerald Lion bei ihnen registriert sein.«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Nun, dann gibt es auch noch die Polizei. Sie sind doch sicher zur Polizei gegangen?«

»Einer der anderen, die ihr Geld verloren haben, ist zur Polizei gegangen, hat dann aber beschlossen, die Sache nicht weiterzuverfolgen.«

»Und warum nicht?«

Theresas verkniffene Miene verriet ihr Unbehagen. Sie warf Jennie einen flüchtigen Blick zu, Fragezeichen in den Augen.

»Sie hatten Angst«, erklärte Jennie Lee.

»Wovor?«

Jennie wandte sich an Theresa. »Sie können Ava vertrauen, das habe ich Ihnen doch gesagt. Sie hat schon Menschen mit größeren Problemen als Ihrem geholfen, und sie weiß, wie man den Mund hält. Nicht wahr, Ava?«

»Mummy, ich bin nicht sicher –«

»Theresa, erzählen Sie ihr, was passiert ist«, sagte Jennie beharrlich.

»Bargeld.«

Ava blinzelte. »Jetzt bin ich mehr als verwirrt.«

»Sie alle haben diesem Lam Bargeld gegeben«, sagte Jennie.

»Das war die Idee meines Bruders«, ergänzte Theresa. »Er sprach mit einem Freund, der einige vietnamesische Lebensmittelgeschäfte mit veralteten Registrierkassen besitzt, aus denen er Geld genommen hat. Das Problem war, dass er mehr Bargeld hatte, als er ausgeben konnte, ohne Verdacht zu erregen. Ich meine, versuchen Sie mal ein Auto bar zu bezahlen oder ein Haus. Und dann hatte er Angst vor der kanadischen Steuerbehörde und der Polizei. Man kann solches Geld heute nicht mehr einfach bei einer Bank einzahlen, ohne dass sie tausend Fragen stellen. Also ist er mit Lam ins Geschäft gekommen.«

»Und was hat Lam mit dem Geld gemacht?«

»Es hieß, er habe ein Arrangement mit der Bank Linno in Indonesien getroffen. Sie hätten eine Niederlassung in Toronto. Er würde das Geld dort auf das Fondskonto einzahlen. Er sagte, er hätte Hunderte von kleinen Investoren in diesem Fonds und dass er jede Woche Geld von ihnen bekäme und deshalb regelmäßig investieren könne, ohne die ganzen Umstände, die ihm die kanadischen Banken bereiten würden.«

»Wie viele Investoren gab es?«

Theresa zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht genau, aber nicht mehrere Hundert, denn beim ersten Mal musste man mindestens Hunderttausend in bar einzahlen.«

»Alle haben bar eingezahlt?«

»Natürlich. Das war der Sinn und Zweck.«

»Sie meinen, Geldwäsche war der Sinn und Zweck?«

»Wir wollten doch bloß unser Geld ausgeben, ohne dass uns die Behörden auf die Schliche kamen.«

»Sie haben also Bargeld eingezahlt und Schecks von einer angeblich seriösen Investmentgesellschaft erhalten, richtig?«

»Ja.«

»Und diese Schecks wurden bei der Bank in Indonesien gutgeschrieben?«

»Ja.«

»Also gab es keine Nachfragen von Seiten der Bank, und Sie konnten Geld abheben, wie Sie wollten, ohne sich Sorgen machen zumüssen.«

»Ja.«

»Haben Sie diese Einkünfte der kanadischen Steuerbehörde gemeldet?«

»Nein. Lam hat gesagt, das bräuchten wir nicht.« Theresa spielte nervös mit ihrer Serviette.

