Kaufsucht in der Schweiz

Kaufsucht in der Schweiz

Verbreitung, Ursachen und Konsequenzen

Dissertation

zur Erlangung der Würde einer Doktorin der Philosophie

vorgelegt der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel

von Verena Maag

von Höri (Zürich)

Zürich, 2010

Somedia Buchverlag, Edition Rüegger

Genehmigt von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel, auf Antrag von Prof. Dr. Ueli Mäder (Referent) und Prof. Dr. Claus-Heinrich Daub (Korreferent).

Basel, den 11. Februar 2010

Der Dekan
Prof. Dr. Jürg Glauser

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Somedia Buchverlag, Edition Rüegger • Zürich/Chur 2010

www.somedia-buchverlag.ch

info-buchverlag@somedia.ch

ISBN: 978-3-7253-0950-4, Print

ISBN: 978-3-7253-1063-0, E-Book, 2018

Gestaltung: Somedia Buchverlag

Druck: Somedia Production AG

Vorwort

Ziel der vorliegenden Studie war es, das Problem der Kaufsucht in der Schweiz zu erforschen und damit Licht auf ein gesellschaftliches Phänomen zu werfen, welches bisher in unserem Land kaum Beachtung gefunden hat. Es ging darum, Risikogruppen zu identifizieren und Konsequenzen ihres Verhaltens zu dokumentieren. Zu diesem Zweck habe ich eine repräsentative Bevölkerungsbefragung durchgeführt.

Neben diesem aus der gesellschaftlichen Praxis stammenden Erkenntnisinteresse leistet die Arbeit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erklärung dieser vielschichtigen Problematik.

Die Erhebung zeigt, dass Kaufsüchtige oft in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Das ist für die Betroffenen belastend und kann zu Konflikten mit ihren Angehörigen führen. Da unkontrolliert Konsumierende oft ihre Steuerschulden aufschieben, betrifft das Problem jedoch auch den Staat, dem die entsprechenden Einnahmen entgehen.

Aufgrund ihrer hohen sozialpolitischen Relevanz wurden die Erhebungskosten der Studie von der Forschungsförderung der Berner Fachhochschule übernommen. Die Datenerhebung führte das GfS-Forschungsinstitut Zürich im Rahmen einer Multithemenbefragung durch.

Für Ermutigung und fachliche Unterstützung möchte Herrn Dr. Dr. H. Klingemann und für statistische Beratung Herrn Dr. A. Tschopp herzlich danken. Sehr hilfreich war auch Frau Dr. L. Reisch, welche mir Zugang zu ihrer umfangreichen Kaufsuchtdokumentation an der Universität Hohenheim bei Stuttgart gewährte. Vielen Dank!

Bei der Erfassung der finanziellen Schwierigkeiten von Kaufsüchtigen waren die Anregungen von Frau P. Frommert vom Verein Schuldensanierung Bern und Herrn R. Flückiger von Revi-leasing hilfreich; denn beide kennen die zunehmende Verschuldung privater Haushalte aus ihrem beruflichen Alltag. Die Vertretung einer Kreditkartenfirma einzubeziehen gelang leider nicht, obwohl auch die Rolle dieses Zahlungsmittels untersucht wurde.

Die Resultate der Studie sind auf grosses öffentliches Interesse gestossen. Dabei war die Zusammenarbeit mit Herrn J. Gschwend, Präsident des Dachverbandes Schuldenberatung Schweiz, sehr produktiv.

Die vorliegende Dissertation wurde im Februar 2010 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel genehmigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. U. Mäder vom Institut für Soziologie der Universität Basel für seine wertvollen Anregungen und seine Unterstützung sowie Herrn Prof. Dr. C.-H. Daub für die Übernahme des Korreferates.

Schliesslich möchte ich all jenen nicht namentlich erwähnten Personen herzlich danken, die an dieser Arbeit Interesse gezeigt oder in irgendeiner Form mitgewirkt haben.

Als Autorin habe ich im Text eine geschlechtsneutrale Schreibweise verwendet, entsprechend dem «Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung» der Schweizerischen Bundeskanzlei (1996).

