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ANKLAENGE
Wiener Jahrbuch für Musikwissenschaft

Herausgegeben von
Christian Glanz und Nikolaus Urbanek

ANKLAENGE 2017
„Be/Spiegelungen“.
Die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
als kulturvermittelnde bzw. -schaffende Institution
im Kontext der Sozial- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von
Cornelia Szabó-Knotik und Anita Mayer-Hirzberger

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INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

BEITRÄGE

Severin Matiasovits und Erwin Strouhal

Innen(an)sichten – Außenwirkungen

Lena Dražić

„[…] den guten, geläuterten musikalischen Geschmack in der bürgerlichen Gesellschaft zu verbreiten […]“. Das Konzept musikalischer Bildung in den Ego-Dokumenten des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Thomas Asanger

„[…] wie wichtig es ist, schlüssig das eine aus dem anderen zu entwickeln […]“ Kompositionsunterricht im Zeichen der Fortschrittsideologie?

Juri Giannini

(M)ein Statement zum Jubiläum Gedanken zur ‚Interkulturalität‘ im kunstuniversitären Milieu in Geschichte und Gegenwart

Alexander Flor

Alte Musik in erzählten Bildern: von Außerirdischen und deren Nähmaschinen

Wei-Ya Lin

Bi-/Multimusikalität: Potenziale der musikalischen Vielfalt an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Rosa Reitsamer und Rainer Prokop

Zwischen Tradition und Innovation: Zur Bewertung musikalischer Leistungen an Kunsthochschulen

GLOSSEN

Gottfried Scholz

Kunst und Wissenschaft an unserer Schule – ein langer, ein dorniger Prozess

Dieter Kaufmann

Elektroakustische Komposition

MATERIALIEN

Liste der im ersten Projektteil erstellten Interviews

BERICHT

Elizaveta Willert und Johanna Pieper

Bericht über den Workshop „Musical culture/s of the Habsburg Monarchy and its successors states: Cultural, social and historical approaches“ an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 22.2.2017–24.2.2017

ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

VORWORT

Das 200-jährige Bestehen der als Conservatorium der Gesellschaft für Musikfreunde gegründeten Institution ist ein Anlass gewesen, sich ihrer Geschichte mit kritischem Blick zu nähern: Welche Bilder existieren im Zusammenhang damit, welche Images wurden und werden vermittelt, wie stellt sich dies im Gedächtnis der daran beteiligten Akteur*innen dar?

Aus diesem Grund hat das Rektorat der Universität ein Forschungsprojekt gefördert, das sich einerseits mit Methoden der musikalischen Geschichtsforschung und andererseits mit jenen der Ethnomusikologie diesem Fragenkomplex angenommen hat.

Ausgangspunkt hierfür sind die in Vergangenheit und Gegenwart agierenden Personen, die sich in ständiger Wechselwirkung mit der mdw befanden und befinden und damit auch das Selbstverständnis der Institution mitbestimmt und geprägt haben. Ihre unterschiedlichen (musikalischen) Sozialisationen, persönlichen Sichtweisen, Werthaltungen und Vorstellungen sowie ihre Erfahrungen und Interaktionen an und mit der mdw wurden mittels Interviews und Ego-Dokumenten erschlossen, die einen Kernbestand eines künftig zu erweiternden audiovisuellen Gedächtnisses der Universität bilden1. In einem zweiten Projektteil wurde in Nachfolge einer 2009/2010 am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie durchgeführten Forschung zur Bi-Musikalität von Studierenden2 eine derartige zweite Befragung durchgeführt3. Beide Ansätze mündeten in die Präsentation Changing mdw, bei der von Mai bis Dezember 2017 die so gewonnenen Einsichten in Form von Video-Clips samt Schautafeln (als Pop-Ups) an sechs Standorten gezeigt wurden4.

Dabei wurden die von den Zeitzeug*innen vermittelten symbolischen Bedeutungen, Identitäten, ästhetischen und gesellschaftlichen Bilder in Fallstudien dargestellt, um die mdw als kulturvermittelnde bzw. -schaffende Institution im Kontext der Sozial- und Kulturgeschichte zu verorten und die „aktuellen“ Narrative in die Institutionsgeschichte seit der Gründung einzubetten.

Vorliegender Band der seit 2006 erscheinenden5 Jahrbücher des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung behandelt unter dem Titel „Be/Spiegelungen“ dieses Thema, um dem „Ereignis“ der Ausstellung ein schriftliches, nachlesbares „Dokument“ an die Seite zu stellen. Dem entsprechend enthält er als Hauptteil die ausgearbeiteten Fallstudien sämtlicher Projektmitarbeiter*innen, dazu aber der Tradition der Reihe entsprechend auch Glossen von Dieter Kaufmann und Gottfried Scholz als Vertreter der Zeitzeugen sowie den Bericht einer Tagung des Institut-Schwerpunkts „Musik in Zentraleuropa“.

Wir hoffen, dass die Leser*innen an dieser etwas anderen Institutionsgeschichte Freude haben, danken Olja Janjus und Haruki Noda für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts sowie dem Institut bzw. dem Rektorat für die Förderung dieser Publikation.

Anita Mayer-Hirzberger

Cornelia Szabó-Knotik

Anmerkungen

https://www.mdw.ac.at/imi/changingmdw, Projektleitung: Cornelia Szabó-Knotik. Projektmitarbeiter*innen: Thomas Asanger, Lena Dražić, Alexander Flor, Severin Matiasovits, Erwin Strouhal. Technische Assistenz: Julia Heimerdinger.

https://www.mdw.ac.at/upload/MDWeb/ive/downloads/ErgebnisberichtBi-Musikalitaet.PDF.

https://www.mdw.ac.at/upload/MDWeb/ive/downloads/ProjektbeschreibungdesForschungsprojektsBi-Multimusikalitatandermdw.pdf, Projektleitung: Ursula Hemetek, Betreuung: Hande Saglam, Durchführung: Wei Ya Lin.

https://www.mdw.ac.at/upload/MDWeb/iatgm/downloads/PlanderStandorte.pdf.

https://www.mdw.ac.at/imi/publikationen/zur_reihe_anklaenge.