»Das ist Unsinn. Die Investmentgesellschaft hätte für alle Auszahlungen T5-Bescheinigungen für Einkünfte aus Kapitalvermögen ausstellen müssen.«

»Sie haben uns nichts dergleichen ausgestellt. Sie haben uns nur einen monatlichen Kontoauszug geschickt, aus dem hervorging, wie viel Geld wir in dem Fonds hatten.«

»Haben sie Ihnen gesagt, wie das Geld investiert wurde?«

»Nein.«

»Diese Menschen setzen nicht viel Vertrauen in Behörden oder Banken«, sagte Jennie zu Ava, als säße Theresa nicht direkt neben ihr.

»Sieht ganz so aus, aber ihr Vertrauen in einen Fonds zu setzen, der vermutlich weder reguliert noch registriert war und dessen Hauptvorzug darin lag, dass er von einem vietnamesischen Landsmann verwaltet wurde, scheint sich nicht bewährt zu haben«, erwiderte Ava. Sie sah, wie Theresa errötete. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht so hart sein.«

»Schon gut, Sie haben ja vollkommen recht.«

»Theresa, wie lange waren Sie an dem Fonds beteiligt?«

»Über zwei Jahre.«

»Wie viel haben Sie in der Zeit ausbezahlt bekommen?«

»Über zweihunderttausend Dollar.«

»Mein Gott. Wie viel Geld hatten Sie denn investiert?«

»Fast drei Millionen Dollar.«

Ava glaubte sie falsch verstanden zu haben und fragte nach: »Sie meinen, die gesamte Fondseinlage belief sich auf drei Millionen?«

»Nein, sie belief sich auf über dreißig Millionen, soweit wir wissen. Meine Familie hatte drei Millionen investiert.«

»Wie sind Sie –«, begann Ava.

Jennie fiel ihr ins Wort. »Theresa, ich hätte gern noch einen Tee. Sind Sie so nett, mir noch einen zu holen? Und Ava, was ist mit dir? Noch ein Wasser?«

Theresa schien nur allzu froh, sich davonmachen zu können. Als sie außer Hörweite war, sagte Jennie zu Ava: »Ich weiß, was du fragen wolltest, und ich finde nicht, dass du diese Frage stellen solltest. Spielt es wirklich eine Rolle, wie sie an so viel Bargeld gekommen sind? Sie alle arbeiten hart und sie sparen eisern. Belass es dabei. Es ist unangenehm genug für sie.«

»Mummy, indem sie die Einkünfte nicht angegeben haben, haben sie bereits gegen das Gesetz verstoßen. Das Geld dann zu waschen verschlimmert den Tatbestand.«

»Seit wann bist du so kanadisch-korrekt?«, fragte Jennie. »Dürfen nur die Großen und Reichen tun, was immer sie wollen, um Steuerzahlungen zu vermeiden?«

»Das ist nicht der Punkt.«

»Nein, der Punkt ist, dass Theresa und ihre Familie jahrelang geschuftet und alles wieder in ihre Familie gesteckt haben, und nun ist das Geld weg und sie möchten, dass du ihnen hilfst, es wiederzubeschaffen. Damit verdienst du doch deinen Lebensunterhalt, stimmt’s?«

»Das weißt du.«

»Und wenn du das in Asien machst, seid ihr, du und Onkel, dann auch so kleinlich, wenn es darum geht, wie eure steinreichen Klienten an ihr Geld gekommen sind und wie sie es wieder in ihren Besitz bringen?«

Ava lehnte sich zurück und starrte ihre Mutter an. »Du weißt nichts über die meisten meiner Klienten und über die gebührende Sorgfalt, mit der wir vorgehen«, erwiderte sie.