Einführung

1.1 Kaufsuchtproblematik und empirische Forschungsfragen

Der wachsende Wohlstand der vergangenen Jahrzehnte in den hoch industrialisierten Ländern hat zu einem Bedeutungswandel des Konsums geführt: Man kauft nicht nur Güter und Dienstleistungen für den Alltagsgebrauch, sondern der Konsum spielt auch eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Identitätsbildung. Auf ökonomischer Ebene sichert Konsum Beschäftigung und Wachstum und wird darum positiv gewertet. Die ökologischen Folgeschäden der Wegwerfgesellschaft nimmt man dabei in Kauf. Unkontrolliertes Kaufverhalten kann als weitere unerwünschte Nebenwirkung eines ansonsten erwünschten Verhaltens verstanden werden. Zunehmend mehr Personen können den immer neuen Verführungen der angebotenen Waren weniger gut widerstehen, als sie möchten.

Das Phänomen der Kaufsucht wird in der Schweiz bis 2003 nur sehr selten thematisiert. Spinatsch (2004) analysiert die Berichterstattung über Suchtprobleme und stellt dabei fest, dass hauptsächlich illegale Drogen im Zentrum des Interesses stehen, gefolgt von Alkohol und Tabak. So erscheinen in der Neuen Zürcher Zeitung von 1998–2002 5282 Artikel über den Konsum illegaler Drogen, 2824 Artikel über Tabak- und 2707 über Alkoholsucht. Im gleichen Zeitraum sind 69 Artikel der Arbeitssucht, 66 der Spielsucht und nur drei der Kaufsucht gewidmet.

Zur Vernachlässigung des Problems trägt auch bei, dass Kaufsüchtige selber ihr Problem gerne verheimlichen. Da Kaufsucht im Unterschied zu Alkoholismus und Drogensucht als Krankheit nicht allgemein anerkannt ist, leiden Kaufsüchtige oft unter Schamgefühlen und begeben sich kaum von selbst in Behandlung.

Auf indirekte Art taucht das lange verkannte Problem dennoch auf, und zwar unter der Rubrik der Verschuldung. Die zunehmende Verschuldung der Privathaushalte ist die augenfälligste Konsequenz unkontrollierten Kaufverhaltens und lässt sich auf Dauer schlecht unter den Teppich kehren.

Obwohl das Phänomen der Kaufsucht schon seit längerer Zeit bekannt ist, setzt seine wissenschaftliche Erforschung erst Ende der Achtzigerjahre ein, und zwar zunächst in den USA (Faber et al., 1987), in Kanada (Valence et al., 1988) und in Deutschland (Scherhorn et al., 1990, 1994).

Bis 2003 liegt in der Schweiz kein gesichertes Wissen über die Verbreitung der Kaufsucht vor. Eines der Hauptziele meiner Studie ist es daher, diese Forschungslücke zu schliessen und die Verbreitung unkontrollierten Kaufverhaltens erstmals gesamtschweizerisch zu dokumentieren. Folgende empirischen Forschungsfragen ergeben sich aus dieser Zielsetzung:

• Wie viele Kaufsüchtige gibt es in der Schweiz, und wie verbreitet ist die Tendenz zu unkontrolliertem Kaufverhalten?

• Wer ist besonders von unkontrolliertem Kaufverhalten betroffen? Neigen jüngere Personen und Frauen stärker zu Kaufsucht?

• Welche Rolle spielen Kreditkarten? Verwenden Kaufsüchtige sie anders als Nicht-Kaufsüchtige?

• Welche persönlichen, sozialen und finanziellen Konsequenzen kann unkontrolliertes Kaufverhalten nach sich ziehen?

Diese Forschungsfragen werden anhand meiner Repräsentativerhebung und auf der Basis der Erkenntnisse der Kaufsuchtforschung beantwortet.

Der Fokus des empirischen Teils der Studie liegt somit nicht bei den Gründen unkontrollierten Kaufens, sondern bei der Verbreitung und den negativen Folgen. Das zur Identifizierung der Zahl der Kaufsüchtigen verwendete Erhebungsinstrument und die festgestellten Risikogruppen erlauben jedoch auch Rückschlüsse auf die vielfältigen Ursachen der Kaufsucht.

