Buchcover

Lise Gast

Anja und der Reitverein

SAGA Egmont




Was man alles wissen muß

„Los, Anja, los! Du bist dran!“ flüsterte Petra. Sie flüsterte es so laut, daß man es über mindestens drei Kilometer hätte hören können. Anja fuhr zusammen.

Sie hatte gerade bewundernd auf Gero geschaut, der an der Rosina voltigierte. Rosina, sicherlich das dickste Pferd des Reitvereins, galoppierte im Kreis, von der Longe, einer langen Leine, geführt, die der Reitlehrer in der Hand hielt, mitten im Kreis stehend. Rosina galoppierte pomadig rundherum, gleichmäßig, ergeben – sie kannte seit Jahren, daß kleine und größere Kinder an ihr hochhampelten, auf ihrem Rücken saßen, die Schere, Fahne oder Mühle machten, manchmal standen sie auch auf oder hingen im Kosakenhang seitlich an ihr. Ein Genuß ist das nicht für ein Pferd, aber man gewöhnt sich an alles. Jetzt, da Gero heruntergeglitten war, genoß sie es sichtlich, „leer“ zu laufen. Erst als Petra ihr noch einen gutgemeinten, aber etwas zu kräftigen Schubs gegeben hatte, stolperte Anja vorwärts, wäre beinahe gefallen, fing sich und rannte hinter Rosina her, ungefähr in Höhe von deren Schweif, vergeblich versuchend, schneller zu werden. Sie mußte ja den Ledergriff erwischen, der am Voltigiergurt angebracht war, damit man sich daran hochzog. Aber bei aller scheinbaren Gemächlichkeit war Rosina doch schneller.

„Nicht hinterher rennen! An der Longe lang!“ Wie oft mußte der Reitlehrer das den Anfängern sagen! Immer wieder, Jahr um Jahr …

„Kann man denn nicht erst einmal am stehenden Pferd versuchen hinaufzukommen?“ hatte Anja Petra gefragt, als die ersten Kinder der Voltigierabteilung an der Reihe waren. Petra lachte und schüttelte den Struwwelkopf.

„Kriegst du nicht hin! Viel zu schwer!“

Zu schwer? Und am galoppierenden Pferd? War das nicht viel, viel schwerer? Jetzt aber war keine Zeit mehr geblieben, weiter zu fragen, Anja mußte ran, und sie lernte damit gleich eine der allerersten Regeln, die beim Reiten gelten: Man muß immer mehr können, als man eigentlich kann. Wirf dein Herz voran und spring nach! So heißt es auch beim Voltigieren.

Der Reitlehrer winkte. Anja verstand, daß sie erst zu ihm in den Kreis laufen sollte, und gehorchte. Nun stand sie neben ihm, und er machte ihr ein Zeichen, daß sie an der Longe lang auf den Kopf von Rosina zulaufen sollte, so, wie es die andern machten, die schon länger voltigierten. Anja gehorchte, kam an das Pferd heran, versuchte, im gleichen Schritt wie dieses zu galoppieren – auch das hatte der Reitlehrer ihr zugerufen –, und packte die Griffe. Zum Glück war sie größer als beispielsweise Gero, bei dem man überhaupt nicht dahinterkam, wie er es fertigbrachte, aufs Pferd zu kommen, winzig wie er war. In verzweifeltem Schwung warf sie die Beine nach hinten hoch und den Kopf nach unten, wie sie es bei den anderen gesehen hatte, und, o Wunder!, auf einmal saß sie auf dem Pferd! Was sie am stehenden Pferd nie und nimmer geschafft hätte, gelang ihr am galoppierenden. Der Vorwärtsschwung im Galopp zog einen hinauf. Sprachlos und mit offenem Mund saß Anja rittlings auf Rosina, die ungerührt und gleichmäßig weiter ihre Runden drehte. Die anderen Kinder lachten laut über Anjas dummes Gesicht.

„Na? Das ist eine Überraschung, was? Mir hast du es nicht geglaubt“, sagte der Reitlehrer halblaut und lachte dabei. „Nun mach den Mund zu, es zieht. Gleich beim ersten Mal raufzukommen ist schon Klasse. Laß die anderen nur lachen …“

„Und jetzt?“ fragte Anja gespannt.

