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Sascha Theisen

BALLBESITZ

Warum Fußballfans sich besser im Leben zurechtfinden

VERLAG DIE WERKSTATT

Für einen Peter Schmitz

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Der Autor

Sascha Theisen ist Erfinder der Lesereihe TORWORT, außerdem reüssiert er als Blogger, Autor und Jugendtrainer in seiner rheinländischen Heimat. Der unbelehrbare, aber standhafte Fan von Alemannia Aachen hat bereits mehrere erfolgreiche Fußballbücher veröffentlicht, darunter die Sammelbände Auf Asche! (2013, mit Ben Redelings) und Nach vorne! (2010) sowie das 2014 erschienene und mittlerweile viermal neu aufgelegte und aktualisierte Helden. Deutsche WM-Legenden von Bern bis Rio.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Coverfoto: Carl Brunn

ISBN 978-3-7307-0324-3

Inhalt

Vorwort

„SZENE F“

Der König von Stolberg

Meine Nacht als Guardiola

Das Ende der Strafrunden

Am Rande des Wahnsinns

Letzter Mann ist Torwart

ECHTE LIEBE

Unhaltbar!

Der Charme der Niederlage

Ursus, der Unbesiegbare

Die Magie der Tageskarten

Unbezahlbare Jungs

Das Dieter-Müller-Trauma

Ausgerechnet Westermann

BLUTGRÄTSCHEN

Rasenball-Rolf

Du warst nicht dabei!

Am Sonntag läft „Tatort“

Gerd Müller isst keine Mayonnaise

Abgestiegen

Der König der Welt

GROSSE SCHLACHTEN

Die Foxierung der Takahashisierung

There is not a team like the Glasgow Rangers

Die Besten aller Zeiten

Ein Parkplatz in Höhenberg

In den Wehen mit Clirim Bashi

Deutscher Meister – eine Radiokonferenz

GÄSTEBLOCK

Der Zettel (Christian Spoo)

Liebe auf den zweiten Blick (Philipp Terkampe)

Der Schuss und das beste Stück (Arne Jens)

Cristiano (Axel Post)

Die langsamsten Menschen der Welt (Axel Post)

TORWORT-Momente

The Rock Steady Crew

You can’t always get, what you want

Schlanker als im Fernsehen

Die Anette und der Poldi

Zu Gast bei Freunden

Danksagung

Kalla Schmitz. Ein Nachruf

Vorwort

Fußballfans haben normalen Menschen einiges voraus. Sie haben nämlich eine Klammer, die sie durchs Leben bringt. Schon in der fünften Klasse brillieren sie in Erdkunde mit La Coruña, Dnipropetrowsk oder Thessaloniki, einfach, weil sie von Eselsbrücken wie Deportivo, Dnipro oder PAOK profitieren. Sie verkraften den Verlust der ersten Liebe etwas besser, weil sie den gleichen stechenden Schmerz schon in der E-Jugend spürten, als sie gegen den Lokalrivalen verloren und dafür auf dem Schulhof mit Hohn und Spott übergossen wurden. Und sie stecken private wie berufliche Misserfolge besser weg, weil sie die Erfahrungen von bitteren Last-Minute-Niederlagen und zerschmetternden Abstiegen in sich tragen und wissen, dass es immer schlimmer kommen kann. Kurz: Sie sind durch eine Schule gegangen, die sie auf alles vorbereitet hat – den Umgang mit Glück, Schmerz, Prüfungssituationen oder Liebeskummer. Sie kommen einfach besser durchs Leben.

Die Geschichten in diesem Buch erzählen von Schlüsselereignissen des Lebens, für die so nur der Fußball sorgen kann. Schlüsselereignisse wie die perfekte Grätsche, das erste Tor des Lebens, das gewonnene Elfmeterschießen oder der dumpfe Schlag eines Gegentors, vertont durch das Rauschen des Balles entlang der Maschen des Tornetzes.

Viele der hier versammelten Geschichten stammen aus der Fußballlesung TORWORT – eine Fußballkulturreihe, die 14 Jahre lang in Köln und anderen Städten für Furore sorgte. Drei Beiträge wurden bereits an anderer Stelle veröffentlicht, gehören aber aufgrund des besonderen Zuspruches durch das TORWORT-Publikum einfach dazu. Wenn dieses Buch seinen Lesern nun genauso viel Laune bereitet wie die TORWORT-Abende seinen Besuchern, hat es sein Ziel erreicht. Zudem soll es eine Erinnerung an den viel zu früh verstorbenen Peter Schmitz sein, ohne den TORWORT nie das gewesen wäre, was es war. Peter zu kennen war Privileg und Ehre zugleich.

