Images

Image

Dietrich Schulze-Marmeling, Jahrgang 1956, gehört zu den profiliertesten deutschen Fußballautoren und -historikern. Über den FC Bayern schreibt er seit 1997, als erstmals sein Buch »Der FC Bayern – Geschichte des Rekordmeisters« erschien. Die Zeitschrift »11 Freunde« nannte das in fünf Auflagen erschienene Buch ein »sorgfältig recherchiertes Meisterwerk«.

2003 war Schulze-Marmeling Herausgeber und Mitautor von »Davidstern und Lederball – Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball«, über das »Die Zeit« urteilte: »Eine absolut herausragende Veröffentlichung. Hier liegt der Idealfall vor: Fußball als Kulturgeschichte.«

Das vorliegende, in dritter Auflage wesentlich ergänzte Buch wurde durch die »Deutsche Akademie für Fußballkultur« zum »Fußballbuch des Jahres 2011« gewählt.

Dietrich Schulze-Marmeling

Der FC Bayern,
seine Juden
und die Nazis

VERLAG DIE WERKSTATT

Die Fotos auf dem Umschlag zeigen drei jüdische Funktionsträger des FC Bayern, die den Verein vor 1933 stark prägten (von links): Jugendbetreuer Otto Albert Beer, Präsident Kurt Landauer und Trainer Richard Dombi.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2011 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
ISBN 978-3-7307-0394-6

Inhalt

  1. EINFÜHRUNG
  2. Juden, Fußball und der FC Bayern
  3. KAPITEL 1
  4. Von Freiburg nach München: Jüdische Fußballpioniere
  5. KAPITEL 2
  6. Debüts, Premieren und eine »ansteckende Seuche«
  7. KAPITEL 3
  8. Antisemiten und »Pioniere der Moderne«
  9. KAPITEL 4
  10. Ungarn in München
  11. KAPITEL 5
  12. Ideologen kontra Pragmatiker
  13. KAPITEL 6
  14. Ein Meister gegen den Strom der Zeit
  15. KAPITEL 7
  16. Neuordnung in Politik und Fußball
  17. KAPITEL 8
  18. Kicken unterm Hakenkreuz
  19. KAPITEL 9
  20. Nazifizierung mit Widerständen
  21. KAPITEL 10
  22. Verfolgung, Enteignung, Vertreibung und Mord
  23. KAPITEL 11
  24. Heimkehrer und Abschiede
  25. KAPITEL 12
  26. Vom Umgang mit der Vergangenheit und das Ende der Ära Lan dauer
  27. KAPITEL 13
  28. Der lange Marsch zur eigenen Geschichte
  29. NACHWORT
  30. Hinter Klostermauern – Anmerkungen zum vermeintlichen »Historikerstreit«
  31. ANHANG
  32. Glossar
  33. Literatur und Quellen

Einführung

Juden, Fußball und der FC Bayern

9. April 1933: In Stuttgart verabschieden die bedeutendsten Fußballvereine Süddeutschlands eine Erklärung, in der sie dem nationalsozialistischen Regime ihre Mitarbeit anbieten – »insbesondere die Entfernung der Juden aus den Sportvereinen« betreffend. Zu den Unterzeichnern gehört auch der FC Bayern München – jener Verein, der nur drei Wochen zuvor noch von einem jüdischen Präsidenten geführt wurde und dessen 1. Mannschaft, der amtierende deutsche Fußballmeister, noch immer von einem Juden trainiert wird.

Veröffentlicht wird die Erklärung auf der Titelseite des »Kicker«, in dessen Kopfzeile mit Walther Bensemann als Herausgeber ein Jude steht, der einst den Vorläufer des FC Bayern mitgegründet hat, im April 1933 aber bereits emigriert ist.

In Stuttgart endet mit dieser Erklärung ein halbes Jahrhundert deutschen Fußballsports. Bisher haben Funktionäre und Spieler die Entwicklung des Spiels unabhängig von ihrem kulturellen, religiösen oder nationalen Background gefördert. Unter Deutschlands Fußballpionieren des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den Fußballaktivisten der Weimarer Republik befanden sich eine Reihe jüdischer Bürger. Viele Jahre war dies selbstverständlich, und niemand kam auf den Gedanken, hierfür Gründe zu erörtern. Nun aber wird dieser Konsens durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure im deutschen Fußball mit aller Brutalität und innerhalb kürzester Zeit zerstört.

Aus der Geschichte des deutschen Fußballs schreibt man die Juden heraus oder drängt sie an den Rand. So richtig in Vergessenheit gerät ihr Beitrag aber erst in den 1950er Jahren. Der Zusammenbruch des NS-Regimes und die alliierten Maßnahmen gegenüber den alten Verbänden und Vereinen brachten nur eine kurze Unterbrechung, aber keinen Neubeginn im deutschen Fußball. Die Geschichte wird bald wieder von denen geschrieben, die sie schon in den NS-Jahren schrieben, die sich dem Nationalsozialismus andienten – teils, weil sie deren Ideologie faszinierte, teils, um ihr eigenes Fortkommen zu forcieren und ihr eigenes fußballpolitisches Süppchen zu kochen. Nun, nach dem Untergang des Nazi-Reichs, wäscht man sich gegenseitig rein und verklärt sich zu »Anti-Nazis«, die höchstens »zum Schein« mitgemacht hätten, um Schlimmeres zu verhindern. Aus Tätern, Karrieristen, Opportunisten und Mitläufern werden selbsternannte Richter, die sich und ihre Kameraden zu Getriebenen, Opfern und Widerständlern stilisieren und von jeglicher Schuld und Verantwortung freisprechen. Die tatsächlichen Opfer bleiben weiterhin unerwähnt oder marginalisiert. Stattdessen wird das anrührende Bild einer harmonischen Fußballfamilie gemalt, die sich von den jeweiligen politischen Verhältnissen kaum irritieren lässt und ein Höchstmaß an positiver Kontinuität aufweist. Die Leistungen und Schicksale der deutsch-jüdischen Fußballaktivisten können da nur stören, da sie die Frage nach der Mittäterschaft aufwerfen würden. Was einmal ausgeschlossen wurde, muss deshalb ausgeschlossen bleiben.

Erst ein gutes halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt man sich wieder der Juden im deutschen Fußball zu erinnern. Was nun zutage befördert wird, versetzt viele in ungläubiges Erstaunen, auch innerhalb jüdischer Organisationen.

Deutsch-jüdische Anfänge

Dieses Buch beginnt daher mit einer Darstellung, die ohne den Nationalsozialismus und den Holocaust vermutlich überflüssig, wenn nicht gar unangebracht wäre: dem Versuch, das Interesse und die Begeisterung deutscher Juden für den Fußballsport zu erklären.