Severin Matiasovits und Erwin Strouhal

INNEN(AN)SICHTEN – AUSSENWIRKUNGEN

Einleitung

200 Jahre mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst sind zweifelsohne ein Anlass zu feiern, sollen aber auch dazu anhalten, einen kritischen Blick auf die Geschichte des Hauses zu werfen. Im Mittelpunkt des zu diesem Zweck durchgeführten Forschungsprojekts Changing mdw – Klangwelten und ihre Rekonstruktion stand die Erzählung der Institutionsgeschichte anhand unterschiedlicher Ego-Dokumente. Diesem Ansatz folgend wurde auch bei der Erstellung dieses Beitrags Wert darauf gelegt, besonders jene Quellen heranzuziehen, die unterschiedliche – allenfalls auch sich wiederholende – ‚Bilder‘ von der mdw und ihrer Geschichte widerspiegeln und durch deren Einbeziehung ein neuer Blick auf das Hauses ermöglicht wird. Anhand des thematischen Spannungsfeldes „Innen(an)sichten – Außenwirkungen“1 wird einerseits der Frage nach dem Selbstbild der mdw im Kontext der Genese des ‚Musikstadt Wien‘-Topos nachgegangen und andererseits dargelegt, wie sich die Rezeption des (Selbst-)Bildes der mdw in ihrem Wirken nach außen niederschlägt.

Dabei widmen sich die „Innen(an)sichten“ sowohl den nationalen bzw. urbanen Entwicklungen (Revolution 1848, Ringstraßenzeit, Zusammenbruch der Monarchie) und den damit einhergehenden Identitätskonstruktionen als auch deren Auswirkungen auf die Geschichte des Hauses (Verstaatlichungsgedanke, rechtlicher Status und ideelle Bedeutung).

Mit dem sich verändernden bzw. sich verfestigenden Selbstbild ist auch ein Wechselspiel von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ verbunden: die Identität einer Ausbildungsstätte in der sogenannten ‚Musikhauptstadt der Welt‘ lassen Stadt und Institution zu einem Orientierungs- und Anziehungspunkt werden.

So befasst sich der Abschnitt „Außenwirkungen“ mit der verstärkten Instrumentalisierung des ‚Musikstadt‘- bzw. ‚Musikland‘-Klischees als einendes Band der jungen Nation in der Zwischenkriegszeit und der Pflege dieses Images, um ausländische Studierende an das Haus zu holen und das internationale Ansehen noch stärker zu verfestigen.

Innen(an)sichten

‚Musikstadt‘ – begriffliche Annäherung

1892 wurde in Wien zu einem Großereignis geladen: der „Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen“ – einer Veranstaltung die, ähnlich aufgebaut wie eine Weltausstellung, Zeugnis für das Selbstbewusstsein Wiens als ‚Musikstadt‘ ablegte.2 Es war die Blüte der Ringstraßenzeit und eine stolze Metropole, die sich durch die Eingemeindung der Vorstädte soeben beeindruckend vergrößert hatte,3 zeigte mit geschwellter Brust ihre Bedeutung als Zentrum einer Kulturnation.

Im selben Jahr wurde das von Wolfgang Schmeltzl 1548 verfasste Werk Ein Lobspruch der Stadt Wien in Österreich in überarbeiteter Form neu herausgegeben. Die darin enthaltenen Zeilen „Hier gibt’s viel Sänger und Saitenspiel, Geselligkeit und Freuden viel, Mehr Musiker und Instrument‘ Besitzt die Welt an keinem End‘.“4 stellen einen immer wieder zitierten Beleg für die ‚Musikstadt‘ dar.

Doch wie ist es um die Genese des Begriffs ‚Musikstadt‘ bestellt? Bei einer Suche in Literatur und Zeitschriften des 19. Jahrhunderts ist festzustellen, dass die Verwendung des Begriffs verstärkt in der zweiten Jahrhunderthälfte erfolgt. Davor werden andere Formulierungen verwendet, ist von „Wien, […] diesem Centralpunkte der Tonkunst“5 die Rede, von der „Stadt der Tonkunst“,6 der „Metropole der Tonkunst“,7 von der „in dieser hinsichtlich der Tonkunst so ausgezeichneten Residenz“8. Oder es wird umschrieben: „Daß die Muse der Tonkunst in Wien ihren Lieblingssitz seit langer Zeit aufgeschlagen habe, ist eine allgemein in ganz Europa anerkannte Sache.“9

Der Anspruch, Musikhauptstadt – ob Europas oder der Welt – zu sein, ist jedenfalls bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsent: „Wien, welche Stadt […] in musikalischer Beziehung wohl ohne Uebertreibung seit mehr als einem halben Jahrhundert unwandelbar ein Centrum der ganzen musikalischen Welt genannt zu werden verdient.“10

Geht man der Frage nach, was unter dem Topos verstanden wurde, was eine Stadt nach zeitgenössischer Meinung zu einer Musikstadt machte, kann für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt werden, dass die Bedeutung einer Stadt als Musikstadt an der Gestaltung der Konzertsaison, der Quantität und Qualität von Aufführungen, gemessen wurde. So gab es nicht die ‚eine‘ Musikstadt, sondern war vielmehr das aktuelle Musikleben (einschließlich der Rezeption durch die Bevölkerung) verschiedener Städte damit gemeint. Historische Bezüge, die Heraushebung einer bedeutenden Vergangenheit, trafen – wenn angesprochen – vor allem auf Wien und Leipzig zu.

Nach dem überaus bewegten Anfange zu schliessen, dürfte die heurige Concertsaison die glänzendste seit vielen Jahren werden. Wien nimmt gerade heuer als Musikstadt wohl den ersten Rang in Europa ein. Denn in den deutschen Städten, welche sonst in dieser Beziehung mit der österreichischen Metropole rivalisiren konnten – Berlin, München, Leipzig – absorbirt gegenwärtig der unerwartet in die Länge gezogene Krieg so ziemlich alles Interesse […].11

Es sei mir aber gestattet, eine kurze Uebersicht der Musiksaison zu geben, aus welcher Sie entnehmen mögen, dass Budapest im vollsten Sinne des Wortes eine Musikstadt genannt zu werden verdient.12

Die Hochfluth der musikalischen Jahreszeit hat ihre ersten Wellen aufgeworfen, und ein gewaltiger Sturm ist in nächster Aussicht! Wer jetzt noch nicht gestehen wollte, daß Berlin eine Musikstadt ist, der muß mit Blindheit, – wollte sagen: Taubheit geschlagen sein.13

In dieser daraus resultierenden Konkurrenz der Städte konnte es anhand der erfolgten Beurteilung auch möglich sein, dass eine Stadt ihren Status als ‚Musikstadt‘ verlieren, in einer Art ‚Ranking‘ in der Bedeutung abgewertet werden konnte oder lediglich ihre Bedeutungslosigkeit festzustellen war.