Sascha Theisen, im März 2017

„SZENE F“

Am Anfang steht die Mannschaft und zwar die eigene. Kinder- und Jugendfußball ist längst kein Spaß mehr, aber vielleicht war er das auch ohnehin nie. Krakeelende Väter am Spielfeldrand, zu Konzepttrainern mutierende Übungsleiter sowie der Traum vom ersten Tor: Junge Fußballer haben es nicht leicht. Und doch sind sie stärker, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind. Zugegeben: Es könnte schon leichter für sie sein – aber wer möchte schon ein leichtes Leben? Beobachtungen aus der „Szene F“.

Der König von Stolberg

Meine Karriere als Trainer der F-Jugend von Grün-Weiß Brauweiler begann auf holprigen Naturrasen in Kerpen-Horrem mit einem dritten Platz – ungeschlagen zwar, aber trotzdem nur auf dem dritten Platz. Glamour sieht anders aus. Und deswegen hatte die Ansprache des Horremer Jugendvorstandes etwas Tröstendes. Der hatte nämlich bei der Siegerehrung große Worte für die acht F-Jugend-Mannschaften. Dass F-Jugend-Fußball mehr ist als F-Jugend-Fußball, dämmerte mir schon länger. Hier wurde es offen und schonungslos thematisiert:

„Liebe Jungs, bevor wir zur Siegerehrung kommen, will ich euch für euren weiteren Lebensweg noch eines mit auf den Weg geben. Egal, was eure Eltern euch erzählen: Es gibt nichts Wichtigeres als den Fußball! Wenn auch eure Eltern mal mit euch schimpfen oder wenn im Leben mal eine Flaute auf euch zukommt, in der Schule oder irgendwann in der Liebe: Das ist nicht weiter schlimm! Denn der Fußball wird immer für euch da sein! Vergesst alles andere – nur der Fußball ist euer Freund!“

Einige Monate nach dieser denkwürdigen Ansprache spielte Alemannia Aachen in Wattenscheid gegen 09, das ohne Uwe Tschiskale, Samy Sané und ebenso wenig mit einem Hannes Bongartz auf dem Trainerstuhl antrat und vielleicht auch deshalb an Alemannia-Spielmacher Rafael García Doblas, dem einzigen Spanier mit zwei linken Füßen, verzweifelte. Ich war nicht im Lohrheidestadion. Das hatte einen guten Grund, denn zeitgleich spielten meine Jungs das erste Hallenturnier der Saison. Und das war nicht irgendwo, sondern ausgerechnet in Stolberg, beim Heimatverein von Egidius Braun – Qualifikation für den „Mexiko Cup“, der eine Woche später am gleichen Ort stattfinden sollte. Heimspiel also für mich! Keine Frage, dass ich die Jungs vor allem damit heißmachte, dass dies hier ein besonderer Ort für ihren Trainer sei und es deswegen keine billigen Ausreden gebe: Die Quali musste her. Egal, welche Flaute die Jungs in ihrem für mich uninteressanten Privatleben auch gerade durchmachten.

Wenn mich nicht alles täuschte, kam die Motivationsspritze auch gut an, wenngleich das ständige Versammeln um mein Handy, um den Liveticker aus Wattenscheid kollektiv als Teamevent zu zelebrieren, auf viele der Jungs etwas befremdlich wirkte – sind die meisten doch Fans des FC Bayern, von Borussia Dortmund oder des aufgrund des Wohnortes unvermeidlichen 1. FC Köln. Trotzdem zahlte sich meine positive Ansprache der letzten Monate aus, und die kleinen Kicker heuchelten wenigstens ein bisschen so etwas wie Interesse. Die verständnislosen Kopfschüttler nach dem Ergebnischeck übersah ich jedenfalls geflissentlich, zumal der eigene Sohnemann ehrlich und voller Stolz die Faust ballte, als Alemannia in Führung ging.

Nur einen interessierte das Ganze nicht mal im Ansatz: Johannes. Johannes war so etwas wie unser Ergänzungsspieler. Irgendwie war Fußball nicht so seine Sache, was ihn aber auch nicht sonderlich mitnahm. Am Ende war er froh, dabei zu sein. Ansonsten belächelte er seine Trainer eher, die tapfer und ausdauernd versuchten, wenigstens einen seiner Füße richtig einzurenken. Ein Tor hatte er in seiner Karriere bis Stolberg noch nicht geschossen, und jeder Versuch, ihn dahin zu bringen, scheiterte bisher kläglich. An seinen Mannschaftskameraden lag das nicht. Die versuchten alles, um ihn in Szene zu setzen – egal, wie aussichtsreich sie selbst gerade standen.