Fußball begann nicht als Arbeiterkultur, sondern war zunächst beheimatet im Milieu der bürgerlichen Akademiker sowie der neuen – und damit traditionslosen – expandierenden Schicht der Angestellten in den kaufmännischen und technischen Berufen. Anders als in England, wo sich der Fußball bereits in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zum proletarischen Massenspektakel entwickelte, behielt das Spiel auf dem Kontinent bis in das 20. Jahrhundert hinein seinen Eliten- und Mittelschichtcharakter.

Für die Historikerin Christiane Eisenberg verkörpert das frühe Fuß-ballspiel »das spezifisch moderne Lebensgefühl der Jahrhundertwende, insbesondere der Aufsteiger und Selfmademen, die offen für alles Neue waren und sich um Konventionen wenig scherten. Für viele war der Gebrauch der englischen Sprache und die Imitation eines ›english way of life‹ auch der Versuch, sich von bestimmten überkommenen Mustern der eigenen Kultur wie z. B. der Turnbewegung mit ihrer Neigung zum Kollektivismus zu distanzieren.« Juden und Protestanten waren laut Eisenberg unter den ersten deutschen Balltretern auffällig stark vertreten.

Wie dieses Buch noch zeigen wird, wurde diese bürgerlich-modernistische Phase besonders eindrucksvoll vom FC Bayern repräsentiert.

Fußball war zunächst ein vorwiegend städtisches Spiel – anders als später Handball, das sich als Sportspiel der Turnbewegung und als deren Ant-wort auf den Fußball auf dem Land ausbreitete, da der Spielplatz in den urbanen Zentren bereits von den Kickern besetzt war. In Städten wie Berlin, Frankfurt oder München lebten besonders viele Juden. Und viele von ihnen zählten sich dort zum »modernen Bürgertum«, das liberal ausgerichtet war und sogenannten englischen Modetorheiten – wie »english sports« – frönte. Wobei »english« oder »british« mit »modern« zu übersetzen war. Detlev Claussen: »Die idealen Bürger, die das Bürgertum auch mit seinen Idealen ernst genommen haben, waren Juden. Und das hat man den Juden wiederum übel genommen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das war ja für das Ghetto eine konkrete Utopie! (…) Sehr viele europäische Juden waren im 19. Jahrhundert anglophil. Diese anglophile Geschichte gehört eng zur Geschichte des Judentums und der Emanzipation des Judentums in Europa. Dazu eben die ›english sports‹. (…) Die Juden, die ihre Kinder ausbilden wollten, haben sie nach England geschickt. Auf englische Internate oder englisch geführte Internate, die es z. T. auch in der Schweiz gab. Weil da wiederum so viele Kinder der Bourgeoisie aus ganz verschiedenen Ländern auf die Schulen kamen, haben sie schnell den Sport entdeckt.« Exemplarisch für die anglophile Einstellung deutsch-jüdischer Fußballpioniere sind John Bloch sowie die an der Vorgeschichte des FC Bayern beteiligten Walther Bensemann und Gustav Randolph »Gus« Manning.

Jüdische Pioniere:
John Bloch und Walther Bensemann

In den 1880er Jahren stand der in Birmingham geborene Bloch in Berlin dem English Football Club und dem Berliner Cricket-Club 1883 vor, Klubs, in denen Berlins Engländer ihren Sport praktizierten. 1891 war Bloch die treibende Kraft hinter der Gründung des Deutschen Fußballund Cricket Bundes (DFuCB), dem wohl wichtigsten Vorläufer des DFB. Bloch wurde auch Vorsitzender dieses dezidiert »anglophilen« Verbands.

Seit 1891 war John Bloch zugleich Herausgeber und Chefredakteur der ambitionierten Wochenzeitschrift »Spiel und Sport. Organ zur Förderung der Interessen aller athletischen Sports«. Der Journalist Malte Oberschelp weiß außerdem zu berichten, dass Bloch auch zu den Pionieren der Leichtathletik gehörte. 1893 konstituierte Blochs Berliner Cricket Club 1883 mit dem Hamburger SC Germania und drei weiteren Vereinen den Deutschen Athletischen Amateur Verband. Vorsitzender wurde der Jude Arthur Levy vom Hamburger SC, Bloch gehörte dem Vorstand als Beisitzer an.

Vor der Gründung des DFuCB war Bloch führendes Mitglied im 1890 gegründeten und 1892 wieder aufgelösten Bund Deutscher Fußballspieler (BDF) gewesen, wo es im Januar 1891 zu einem heftigen Disput zwischen einer »Pro-England-Fraktion« und einer konservativ-nationalistischen Gruppe um den Künstler Georg Leux gekommen war. Leux propagierte eine »Verdeutschung« des Spiels und schreckte auch nicht davor zurück, eine Meisterschaft nach »deutschen Regeln« einzuführen. An die Stelle von Toren sollten Punkte treten. Ein Einwurf war mit drei Punkten zu honorieren, ein Eckstoß mit fünf, für ein Tor sollte es 20 Punkte geben. Leux erhoffte sich von seiner Idee eine größere gesellschaftliche Akzeptanz des »englischen« Spiels.

Im November 1893 verlor der von Georg Leux gegründete BFC Frankfurt, Berlins ältester Fußballverein, ein DFuCB-Meisterschaftsspiel gegen Blochs English FC mit 1:5. Die Unterlegenen suchten die Schuld beim Schiedsrichter. Ein Protest des BFC wurde vom DFuCB-Vorstand um Bloch zurückgewiesen, woraufhin sich der BFC aus der Meisterschaft zurückzog. Als der Verband nun ein Ausschlussverfahren gegen den BFC einleitete, schürte dieser eine antisemitische Stimmung gegen den English FC und Bloch. Darauf deutet ein Schreiben hin, in dem sich sieben Klubs mit dem Verband solidarisierten: »Da (dem BFC, d. A.) Frankfurt die durchaus correcte Handlungsweise des Vorstands nicht die geringste oder vielmehr eine nicht genügende Handhabe bot, so mussten Nationalität und Religion einiger Bundesmitglieder den Grund zur Verhetzung bieten.« John Bloch zog aus der antienglischen und antisemitischen Hetze seine Konsequenzen und verzichtete auf eine erneute Kandidatur zum Vorsitzenden. Der English FC erklärte seinen Austritt aus dem DFuCB.

»In der Figur John Bloch«, so resümiert Malte Oberschelp, spiegele sich somit »nicht nur die enorme Bedeutung der deutschen und englischen Juden in der Frühzeit des deutschen Sports, sondern auch das antienglische und antisemitische Ressentiment, das ihnen entgegengebracht wurde.«

Ähnliches lässt sich über Walther Bensemann sagen. Bensemann, der beim Vorläufer des FC Bayern, der 1897 gegründeten Fußballabteilung des Münchner Männer-Turn-Vereins von 1879 (MTV 1879), mit von der Partie war, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin, Vater Berthold war Bankier. Wie Bensemann-Biograph Bernd-M. Beyer schreibt, wuchs der Sohn »in einer weltoffenen, intellektuell wie kulturell anregenden Atmosphäre auf; seine Mutter soll Musikabende im heimischen Salon organisiert haben, und die verwandtschaftlichen Kontakte der Familie reichten bis nach Schottland«.