Weimar ist, trotz mancher in den letzten Jahren vollbrachten rühmlichen Einzelthaten (ich erinnere an die vielgenannten ‚Tristan‘- und ‚Faust‘-Aufführungen im Hoftheater), nur noch eine Musikstadt dritten Ranges.14

So hat auch die Musikstadt Breslau nie die Rolle gespielt, die ihr wohl als Trägerin der hier eingeschlagenen Bestrebungen und Lebensregungen eines grossen, nicht bloss geographisch eingegrenzten Territoriums zufallen sollte. Eine Geschichte des Breslauer Theater- und Concertlebens wird kein musikalischer Statistiker schreiben, kein Verleger auf den Markt bringen, kein Culturhistoriker kaufen.15

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich Hinweise auf ein anderes Verständnis:

There is not in Europe a more musical city than that of Vienna. Not only every female, but every man, in respectable life, is capable of taking a part in a concert. In making up parties for the purpose of this delightful amusement, no kind of formality or ceremony is observed. A gentleman wishing for a quartet or quintet in the evening, walks out in the forenoon for the purpose of inviting any friend he may chance to meet; and, as the slightest previous acquaintance is sufficient, no difficulty occurs. The love of music is so general, and the ability to play on some instrument is so common, that it is usual for a gentleman not to engage any man-servant who is not sufficiently master of some instrument to occasionally accompamy him, and join in his concerts, if wanted. The number of music-shops and the rapidity of the sale of music in Vienna, are prodigious; and there is not a respectable private house without a piano-forte.16

Das Beispiel dieser Beschreibung Wiens aus 1825 gibt einen Einblick, was eine Stadt zur „musical city“ machen konnte: allem voran die musikalische Ausbildung der Bevölkerungsschichten vom „gentleman“ zum „man-servant“, das aktive Betreiben von Musik und ein florierender Musikalienhandel. Ein weiteres, nicht unähnliches Bild gibt die folgende Sichtweise:

Dieser Vorzug unserer Hauptstadt begründet sich auf die Liebe zur Musik, welche Vornehme und Geringe von jeher zu dieser Kunst zeigten; daher auch alle Zweige der Tonkunst hier stets kultivirt [sic], und auch, die Künstler und Kunstgenossen mögen sagen was sie wollen, und klagen wie sie wollen, hier mehr als irgendwo unterstützt wurden. Schon die Menge der Musiklernenden fesselt auch hier eine weit größere Menge von Meistern als, verhältnismäßig zur Volkszahl, in irgend einer anderen großen Hauptstadt bestehen können, daher auch der Dilettantismus hier zu einer Macht anwuchs, die alle Fremden in Erstaunen setzt. […] Daher es in Wien nicht ein sondern ein vielfaches musikalisches Publikum gibt, denn Opern-, Kirchen-, Kammer-Musik, dann in der Oper wieder der älteste, ältere, der moderne und modernste Styl, haben verschiedene Anhänger, die sich fast scharf voneinander sondern.17

Neben dem aktiven Betreiben, der Unterstützung von und dem Interesse an allen „Zweige[n] der Tonkunst“, durch das die Breite des Angebots illustriert wird, wird die „Menge der Musiklernenden“ ins Treffen geführt.

Im Hinblick auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten, recht zahlreichen Gründungen von Konservatorien in Europa18 kann die Erwähnung der „Musiklernenden“ in dieser Phase der Institutionalisierung der Musikausbildung als Indiz für die Bedeutung gelesen werden, die der Rolle der Ausbildung für eine ‚Musikstadt‘ zugemessen wurde.

Als Bildungseinrichtung kommt der mdw eine nachhaltige Bedeutung zu: die an ihr tätigen Lehrenden fungieren als Multiplikatoren, sowohl im künstlerischen als auch im musikwissenschaftlichen oder musikpädagogischen Bereich. Ob diese sich dabei auf ein Selbstbewusstsein beziehen, das daraus resultiert, Teil eines international beachteten Ensembles zu sein19 oder auf ein Verständnis von Musikgeschichte, das auf jener Epoche fußt, in der sich die Manifestierung der ‚Musikstadt‘ vollzog: Künstlerische, wissenschaftliche und pädagogische Ausbildung ist ein Faktor, der in Bezug auf die Entwicklung des Topos ‚Musikstadt‘ nicht vernachlässigt werden sollte.

Künstlerische ‚Schulen‘

Die Verfestigung der Idealisierung Wiens als Musikstadt lässt sich unter anderem an Begrifflichkeiten und sprachlichen Festschreibungen ablesen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden. In Anknüpfung an die ‚Wiener Schule‘ und deren verehrte Meister konnte mit der Benennung nach der Stadt ein nicht nur topografisch logischer, sondern auch inhaltlich codierter Begriff einen Bezug zum Ansehen Wiens als ‚Musikstadt‘ mit historischer Tradition herstellen und in der Vergangenheit bewiesene Qualität auf die aktuelle Zeit übertragen. Diese Etikettierung konnte sowohl retrospektiv vorgenommen als auch auf neue Entwicklungen bezogen werden.

Das Bedürfnis nach einer Markenbildung kann einerseits mit dem Wettstreit der ‚Musikstädte‘, der für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits festgestellt werden konnte und der die Herausbildung einer Einzigartigkeit bzw. Unverwechselbarkeit erforderlich machte, in Bezug gesetzt werden, andererseits mit der sich verfestigenden Konnotation von Wien mit ‚Musikstadt‘ in Verbindung gebracht werden, wobei zweitgenanntes in dieser Hinsicht als ein sich selbst beschleunigender Prozess gesehen werden kann.