Als Trainer liegst du manchmal nachts wach und denkst darüber nach, ob es an dir liegt, wenn du einen Spieler nicht richtig weiterentwickeln kannst. Dann nimmst du dir mitten in der Nacht einen Block und zeichnest dir Trainingsübungen auf, mit denen es vielleicht klappen könnte. Schließlich willst du dir nicht irgendwann vorwerfen müssen, ein hoffnungsvolles Talent ignoriert zu haben. Bei anderen ist es noch etwas schwieriger. Bei denen fragst du dich nicht, wie du sie entwickeln kannst, sondern eher, wie du sie überhaupt erst mal anknipst.

Ausgerechnet in Stolberg kam die Erleuchtung, und zwar genau in dem Moment, in dem ich wieder einmal alle Jungs um mich versammelte, um Alemannias Bemühungen in Wattenscheid zu kon trollieren. Und als auf dem Handy dann ein sattes 3:0 für Schwarz-Gelb blinkte, mein Sohnemann und ich uns ungläubig anschauten, weil wir es nicht fassen konnten, und alle anderen uns anerkennend auf die Schulter klopften, da war klar: Wenn Rafael García, der einzige Spanier mit zwei linken Füßen, einen Doppelpack schnüren konnte, dann war heute auch der Tag, an dem Johannes treffen würde. Und so schritt ich mit meinem Co-Trainer voller Elan zur Mannschaftsbesprechung vor dem zweiten Spiel, stellte die Mannschaft ein und haute zum Schluss noch einen Motivationshammer raus, gegen den Christoph Daums „Geldscheine an die Kabinentür nageln“-Trick ähnlich kraftlos angemutet hätte wie eine Linke von Axel Schulz. Kurz nach der Mannschaftsaufstellung bat ich kurz um Ruhe und nutzte den seltenen Moment der Stille, um mit der Faust in die flache Hand zu schlagen und dabei laut und deutlich „Johannes!“ zu rufen. Dadurch aufgeschreckt, wurde Johannes wach und schien mir zum ersten Mal zuzuhören. „Johannes“, wiederholte ich. „Das ist dein Spiel – wir wechseln dich genau zur Hälfte ein, und dann machst du das Tor!“ Johannes nickte; ja, die ganze Mannschaft nickte. Die Einzigen, die allerdings wirklich daran glaubten, waren die beiden Mitglieder des offenbar verrückt gewordenen Trainer-Gespanns.

Das Spiel begann und war schnell entschieden. Unsere Jungs überrannten den Gegner und führten schnell mit 3:0. Also kam Johannes. Er hielt tapfer seine Position und versuchte ebenso tapfer, am Spiel teilzunehmen – allein, er tat es nicht. Und so gaben wir draußen am Spielfeldrand schon die Hoffnung auf. Sicherheitshalber schaute ich noch einmal auf meinem Handy nach, ob Alemannia nicht doch noch 3:3 gespielt hatte, denn dass das Spiel in Wattenscheid mit diesem Turnier hier in einer Art telepathischem Einklang stand, schien mir völlig klar. Da in der Lohrheide aber wirklich Schluss war, rief ich doch noch einmal ein lautes „Auf geht’s, Johannes!“ in die Halle, ohne noch recht an das Wunder zu glauben – erst recht nicht, als die anwesenden Zuschauer begannen, die letzten zehn Spielsekunden herunterzuzählen. Doch dann rauschte tatsächlich ein letzter Angriff auf das gegnerische Tor zu, und als das Publikum bei „vier“ angekommen war, rollte der Ball zu Johannes. Um Himmels willen, direkt zu Johannes. Es war einer dieser Momente, die in Jahrhunderten atmen. Offene Münder, verzerrte Schreie, lähmende Erwartungshaltung, alles wie in Superzeitlupe. Stundenlang schien Johannes auszuholen, um den auf ihn zurollenden Ball zu treffen. Und tatsächlich: Er traf ihn und schickte das Leder in Richtung Tor, in dem der Torwart sich streckte und lang machte. Vergeblich! Für Sekunden schien die Welt still zu stehen, als die Kugel wirklich und für alle sichtbar das Netz ausbeulte. Ungläubig drehte Johannes sich um, vergaß zu jubeln und schaute in meine Richtung. Aber auch ich verharrte! Ein Augenblick – was für ein Augenblick! –, der erst vom tosenden Jubel seiner Mannschaftskameraden unterbrochen wurde, die jetzt alle gemeinsam und ausgelassen auf ihn zuliefen, um sich mit ihm zu freuen.