Walther Bensemann wird im Alter von zehn Jahren auf eine englische Schule in Montreux geschickt, wo ihn die englischen Mitschüler mit dem Spiel infizieren. Am Genfer See entwickelt Bensemann »eine Begeisterung für alles, was er für typisch englisch hielt: das Ideal des Fair Play, die vorurteilsfreie Offenheit eines Weltbürgers, die Selbstdisziplin und die Philanthropie des Gentleman, die Erziehung zum ›sportsman‹.« (Beyer)

1887 gründet Bensemann gemeinsam mit englischen Schülern seinen ersten Verein, den Montreux Football Club, als dessen »Sekretär« sich der 14-Jährige stolz bezeichnet. Zurück in Deutschland, gibt sich der angehende Student anglophil. In Karlsruhe, wo er nun besonders intensiv für den Fußball wirkt, firmiert er ob seines sportlichen Outfits als »der Engländer in Narrentracht«. 1899 organisiert Bensemann – im heftigen Widerstreit mit den meisten der damaligen Regionalverbände – die »Urländerspiele« gegen ein englisches Auswahlteam, nachdem er die Football Association zur ersten kontinentalen Tournee ihrer Geschichte überredet hatte. Zwei Jahre später geht er nach Großbritannien, wo er fortan als Präfekt und Lehrer für neue Sprachen an zahlreichen Schulen arbeitet, so u. a. ab 1910 an der Birkenhead School in Liverpool. Möglicherweise hätte er sich dauerhaft in England niedergelassen, wäre nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen. Nach dem Krieg gründet er in Konstanz jene heute noch existierende Fußballzeitung, der er zum Entsetzen seiner Mitstreiter einen bewusst englisch klingenden Namen verpasst: den »Kicker«.

Auch Gustav Randolph »Gus« Manning, ein weiterer deutscher Fuß-ballpionier, der an der Gründung des FC Bayern mitgestrickt hat, war für sein anglophiles Gebaren bekannt.

Leistungsgesellschaft und Antisemitismus

Bei vielen europäischen Juden traf man seinerzeit auf einen ausgeprägten Sinn für Neues und Modernes. Deutsche Juden standen im Zentrum einer modernistischen Bewegung. Auch herrschte bei vielen bürgerlichen Juden eine im Vergleich zu anderen Milieus größere Bereitschaft zur Anerkennung des Leistungsprinzips und des Wettbewerbs – Dinge, die auch im Sport eine zentrale Rolle spielten. Detlev Claussen: »Das Leistungsprinzip gehört zum Fußball genauso hinzu wie der Spaß am Spiel.«

Jüdische (und protestantische) Milieus waren häufig aufgeschlossener gegenüber den Anforderungen und Herausforderungen der modernen kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Und anders als das »deutsche Turnen« war Fußball das Spiel dieser Gesellschaft. Der Historiker Peter Tauber: »Der Sport in Deutschland verstärkte Werte und Normen der modernen Industriegesellschaft. Das Wettkampfprinzip, die Konkurrenz und der Leistungsgedanke waren ebenso für den Sport als auch für die Wirtschaft, Politik und die Wissenschaft kennzeichnend. (…) Das zeitgleiche Auftreten des modernen Industriezeitalters und des Sports war kein Zufall. Das Empfinden der Menschen, sich im Lebenskampf messen zu müssen, sich in ein feststehendes Ordnungssystem einzufügen und in Konkurrenz zueinander zu stehen, entsprach den Grundprinzipien des Sports wie der Industriegesellschaft, und somit gab es eine Parallelität zwischen dem wirklichen Leben und der Welt des Sports.«

Die Idee des englischen Sports und seines offenen Wettbewerbs stand gewissermaßen diametral zum Konzept der alten Ständegesellschaft, in der die europäischen Juden ausgeschlossene Unterprivilegierte waren. Der Sport unterspülte feudale Schranken in der Gesellschaft.

Das Interesse jüdischer Bürger am Sport war zudem eine Reaktion auf den latenten Antisemitismus. Im Sport sah man die Möglichkeit, gesellschaftliche Integration und Akzeptanz zu erreichen, denn die von historischem Ballast freie Sportbewegung war anfänglich liberaler und weltoffener als die mit traditionell konservativen Werten überladene Turnbewegung.

Die Tradition des »deutschen Turnens« war feudal besetzt, übermäßig patriotisch und nationalistisch geprägt. Turnen erfuhr seinen Aufstieg als nationale Körperbildung im Kampf gegen die französische Fremdherrschaft. Ein Aspekt der französischen Expansion war allerdings, dass sie einen Prozess initiierte, der den deutschen Juden gesetzliche Gleichstellung bringen sollte. In dieser Hinsicht zeigten sich Teile der Turnerschaft von Anfang an reaktionär. Friedrich Ludwig Jahn war nicht nur ein Wegbereiter des Turnens, sondern auch Propagandist eines deutsch-christlichen Nationalstaats, der stark antisemitische Züge trug, die Juden zu »unserem Unglück« erklärte und ihnen keinen Platz am nationalen Tisch zugestehen wollte.

Bei den Turnern also eher unwillkommen, orientierten junge Juden auf die neuartigen »sports«, deren englische Herkunft ihnen weniger suspekt denn willkommen war. Detlev Claussen: »Durch die Verbreitung des Fußballsports wurden aus England importierte Werte wie Fair Play und Toleranz vermittelt. Dies machte ihn attraktiv für jüdische Fußballbegeisterte, die aufgrund ihrer Konfession häufig aus den deutsch-nationalen Turnvereinen ausgeschlossen waren.«

Zudem fehlte dem Turnen ein modernes Image. Im turnerischen Milieu konnte ein – gerade bei jungen Leuten verbreitetes – Bedürfnis nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und Eigeninitiative nicht befriedigt werden. Wie Peter März in seinem schönen Essay »›Fußball ist unser Leben‹ – Beobachtungen zu einem Jahrhundert deutschen Spitzenfuß-balls« (2003) schreibt, wurde beim deutschen Turnen die körperliche Regeneration »vielfach aus dressierter Bewegung« gewonnen, bei den »english sports« – namentlich Fußball – sei sie hingegen »spielerisch« erfolgt.