»Ich kenne Tommy Ordonez, weil du mich um Hilfe gebeten hattest, erinnerst du dich? Du musstest seine Schwägerin in Vancouver ausfindig machen. Als du mich angerufen hast, habe ich dich da gefragt, wie Ordonez zum reichsten Mann der Philippinen geworden ist? Habe ich dich nach der gebührenden Sorgfalt gefragt? Ich kann mich nur erinnern, dass meine Tochter meine Hilfe gebraucht hat.«

Ava und Onkel hatten mehr als fünfzig Millionen Dollar für Ordonez zurückgeholt – Geld aus seinen Unternehmen, das sein Bruder bei einem Online-Poker-Betrug verloren hatte. In Avas Kopf tauchte ein Argument nach dem anderen auf, was den Unterschied zwischen jenem Fall und Theresa Ngs Problem anging, und verschwand ebenso schnell wieder. Aus Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter ging sie selten als Siegerin hervor, und schon gar nicht, wenn Jennie beschlossen hatte, dass sie keinen Millimeter nachgeben würde, egal was Ava an logischen Argumenten aufbieten mochte.

Theresa kehrte mit zwei Tassen und einer Flasche Wasser auf einem Tablett zurück. Sie wich Avas Blick aus, und Ava verspürte einen Anflug von Mitleid mit ihr.

»Also, Theresa, dieser Lam hat aufgehört, Ihnen Dividenden zu zahlen, und ist seit sechs Monaten verschwunden«, sagte sie, als Theresa ihnen die Getränke hingestellt und sich wieder hingesetzt hatte.

»Ja, so in etwa.«

»Und weder Sie noch irgendjemand von den anderen, die Geld verloren haben, hat sich an die Behörden gewandt – bis auf die eine Person, die zur Polizei gegangen ist, dann aber einen Rückzieher gemacht hat.«

»Ja, so ist es.«

»Sie haben also absolut nichts unternommen, um zu versuchen, Ihr Geld zurückzubekommen?«

»Wir haben versucht, Lam ausfindig zu machen.«

»Wie?«

»Wir haben einen Privatdetektiv engagiert. Einen Kanadier. Ich glaube nicht, dass er uns wirklich ernstgenommen hat.«

»Und was hat er herausgefunden?«

»Nichts.«

»Und wieso glauben Sie, ich könnte mehr Erfolg haben?«

»Wir glauben zu wissen, wo Lam jetzt ist.«

»Sie glauben es?«, fragte Ava.

»Vor vier Tagen hat mich meine Schwester angerufen, die zusammen mit meiner Mutter Verwandte in Saigon besucht – Ho-Chi-Minh-Stadt, wie es heute heißt, aber für uns ist es immer noch Saigon. Sie hatten unsere Cousins und Cousinen zum Essen ins Hyatt im Zentrum eingeladen, und als sie gingen, fuhr ein großer BMW vor dem Hotel vor. Meine Schwester schwört, dass sie Lam aus dem Wagen steigen und ins Hotel gehen sah.«

»Woher wusste sie, dass er es war?«

»Sein Foto war in allen hiesigen vietnamesischen Zeitungen, als die Fondsgesellschaft in Schwierigkeiten geriet, und meine Schwester sagt, dass sie ihn von dem Foto her erkannt hat. Und natürlich hat sie ihn bei seinem Namen gerufen. Sie hat gesagt, er habe sich sofort umgedreht, sie angesehen und sei dann ins Hotel gerannt.«

»Er war es«, sagte Jennie und nickte Theresa zu.

Theresa erwiderte ihr Nicken und schaute dann Ava an. Aus ihren Augen war die Ungewissheit verschwunden und von einem Zorn ersetzt worden, der an Hass grenzte. »Ich war gleichzeitig aufgebracht und glücklich. Ich habe mit meiner übrigen Familie gesprochen, und wir haben meine Schwester gebeten, jeden Abend zu dem Hotel zurückzukehren und zu sehen, ob sie mit ihm sprechen könnte. Er hat sich nicht wieder blicken lassen. Unterdessen habe ich Ihrer Mutter alles erzählt, und sie war so freundlich, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass Sie uns vielleicht helfen könnten.«

»Ich habe keine Versprechungen gemacht«, versicherte Jennie Ava. »Ich habe Theresa nur erzählt, dass du und der Mann in Hongkong, mit dem du zusammenarbeitest, sehr gut darin seid, Geld wiederzubeschaffen. Das stimmt doch schließlich, oder?«

»Ja, mehr hat sie nicht gesagt«, bestätigte Theresa.