Und so gewannen wir die Vorab-Quali um den Mexiko Cup ohne Gegentor. Und während sich in Wattenscheid gerade Rafael García, der einzige Spanier mit zwei linken Füßen, von den mitgereisten Fans feiern ließ, war in Stolberg ein König geboren worden. Deshalb sage ich euch: Wenn im Leben mal eine Flaute auf euch zukommt, ob in der Schule oder in der Liebe: Das ist nicht schlimm! Scheißt drauf! Denn es ist der Fußball – und nur der Fußball! –, der euer Freund ist! Sonst niemand! Egal, was eure Eltern euch erzählen!

Meine Nacht als Guardiola

Trainer zu sein, das bedeutet manchmal, morgens als Pep Guardiola aufzuwachen und abends als Sascha Theisen wieder ins Bett zu gehen. Beim Frühstück noch erotische Glatze und Dreitagebart, während des Abendbrots bei Salami- und Kräuterkäse-Schnittchen wieder graue Schläfen und ein kaputtes Knie in der Hose. Kontrast als Lebensgefühl! Scheitern als Gewissheit! Notorische Zweifler als ewige Begleiter!

Bevor ich Trainer wurde, beschimpfte mich mein Vorgänger erst einmal. Er hatte sich während eines E-Jugend-Turniers respektabel die Kante gegeben, und da war es aus ihm herausgebrochen. Nonchalant hatte er mich als „polnischen Arschficker“ ins Rennen um seine Nachfolge geschickt und so irgendwie auch gleich das Feld bereitet. Immerhin trat er anschließend mittels einer theatralischen Mail voller Rechtschreibfehler von seinem Amt zurück, um in die gleiche Position bei Bergheim 2000 zu wechseln. Selten passte der Begriff „Trainerkarussell“ besser zu einem Moment als hier.

Ab dem Moment, in dem du Trainer wirst, verändert sich dein Leben. Denn ab diesem Moment wackelt dein Stuhl! Um dich herum nur Leute, die es besser wissen als du! Du bekommst SMS, in denen dich Väter fragen, ob sie heute zum Spiel nicht besser mal vorsorglich einen Trainingsanzug anziehen sollen. Unter der Woche erreichen dich Verbesserungsvorschläge von anderen eifrigen Papas, die einen „echten“ Trainer getroffen haben, sprich: einen, der wirklich Bescheid weiß. Dann liest du zum Beispiel, dass man in der E-Jugend auch an die Entwicklung der Technik denken sollte. Du bekommst es mit Spielermüttern zu tun, die ihren Sohn während eines Matches und während des Trainings mit Nachnamen ansprechen oder die ganz nebenbei die Bemerkung fallen lassen, dass das Passspiel im Training grundsätzlich aber schon ein bisschen zu kurz komme. Folgerichtig fragen sie dich ganz offen, ob du schon mal daran gedacht hättest, einen „richtigen“ Trainer einzustellen; einen, der zwar 15 Euro die Stunde kosten würde, dafür aber weiß, was er tut. Du selbst bekommst 50 Euro – im Monat, versteht sich. Du hättest also das Geld, dreieindrittel Stunden lang einen Spitzenmann zu bezahlen. Aber hey – vielleicht gehört das alles einfach dazu. Denn an der Spitze ist es einsam, und da willst du hin. Countrystar oder Trainer, das sind am Ende die beiden einzigen Karrieren, die dir noch bleiben. Deshalb hältst du es aus. Denn du weißt: Trainer zu sein, das bedeutet zu überleben, jeden Tag; ein Leben, härter als jede noch so harte Morgenlatte.

II.