Die älteste, auf ein Wirken am Haus zurückgeführte ‚Schule‘ ist die ‚Wiener Geigenschule‘. Laut neueren Quellen wird diese zumeist auf Joseph Böhm, der als erster Violinlehrer von 1819 bis 1848 am Konservatorium unterrichtete, bezogen. Der 1795 in Budapest geborene Böhm wurde am Pariser Conservatoire von Pierre Rode ausgebildet, in dessen Ahnenreihe von Lehrenden keine Wiener Virtuosen zu finden sind, was den Bezug zu Wien nicht auf die Tradition des Spiels, sondern den Unterrichtsort beschränken würde.20 Doch es gab auch andere Personen, auf die die ‚Wiener Geigenschule‘ gemünzt wurde: Eduard Hanslick nennt in seiner Geschichte des Concertwesens in Wien 1869 noch Carl Ditters von Dittersdorf und Anton Wranitzky als Begründer21 – wobei er darauf hinweist: „diese waren jedenfalls die ersten namhaften einheimischen Geiger; vor ihnen galten fast ausschließlich italienische Muster.“ Damit legt er sowohl die Art des Spiels als auch die nationale Herkunft als Kriterium an. Vermutlich ebenfalls Hanslick nennt 1881 in der Neuen Freien Presse Georg Hellmesberger den „Begründer der weltbekannten Wiener Geigenschule“22, womit er dessen Lehrer Josef Böhm übergeht und dessen Schüler an den Beginn der Tradition setzt.

Die Zuschreibung der Urheberschaft befand sich also in einem Veränderungsprozess. Doch welche Theorie zum Ursprung wahr oder falsch sein mag: für den Fortbestand des Begriffs war dies nicht von Bedeutung.

Im Gegensatz zu dem Begriff der ‚Wiener Geigenschule‘, dessen Ursprung und inhaltlicher Bezugspunkt – ob allein die Stadt als Unterrichtsort oder die Spielart – eines längeren Zeitraums bedurfte, um definiert zu werden, erfolgte Anfang des 20. Jahrhunderts ein punktueller, bereits gezielter wirkender Umgang mit der Marke Wien: 1905 wurde Eugen Thomas zum Leiter der Chor- und Chordirigentenschule berufen,23 wobei die Chorschule ausgebaut und die Chordirigentenschule neu eingerichtet wurde.24 In der zum 100-Jahr-Jubiläum der Gesellschaft der Musikfreunde herausgegebenen Geschichte der Institution wird er dafür gelobt, dass er die „Entwicklung dieses Instituts eifrig und erfolgreich förderte.“25 Dies könnte mit der Herausgabe seiner Publikation Wiener Chorschule in Verbindung gebracht werden, die mit dem Untertitel Übungen der Chorschule des Wiener Konservatoriums sowohl für die Kompetenz des Hauses als auch mit der Marke Wien warb.

Bis in die jüngste Vergangenheit wurde mit ‚Wiener Schulen‘ die Wichtigkeit und Bedeutung des Hauses unterstrichen: So nennt die Leistungsvereinbarung der mdw für 2013–2015 eine ganze Reihe davon ihr Eigen: „Wiener Kompositions- und Dirigierschule“ sowie „Wiener Schule der Formanalyse, Wiener Schule der Volksmusikforschung, Wiener Schule der Stilforschung und Aufführungspraxis, Wiener Schule der Musiksoziologie, Wiener Ansatz der Kulturbetriebslehre.“26 Sich auf die Spuren dieser Vielzahl zu begeben, ihren Ursprüngen und Deutungen zu folgen, war im Rahmen der Erstellung dieses Beitrags leider nicht möglich.

Musikgeschichtsschreibung und -unterricht

Vor allem in ihrer Verbreitung durch die an Schulen tätigen Pädagoginnen und Pädagogen kommt der Musikgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Konservatorium als Nebenfach eingeführt wurde, entscheidende Bedeutung zu. Was an angehende Lehrende weitergegeben wurde, erreichte ein Vielfaches an Schülerinnen und Schülern und konnte damit zur Bildung eines Bewusstseins um die Bedeutung Wiens nachhaltig beitragen.

Es ist daher interessant, kurz jene Personen zu betrachten, die über längere Zeiträume dazu beigetragen haben, das Musikgeschichtsbild mehrerer Generationen zu prägen.

Adolf Prosniz

Im Vorwort zu seiner 1901 erschienenen, bereits verbesserten zweiten Auflage seines Compendiums der Musikgeschichte äußert Prosniz, der von 1869 bis 1900 Musikgeschichte am Konservatorium gelehrt hatte, im Vorwort: „Der Kunstjünger, soll er sich seiner Kunst wahrhaft bewusst werden, muss auch ihre Geschichte in sich aufnehmen. Durch die Geschichte fühlt er sich im Zusammenhange mit den vorangegangenen Künstlergenerationen, ein lebendiges Glied der Kunstentwicklung selbst.“27

Der Vergangenheitsbezug, der Gedanke, dass durch die in sich aufgenommene Geschichte eine direkte Verbindung mit der Vergangenheit hergestellt wird, auch die Bedeutung, die Prosniz den Biografien der großen Meister zukommen lässt, gibt einen guten Hinweis auf das vermittelte Geschichtsverständnis.

Da die musikgeschichtliche Entwicklung in dieser Epoche von den großen Tonmeistern beherrscht wird, so erscheint es gerechtfertigt, daß der Lebensgeschichte derselben ein ausgedehnter Raum zugewiesen ist. Die biographische Darstellung hält sich jedoch nur an die wesentlichen Umrisse, ihr Reiz soll nicht durch romantische Ausschmückung, durch Anekdoten zweifelhafter Glaubwürdigkeit erhöht werden. Bedenkt man, daß sich schon um lebende Berühmtheiten ein förmlicher Legendenkreis bildet, so kann man begreifen, wie diese Legenden in späterer Zeit sich zu Glaubenssätzen verdichten.28

Was sich aus heutiger Sicht so liest, als würde die anekdotische Ebene aus der Erzählung ausgeklammert werden, deckt sich nicht mit dem Verständnis der damaligen Zeit. Ein kurzer Einblick in den Joseph Haydn gewidmeten Abschnitt soll als Beispiel für die von an „wesentlichen Umrissen“ orientierte Biografik dienen:

In dasselbe Jahr fällt die Heirat Haydns, ein Ereignis, welches sich als kein glückliches erwies. Er verband sich mit der Tochter eines Friseurs, namens Koller. Zanksüchtigen Temperaments, verschwenderisch, dabei bigott, war sie keine angenehme Lebensgefährtin. Trotz Haydns Nachgiebigkeit herrschte in den ehelichen Verhältnis stets Unfriede, welcher in späterer Zeit zur Trennung führte.29

Auch die Erzählungen zu der Entstehungsgeschichte der Abschiedssymphonie30 und der letzten Verabschiedung von Mozart31 oder die Beschäftigung mit „Haydns Persönlichkeit“, die mit einer Beschreibung seines Äußeren ansetzt32 und in Formulierungen wie „Belebten sich seine Züge, so leuchtete aus seinen dunkelgrauen Augen wohlwollende Güte und zuweilen konnte seinen sonst ernsten Mund ein schalkhaftes Lächeln umspielen“ wird der Unterschied zwischen dem damaligen und dem heutigen Verständnis von ‚romantischer Ausschmückung‘ deutlich.

Der Bezug auf die ‚Meister‘, die Vorfahren bzw. Ahnen stärkt ein Gemeinschaftsgefühl, trägt dazu bei, ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln. Die biografische Erhöhung der ‚Meister‘ ist eng mit deren Einvernahme für politische Zwecke im Sinne der Stärkung einer nationalen Identität verwoben.

Es lohnt sich, diesbezüglich einen Blick auf die Ausstellung für Musik- und Theaterwesen zu werfen, folgt die dortige Darstellung doch ganz dem musikhistorischen Ansatz der Zeit. Sichtbar wird das z.B. anhand einer zeitgenössischen Rezension, die die kritischen Betrachtungen späterer Zeiten vorwegnimmt und dank des trockenen englischen Humors ein amüsantes Bild der Ausstellung gibt:

[T]he space being divided amongst Germany, Austria, Russia, Spain, Belgium, Bulgaria, England, France, and Italy, the first two countries, as may be supposed, taking the lion’s share. German and Austrian exhibits are treated as those of one people, and placed together without distinction; half the space being devoted to music and the remainder to the drama. Here lies the chief interest; for though some other countries make a show similar in character, the completeness with which German art is represented and the personal distinction of German composers, put serious rivalry out of the question. The Italian section is, perhaps, next in value to the German, being especially rich in memorials and relics on composers, in historical illustrations of opera, and in examples of ancient liturgical books. The last-named are a unique feature, for it may be doubted whether such a collection of ponderous and gorgeous tomes has ever before been brought under one roof.33

Thematisiert wird neben der zur Schau getragenen kulturellen Vorherrschaft der deutschen Nationalität der Bezug auf die ‚alten Meister‘:

We find ourselves in close contact with illustrious masters. Everywhere around are evidences of their work and personality – manuscripts they have written, pens they have used, spectacles they have worn, presents they have received, instruments they have touched. In some cases these memorials are very numerous. Schubert, Mozart, and Beethoven, for example, have each a section to themselves, while another Vienna Master – good old father Haydn – is illustrated with almost equal copiousness. Here are in abundance the autograph scores of immortal works. Symphonies, masses, oratorios, quartets, sonatas crowd upon each other in the glass cases.34

Auch die Art der Darstellung der ‚Meister‘ wird unter die Lupe genommen:

But, indeed, no amount of space would serve to convey an idea of the absorbing interest called forth by this great relic show. Of portraits there is no end, but, sooth to say, they puzzle rather than edify the spectator. Did Beethoven look like that, and also like that? Were the several Mozart bodies for one spirit? Did Haydn out-do the chameleon by changing not only colour but form? The artists have been fairly consistent with Schubert, whose big iron-rimmed spectacles […] at any rate do not vary. It may be that one should receive the historical evidence of some of these pictures as the Bereans received the Scriptures. Did Schubert, for example, play the pianoforte in gilded saloons, surrounded by distinguished personages in various attitudes of rapture? He may have done so, but the picture is none the less unreal.35

Eusebius Mandyczewski und Erwin Luntz

Als Herausgeber späterer Auflagen von Bänden (der dritten Auflage des ersten Bandes und zweiten Auflage des zweiten Bandes) des von Prosniz verfassten Compendiums der Musikgeschichte ist davon auszugehen, dass Eusebius Mandyczewski36 als Nachfolger Prosniz’ einen ähnlichen musikhistorischen Ansatz verfolgte, worauf auch seine Beethoven, Brahms und Schubert gewidmeten Schriften hindeuten würden.

Mangels fehlender musikhistorischer Publikationen oder sonstiger, aussagekräftiger Schriften entzieht sich Mandyczewskis Nachfolger, Erwin Luntz,37 einer Analyse, die Rückschlüsse auf die von ihm unterrichteten Inhalte zulassen würden.

Robert Lach

Größte Skepsis, eine regelrechte Feindschaft der Moderne bzw. besonders der Zweiten Wiener Schule gegenüber, kennzeichnet die Haltung Robert Lachs,38 der von 1924 bis 1945 Musikgeschichte lehrte.

In einer Rezension39 zu Lachs Beitrag „Wien als Musikstadt“40 wird festgestellt, dass darin „nicht ein Wort über Gustav Mahler“ 41 verloren wird, und „die einzige Stelle, an der der Name Schönberg überhaupt vorkommt“42 sich auf die Erwähnung „feuchtohriger Schönberg- oder Schreckerjünger [sic]“43 beschränkt. Diese Passagen sind einer Tirade gegen Vertreter der musikalischen Avantgarde entnommen, von der ein weiterer Ausschnitt der Illustration von Lachs Standpunkt dienen soll:

Alle diese ‚modernsten‘ und ‚hypermodernsten‘ ‚Neutöner‘, diese ‚atonalen‘ Neuntödter der Melodie, des Tonsystems, der gesamten Fundamente unserer Musik, alle diese musikalischen Herostrate, an denen nichts auffällig ist als ihr gänzlicher Mangel an Begabung und ihre Erfindungs- sowie Gedankensterilität, die nur von der Präpotenz und Anmaßung ihres Auftretens übertroffen wird, – sie alle sind nur auf dem Gebiete der Musik das sklavische Abbild dessen, was uns in der Politik und Gesellschaft der Gegenwart als typische Erscheinung entgegentritt […].44