1.2 Interdiziplinäre Fragestellungen und Methode

Unkontrolliertes Kaufverhalten hat nicht nur eine Ursache, sondern es spielen verschiedene Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen zusammen. Die wissenschaftliche Erforschung unkontrollierten Kaufverhaltens ist deshalb Gegenstand mehrerer akademischer Disziplinen, insbesondere der Psychiatrie und der Konsumforschung, aber auch der Psychologie, der Sozialpsychologie, der Soziologie und des Marketings. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt die Erklärungsansätze all dieser Disziplinen, um so eine möglichst realitätsnahe und umfassende Sicht auf das vielschichtige Phänomen zu ermöglichen.

Ansätze aus der Psychiatrie nehmen in der Erforschung der Kaufsucht breiten Raum ein, vor allem in den USA. Die im Rahmen klinischer Studien ermittelten Forschungsresultate erfassen jedoch nur die Extremformen von süchtigem Kaufverhalten, von «compulsive buying», wie der Ausdruck in der angelsächsischen Welt heisst. Sie zeichnen sich durch eine individualisierende und pathologisierende Perspektive aus. Diese einseitige Optik soll hier durch das Einbeziehen soziologischer und psychologischer Erklärungsansätze korrigiert werden, wie sie im nächsten Abschnitt 1.3 überblicksartig dargestellt sind.

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich insbesondere auch die Konsumforschung für das Thema interessiert. Ihre Forschungsresultate haben den Vorzug, nicht nur die pathologische Spielart unkontrollierten Kaufens, sondern das ganze Spektrum vom normalen, kontrollierten bis hin zum süchtigen Kaufen zu beinhalten. Das in dieser Studie verwendete Instrument zur Erhebung unkontrollierten Kaufens stammt aus der Konsumforschung, weil es sich besonders eignet, unkontrolliertes Kaufen in der Allgemeinbevölkerung zu erfassen.

Um die oben aufgeführten Fragen zu beantworten, realisierte ich im Februar 2003 erstmals eine für die gesamte Schweiz repräsentative Bevölkerungsbefragung. Eine ausführliche Beschreibung der Stichprobe, der Befragungsmethodik, des eingesetzten Erhebungsinstrumentes sowie der statistischen Auswertung findet sich am Anfang des empirischen Teils dieser Arbeit.

1.3 Erklärungsansätze und Gliederung der Arbeit

Im ersten Teil leite ich in die Problematik der Kaufsucht ein, erwähne die Hauptziele der Studie und führe die empirischen Forschungsfragen auf, die sich daraus ableiten lassen. Anschliessend erläutere ich das interdisziplinäre Vorgehen und die angewandte Methode.

Der zweite Teil widmet sich den Erklärungsansätzen der verschiedenen Disziplinen zum Thema Kaufsucht. In Abschnitt 2.1 gehe ich der Frage nach, wie die Gesellschaft insgesamt den Konsum fördert; nicht zufällig bezeichnen wir unsere Gesellschaft als Konsumgesellschaft. Sie bildet den Nährboden, auf dem Konsum stattfindet, sowohl normaler, kontrollierter Konsum wie auch die pathologische Spielart. Auf einer mittleren Ebene spielen Umgebungs- und Gelegenheitsfaktoren eine Rolle; sie sind Gegenstand des Abschnittes 2.2. Dazu gehören die Zeit, die man in Läden verbringt, die Tatsache, dass Einkaufen eine der wichtigsten Freizeitaktivitäten geworden ist, und eine ansprechende Einkaufsinfrastruktur. Auch die Kreditkarten lassen sich als Gelegenheitsfaktor verstehen; ihre Rolle wird im Rahmen dieser Studie speziell untersucht. In Abschnitt 2.3 beleuchte ich die individuelle Ebene: Welche Persönlichkeitsfaktoren fördern die Entstehung süchtigen Kaufverhaltens? Hier geht es um Defizite der Persönlichkeit wie mangelnde Selbstkontrolle, ein tiefes Selbstwertgefühl oder Depressivität, aber auch um die Verinnerlichung materialistischer Wertvorstellungen und das Gefühl innerer Leere.