Es war ein scheißkalter Dienstagabend, an dem ich als gefühlter spanischer Fußballlehrer zum Sportpark Höhenberg von Viktoria Köln fuhr, mitten in der Einflugschneise des Flughafens Köln/Bonn. Ganz Trainer, der ich nun bin, nahm ich Platz auf einer ziemlich maroden Tribüne des „Pele-Wollitz-Gedächtnis-Stadions“, um ein Spiel zu analysieren, das ansonsten ziemlich viele Menschen so kalt wie diesen Abend lassen dürfte. Eines, das sich nur spanische Trainergötter oder eben Trainer wie ich geben, um den Puls des Fußballs zu schmecken, ihn zu fühlen, ihn zu atmen: Viktoria Köln gegen Alemannia Aachen! Spieler mit klingenden Namen hüben wie drüben: Markus Brenska, Masatoshi Hamanaka, Peter Hackenberg, Nazim Sangaré. Der Fußball und seine vergessenen Helden im unverwechselbaren Duft von Kerosin und kalter Februarluft – im übermächtigen Schatten ihrer Trainer Peter Schubert und Claus-Dieter Wollitz.

Eine Umgebung wie diese ist ein idealer Ort für Trainer meiner Güteklasse, um Gegenpressing, flache Neunen, vertikale Spielverlagerungen, Steckpässe, Box-to-Box-Player, inverse Flügelstürmer und ähnliche taktisch-strategische Trainerinsider zu analysieren. Wann löst sich das 4-4-2 auf? Wann wird es zum 4-2-3-1? Und wann zieht sich Alemannia wie eine Ziehharmonika zurück ins 5-4-1 der alten Schule? Dinge, die du einfach draufhast, wenn du ein Jahr lang die Rotzlöffel der F-Jugend in deinem Dorf trainiert hast und dich deswegen bei Liveübertragungen längst angewidert wegdrehst, wenn einer deiner Kumpel während der Sky-Konferenzschaltung den Mittelfinger abspreizt und laut schreit: „Mann! Jetzt geh’ doch mal richtig drauf da! Boah – da musste doch auch mal einen wegflexen! Körpersprache, doh!“ Nein – so warst du nie! Und wenn doch, dann war das in einem anderen Leben. Nein, du bist jetzt Trainer. Du schaust nicht zu! Du beobachtest! Du analysierst! Du ziehst Schlüsse!

III.

Beobachten, analysieren, Schlüsse ziehen: Genau das tat ich in Höhenberg, jenem Höhenberg, das mich in keiner Spielsekunde täuschen konnte. Oh, wie schnell ich doch erkannte, dass Alemannia gegen Viktoria, dass Schubert im feinen Rasenschach-Duell mit Wollitz auf die komplett falsche Taktik setzte! Denn die Viererkette, die Wollitz, der mit allen Wassern gewaschene und abgewichste Stratege, auf den Rasen der Einflugschneise geschickt hatte, maß insgesamt etwas mehr als 8,50 Meter. Klarer Fall von Übernahme der Lufthoheit. Kopfballkontrolle, keine Rücksicht auf die einfliegenden Drohnen und Passagiermaschinen über dem Höhenberg – die zweite Etage gehörte Wollitz. Eine ausgeklügelte Taktik! Denn in ihrer Statur erinnerten Wollitz’ Abwehrspieler an wahre Kleiderschränke, gegen die die Stürmer in Schuberts Alemannia eher wie Schubladen aussahen. Man musste also kein Pep Guardiola und noch nicht einmal ein Sascha Theisen sein, um zu erkennen, dass hier auf dem Viktoria-Rasen hohe und lange Bälle wenig bis gar nicht erfolgreich sein konnten. Da Peter Schubert das aber offenbar ganz anders sah, flog ein Pass nach dem anderen auf Erdumlaufbahnhöhe in Richtung Kölner Strafraum. „Atmosphärenschießen“ hatten wir das früher genannt, als wir, von schlimmen Katern gepeinigt, am Strand der niederländischen Küste Plastikbälle mit nackten Füßen in die Höhe bolzten und uns diebisch über die getroffenen Möwen freuten. Aber das ist eine andere Geschichte, die Schubert nicht kannte und deshalb wahrscheinlich auch nicht zu kopieren versuchte.

Wenn du am Höhenberg sitzt und das alemannische Atmosphärenschießen verfolgst, weißt du als Trainer jedenfalls: Auch wenn es so aussieht, das ist kein Zufall! Das ist die Marschrichtung! So soll hier gewonnen werden! Noch vor einem Jahr hätte ich wild und voller Entsetzen eine Satzstafette wie „Mann! Jetzt geh’ doch mal richtig drauf da! Boah – da musste doch auch mal einen wegflexen! Körpersprache, doh!“ in den kalten Abend gerufen. Jetzt aber war ich einfach nur entsetzt. Was war denn hier los? Alemannia verhunzte den Kick in diesem Höhenberg, weil sein Trainer völlig daneben griff! Shame on you, Schubert! Wer zum Geier hat dir die Trainerlizenz gegeben? Rolf Rüssmann hat einst gesagt: „Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt!“ Schubert schien Ähnliches vorzuhaben, denn seine Marschroute lautete offenkundig: „Wenn wir hier nicht gewinnen, dann schießen wir ihnen wenigstens die Köpfe kaputt!“