Fußball war – anders als das Turnen – nicht nur eine physisch anstrengende, sondern auch kreative und lustvolle Betätigung. »Der Große Brockhaus« von 1936 erklärte den Unterschied zwischen dem »deutschen« Turnen und dem »englischen Sport« wie folgt: Turnen habe ursprünglich »der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes« gedient. Unter Turnen würde »mehr eine an die Gemeinschaft gebundene Entwicklung und Auswirkung der Kräfte des einzelnen verstanden, während der Sport im allgemeinen mehr die freie, persönliche Betätigung des einzelnen gestattet«.

Ganz nahe dran war offenbar der Autor eines Artikels über den fuß-ballbegeisterten Schüler aus dem Jahre 1894: »Beim Fußballspiel stürmt und jauchzt er eine halbe, eine ganze Stunde leuchtenden Auges umher, ohne sich erschöpft zu fühlen, während er schon in der ersten Viertelstunde an Reck und Barren oft gähnt.«

Als »intellektuell-kreativer Sport« (März), der der Verwirklichung des Individuums Raum und Ausdrucksfreiheit ließ, verfügte der Fußball über eine starke Anziehungskraft auf junge, aufgeschlossene Bürger. Dies verstärkte sich noch, als er im Deutschland der 1920er Jahre eine stete Fortentwicklung erfuhr und neben den körperlichen Fähigkeiten auch organisatorisches Talent und finanzielles Engagement verlangte. Man musste begreifen, dass das Spiel auch Taktik und Arbeitsteilung beinhaltete, dass ein erfolgreicher Fußball eine kluge Vereinsführung und ein kluges Management voraussetzte etc. Peter März: »Fußball dürfte für sportlich und gesellschaftlich interessierte Juden in den 20er Jahren ein geradezu ideales Betätigungsfeld dargestellt haben.«

Und noch etwas sprach für die modernen Fußballvereinigungen. Wie wir gesehen haben, war Fußball anfangs auch ein Akademiker-Sport. Der Antisemitismus war aber nicht nur bei »dummen Jungs« zu Hause, sondern kursierte auch und gerade in akademischen Kreisen. Zumal im Milieu der studentischen Verbindungen, zu denen Juden häufiger der Zutritt verwehrt wurde. Eine Reihe der neuartigen Fußballvereinigungen eiferte deren Status nach. Dies äußerte sich u. a. in der Wahl des Vereinsnamens und der strapazierten Riten. Die Sport- und Fußballvereine waren gewissermaßen Studentenverbindungen ohne Antisemitismus.

Der FC Bayern und seine Juden

Der FC Bayern der Jahre 1900 bis 1933 war ein – zumindest für die damaligen Verhältnisse – weltoffener und liberaler Klub, in dem auch Juden eine Heimat fanden. Religiöse und nationale Zugehörigkeit spielten in seinen Reihen keine Rolle.

Zu den Gründern der Fußballabteilung des Männer-Turn-Vereins von 1879, der Keimzelle des späteren FC Bayern, gehörte der bereits vorgestellte Walther Bensemann. Auch der süddeutsche Fußballpionier und DFB-Mitbegründer Gus Manning gab entscheidende Anstöße zur Gründung des FC Bayern und fungierte in den ersten Jahren des Klubs mit seinem Freiburger FC als Pate. 1913 wurde Manning erster Präsident des nationalen Fußballverbands der USA und nach dem Zweiten Weltkrieg erstes US-amerikanisches Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees.

Mindestens zwei der 17 Unterzeichner der Gründungsurkunde des FC Bayern waren Juden: Joseph Pollack, auch erster Schriftführer und erster Torjäger in der Geschichte des Klubs, und Benno Elkan, der später zu einem berühmten Bildhauer avancierte. Nur drei Jahre nach seiner Gründung leistete sich der FC Bayern mit dem niederländischen Sportpionier Willem Hesselink einen ausländischen Präsidenten. 1913 wurde dann der Jude Kurt Landauer erstmals Präsident des FC Bayern. Unter dem langjährigen Präsidenten Landauer errang der FC Bayern 1932 seinen ersten deutschen Meistertitel. Trainer der Meisterelf war der österreichisch-ungarische Jude Richard Dombi, drei seiner Vorgänger – Izidor »Dori« Kürschner, Leo Weisz und Kálmán Konrád – waren Glaubensbrüder. Die Nachwuchsarbeit des FC Bayern wurde in den Jahren der Weimarer Republik maß-geblich vom Münchner Juden Otto Albert Beer geprägt. Unter dem Dach des Klubs kickten auch die Betriebsmannschaften der jüdischen Kaufhäuser Hermann Tietz und Uhlfelder (Letzteres gleich mit zwei Mannschaften) und von jüdischen Bürgern geführte Firmen wie Hahn & Bach und Friediger. Eine Reihe jüdischer Textilkaufleute war Mitglied im Klub und unterstützte den FC Bayern auch finanziell, u. a. durch Anzeigen in der Klubzeitschrift.

In der kluboffiziellen Festschrift »50 Jahre FC Bayern« heißt es, dass »eine nicht unerhebliche Anzahl alter und bewährter Mitglieder aus ihrem einstigen Vaterland und aus München vertrieben (wurde). Sie mussten draußen sich neue Existenzen gründen und sind uns dadurch vielfach verloren gegangen.« (Hervorhebung durch den Autor) Sieben werden dann namentlich genannt, sechs Juden und ein sozialdemokratischer Widerstandskämpfer. Ermittlungen der FC Bayern Erlebniswelt, des Stadtarchivs München und des Autors dieses Buches ergeben folgendes Bild (Stand: April 2017): 27 »Bayern« (26 von ihnen Juden) wurden von den Nazis ermordet. Hinzu kommen noch vier Suizide jüdischer Mitglieder. 38 »Bayern-Juden« gelang die Emigration.

Vor der Machtübernahme der Nazis waren rund hundert der etwa tausend erwachsenen Mitglieder Juden, also etwa zehn Prozent. Anfang 1933 betrug der Anteil der Juden an der Münchner Bevölkerung 1,2 Prozent. Offenbar besaß der Verein für Münchner Juden eine gewisse Anziehungskraft. Doch der FC Bayern war kein »jüdischer Verein«. Juden bildeten nur eine Minderheit im Klub.

Andere Adressen wie beispielsweise Ungarns Nummer eins MTK Budapest, der für die spielkulturelle Entwicklung des FC Bayern eine wichtige Rolle spielte, hatten erheblich mehr Juden in ihren Reihen. In Deutschland verlor Tennis Borussia Berlin, erste Trainerstation der späteren Reichs- bzw. Bundestrainer Otto Nerz und Sepp Herberger, durch die nationalsozialistische Machtübernahme etwa ein Drittel seiner Mitglieder. Und schon gar nicht darf man den FC Bayern mit exklusiv-jüdischen Zusammenschlüssen wie den Hakoah- und Makkabi-Vereinen verwechseln.