In Abschnitt 2.4 behandle ich Ansätze, welche die Übervertretung der Frauen zu erklären versuchen. Abschnitt 2.5 geht der Frage nach, weshalb unkontrolliertes Kaufverhalten ein stark altersabhängiges Phänomen ist, d. h. jüngere Personen sehr viel stärker betrifft als ältere.

Abschnitt 2.6 beschreibt, was unter unkontrolliertem Kaufen zu verstehen ist. Dabei werden die Klassifikationen und Definitionen erörtert, welche sich in den verschiedenen Fachbereichen etabliert haben. In Abschnitt 2.7 stelle ich das Erhebungsinstrument vor, welches hier zur Erfassung unkontrollierten Kaufens verwendet wird. Die Verbreitung unkontrollierten Kaufens in westlichen Wohlstandsgesellschaften steht im Mittelpunkt des Abschnittes 2.8. In diesem Zusammenhang interessiert vor allem, ob die verfügbaren Studien darauf schliessen lassen, dass sich der Anteil Kaufsüchtiger in den letzten Jahren vergrössert hat.

In Abschnitt 2.9 gehe ich auf die Konsequenzen unkontrollierten Kaufens ein, und zwar sowohl auf die finanziellen wie auch auf die persönlichen und sozialen Probleme.

Nach der Darlegung des Forschungsstandes und der daraus abgeleiteten Präsentation des verwendeten Instrumentes stelle ich im dritten, empirischen Teil die Resultate dieser Studie vor. Eingangs beschreibe ich, wie die Datenerhebung erfolgte, stelle überblicksartig den Fragebogen und seine Quellen vor und dokumentiere die statistischen Auswertungsmethoden (Abschnitt 3.1).

Als Erstes geht es um die Verbreitung der Kaufsucht in der Schweiz zum Erhebungszeitpunkt 2003 (Abschnitt 3.2). Die geschlechts- und altersspezifische Verteilung von Kaufsucht und die Risikogruppe junge Frauen sind in den Abschnitten 3.3–5 behandelt.

Abschnitt 3.6 gibt Auskunft über den Zusammenhang von Kreditkartenbesitz und -gebrauch und unkontrolliertem Kaufverhalten. Abschnitt 3.7 beleuchtet die Probleme, welche unkontrolliertes Kaufen nach sich zieht, insbesondere die Verschuldung, aber auch Konflikte im sozialen Umfeld.

Im vierten Teil fasse ich die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie zusammen, diskutiere sie und stelle den Bezug zur Theorie her. Anschliessend ziehe ich die Schlussfolgerungen, die sich aus den Resultaten dieser Studie für die Forschung und die Praxis ergeben.

Der fünfte Teil enthält neben dem Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen die Fragebogen in deutscher und französischer Sprache sowie das Literaturverzeichnis.

Theoretische Ansätze und Forschungsstand

2.1 Gesellschaftliche Ursachen von Kaufsucht

Obwohl die meisten Studien zur Kaufsucht vorwiegend psychologische Determinanten untersuchen, spielt das gesellschaftliche Umfeld eine entscheidende Rolle. Der Konsum ist ein wesentliches Gestaltungselement unserer hochentwickelten Gesellschaften, und es ist kaum möglich, sich dem Einfluss dieser Konsumkultur vollends zu entziehen. Dennoch sind Konsumierende keine willenlosen, aussengesteuerten Marionetten, und unkontrolliertes Kaufverhalten lässt sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss allein nicht erklären, auch wenn dieser noch so stark und allgegenwärtig ist. Erst wenn individuelle Defizite vorliegen, kann Kaufsucht entstehen. Sie ist das Produkt eines komplexen Zusammenwirkens äusserer und innerer Faktoren. Dieser Abschnitt 2.1 beschreibt zunächst die Bedeutung des Konsums in unserer Gesellschaft, ohne dabei die pathologische Spielart speziell ins Auge zu fassen. Auch interessiert hier, warum der normale Konsum in unserer Gesellschaft einen überaus fruchtbaren Boden für Kaufsucht darstellt.