Oben auf der Tribüne erfasste mich der pure Ekel. Also erzählte ich jedem, der nicht schnell genug weghören konnte, dass hier nur Kurzpassspiel und Ballsicherheit die Spielidee der Stunde, der Matchplan, die Strategie sein konnten. „Passsicherheit ist die Zukunft des Spiels“, fabulierte ich im Überschwang des Trainerdaseins und bemerkte nicht, wie alle Sitzschalennachbarn auf Durchzug stellten und wohl lieber einen Becher Eiter ausgetrunken hätten, als sich neben Schuberts Schweinefußball auch noch meine selbstgefälligen Taktiktafel-Bauernregeln reinziehen zu müssen. Und als ob sie meine Worte verhöhnen wollten, spielte Alemannia munter weiter nach dem biederen Konzept des atmosphärischen „Hoch und Weit“ und bestätigte damit nach all den Jahren noch einmal den längst vergessenen deutschen und wenig spanischen Fußballlehrer Erich Ribbeck, der einst im Brustton der Überzeugung zu Protokoll gegeben hatte, dass Konzepte Kokolores seien. Nun denn – Kokolores war der Auftritt der Alemannia in Köln in jedem Fall. Und am Ende dieses Kokolores stand ein trostloses 0:2. Dafür war der hohe und weite Matchplan, den Wollitz’ 8,50-Meter-Riegel pulverisiert hatte, aber immerhin mit voller Konsequenz verfolgt worden.

IV.

„Das kann ich besser!“, dachte ich, ganz Pep, auf dem Weg zurück zum Höhenberger Parkplatz und freute mich schon mächtig auf den nächsten Tag. Da stand nämlich meine erste wirkliche Feuertaufe als Trainer auf dem Matchplan. Freundschaftsspiel am Tivoli mit meinen Jungs von Grün-Weiß Brauweiler gegen die achtjährigen Alemannen, die, bestimmt ganz nach Schuberts Philosophie sozialisiert, wahrscheinlich noch nie irgendetwas von Kurzpassspektakel gehört hatten. Klarer Fall: Hier und heute würde ich den ganzen Trainernovizen mal zeigen, was eine Harke ist. Tiki-Taka-Theisen kurz vor dem Durchbruch! Wenn es tatsächlich so etwas wie Trainerscouts gibt, würden sie an diesem Abend sicher zum Tivoli kommen. Und damit war klar: Sie würden mich entdecken, weil meine Jungs natürlich genauso zaubern würden, wie ich es ihnen vorzugeben gedachte.

Gesagt, getan! In der Mannschaftsbesprechung vor dem Kick gestikulierte ich wild, malte mit fuchtelnden Händen taktische Gebilde in die Luft und suhlte mich in taktischen Anweisungen. Wie von Sinnen schrie ich Vokabeln wie „Positionswechsel“, „Kurzpässe“ und „Gegenpressing“. Staunende Augen aus achtjährigen Köpfen schauten mich an, während die Ohren rechts und links davon auf Durchzug stellten. Ich für meinen Teil blieb trotzdem zuversichtlich, schließlich hatte ich einen unschlagbaren Plan – einen Plan allerdings, den das Spiel selbst schon bald durchkreuzte.

Schnell nämlich stand es 2:0 für Alemannia, und das lange bevor überhaupt ein Tiki-Taka-Pass gespielt werden konnte. Von da an ist die Geschichte des Spiels schnell erzählt: Grün-Weiß Brauweiler mit meinem verlängerten taktischen Arm Carl Theisen auf der zentralen Mittelfeldposition legte ein astreines Atmosphärenschießen-Programm auf den Kunstrasen links neben dem Tivoli. Lange und hohe Bälle waren das Mittel der Stunde. Bälle, die an den körperlich deutlich überlegenen Alemannia-Abwehrspielern jedoch ebenso ausnahms- und (für uns) hoffnungslos abprallten wie alle lautstark und verzweifelt ins Feld gebrüllten Anweisungen von der Trainerbank an den kleinen Kickern in meiner Obhut. Das Ergebnis war kalt wie die berühmte Hundeschnauze und traf den spanischen Wundertrainer auf der Brauweiler Bank mitten ins Trainerkontor: 0:8! Tiki-Taka-Theisen am Boden – gepeinigt von Blicken, die zu sagen schienen: Wir sollten mehr Technik und Passspiel im Training üben!