Die Bedeutung des FC Bayern bestand darin, dass er Juden in seinen Reihen nicht nur willkommen hieß, sondern ihnen auch keine geringeren Aufstiegs- und Profilierungsmöglichkeiten bot als ihren christlichen Klubkameraden. Das zählte nicht wenig, denn München war eine Stadt, die, gemeinsam mit dem Land Bayern, nach dem Ersten Weltkrieg eine Vorreiterrolle bezüglich antisemitischer Maßnahmen praktizierte. In Münchens Verwaltung wie Öffentlichkeit grassierte schon sehr früh eine antisemitische Stimmung, bereits 1920 wurden Hunderte von Juden vertrieben. Im selben Jahr konstituierte sich in München die NSDAP, die Stadt war im November 1923 Schauplatz eines nationalsozialistischen Putschversuches, begleitet von der Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung, und an der Münchner Universität wurde bereits Mitte der 1920er Jahre die Präsenz von Juden ganz offen infrage gestellt. In einer Stadt, in der sich – als Reaktion auf die Repressalien – ein jüdisches Eigenleben in einem stärkeren Maße entwickelte als in vielen anderen deutschen Städten, wirkt ein mehrheitlich christlicher Klub mit jüdischen Funktionsträgern und vermutlich mehr jüdischen Mitgliedern als die Konkurrenten TSV 1860 und FC Wacker zumindest aus heutiger Sicht wie ein liberaler Fels in einer zusehends stärker werdenden antidemokratischen Brandung.

Zerstörung einer liberalen Fußballkultur und sportlicher Abstieg

Dass der Deutsche Meister von 1932 in den folgenden Jahren einen sport-lichen Abstieg erlitt, hatte vor allem drei Gründe:

▶ Die veränderten fußballpolitischen Rahmenbedingungen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Zu erwähnen sind hier die Aufwertung der Auswahlmannschaften des Verbandes (auf Kosten des Klubfußballs) sowie die Zementierung des Amateurprinzips und die damit einhergehende »Umstellung vom Spesen-Amateur auf den ›bargeldlosen‹ Amateur« (»Fußball-Woche«), wovon so mancher »Arbeiterverein« profitierte und worunter so mancher »bürgerliche Klub« litt.

In den Jahren der Weimarer Republik gehörte der FC Bayern mit seinem Präsidenten Kurt Landauer zu den Kräften, die ein Ende der Scheinheiligkeit und eine legale Basis für die Bezahlung von Fußballspielern forderten. Im Oktober 1932 schienen diese Kräfte an ihr Ziel gelangt zu sein, aber die DFB-Führung nutzte die nationalsozialistische Machtübernahme und die folgende Neuordnung des deutschen Sports, um die Uhr wieder zurückzudrehen.

▶ Die Vertreibung der jüdischen Funktionsträger, Mitglieder und Sponsoren, namentlich des visionären und energetischen Präsidenten Kurt Landauer sowie des Meistertrainers und De-facto-Geschäftsführers Richard Dombi. Dadurch verlor der FC Bayern wichtige Mitarbeiter und Unterstützer, die den Klub und seinen Aufstieg an die nationale Spitze maßgeblich mitgestaltet hatten.

▶ Die gewisse anfängliche Widerständigkeit von Teilen des Klubs, der zunächst eine dezidiert nationalsozialistische Führung umging. Auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung sei der »alte demokratische Einschlag überwiegend geblieben«, heißt es in der Festschrift. Hier ist wohl etwas zu stark der Wunsch Vater des Gedankens der Autoren, aber dass die Nazifizierung des FC Bayern zunächst holperiger und zäher verlief als bei einigen anderen Vereinen, ist offensichtlich.

Die Nazis blieben dem FC Bayern gegenüber bis zum Schluss skeptisch bis ablehnend. Wohl wissend, dass es in dem Klub unverändert Mitglieder gab, die ihren ehemaligen jüdischen Präsidenten nicht vergessen hatten und das Regime nicht mochten. Als der FC Bayern im Mai 1944 südbayerischer Meister wurde, der einzige halbwegs erwähnenswerte Titel für den Klub in den NS-Jahren, lehnte der nationalsozialistische Oberbürgermeister eine Ehrung der Meisterelf mit der Bemerkung ab, »dass der FC Bayern bis zur Machtübernahme von einem Juden geführt worden ist«. Elf Jahre, nachdem Kurt Landauer sein Amt als Präsident »mit Rücksicht auf die staatspolitische Neugestaltung der Verhältnisse« niedergelegt hatte, und fünf Jahre nach seiner Flucht in die Schweiz war für die Nazis der FC Bayern noch immer mit der Person Kurt Landauer verbunden.

Ohne die Jahre des Nationalsozialismus hätte der Aufstieg des heutigen Rekordmeisters zum Branchenführer des deutschen Profifußballs möglicherweise eher begonnen. Und vielleicht hätte der FC Bayern auf seinen zweiten nationalen Meistertitel nicht bis 1969 warten müssen, also 37 lange Jahre.

Obwohl die Nazi-Periode zunächst einmal die weitgehende Zerstörung seiner liberalen Fußballkultur bedeutete, lässt sich beim FC Bayern doch deutlicher als bei vielen anderen Klubs ein roter Faden der Geschichte ausmachen. Je intensiver man sich mit der Zeit vor 1933 beschäftigt, desto augenscheinlicher werden die Übereinstimmungen des FC Bayern der Ära Kurt Landauer mit dem heutigen Klub.

Der FC Bayern der Jahre 1900 bis 1933, zumal der Jahre 1919 bis 1933, war von seinem Denken her nicht so viel anders als der moderne FC Bayern. Die Identität des heutigen FC Bayern wurde zu Teilen bereits von Kurt Landauer geprägt. Unter dem »bayerischen Urgestein« Landauer wurde der FC Bayern ein »Volksverein«, blieb aber vornehm und bewahrte sich einen Rest an »Anderssein« und avancierte zu einer modernen und treibenden Kraft im deutschen Fußball.

* * *

Dieses Buch erzählt in groben Zügen die Geschichte des FC Bayern und seiner Juden. Zwangsläufig müssen dabei die politischen Entwicklungen in Deutschland, Bayern und München sowie die allgemeineren Tendenzen im deutschen Fußball mitbetrachtet werden. Dazu gehört der enorme Einfluss, den das Auftreten ungarischer (und vielfach jüdischer) Spitzenkicker in München auf den FC Bayern hinterließ. Und dazu gehören natürlich die Konflikte, die moderne Klubs wie der FC Bayern München mit der Führung des DFB um die Frage des Berufsfußballs ausfochten.