2.1.1 Konsum als soziale Distinktionspraxis

Theoretische Ansätze, welche den Konsum als sozialen Distinktionsprozess auffassen, liegen bereits seit hundert Jahren vor: Veblen erklärt in seinem 1899 erstmals erschienen Buch «The Theory of the Leisure Class» (Veblen, 1975 [1899]) den demonstrativen Konsum und Müssiggang der herrschenden Klasse mit deren Bedürfnis, soziales Prestige zum Ausdruck zu bringen. Die konsumierende Frau unterstützt dabei die Statusposition des Mannes, indem sie sich modisch kleidet.

Auch Simmel (1998 [1923]) beschreibt, wie Personen aus niedrigeren sozialen Schichten das Konsumverhalten von Angehörigen höherer Schichten nachzuahmen versuchen. Er analysiert die Doppelrolle der Mode als Anpassungs- und Unterscheidungsmittel: «Sie ist Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, sie führt den Einzelnen auf die Bahn, die Alle gehen, sie gibt ein Allgemeines, das das Verhalten jedes Einzelnen zu einem blossen Beispiel macht. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterscheidungsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-abheben.» (Simmel, 1998, S. 40)

Bourdieu (1982) beschreibt, wie soziale Distinktion durch Geschmack und Kulturkonsum ausgedrückt wird. Der Konsum kultureller Güter erfordert kulturelle Kompetenz und ist abhängig vom Ausbildungsgrad und der sozialen Herkunft. Der Kunstkonsum dient der Erlangung von sozialem Status und erfüllt so die Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede.

2.1.2 Konsum in der Überflussgesellschaft

Nach dem Zweiten Weltkrieg breitet sich die Konsum- und Wohlstandsgesellschaft rasch aus und ruft dabei auch kritische Stimmen auf den Plan, welche die problematischen Seiten dieser neuen Entwicklung beleuchten (siehe auch Abschnitt 2.1.9).

Schon vor fünfzig Jahren analysiert der amerikanische Ökonom und Sozialkritiker Galbraith in seinem Buch «The affluent society» (1958) die Rolle des Konsums in den modernen Wohlstandsgesellschaften. Er stellt darin fest, dass die steigende Güterproduktion, die noch im 19. Jahrhundert der Deckung der Grundbedürfnisse diente, zunehmend Überfluss produziert und damit auch ihre Funktion ändert: «When man has satisfied his physical needs, then psychologically grounded desires take over.» (Galbraith, 1958, S. 112) Die Nachfrage nach diesen Gütern muss künstlich, d. h. durch Werbung erzeugt werden. Galbraith sieht die Konsumierenden als Wesen, deren Bedürfnisse durch die Macht der Produktion und des Marktes geformt sind. Auf der Seite der Konsumierenden führt das Bedürfnis nach sozialem Prestige zum Erwerb von Gütern: «One man’s consumption becomes his neighbour’s wish.» (Galbraith, 1958, S. 120) Dieser Prozess gewinnt ein Eigenleben und schraubt die Produktion immer weiter in die Höhe: «The more wants that are satisfied, the more new ones are born.» (Galbraith, 1958, S. 121) Galbraith weist am Schluss seiner Analyse der Überflussgesellschaft weitsichtig auf die Gefahren einer sich immer weiter in die Höhe schraubenden Produktion hin, etwa den immer enger werdenden Lebensraum oder das Versiegen der natürlichen Ressourcen.

2.1.3 Verführung zum Konsum

Auch Packard (1957) äussert sich konsumkritisch in seinem fast gleichzeitig erschienenen Buch «The Hidden Persuaders». Er vertritt darin die These, dass die Konsumierenden durch die sublimen Strategien der Werbung und der Verkaufstechnik dazu verführt werden, Produkte zu kaufen, die sie nicht unbedingt benötigen. Dabei kommen die Erkenntnisse der Motivforschung zur Anwendung, welche unser Unbewusstes ergründen; denn Kaufentscheide sind oft unbewusste Handlungen: «Actually in the buying situation the consumer generally acts emotionally and compulsively, unconsciously reacting to the images and designs which in the subconscious are associated with the product.» (Packard, 1957, S. 5)

Es ist das erklärte Ziel der Werbung, Menschen zu beeinflussen, und es ist das Verdienst von Packard, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass diese Werbepraktiken manchmal so subtil sind, dass wir sie kaum bemerken. Oft ist Werbung jedoch nicht unterschwellig, sondern offensichtlich. Wir nehmen sie bewusst war und können uns im Prinzip einer Beeinflussung auch entziehen. Spätere konsumtheoretische Ansätze weisen zu Recht darauf hin, dass die Konsumierenden nicht nur passiv verführte Wesen sind, sondern auch aktiv begehrende (etwa Campbell, 1987, siehe Abschnitt 2.1.5).