„Jetzt springst du genauso ab. Beide Beine nach hinten werfen, so hoch es geht, später noch höher, und gestreckt wie beim Barren – und dann links vom Pferd herunter. Achtung – hopp!“

Anja gehorchte, so gut sie konnte. Sie landete links neben Rosina im Kreis, versuchte, vorwärts zu laufen, fiel dann aber doch noch auf die Nase. Das tat hier in der weichen Lohe der Reithalle nicht weh. Überhaupt purzelten auch die anderen beim Voltigieren dauernd – das gehörte einfach dazu, und keiner nahm es ernst. Man tat sich dabei nicht weh, das war das Merkwürdige daran.

Überhaupt war manches merkwürdig. Wie sicher man saß, obwohl das Pferd galoppierte! Anja hatte, wie die meisten Anfänger, immer gedacht, Galopp wäre etwas sehr, sehr Schwieriges, was gottlob erst später drankam, vielleicht in der zehnten oder fünfzehnten Reitstunde. Jetzt, beim Voltigieren, ritt man sozusagen überhaupt nur Galopp, wenn man Draufsitzen als Reiten bezeichnen wollte, und man saß wie auf dem stehenden Pferd. Später lernte Anja, daß Trab viel schwerer für den Anfänger war. Trab stieß einen auf und ab, und man hatte das Gefühl, seitlich hin und her zu rutschen – manche sagten, wie ein Stück Butter auf einer heißen Pellkartoffel. Galopp aber wiegte einen vor und zurück, ähnlich wie auf einem Schaukelpferd.

Dies alles überlegte Anja natürlich nicht während des Voltigierens. Da tat sie, verzweifelt entschlossen, nur das, was der Reitlehrer ihr zurief, und war jedesmal erstaunt, wenn es klappte.

Natürlich klappte nicht alles auf Anhieb. Immer muß man lernen, wenn man etwas Neues anfängt, der gute Wille allein schafft es nicht. Es gehört auch eine gewisse Erfahrung dazu, die man erst nach und nach bekommt. Zum Beispiel zu wissen, wann man die eine Hand losläßt, um mit der anderen herumzugreifen bei der „Mühle“. Das ist eine Übung, bei der man erst, im normalen Reitsitz, das rechte Bein über den Pferdehals nach links schwenkt, also in den Damensitz kommt; dann hebt man das linke über die Kruppe auf die andere Seite und sitzt rückwärts. Dabei muß man die Hände, die sich am Griff halten, wechseln. Das ist nicht leicht, und man lernt es erst durch das Ausprobieren.

„Merk dir: immer gerade sitzen. Nie nach vorn fallen“, sagte Petra, als Anja, nach Atem ringend, von ihrem ersten Versuch wiederkam. „Das ist überhaupt das A und O beim Reiten. Solange du aufrecht sitzt, sitzt du sicher. Freilich darfst du dabei kein Hohlkreuz machen.“ Sie lachte, als sie Anjas einigermaßen ratloses Gesicht sah. Aufrecht, aber kein Hohlkreuz, fest, aber nicht verkrampft, ruhig, aber schnell – Himmel, wer sollte das je lernen!

„Na, wir haben es ja auch begriffen, warum sollst du es nicht kapieren, du bist ja auch nicht dümmer als wir“, sagte Petra, vergnügt tröstend, als Rosina am Ende der Reitstunde hinausgeführt worden war. Sie hatte Anjas hilfloses Gesicht gesehen. „Und jetzt komm mit, ich zeig’ dir alles, was zum Reitverein gehört.“

„Na, manches kenn’ ich ja schon. Den Stall – und die Reithalle“, sagte Anja, lief aber trotzdem mit. „Was gibt’s denn noch zu sehen?“

„Die Baracke. Da kann man sich umziehen, und dort kauft man auch die Reitkarten und gibt sie vor jeder Stunde ab. Das mußt du auch wissen. Und in der Baracke hängen neuerdings auch die Sättel. Früher kamen sie auf die Böcke hinter jedem Stand, auch die Kopfstücke. Aber im Stall ist es manchmal feucht, etwa wenn die Pferde im Winter abdampfen. Und das ist nicht gut für das Leder. Außerdem sind sie in der Baracke doppelt eingeschlossen, Sättel sind ja sehr kostbar. Es sind auch eine Anzahl Privatsättel dabei von Leuten, die ihre Pferde hier stehen haben. Für die ist der Verein auch haftbar.“

„Eigenes Pferd und eigener Sattel –“ sagte Anja nachdenklich. „Ob man irgendwann auch mal –“