Seiner Theorie der Genese der ‚Musikstadt Wien‘ stellt Lach voran, dass es im Verlauf der Geschichte in verschiedenen Bereichen und an unterschiedlichen Orten zu Kumulierungen, zu diversen Zentrumsbildungen gekommen ist und sich ein „immer deutlicher und klarer sich bemerkbar machendes Hervortreten spezifisch einheimischer, bodenständiger Begabungen und damit einer charakteristischen Lokalfärbung, einer spezifisch für diesen topographisch eng begrenzten Kreis typischen Physiognomie und Tradition“ ergibt, das sich schließlich „sozusagen eruptiv in der Hervorbringung eines ganz großen autochtonen Genius entlädt […].“45

Auf die ‚Musikstadt‘ bezogen bedeutet das für ihn:

Auch Wien ist nun ein solcher Anziehungspunkt musikalischer Begabungen, ein solches Zentrum der Ansammlung und Anhäufung eines musikalisch-künstlerischen Begabungspotentials, und auch hier wiederholt sich typisch in gleicher Weise wie bei sämtlichen anderen derartigen Potentialzentren der ganze vorhin geschilderte Prozeß mit allen seinen einzelnen eben charakterisierten Phasen: dem Zuströmen zunächst von außen her kommender Begabungen ohne (wenigstens anfangs) merkliches grund- und bodenständiges Potentialsubstrat, dann allmählich zunehmendem Niederschlag und wachsender Konzentrierung sowie stets stärkerem Hervortreten des spezifisch bodenständigen, einheimischen Lokalcharakters, bis schließlich auch hier die Eruption eines ganz und gar mit diesem autochtonen Lokalcharakter getränkten und gesättigten, aus ihm hervorgewachsenen und in ihm beruhenden Genius: Franz Schubert, eintritt, an den sich eine ganze große Reihe kleinerer, aber ebenfalls echt bodenwüchsiger, den Lokalcharakter typisch verkörpernder Begabungen anschließt.46

Schubert ist für Lach „der spezifisch Wienerische Musikgenius, die Fleisch und Blut gewordene Wiener Musikseele, die Inkarnation des Wiener Musikgeistes“47,

die idealste, geläutertste und genialste Verkörperung, Veredelung und Verklärung des Altwienertums, dessen liebenswürdigste und bestrickendste Seiten: die Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit des Gemütes, die Wärme und Innigkeit der Empfindung, die heitere Anmut und Grazie des Benehmens, die gewinnende Liebenswürdigkeit des Entgegenkommens, die harmlose Fröhlichkeit und überströmende Lebensfreude, die überquellend reiche Phantasie, der muntre Frohsinn, der stets zu kleinen unschuldigen Neckereien und harmlosen Spässen aufgelegte, übersprudelnde Humor und Witz, die flotte, oft in Leichtsinn ausartende Leichtlebigkeit […].48

Erst Schubert erfüllt durch seine Herkunft die Voraussetzung, ein echter Wiener zu sein:

Das echte, unverfälschte Wiener Blut Schuberts – er war von Lichtenthal, also einem urwienerischen Viertel gebürtig! – pulsiert mit lustigem Pochen nicht bloß in seinen echt Wienerischen Tänzen, Märschen u.dgl. sondern auch in zahllosen Stellen seiner Lieder […], Sonaten, Kammermusiken, Symphonien […], die nur aus dem Geiste der Wiener Volksweisen heraus begriffen und erklärt werden können.49

Es ist anzunehmen, dass Lachs vom ‚Rasse‘-Gedanken beeinflusster Zugang zum Fach50 auch in seinem Unterricht Eingang fand, ebenso wie dass er „alle Musikgeschichte nach Richard Wagner einfach ignoriert[e].“51

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Abb. 1: Operngebäude. Fotografie, Privatbesitz

Max Graf

Bereits ab 1914 und ab dessen Berufung parallel zu Robert Lach hielt Max Graf52 Lehrveranstaltungen zu Musikgeschichte. Vieles trennt Lach und Graf in ihren Positionen, wobei neben der Haltung gegenüber der Moderne auch die politischen Ansichten – Graf äußerte in mehreren Artikeln Sympathien für den Sozialdemokraten Otto Glöckel, Lach trat 1933 der NSDAP bei – zu nennen sind.

Die von beiden erzählte Geschichte der Genese der ‚Musikstadt‘ basiert jedoch auf den gleichen historischen Grundlagen, wenn auch die weiteren Interpretationen von unterschiedlichen Ideologien geprägt sind.

Kommt bei Lach 1923 neben dem ‚Boden‘ bereits das ‚Blut‘ – in dem zitierten Beispiel das Wienerische Schuberts – ins Spiel, schreibt Graf zwar dem „Volksboden“ zu, dass durch diesen „die große Musik Wiens genährt wurde“53, doch schließt er („das erkennen wir aus der Geschichte“), dass Wien „nicht als eine nationale, sondern als eine internationale Stadt die Musikhauptstadt der Welt geworden“54 ist.

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Abb. 2: Musikvereinsgebäude. Kupferstich, Privatbesitz

Am Beispiel Lachs und Grafs wird die einigende Kraft, die „Wirkungsmacht“ deutlich, die dem Topos zukommt, die es ermöglichte „Widersprüche in Kultur, Politik, Gesellschaft und in den Geschlechterverhältnissen“ konsequent zu überblenden und „gleichermaßen als Narkotikum nach innen wie als Stimulans nach außen“ zu wirken.55 Beide gehören jener Generation an, die in einer Zeit aufwuchs, in der der Begriff der ‚Musikstadt‘ nicht nur seine Verfestigung im kollektiven Bewusstsein, sondern durch die ‚Materialisierung der Musikstadt‘ in der Ringstraßenzeit auch Eingang in das Stadtbild fand. Dem ersten Musikbau, der Staatsoper (1869), folgen Musikverein (1870) und Konzerthaus (1913), wobei diese großen Projekte durch die Errichtung von Denkmälern für Musiker begleitet werden (z.B. Schubert 1872, Beethoven 1880 und Mozart 1892). Angesichts der zentralen Bedeutung des ersten, in dieser Zeitspanne errichteten Gebäudes könnte man von einer ‚Generation Oper‘ sprechen, deren Rolle Graf wie folgt beschreibt:

Auf der einen Seite haben Geschmack und Neigungen der Wiener Musikfreunde, das besondere Temperament des Wiener Publikums, die besondere Form seiner Sinnlichkeit, der Rhythmus des Wiener Lebens eingewirkt auf die Art der Opernaufführungen, auf der andern [sic] Seite haben diese Opernaufführungen eingewirkt auf die geistige Art des Wiener Publikums, immer hat ein wechselseitiges Schenken und Nehmen, Wirkung und Gegenwirkung, die Stadt Wien und ihr Opernhaus verbunden. Alle guten Wiener Musikfreunde stehen deshalb zum Wiener Operntheater in einem freundschaftlichen, vertrauten und gemütlichen Verhältnis. Die meisten sind in diesem Haus aufgewachsen, haben sich als junge Leute stundenlang am Eingang gedrängt, sind die breiten Treppen zur Galerie atemlos hinaufgestürmt, haben die Galerie mit ihrem jungen Enthusiasmus, mit Kunstgesprächen, leidenschaftlicher Parteinahme erfüllt, haben mit klopfendem Herzen umgeben von gleichgesinnten jungen Besuchern der Oper auf die Bühne gestarrt, Schwärmer und Enthusiasten mit aller Begeisterung, welche den Stunden in der Oper festlichen Glanz gibt. Ganze Generationen sind derart im Hause am Opernring groß geworden, immer neue Jugend folgte der älter gewordenen, wer einmal auf einem Stehplatz auf der vierten Galerie gestanden, saß vielleicht nach Jahren im Parkett oder in den Logen, und so ist aus den Besuchern ein einheitlich empfindendes Publikum entstanden, jede neue Generation fand sich, ohne es zu wissen, hineingezogen in einen bestimmten Geschmack, es bildete sich eine Tradition und es war eine wienerische Tradition, belebt von den eigenartigen Kräften der Stadt, des Wiener Bodens, von den Neigungen der Bevölkerung … Man muß sich gar nicht wundern, wenn Wiener Musikfreunde nach den Ferien mit einer gewissen Spannung das Haus betreten, in welchem Wien seine größten Musikfeste gefeiert hat. Ein Stück ihres Lebens steckt in diesem Haus und noch dazu das wertvollste Stück ihres Lebens: ihre Begeisterung, ihr Enthusiasmus, ihre beste Wärme und ihre Tugend noch dazu, Grund genug, wenn man nach der Ankunft in Wien mit Freude das Opernhaus aufsucht. […]56

Selbstbild

Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivierende Wahrnehmung Wiens als ‚Musikstadt‘ geht mit einem wachsenden Selbstverständnis bzw. -bewusstsein der mdw einher.

Man müßte einmal in den Dokumenten der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde stöbern, um den Ahnherrn oder das Stammütterchen jenes vieltausendköpfigen Geschlechtes herauszufinden, das sich im Laufe der Zeiten zu einem ganz bestimmten Typus entwickelt hat: zu einer eigenartig charakteristischen Mischung von Schwärmerei und wienerischem Schmiß, bei der immer unsre bodenständige Sentimentalität etwaige Selbstüberschätzung niederhielt. Denn Selbstbewußtsein hat man im Wiener Konservatorium stets gehabt. Es scheint, daß darin ein unerläßliches Ferment der Begabung liegt. Erst an sich selber glauben, dann die anderen glauben lehren.57

Der Glaube an sich selbst bzw. wie wichtig die Aufgabe, die musikalische Jugend auszubilden, empfunden wurde, wird in der wohl größten Krise der Institution, in der Zeit ihrer Nichtexistenz sichtbar: 1848 war das Konservatorium, bedingt durch die Folgen der Revolution, geschlossen worden. Der (ehemalige) Direktor, Gottfried Preyer, konnte einen Teil des Lehrkörpers hinter sich versammeln, die – um den Bestand „des einzigen vollkommenen Institutes der musikalischen Bildung in Oesterreich“58 zu gewährleisten – bereit waren, den Unterricht unentgeltlich fortzusetzen. Ebenso wie die Lehrenden verfasste ein „Ausschuß der Schüler des Conservatoriums“ einen Aufruf zum Erhalt der Institution und berief sich darin darauf, es sei

eine Ehrensache der Hauptstadt der Monarchie, welche seit vielen Jahren vorzüglich die ‚musikalische‘ genannt werden darf, daß ihr ein Institut erhalten bleibe, das seit 30 Jahren segensreich wirkt und durch die Ungunst der Zeit zerstört zu werden droht.59

Die Verbindung von Institution und ‚Musikstadt‘, der als Verpflichtung für Wien gesehene Bestand der Ausbildungsstätte, fand in zahlreichen Berichten seinen Niederschlag.60 Dem ‚Jahr Null‘, der von 1848 bis 1851 währenden Pause kommt sowohl durch die geführten Diskussionen um die Notwendigkeit des Bestehens als auch durch die in der Folge seitens der Gesellschaft gefassten Pläne nachhaltige Bedeutung zu.

Noch während der Zeit der Schließung verfasste Johann Vesque von Püttlingen seinen in Abhandlungen zur Geschichte des Hauses gerne zitierten Beitrag „Über die Gründung eines österreichischen Conservatoriums von Staatswegen“61, von dem – neben der bereits aus dem Titel hervorgehenden Intention – für die vorliegende Fragestellung vor allem der Wien-Bezug betrachtet werden soll. Der Stadt kommt seiner Meinung nach eine ganz besondere Bedeutung zu:

In Wien endlich, an der Pforte von Italien gelegen, von Angehörigen vieler Stämme bewohnt, droht unaufhörlich die Sinnlichkeit wälscher Muse die geistigeren Weisen der germanischen Meister zu verdrängen. Da soll nun eine Anstalt bestehen, die allen diesen Uebelständen entgegen wirkt; doch keine Privatkraft wird hierzu genügend mächtig sein.62