V.

Geprügelt wie ein Hund schlürfte ich zwanzig Meter hinter meinen Jungs vom Feld zum Parkplatz, das volle Ballnetz geschultert und mich pausenlos selbst mit der Frage marternd, was aus meiner Spielidee geworden war. Auf dem Weg zum Auto stieß ich beinahe noch mit Nazim Sangaré zusammen, der am Vorabend am Höhenberg 90 Minuten auf der Bank gesessen hatte. An seiner Hand führte er einen Schuss, der meine Tochter hätte sein können. Ich schaute nicht auf, grüßte weder ihn noch seine Perle – warum auch? Ich war tief gefallen, war wieder Theisen, nach einer einzigen Nacht als Guardiola. Kontrast als Lebensgefühl! Scheitern als Gewissheit! Notorische Zweifler als ewige Begleiter! Trainer eben!

Das Ende der Strafrunden

Nichts verklärt sich mit den Jahren mehr als die eigene Vergangenheit. Was früher bittere Wahrheit war, ist heute höchstens noch eine nachlassende Erinnerung. Nirgendwo merke ich das mehr als auf dem Trainingsplatz, wo ich mir als Jugendtrainer mittlerweile einen Ruf irgendwo zwischen „Ernst Happel ohne Zigaretten“ und „Helmut Schön ohne Mütze“ hart erarbeitet habe. Als selbsternannter Trainer-Gott kämpfe ich einen harten, aber gerechten Kampf gegen Fehlpässe, Schlendrian und sinnlose Grätschen. Der Einzige, der weiß, dass ich selbst einst als Spieler genau für diese (Un-)Tugenden stand, bin ich selbst. Und weil ich es niemandem erzähle, kann es mir auch niemand vorwerfen. Die, die einst dabei waren, als Fehlpässe, Schlendrian und sinnlose Grätschen zu mir gehörten wie die Peitsche zu Max Merkel, wohnen mittlerweile ganz woanders und trainieren wahrscheinlich selbst irgendwo die Mannschaften ihrer Kinder – eine ganz neue Trainergeneration ist da entstanden, die immerhin weiß, wie man es nicht macht.

Geht etwa einer meiner Jungs im Training frei auf das gegnerische Tor zu, und einer der Verteidiger macht sich auf, ihn noch vor dem Torschuss abzugrätschen, bin ich es, der beschwörend und vielleicht etwas zu feierlich das Training unterbricht, zur Ruhe mahnt und in angemessener Trainer-Lautstärke das Wort an die Mannschaft richtet: „Auf den Beinen bleiben! Auf den Beinen bleiben!“ Bleibt der Verteidiger im Laufe der weiteren Übungseinheit tatsächlich dort oben auf seinen Beinen, bekommt er das wohlverdiente Lob des Trainers und darf sicher sein, am kommenden Samstag in der Startelf zu stehen. Bleibt er allerdings nicht dort, weht ihm der eisige Wind der trainerlichen Ansage entgegen, fachlich fundiert natürlich. So viel Konzepttrainer muss dann schon noch sein. „Du nimmst dich nur selbst aus dem Spiel!“ Denn wer am Boden liegt, kann nicht mehr verteidigen. Hätte mir das doch auch mal jemand erzählt, als ich einst meine Oberschenkel bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den Aschenplätzen des Kreises Düren wundgrätschte.

Noch schlimmer als die grätschenden Verteidiger trifft es während unserer gemeinsamen Übungsstunden allerdings die selbsternannten Künstler – die, die das Erlernen des Spiels nicht wie ihr Coach als harte Arbeit, sondern als willkommene Spaßveranstaltung verstehen. Künstler, so wie Olli einer ist. Jener Olli, der zu meinen Lieblingsspielern gehört, weil er das Spiel und das Leben liebt. Er hat zwar kein ausgeprägtes Faible für die Blutgrätsche, dafür aber für den gepflegten Hackentrick, egal in welcher Situation. Er streichelt den Ball am liebsten mit der Ferse, im Aufwärmspielchen genauso wie mitten in einer von seinem Trainer am Schreibtisch akribisch erdachten Passübung, im Trainingskick oder bisweilen auch im Spiel. Im Rahmen hochfeierlicher Elterngespräche sagt sein Vater dann wahrscheinlich gar nicht mal zu Unrecht, dass sein Sohn sich damit eben ausprobiere. Und trotzdem: Seinen Trainer beschleicht eher das Gefühl, dass er damit ausprobiert wird. Etwa dann, wenn Olli den Hackentrick frei vor dem gegnerischen Tor auspackt und ausprobierend scheitert. Um ihm die Flausen auszutreiben, greife ich bei fast jedem Hackentrick auf die gute alte Trainerschule zurück und ordne eine Strafrunde nach der anderen an – ein Instrument, das bei Elfjährigen erstaunlich gut funktioniert. Notiz an mich selbst: Max Merkel hatte recht!