2.1.4 Konsum als kulturelles Phänomen

Baudrillard identifiziert in seinem Buch «La société de consommation» (1970) den Konsum als zentralen Bestandteil der modernen Gesellschaft. Der Symbolwert der konsumierten Güter dient der sozialen Differenzierung und zwingt das Individuum, sich in einen disziplinierenden Arbeitsprozess zu integrieren. In der Konsumgesellschaft ist das Individuum laut Baudrillard nicht frei, denn «La société de consommation, c’est aussi la société d’apprentissage de la consommation, de dressage social à la consommation.» (Baudrillard, 1970, S. 114) «Elle est une conduite active et collective, elle est une contrainte, elle est une morale, elle est une institution. Elle est tout un système de valeurs, avec ce que ce terme implique comme fonction d’intégration du groupe et de contrôle social.» (Baudrillard, 1970, S. 114)

Im Anschluss an Baudrillard (1970) beschreiben die Anthropologen Douglas und Isherwood (1979) die kommunikative Bedeutung der Waren: «In the protracted dialogue about value that is embedded in consumption, goods in their assemblage present a set of meanings, more or less coherent, more or less intentional. They are read by those who know the code and scan them for information.» (S. 5) Die Waren als solche sind neutral, ihr Gebrauch jedoch hat eine gesellschaftliche Dimension; denn sie wirken als Kommunikatoren und dienen der Verdeutlichung und Stabilisierung kultureller Kategorien. Der Konsum wird als distinktive Praxis im Bezug auf soziale Gruppierungen verstanden: «The basic choice that a rational individual has to make is the choice about what kind of society to live in.» (Douglas, 1997, S. 17)

2.1.5 Hedonistische Konsumtheorie

Campbell (1987) widerspricht den Ansätzen von Galbraith (1958), Packard (1957) oder Baudrillard (1970), welche die Konsumierenden als manipulierte Wesen begreifen, und stellt ihnen eine hedonistische Theorie des modernen Konsumverhaltens gegenüber. In seinem Buch «The romantic ethic and the spirit of modern consumerism» fasst er die Konsumierenden nicht als verführte, sondern als aktiv begehrende Subjekte auf. Hervorgebracht wird dieses Begehren durch die romantische Ethik, wobei er mit dem Begriff «Ethik» die Lebensführung meint. So wie die protestantische Ethik den Geist des Kapitalismus hervorgebracht hat, erzeugt die romantische Ethik den Geist des Konsumismus. Dieser ist nicht durch soziale Nachahmung motiviert, sondern durch romantische Vorstellungen, welche sich in Tagträumen ausdrücken. Nur am Rande erwähnt Campbell die eskapistische Funktion der Tagträume aus einem durch Konkurrenz und Langeweile geprägten Alltagsleben.

Die Hauptaktivität beim Konsum besteht nicht im eigentlichen Konsumieren, also in der Auswahl, dem Kauf und dem Gebrauch des Produktes, sondern in der lustvollen Vorstellung, welche mit dem Bild verbunden ist, das wir uns vom Produkt machen. Jeder Kauf führt so zu einer Enttäuschung, sodass das Begehren schnell erlischt und die Güter so schnell wieder weggeschafft werden, wie sie erworben wurden: «The cycle of desire-acquisition-use-disillusionment-renewed-desire is a general feature of modern hedonism, and applies to romantic interpersonal relationships as much as the consumption of cultural products such as clothes and records.» (Campbell, 1987, S. 90) Für Campbell sind die modernen Konsumierenden deshalb charakterisiert «by an insatiability which arises out of a basic inexhaustibility of wants themselves, which forever arise, phoenix-like, from the ashes of their predecessors. Hence no sooner is one satisfied than another is waiting in line clamouring to be satisfied; when this one is attended to, a third appears, then subsequently a fourth, and so on, apparently without end.» (Campbell, 1987, S. 37)