„Warum nicht? Man muß nur wollen. Nicht nur ,sich wünschen‘“, sagte Petra und zog Anja mit sich fort. „Mit ,sich wünschen‘ kommt man nicht weit. Wie viele Mädchen wünschen sich ein Pferd, aber wenn sie ein einziges Mal auf den Fuß getreten werden, brüllen sie und tun, als wären alle Zehen ab. Und wenn sie einen Eimer Wasser holen sollen, ist der das zweite Mal schon so schwer, daß sie ihn nicht schleppen können und ein anderer es tun muß. Und erst Hufe auskratzen, danke schön! Das alles ist ihnen viel zu unbequem. Aber komm, jetzt zeig’ ich dir das Reiterstübel.“

An einem Ende der Reithalle, der Tür gegenüber, befand sich eine verglaste Empore. Dort standen Tische und Stühle und eine kleine Theke, wo man Kaffee, Cola oder auch ein Viertel Wein bestellen konnte, wenn man saß und in die Halle hinuntersah, wo geritten wurde. Da man dort etwas verzehren und natürlich bezahlen mußte, war Anja noch nie dort gewesen. Petra aber kannte die junge Frau, die den Kaffee kochte und die anderen Getränke ausschenkte, sie hatte ihr oft geholfen, wenn beim Turnier oder beim Weihnachtsreiten sehr viel zu tun war.

„Das ist unsere liebe, gute Toni“, stellte sie vor, „und das ist Anja, seit gestern im Reitverein. Dürfen wir Ihnen was helfen, Müllbeutel wegtragen oder –“

„Im Augenblick nicht, danke.“ Fräulein Toni lächelte. Sie kannte Petra und mochte sie sehr gern. „Ein paar Briefe könntet ihr nachher mitnehmen und einstecken, ja? Ich kann hier nämlich nicht weg. Aber nicht in die Tasche, sondern in den Briefkasten stecken, bitte schön.“

„Wir schwören! Komm, Anja, jetzt gehen wir noch zur Mutter Taube. Das ist die Mutter vom Reitlehrer, und sie wohnt hier.“ Sie drängte sich an der Theke vorbei und kletterte eine schmale und steile Treppe hinauf, Anja hinter sich herziehend. „Du mußt doch alles kennen, und gerade Mutter Taube braucht manchmal jemanden …“ Petra klopfte an eine Tür. Von drinnen hörte man ein freundliches „Herein!“

Petra öffnete. Ein winziges Zimmer, zwei Fenster über Eck, helle, bunt bezogene Möbel. Unter der Dachschräge eine Schlafcouch, am Fenster ein Großmutterstuhl, ein richtiger Ohrenbackensessel von früher, breit, gemütlich, mit Armlehnen. Auf dem Fensterbrett blaue, rote und weiße Hyazinthen, die süß dufteten. Im Lehnstuhl saß eine Frau, nicht mehr jung, aber auch noch keine Großmutter. Sie hatte kurzes, gelocktes Haar, in dessen Dunkel weiße Fädchen schimmerten, und die schönsten braunen Augen, die Anja je gesehen hatte.

„Guten Tag, Frau Taube“, rief Petra und zog Anja, die hinter ihr stand, vor den Großmuttersessel. „Das ist Anja, meine allerbeste Freundin. Und das ist die Täubin, die Mutter von unserem verehrten und gefürchteten Reitlehrer. Er war übrigens heute recht sanft und milde, sanft wie sein Name, wahrscheinlich, um Anja nicht zu vergrämen. Sie hatte ihre erste Voltigierstunde, da können Sie sich ja vorstellen, wie ihr zumute war.“

„Das kann ich.“ Frau Taube nickte, legte ihr Strickzeug aufs Fensterbrett und streckte Anja die Hand entgegen. „Wie nett, daß ihr mich besucht! Du willst also reiten lernen?“

„Ja. Furchtbar gern. Am allerliebsten von allem“, sagte Anja. Sie war kein bißchen verlegen.

„Du hattest heute die erste Stunde? Da bist du bestimmt furchtbar durstig. Petra –“

„Ich weiß, ich weiß! Himbeere oder Zitrone?“ fragte Petra eifrig, die inzwischen in einem Eck des Zimmers ein Schränkchen aufgemacht hatte. „Hier, beides da, was soll ich bringen?“

„Was möchtest du, Anja?“ fragte Frau Taube.