Auch werden einige Klubs gestreift, denen die Münchner auf dem Spielfeld begegneten und die ebenfalls, manchmal in einem noch stärkeren Maß als die Bayern, als »Judenklubs« galten. So vor allem eine Reihe von Klubs aus Wien (Austria, WAC), Budapest (MTK, VAC) und Prag (DFC, Slavia), den Metropolen des sogenannten Donaufußballs, aber auch die AS Rom, der Racing Club de Paris oder die Tottenham Hotspurs. Selbst in Deutschland stand der FC Bayern mit seinen jüdischen Funktionsträgern und Mitgliedern unter den Spitzenklubs nicht alleine, wie u. a. die Beispiele Eintracht Frankfurt und 1. FC Nürnberg zeigen. Die Begegnungen mit diesen Klubs verdeutlichen, wie reichhaltig die kontinentaleuropäische Fußballkultur vor 1933 war – und wie viel sie durch den Nationalsozialismus und dessen europaweiten Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung anschließend verlor.

Aber die Geschichte des FC Bayern und seiner Juden endet nicht 1933 und auch nicht mit dem Holocaust. Die letzten Kapitel des Buches widmen sich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und der Rückkehr Kurt Landauers an die Spitze des Klubs; sie betrachten die Jahre, in denen die Vergangenheit auch beim FC Bayern in Vergessenheit geriet, und schließ-lich den langen und schwierigen Weg des Klubs zur Anerkennung seines »jüdischen Erbes«.

Das vorliegende Buch ist erstmals 2011 erschienen. Es wurde für die folgenden beiden Auflagen (2013, 2017) überarbeitet und an einigen Stellen stark ergänzt. Möglich wurde dies durch die Mithilfe des FC Bayern, namentlich Andreas Wittners und Fabian Raabes, die in der »FC Bayern Erlebniswelt«, dem 2012 eröffneten Klubmuseum des Rekordmeisters, ein Archiv aufbauten und sich im Rahmen dieser Arbeit auch auf die Suche nach den jüdischen Mitgliedern begaben. Auch Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv München konnte mir bei vielen Recherchen helfen.

Bedanken möchte ich mich aber auch bei Bernd-M. Beyer (Autor einer Biografie über Walther Bensemann), Dirk Kämper (Autor einer Biografie über Kurt Landauer), Eberhard Schulz (Initiator und Sprecher der Initiative »Nie Wieder! Erinnerungstag im deutschen Fußball«), Klaus Schultz (Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau), Werner Skrentny (Autor einer Biografie über Julius Hirsch) sowie den Sporthistorikern Prof. Dr. Lorenz Peiffer und Dr. Henry Wahlig.

Im Übrigen wird auch die dritte Auflage nicht das letzte Wort sein …

Kapitel 1

Von Freiburg nach München: Jüdische Fußballpioniere

Im Sommer 1993 stieg der Sportclub Freiburg erstmals in die 1. Bundesliga auf. Seither ist die Studentenstadt, die seit 2002 als erste deutsche Großstadt von einem grünen Oberbürgermeister regiert wird, aus dem deutschen Profifußball nicht mehr wegzudenken.

Die Saison 1994/95 beendete der Sportclub sogar als Dritter, lediglich drei Punkte trennten das vom ehemaligen Studienrat Volker Finke trainierte Team vom Deutschen Meister Borussia Dortmund. Die Breisgauer spielten den attraktivsten und modernsten Fußball der Liga und waren in aller Munde.

Bis Ende der 1970er Jahre war Freiburgs Nr. 1 aber nicht der Sport-club, sondern der um einige Jahre ältere Freiburger Fußball-Club (FFC), der sogar 1907 Deutscher Meister geworden war. In der Saison 1968/69 verpasste der FFC nur knapp den Aufstieg in die Bundesliga. Doch seit der Saison 1981/82, als man aus der 2. Bundesliga abstieg, ist der FFC aus dem Profifußball verschwunden. 1999 musste der von finanziellen Problemen geplagte Klub sein traditionsreiches Möslestadion verlassen, das nun zum Nachwuchszentrum des Lokalrivalen umgebaut wurde.

In der Saison 2010/11 war der FFC nur noch Landesligist und somit siebtklassig. Der Deutsche Meister von 1907 ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine andere historische Leistung der Freiburger Fußballpioniere ist weithin völlig unbekannt: Der FFC stand Pate bei der Gründung und Etablierung des heutigen deutschen Rekordmeisters Bayern München.

Freiburger Paten: Gus Manning und Ernst Schottelius

Dieses Buch wendet sich daher zunächst nicht nach München, sondern nach Freiburg, denn dort beginnt die Geschichte des FC Bayern und seiner Juden. Die Garnisonsstadt im Breisgau zählt zu den ganz frühen süddeutschen Fußballhochburgen. Die ersten Kicker sind junge Briten, die an einer englischen Militärschule auf ihren Dienst als Infanterieoffiziere vorbereitet werden. Fußball, Hockey, Cricket und Rugby sind Teil ihrer Ausbildung, und ab 1889 wird auf zwei gepachteten Wiesen an der Schwarzwaldstraße gespielt.

Am 17. Dezember 1897 gründen einige Studenten den Fußball-Club Freiburg. Sie bilden einen ziemlich polyglotten Zusammenschluss; auch ein amerikanischer Staatsbürger gehört dazu. Ein anderes Gründungsmitglied ist der 24-jährige Medizinstudent Gustav Randolph Manning, den die Versammlung im Gasthaus Allgeier auch zum ersten Präsidenten des jungen Klubs wählt.

Der im Londoner Vorort Lewisham geborene Manning ist britischer Staatsbürger. Sein Vater ist der aus Frankfurt/M. stammende jüdische Kaufmann Gustav Wolfgang Mannheimer, der ein Unternehmen in der Londoner City besaß und auf der Insel seinen Namen zu »Manninger« anglisieren ließ. In den 1880er Jahren verkaufte Mannheimer/Manninger sein Londoner Unternehmen und zog mit der Familie nach Berlin. Dort behielt die Familie den Namen, verkürzte ihn aber später zu »Manning«.

In Berlin traten Gustav Wolfgang Manning und seine drei Söhne Gustav Randolph (genannt »Gus«), Fridrich (genannt »Fred«) und Paul dem Berliner Cricket-Club bei. Gustav Randolph und sein zwei Jahre älterer Bruder Fred kickten in verschiedenen Berliner Vereinen, so auch dem 1893 von Dr. Hermani, dem Leiter der örtlichen »Höheren Knabenschule«, gegründeten VfB Pankow. Einer ihrer Mitspieler hieß Franz John, geboren im mecklenburgischen Pritzwalk und Sohn eines Postsekretärs.

Fred Manning war in den 1890ern auch an den ersten (gescheiterten) Versuchen beteiligt, einen Berliner Fachverband der Fußballer aufzubauen. Später, von 1904 bis 1916, wird er als Herausgeber des Golf- und Tennis-Journals »Der Lawn-Tennis-Sport« fungieren.