Ava verspürte den Druck dennoch. »Sie müssen wissen, dass nicht ich entscheide, welche Fälle wir übernehmen und welche nicht. Ich muss mit meinem Boss in Hongkong sprechen. Sie haben uns nicht gerade viele Anhaltspunkte geliefert. Ich meine, ein mögliches Auftauchen vor einem Hotel –«

»Meine Schwester hat sein Autokennzeichen aufgeschrieben – das haben Sie also auch.«

»Gut, das ist hilfreich, aber die Summe, um die es geht, spielt ebenfalls eine Rolle. Ich möchte Sie nicht beleidigen, Theresa, oder die Bedeutung herunterspielen, die sie für Sie hat, aber es ist weniger, als wir normalerweise in Erwägung ziehen würden.«

Theresa warf Jennie einen flehenden Blick zu.

»Aber du wirst mit Onkel reden, ja?«, fragte Jennie.

Ava seufzte. Sie wusste, dass ihre Mutter kein Nein als Antwort akzeptieren würde. »Okay, ich rede mit ihm. Aber ich verspreche nichts.«

»Danke«, sagte Theresa.

»Und dann ist da noch unser Honorar. Wir kommen für unsere Auslagen auf – für alle –, aber wir behalten dreißig Prozent ein von dem, was wir eintreiben. Ist das annehmbar für Sie?«

»Und wenn Sie nichts zurückholen?«

»Dann sind die Ausgaben dennoch unsere Kosten, nicht Ihre.«

Theresa nickte. »Siebzig Prozent von etwas ist besser als hundert Prozent von nichts.«

»Müssen Sie mit Ihrer Familie sprechen?«

»Nein, ich kann die Entscheidung treffen, und ich denke, dass es ein faires Angebot ist.«

»Okay. Ich muss dennoch mit Hongkong sprechen, um grünes Licht zu bekommen.«

»Ava, kannst du ihr nicht jetzt gleich zusagen?«, drängte Jennie sie.

»Mummy, das geht nicht.«

»Aber du gibst dein Bestes, was Onkel angeht, ja?«

»Ja, ich gebe mein Bestes, aber ich kann nichts versprechen.«

»Ava.« Jennie ließ nicht locker.

»Ich kann nichts versprechen«, wiederholte Ava.

3

DAS LABOUR DAY WOCHENENDE hat eine besondere Wirkung auf die kanadische Psyche, und Ava war keineswegs immun dagegen. Das Wochenende signalisiert das Ende des Sommers, den Beginn eines neuen Schuljahres für praktisch jedes Kind im ganzen Land und das Aufschlagen einer neuen Seite im Leben vieler Menschen. Es markiert auf seine Weise, dass die Zeit des Müßiggangs vorüber ist und die Zeit der ernsthaften Arbeit wieder einsetzt. Einen Plan gefasst zu haben wäre ein guter Anfang gewesen, aber Ava hatte keinen Plan. Sie wusste nichts mit sich anzufangen und litt unter der Art von Melancholie, wie sie Menschen oft am 2. Januar heimsucht.

Am Freitagabend holte sie Maria an der Bushaltestelle vor dem Rama ab. Sie machten sich ein faules Wochenende; sie aßen, tranken, gingen spazieren, lasen, liebten sich. Maria war einer der am wenigsten fordernden Menschen, denen Ava je begegnet war. Sie schien zufrieden zu sein, wenn sie auch nur kleine Dinge taten – oder auch überhaupt nichts –, solange sie nur mit Ava zusammen war. Manchmal fühlte Ava sich deswegen schuldig, und sie stellte fest, dass sie es wettzumachen suchte, indem sie Aktivitäten plante, die sie, wäre sie allein, nie in Erwägung gezogen hätte. Und so fuhren sie am Sonntag gen Norden nach Midland, um die Kirche Martyrs’ Shrine zu besuchen.