„Zitrone bitte, wenn ich darf. Die löscht besser“, sagte Anja. Ihr klebte die Zunge am Gaumen.

„So, hier.“ Petra stellte ein großes Glas vor Anja auf den Tisch, der neben dem Lehnstuhl stand. „Und Sie bekommen Kaffee, Frau Taube, nicht wahr? Sie möchten doch immer Kaffee.“

„Ja, bitte. Schon allein wegen des Duftes. Weißt du, Petra, daß jeder Monat bei mir einen bestimmten Duft hat? Der Februar zum Beispiel, den wir jetzt haben, duftet nach Hyazinthen und Bohnenkaffee, und die Sonne muß draußen auf den Schnee, der auf dem Fensterbrett liegt, scheinen, so wie jetzt …“

„Und sonst? Wie riecht der März?“ fragte Anja – sie hatte im März Geburtstag –, nachdem sie nach einem langen Zug das Glas geleert und abgestellt hatte.

„Was für eine Frage! Nach Veilchen! Der März ist doch der Monat der allerersten Blumen, und das sind, nach den Schneeglöckchen, die Veilchen.“

„Und zum Juni gehören die Rosen!“ rief Petra aus ihrer Kochecke heraus, „im Juni hab’ ich Geburtstag. Ich bin ein Junikäfer!“

„Haben wirklich alle Monate einen Duft?“ fragte Anja jetzt ein wenig zweifelnd. „Der Dezember riecht bestimmt nach Kerzen und bitterem Tannenduft und Pfefferkuchen und Gutseln. Aber zum Beispiel der November?“

„Der hat auch einen ganz bestimmten Duft“, sagte Frau Taube und lachte. „Der November – weißt du, daß ich den ganz besonders liebe? Weil ihn sonst niemand leiden kann, den armen. Dabei kann er wunderschön sein, geheimnisvoll mit Nebel und gegen Ende mit dem ersten Schnee, auf den man sich ja immer so freut. Aber vorher, von Anfang an, da riecht er nach –“

„Nach?“ fragten beide Mädchen wie aus einem Mund, als Frau Taube innehielt.

„Nach neugestrichenem Ofenrohr“, sagte sie und lachte über die verblüfften Gesichter der beiden. „Man streicht doch im Herbst die Ofenrohre neu mit Silberfarbe, und wenn man dann das erste Mal heizt, riecht, richtiger: stinkt es danach. Ganz unvergeßlich!“

„Wirklich?“ fragte Petra ein wenig schüchtern, die in einem Haus mit Zentralheizung aufgewachsen war. Vielleicht machte Frau Taube nur Spaß.

„Wirklich! Und nach Zusammenrücken und Gemütlichkeit und Einanderliebhaben“, sagte diese ganz leise und ernsthaft. „Ich hatte eine Tante, die sagte an einem der ersten Tage mit garstigem Wetter immer: ,Kinder, die schlechte Jahreszeit kommt, wir wollen einander noch lieber haben.’ Das hab’ ich nie vergessen.“

„Das ist auch schön“, sagte Petra nach einem Augenblick des Schweigens. „Das gefällt mir. Und ich will es auch nicht vergessen.“

„Und der Oktober riecht nach Herbstlaub, nach Jagden über gemähte Wiesen und Stoppelfelder.“

„Hach, ja, wunderbar! Vielleicht reite ich im Herbst eine Jagd mit“, sagte Petra.

Frau Taube sah sie an.

„Ich wünsch’ es dir. Ich bin viele Jagden geritten.“

„Ja? Haben Sie auch –“

„Den Fuchsschwanz erwischt? Siebenmal“, Frau Taube nickte und deutete zum Kopfende ihrer Schlafcouch hin. „Dort hängen sie und auch die Brüche. Man bekommt doch bei jeder Jagd einen Bruch, den hebt man sich auf. Seht euch nur alles an, auf den Schleifen steht, wann es war und welche Jagden es waren. Dort eine Wald jagd, und da eine mit Meute …“

„Mit Meute?“ fragte Anja.

„Ja, man nennt das so, wenn Hunde voranlaufen. Braungefleckte Hunde, immer zwei und zwei zusammengekoppelt. Das alles wirst du noch erleben. Das alles wartet auf dich. Freust du dich?“

„O ja! Aber – –“

„Was denn: aber?“ fragte Frau Taube.