Im Zuge der Feststellung der Aufgaben, die von einer staatliche Anstalt zu übernehmen wären, definiert er unter anderem die Notwendigkeit der „Vorführung der musikalischen Meisterwerke“ – „wirklicher Meisterwerke“, wie er etwas später nochmals betont – und malt angesichts der Beendigung der Concerts spirituels, des gefährdeten Bestehens der Gesellschaft der Musikfreunde und der Philharmonischen Konzerte, die nach dem Tode Otto Nicolais „ihren mächtigen Halt verloren“ hätten das Schreckensbild: „so dürfte zur Schmach für Wien und zum Verderben der Kunst der Zeitpunkt eintreten, wo man von Beethoven’s und Mozart’s Symphonien nur mehr erzählen wird.“63

Die „Gründung einer Musikschule“ und die „Anstellung ausgezeichneter Tonkünstler“ seien weitere Voraussetzungen, damit Wien „nicht mehr seine Meister in die Fremde ziehen sehen“ muss, „weil sie draußen einen Wirkungskreis fanden, der ihnen daheim verschlossen blieb“ und würden die „Meister des Auslandes […] hierher zu vermehrter Thätigkeit an den Centrapunkt der Tonkunst, zu dem vor allen Städten Europas Wien berufen ist, gezogen werden können.“64

Die ‚Musikstadt‘ war demnach in Gefahr und der Lösungsansatz in einer starken, wenn möglich staatlichen, Ausbildungsstätte zu sehen. Dieses Bewusstsein als Ausgangspunkt, als Basis für die Wiedereröffnung des Konservatoriums vorauszusetzen, mag auch die bereits in den 1850er-Jahren formulierten Pläne, „das Wiener Conservatorium zu einer höheren Kunstbildungs-Anstalt, zu einer Art ‚Hochschule für Musik‘ umzugestalten, in welcher, bereits bis zu einem gewissen Grade mit den ersten Elementen vertraute Individuen der höheren künstlerischen Ausbildung zugeführt würden“65, erklären.

Angesichts der, bis zur 1909 tatsächlich erfolgten Verstaatlichung ständig schwelenden, finanziellen Probleme, die der Erhalt des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde bereitete, wurde den ständigen Geldnöten zum Trotz nicht vor der Setzung hehrer Ziele zurückgeschreckt und waren sowohl organisatorische wie den Unterricht betreffende Reformen keine Seltenheit.

Die Motivation, sich einzubringen, beschreibt Konstantin Czartoryski,66 der als Direktionsmitglied bzw. Präsident der Gesellschaft aktiv war:

Man widmet nicht freiwillig durch acht Jahre einen Theil seiner Zeit, seiner Thätigkeit und seiner Fähigkeiten einem Unternehmen ohne andern Beweggrund, als der guten Sache zu nützen und ohne andere Aussicht der Entlohnung, als das Selbstbewusstsein das Gute und Rechte angestrebt zu haben, wenn man es nicht aus Neigung und Anhänglichkeit für das Unternehmen selbst thut.67

Er gesteht auch den Angehörigen des Hauses Idealismus und Einsatzbereitschaft zu – wenngleich mit gewissen Einschränkungen:

Gleich zu Beginn ihrer Thätigkeit versuchte es die Direktion monatliche Konferenzen des Lehrkörpers in’s Leben zu rufen. In diesen regelmässigen Besprechungen sollte ein Ideenaustausch stattfinden über die verschiedenen Methoden des Unterrichtes, über die künstlerische Individualität einzelner Zöglinge, über die wünschenswerthen Verbesserungen, die Abschaffung der mangelhaften Einrichtungen, kurz es wäre dadurch dem Lehrkörper Gelegenheit geboten worden, einen berechtigten Antheil an der Entwicklung des Institutes zu nehmen. Es war dies ein frommer Wunsch der Direktion, der bald wieder aufgegeben werden musste. Wer die Wiener Tonkünstler kennt, wird sich kaum über die Ursache täuschen können, welche diesen gutgemeinten Versuch scheitern machte. Den Wiener Tonkünstlern fehlt es nicht an Interesse für ihre Kunst, auch nicht an Theilnahme für das Institut, welchem sie ihre Kräfte weihen; auch das nöthige allgemeine Verständniss geht ihnen nicht ab. Was ihnen abgeht ist der moralische Muth. Unter vier Augen weiss jeder trefflich bescheid, kennt jeder den Krebsschaden des Institutes, sieht jeder diese und jene Mängel, räth jeder zu dieser und jener Abhilfe. Wenn es aber darauf ankommt seine Meinung laut und offen auszusprechen und zu vertreten, da verstummen sie; persönliche Freundschaft oder Feindschaft, ausserkünstlerische Rücksichten jeder Art sind dann massgebend, und um dann wenigstens nicht der eigenen Ueberzeugung geradezu in‘s Gesicht zu schlagen, geht man sorgfältig jeder Gelegenheit aus dem Wege dieselbe offen auszusprechen. Dieses Urtheil mag hart erscheinen, aber ich frage Jeden, der die Wiener musikalischen Verhältnisse kennt, ob es sich nicht wirklich so verhält?68

Auch wenn es, wie Czartoryski beschreibt, sicher nicht immer einfach war, den Weg der Mitbestimmung zu beschreiten, und interne Dispute auch außerhalb des Hauses diskutiert wurden, wirkten sich diese jedoch nicht nachhaltig negativ auf das Ansehen der Institution aus, die sich des Rufes, „erste musikalische Lehranstalt“69 des Landes zu sein erfreute. Sie galt als „‚die‘ Musikschule schlechthin, die lebendigste Pilgerstätte der musikalischen Bildung in Oesterreich-Ungarn. Der Name war ungemein populär.“70

Der populäre Name brachte es ebenfalls mit sich, dass die, parallel zur ‚Musikstadt‘ Wien als ‚Marke‘ etablierte Schule Verwendung durch Dritte fand: In zahlreichen Zeitungsinseraten warben Absolventinnen und Absolventen damit, nach der „Methode“ bzw. dem „Lehrplan“ des Konservatoriums auszubilden71 bzw. hoben mit der Selbstbezeichnung als „Conservatoristin“ oder „Conservatorist“ ihre musikalische Ausbildungsstätte hervor und setzten damit ein Qualitätsmerkmal.72737475