Sie waren beide katholisch, beide trugen sie Kruzifixe und beide beteten sie oft auf ihre je eigene stille Weise. Genau wie Jennie versäumte Maria kaum jemals eine Sonntagsmesse, aber da sie wusste, mit welcher Abneigung Ava der Institution Kirche begegnete, verzichtete sie bei ihren Wochenendtrips in den Norden darauf. Und so kam es als Überraschung für sie, als Ava diesen Ausflug nach Midland vorschlug. Ava überlegte, ob sie ihre Mutter einladen sollte, sich ihnen anzuschließen, aber da sie am Montag alle drei zusammen im Auto in die Stadt zurückkehren würden, ließ sie es bleiben. Eine gemeinsame Fahrt genügte ihr vollauf.

Sie verließen das Cottage um kurz nach acht, und auf den Straßen war es so ruhig, dass sie die Kirche um kurz vor neun erreichten und damit früh genug für die Zehn-Uhr-Messe waren. Sie spazierten über das weitläufige Gelände und standen dann hinter der Kirche und lasen die grausigen Einzelheiten über das Martyrium der Missionare. Die meisten von ihnen waren von den Huronen ausgiebig gefoltert worden. Maria war besonders betroffen von dem Leiden Jean de Brébeufs und bestand darauf, Ava die Einzelheiten vorzulesen.

Maria war Kolumbianerin. Sie hatte einen Studienabschluss in Englisch und Betriebswirtschaft von der Universität von Bogotá. Sie war stellvertretende Handelskommissarin im kolumbianischen Generalkonsulat in Toronto, und zwar mit einem auf vier Jahre befristeten Vertrag, von denen zwei bereits verstrichen waren – eine Tatsache, über die sie nicht sprachen. Ava verstand nicht recht, wie der Katholizismus bei all der akademischen Bildung noch so wirkmächtig durch Marias Adern fließen konnte. Ava selbst hatte nie eine wahre Leidenschaft für die Religion empfunden, und die Haltung der Kirche in Sachen sexuelle Orientierung unterminierte jede andere emotionale Bindung, die sie womöglich verspüren mochte. Dennoch fand sie von Zeit zu Zeit Trost im Gebet, und sie war absolut tolerant, was den Glauben anderer Menschen anging.

Die Kirche füllte sich rasch, vor allem mit Sommergästen, vermutete Ava. Das Gebäude war fast ausschließlich aus Holz errichtet worden, und zwar nach Art der großen Langhäuser, die die Huronen und Algonquins einst gebaut hatten. Sogar das Dach war mit riesigen Platten aus getrockneter Birkenrinde gedeckt. Die Messfeier begann, und Maria überließ sich schnell dem Ablauf, ihr Gesicht strahlte, ihre Stimme erscholl laut während der Refrains, die Arme ausgestreckt, die Handflächen nach oben weisend. Avas Gedanken hingegen begannen nach fünf Minuten zu wandern; sie spielte die Optionen durch, die sich für ihr weiteres Leben boten.

Wieder dachte sie an May Ling und ihr Angebot. Es war schmeichelhaft und würde ihr gewiss gutes Geld einbringen. Aber sie brauchte das Geld nicht, und sie hatte mittlerweile so lange im Grunde allein gearbeitet, dass sie nicht sicher war, wie gut sie sich in eine strukturiertere Beschäftigung dreinfinden würde. Es war keineswegs so, dass sie Strukturiertheit ablehnte, aber die Vorstellung, dass diese ihr auferlegt wurde und nicht selbstgewählt war, behagte ihr nicht.

Vielleicht sollte ich mich selbstständig machen, überlegte sie. Doch was würde Onkel dann tun?