Sein Bruder Gustav Randolph Manning beginnt zunächst ein Studium an der Berliner Humboldt-Universität, 1894 geht er nach Freiburg und bezieht dort eine Wohnung in der Katharinenstraße 6. An der Albert-Ludwigs-Universität setzt er sein Medizinstudium fort und promoviert schließlich zum Doktor der Medizin.

Auch die meisten anderen Funktionäre und Spieler des Fußball-Clubs Freiburg sind Studenten der Albert-Ludwigs-Universität. »Es waren Professorensöhne selbst, die Söhne vermögender Freiburger Kaufleute und in erster Linie auch Söhne steinreicher Handelsleute, welche, wie damals im Deutschen Reich üblich, die Stadt Freiburg als Altersruhesitz erkoren«, schreibt FFC-Chronist German Kramer. Nach sportlichen Erfolgen läuft die Mannschaft in Frack, Stehkragen und mit aus Paris importierten großen, weitrandigen, weißen Strohhüten auf dem Kopf durch Freiburgs Straßen, weshalb der Klub als elitärer »Stehkragenverein« firmiert.

Erster Captain in der Geschichte des Vereins wird der 1878 in Würzburg geborene Medizinstudent Ernst Schottelius, Sohn des an der Albert-Ludwigs-Universität lehrenden Prof. Dr. Max Schottelius, der es dort bis zum Direktor des Instituts für Hygiene bringt. 1886 war die gesamte Familie Schottelius nach Freiburg gekommen, wo sie ein Anwesen in der Ludwigstraße 49 bezog. Die Schottelius’ sind evangelischen Glaubens. German Kramer: »Nach englischem Vorbild wurde der 1. Captain jeweils für ein Jahr von der Mannschaft gewählt. Schottelius war Trainer, Manager, Spielführer und Spieler in einer Person. Der Captain hatte das alleinige Kommando. Es gab keine Diskussionen.«

Seine Schulzeit hatte Ernst Schottelius – wie auch seine Brüder Bernard und Alfred – u. a. auf der Rotteck-Oberrealschule verbracht. Schüler dieser Lehranstalt riefen den »Verein Freiburger Oberrealschule« ins Leben, gewissermaßen ein Vorläufer des FFC, der jedoch – wie auch andere Schülervereine – nicht im Vereinsregister eingetragen war. Die Oberrealschulen und Realgymnasien waren auffällig häufig Geburtsort erster Fußballvereinigungen. Anders als das von »lateinischer Buchgelehrsamkeit« geprägte humanistische Gymnasium begnügten sie sich mit grundständigem Latein oder verzichteten ganz auf alte Sprachen. Stattdessen wurde der Fokus auf die naturwissenschaftliche und technische Ausbildung gerichtet.

Freiburger Juden: die Liefmanns

Im FFC finden auch Juden eine fußballerische Heimat. 1899 wird Harry Liefmann zum Präsidenten des Fußball-Clubs gewählt, ein Spross des wohlhabenden Kaufmanns Semmy Liefmann, der in Hamburg ein Vermögen mit dem Import von Kolonialwaren erworben hat. In Freiburg bezieht die Familie einen »Prachtbau« (Klubchronik) in der Goethestraße 33. Semmy Liefmann und seine Frau sind noch in Hamburg zum evangelischen Glauben konvertiert und haben auch ihre Kinder evangelisch taufen lassen.

Harry Liefmann schlägt eine akademische Laufbahn ein und lehrt später an der Universität Halle Bakteriologie und Hygiene. Er fällt im Ersten Weltkrieg. Bemerkenswert sind Lebenslauf und Schicksal seiner Geschwister. Der Bruder, Prof. Dr. Robert Liefmann, steigt zu einem berühmten Nationalökonomen auf. Die Schwester Else Liefmann wird Medizinerin und eröffnet 1915 im Elternhaus eine Praxis für Säuglingsund Kinderkrankheiten sowie eine »Ärztliche Erziehungsberatung«. In der Weimarer Republik engagiert sie sich als Stadtverordnete für die Deutsche Demokratische Partei (DDP), der Wahlpartei vieler bürgerlicher Juden, ist Mitbegründerin des »Deutschen Ärztinnenbundes« und Gründerin der Ortsgruppe Freiburg des »Deutschen Akademikerinnenbundes«.

Robert, Else und eine weitere Schwester namens Martha werden am 22. Oktober 1940 von der Gestapo in das südfranzösische Lager Gurs deportiert. Die Verschleppung der Liefmanns erfolgt im Rahmen der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion, benannt nach den Gauleitern Robert Wagner (Gau Baden) und Josef Bürckel (Gau Saarpfalz). Nach der Eroberung Frankreichs werden den beiden auch Elsass und Lothringen unterstellt – versehen mit dem Auftrag, diese Gebiete »judenfrei« zu machen. Die eifrigen Gauleiter dehnen die Deportation auf die im südwestdeutschen Reichsgebiet verbliebenen Juden aus. Für den Historiker Peter Steinbach lieferte die »Wagner-Bürckel-Aktion« eine Art »Masterplan« für die weitere Vertreibung der Juden aus Deutschland. 6.538 Deutsche jüdischer Herkunft wurden aufgefordert, sich auf der Stelle reisefertig zu machen. 403 von ihnen, darunter die Geschwister Liefmann, kamen aus Freiburg und den benachbarten Orten Breisach, Eichstetten und Ihringen.

Die Familie Liefmann wird enteignet, und in das Haus in der Goethestraße 33 zieht die Gestapo ein. 1941 erreichen Schweizer Freunde und Verwandte, dass die erkrankten Geschwister in eine Klinik nach Morlaas verlegt werden. Robert Liefmann stirbt kurz darauf an den Folgen der Lagerhaft. Martha Liefmann gelingt die Ausreise, Else Liefman flieht mithilfe von Freunden über die Berge in die Schweiz. Nach dem Krieg erhält sie das von den Nazis beschlagnahmte Haus in der Goethestraße wieder zurück, bleibt aber in Zürich, wo sie 1970 stirbt.

Seit 2002 dient das Liefmann-Haus der Freiburger Universität als Gästeunterkunft. Am 22. Oktober 2002, dem 62. Jahrestag der Deportationszüge nach Gurs, wird vor dem Haus der Liefmanns zum Gedenken der erste »Stolperstein« in Freiburg verlegt.

Süddeutscher Pionier: Walther Bensemann

Gäbe es vor der Jahrhundertwende bereits den FC Bayern, so wäre er sicherlich Mitglied im Verband Süddeutscher Fußball-Vereine (VSFV), der sich am 17. Oktober 1897 im Karlsruher Restaurant Landsknecht konstituiert hat. Sein Geltungsbereich erstreckt sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs auf das südliche Hessen, Elsass-Lothringen, die heutigen Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz (bis auf den Raum Koblenz, der zum Westdeutschen Spiel-Verband gehört), Baden, Württemberg und Bayern.