Was indes weder Olli noch seine Mannschaftskameraden ahnen und auch besser nie erfahren: Sie hätten ihre wahre Freude an mir gehabt. Denn ich war einer von ihnen und ging einst selbst unter dem Spitznamen „Die Grätsche“ in die schnell (und an späterer Stelle noch ausführlicher) erzählte Geschichte der Zweiten Mannschaft des TSV Stockheim 09 ein. Noch dazu beendete ich kein Training, ohne wenigstens einen erniedrigenden Beinschuss gesetzt oder einen unnötigen Hackentrick zum Besten gegeben zu haben. Was der Trainer dazu sagte, interessierte mich herzlich wenig. Lieber feierte ich solche Aktionen lautstark bis in die Kabine hinein und nahm den Platz auf der samstäglichen Ersatzbank gleichmütig hin, wusste ich doch: Auf den Beinen bleiben sollen ruhig die anderen. Nichts verklärt sich mit den Jahren eben mehr als die eigene Vergangenheit.

Und weil es so ist, wie es war, freute ich mich mächtig, als mein Sohn Carl seinen besten Kumpel Olli an einem dieser Freitage dazu überredete, mit uns ins Stadion zu fahren, um dort eine ihm noch völlig unbekannte Mannschaft namens Alemannia Aachen anzuschauen. Ganz entspannter Spieltagsvater und für einen Abend kein bisschen Trainer kaufte ich jedem der Jungs eine Cola und eine Stadionwurst. Anschließend schlenderte ich mit ihnen zur Sitzplatzschale der Wahl und studierte an ihrer Seite das Stadionheft. Ich war zwar einigermaßen neugierig, wie Olli das Spiel und die Mannschaft meines Herzens gefallen würden, war mir aber sicher, dass er hier nicht viel von dem finden konnte, was ihn ansonsten auf dem Trainingsplatz so entzückte.

Doch dann nahm das Spiel seinen Lauf. Wir sahen eine schnelle 2:0-Führung einer erstaunlich gut aufgelegten Heimmannschaft, die von Carl und mir mit einem ungläubigen Blick und ekstatischem Jubel gefeiert wurde, während Olli wohl dachte, dass Fußball hier immer so gespielt würde. Kein Vorwurf, er konnte ja nicht wissen, dass so ein Spektakel ganz und gar nicht üblich war an diesem Ort – viel weniger üblich jedenfalls als der obligatorische 2:2-Ausgleich durch die Gastmannschaft aus der Bundesstadt am Rhein in der zweiten Halbzeit. Und so schien zu kommen, was ich schon vorher ahnte: Ollis erster Besuch in diesem Stadion drohte auch sein letzter gewesen zu sein. Bis, ja bis eine Flanke vom rechten Flügel in den gegnerischen Strafraum segelte und in der Mitte ein Mann namens Hammel den Ball weder mit dem Vollspann noch mit dem Innenrist auf das gegnerische Tor bugsierte. „Du Hammel“, wollte ich noch, völlig überwältigt von der Chance dieses einzigartigen Wortwitzes, auf das Spielfeld rufen. Ich tat es aber nicht, denn es passierte, was offenbar nur passieren konnte, weil Olli neben uns saß. Hammel packte seine rechte Hacke aus und schickte das Leder hinter dem eigenen Standbein zum vielumjubelten Heimsieg samt späterer Nominierung zum „Tor des Monats“ in die gegnerischen Maschen. Ich glaubte nicht, was ich sah, jubelte aber umso ausgelassener – und als ich dabei wie beiläufig zu Olli hinüberschaute, sah ich das überlegene Lächeln eines stillen Siegers. Wie recht er doch hatte.

Ich wollte es ihm noch sagen, tat es aber lieber nicht: Nichts verklärt sich mit den Jahren mehr als die eigene Vergangenheit. Und lang lebe der Hackentrick!

Am Rande des Wahnsinns