Im »Landsknecht« sind zwar Vereine aus Karlsruhe (FV, Fidelitas, FC Phönix 1894), Pforzheim (1. FC 1896), Heilbronn (FC 1896), Mannheim (Fußballgesellschaft 1896), Hanau (1. FC 1893) und Frankfurt (FC Germania 1894) vertreten, aber keiner aus Bayern und der Metropole München. Dabei wird auch an der Isar längst Fußball gespielt, so u. a. im Männer-Turn-Verein von 1879 (MTV 1879) München.

Mit dabei ist auch Walther Bensemann, Deutschlands wichtigster Fußballpionier. 1889 war Bensemann, Sohn einer jüdischen Berliner Bankiersfamilie, als Gymnasiast aus der Schweiz nach Deutschland zurückgekehrt, wo er nun als Spiritus Rector der jungen süddeutschen Fußballbewegung wirkt und an einer Reihe von Klubgründungen beteiligt ist: so in Karlsruhe (KFV, Meister von 1910), Freiburg, Baden-Baden, Frankfurt (Kickers, Vorläufer der Eintracht), Straßburg, Würzburg, Gießen, Mannheim und auch in München. Dort lebt Bensemann, wie er selber schreibt, im Jahr 1897 »in jenem Viertel, wo die Schelling- und die Türkenstraße liegen«, also in der Maxvorstadt bzw. im Universitätsviertel, wo auch einige der späteren Bayern-Gründer residieren. Wie aus späteren Zeitungsberichten sowie aus der Chronik des FC Bayern zu seinem 25-jährigen Bestehen hervorgeht, mischt Bensemann bei den ersten Emanzipationsversuchen der Fußballenthusiasten im MTV 1879 mit. 1897 konstituiert sich mit Bensemanns Hilfe im Turnverein eine eigene Fußballabteilung (FA).

Anlässlich seines 60. Geburtstags im Januar 1933 schreibt die »Münchner Zeitung«: »Wenn man von Pionieren im deutschen Fuß-ballsport spricht, dann darf Walther Bensemann, der Herausgeber des in Nürnberg erscheinenden ›Kicker‹, nicht vergessen werden. (…) Unter den vielen Vereinen, die er mit gründen half, befand sich auch die Fuß-ballmannschaft des MTV v. 1879, die während seiner Studienzeit entstand und die im heutigen DSV weiterlebt. So darf Bensemann auch als Pionier des Münchner Fußballs gelten.«

Süddeutschland ohne München

Bereits 1898 wird in Süddeutschland eine erste Landesmeisterschaft ausgespielt. Im Finale besiegt der FC Freiburg den Karlsruher FV mit 2:0. Rechtsaußen der Meisterelf ist Gus Manning, links neben ihm, in der Sturmmitte, agiert der 18-jährige Josef Pollack, Sohn des Freiburger jüdischen Kaufmanns Elias »Eduard« Pollack.

Den Vorsitz beim FC Freiburg hatte Manning schon ein halbes Jahr nach der Gründung und dem Abschluss seines Studiums an den aus Berlin stammenden Max George abgegeben. Manning will sich stärker dem Aufbau des süddeutschen Verbandes widmen. Berufliche Gründe verschlagen ihn vorübergehend in das damals noch zum Deutschen Reich gehörende elsässische Straßburg, wo er als Assistenzarzt an der Medizinischen Universitäts-Poliklinik arbeitet und sich dem Straßburger Fuß-ballverein anschließt.

Süddeutschlands erste Fußballmeisterschaft ist nur eine halbe Sache: Bayern und die Stadt München kicken nicht mit, da hier noch immer kein Team dem Verband angehört. Auch als am 28. Januar 1900 im Leipziger Volksgarten der 1. Allgemeine Deutsche Fußballtag zusammenkommt, wird München durch einen gemeinsamen Delegierten von FC Nordstern, 1. Münchner FC und FC Bavaria vertreten. Unter den Versammelten finden sich auch die Gebrüder Manning. Gus als Vertreter des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine, Fred als Vertreter des VfB Pankow. Der FC Freiburg hat Ernst Schottelius nach Leipzig geschickt. Und natürlich ist auch Walther Bensemann nach Leipzig gekommen, als Beauftragter des Mannheimer Fußballbundes sowie der Karlsruher Vereine Phönix und Südstadt.

Der Fußballtag debattiert über die Gründung eines nationalen Dachverbands und die Vereinheitlichung der Spielregeln. Die Teilnehmer sind sich uneins darüber, ob man vor einer Verbandsgründung einheitliche Regeln schaffen soll (wozu die Einrichtung einer Kommission genügt hätte) oder ob man sofort einen Verband gründet, der sich dann mit dem Regelwerk befasst. Gus Manning und seine Süddeutschen plädieren für den Verband, Walther Bensemann, die Leipziger und Berliner für die Kommission.

Schließlich stellen Fred Manning und drei weitere Delegierte einen Antrag zur Abstimmung, der »die Gründung eines allgemeinen deutschen Fußballverbands durch die heutige Versammlung« fordert. Dies ist der Durchbruch, denn der Antrag wird mit 64 zu 22 Stimmen angenommen, und 60 Vereine erklären ihren sofortigen Beitritt zum neuen Verband. Dessen Name übrigens geht auf einen Vorschlag Bensemanns zurück, über den gleichfalls abgestimmt wird: Deutscher Fußball-Bund.

*

Es war also ein extrem bunter Haufen, der den FC Bayern ins Leben rief und auf die Spur brachte. Herkunft spielte keine Rolle, man gab sich liberal und weltoffen. Die »Bayern-Macher« waren ambitionierte, kreative, von einem Pioniergeist beseelte und nach neuen Ufern strebende junge Männer, die auch neben dem Fußballfeld bemerkenswerte Karrieren einschlugen.

*Einer der Nachfolger Mannings ist der aus Deutschland stammende Jude Kurt Lamm (1919-1987), Präsident der USSF von 1971 bis 1987. Lamm, geboren in Salmünster (Osthessen), spielte zunächst u. a. für Borussia Fulda. 1936 Emigration in die USA (New York), wo er u. a. für Hakoah New York spielte. Als Trainer führte er Hakoah dreimal in Folge zum Gewinn der American Soccer League Champion ship. (Anfang der 1960er wird dieser Klub von Johan Herberger trainiert, einem Neffen Sepp Herbergers.) Nach dem Wechsel Franz Beckenbauers in die USA 1977 bat der DFB Lamm, mit dem neuen Arbeitgeber des ›Kaisers‹, Cosmos NewYork, über eine Freigabe für die Vorbereitung auf die WM 1978 zu verhandeln. 1993 wurde Lamm in die International Jewish Sports Hall of Fame und 1999 in die United States Adult Soccer Hall of Fame aufgenommen.