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Band 180

 

Das Suprahet erwacht

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Perry Rhodan

2. Perry Rhodan

3. Perry Rhodan

4. Perry Rhodan

5. Perry Rhodan

6. Perry Rhodan

7. Perry Rhodan

8. Perry Rhodan

9. Perry Rhodan

10. Perry Rhodan

11. Conrad Deringhouse

12. Perry Rhodan

13. Perry Rhodan

14. Perry Rhodan

15. Perry Rhodan

16. Perry Rhodan

17. Perry Rhodan

18. Perry Rhodan

19. Perry Rhodan

20. Perry Rhodan

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen. Nach vielen Fortschritten und Rückschlägen wird die Erde ab 2051 unbewohnbar, während Milliarden Menschen zu einem unbekannten Ort transportiert werden.

2055 reist Rhodan mit dem riesigen Fernraumschiff MAGELLAN in die Galaxis Andromeda, findet dort aber keine Spur zur vermissten Erdbevölkerung. Er kehrt in die Milchstraße zurück – doch die Passage schlägt fehl.

Die MAGELLAN strandet in der sogenannten Eastside. Die Besatzung begegnet den fremdartigen Blues und knüpft erste Freundschaften, findet sogar eine Spur zu der Weltraumarche, in der elf Milliarden Menschen im Tiefschlaf ruhen.

Rhodan will sie bergen, aber seine Anstrengungen drohen zu scheitern. Denn es gelingt nicht, die kosmische Gefahr einzudämmen, die auf der Riesenwelt Moloch lauert – DAS SUPRAHET ERWACHT ...

1.

Perry Rhodan

 

»Wir fliegen direkt darauf zu!« Die letzten Worte von Mischa Petuchow wurden von einem Alarmsignal übertönt, das nur Sekunden später wieder verstummte.

Perry Rhodan spürte, wie die Armlehnen seines Sessels vibrierten. Dann ging ein heftiger Ruck durch die MAGELLAN, als wäre der mächtige Kugelriese in eine Wand aus Gelatine eingetaucht.

»Danke für den Hinweis«, stieß Renaya Dalva de Vasconcelos giftig hervor. Die brasilianische Pilotin des Expeditionsraumschiffs war hinter ihren Holokontrollen, die sie wie ein halbtransparenter Panzer umschlossen, nur undeutlich zu erkennen. »Was würde ich nur ohne dich machen, Towarischtsch ...?«

»Konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit, meine Damen und Herren!«, mahnte Conrad Deringhouse. Die Stimme des Kommandanten klang ruhig und gelassen. Wie fast immer in Krisensituationen strahlte er eine beinahe körperlich fühlbare Aura der Besonnenheit aus.

Rhodan hob den Kopf und betrachtete die Projektionsfläche des Holodoms, der den Eindruck einer gewaltigen Kuppel aus Glas erweckte, durch die man direkt in den umgebenden Weltraum hinausschaute. Die Aufnahmen aus dem Ovisystem wurden von der Bordpositronik simultan aus den ständig eingehenden Ortungsdaten berechnet und so aufbereitet, dass sich die Verantwortlichen in der Zentrale jederzeit ein umfassendes Bild machen konnten. Auf Rhodan wirkte das alles dennoch eher wie ein abstraktes Gemälde und nicht wie der Blick auf das, was in diesen Minuten tatsächlich vor sich ging.

Ovi, der das System beherrschende Rote Riese, sah wie eine zusammengedrückte Orange aus. Das war keineswegs eine optische Täuschung. Die ungewöhnlichen Gravitationsverhältnisse, die der Gigantplanet Moloch und seine Monde erzeugten, sorgten dafür, dass die Sonne nicht die übliche Kugelform hatte, sondern eher zu einem Ei mit der ein oder anderen Auswölbung verformt war.

Droo Karuuhm, dachte Rhodan. Das Schwarze Ei. So haben die Azaraq dieses Phänomen getauft. Bis auf die Farbe eine ziemlich treffende Bezeichnung ...

Bei dem Gedanken an die Kräfte, die nötig waren, um eine ganze Sonne wie einen Gummiball zusammenzuquetschen, richteten sich seine Nackenhaare auf.

Rund um das Zentralgestirn wanden sich Plasmastränge, die in düsterem Rot pulsierten. Sie entstanden aus der Interaktion zwischen der Sonnenmasse, die mit Molkex und Kreell angereichert war, und exotischen hyperphysikalischen Mikrofrakturen, die Tim Schablonski Zeitkreell getauft hatte. Durch Letztere sickerte die um den Faktor 17.000 beschleunigte Eigenzeit des Creaversums in den Einsteinraum und sorgte für weitere Verwirrung. Die Stränge erstreckten sich inzwischen durch den gesamten Raum zwischen Ovi, Moloch sowie seinen 42 Begleitern und belegten dadurch auch optisch, dass sich dort höchst ungewöhnliche Dinge ereigneten.

»Da sind sie!« Gabrielle Montoyas Wangen glänzten im gedämpften Licht der Zentrale.

Auch ohne den Ausruf der Ersten Offizierin hatten alle die acht Diskusschiffe bemerkt. Die Positronik projizierte sie vergrößert und aufgehellt ins Zentrum des Holodoms.

»Was ist da los?«, fragte Reginald Bull, der direkt neben Rhodan saß. »Sind die besoffen?«

Die wegen ihrer Molkexpanzerung wie nachtschwarze Schlackebrocken wirkenden Schiffe der Blues wirbelten auf engstem Raum anscheinend haltlos durcheinander. Zweimal kam es sogar zu direkten Kollisionen, die jedoch keine sichtbaren Schäden verursachten. Die Raumer prallten voneinander ab und setzten ihre Taumelbewegungen fort.

Die MAGELLAN tauchte in eine flimmernde Wolke ein. Das seltsame Gebilde lag zwischen dem Expeditionsraumer und den Blues, es erstreckte sich über mehrere Lichtsekunden durch das Weltall. Die Zentrale schien plötzlich zu beben. Rhodan spürte kalten Schweiß auf der Stirn. Neben ihm stieß Bull einen unterdrückten Fluch aus.

Die Wolke erinnerte an vom Wind verwirbelte Schneeflocken; allerdings zuckten in ihrem Innern immer wieder winzige Blitze. Die Physiker an Bord – allen voran der unermüdliche Eric Leyden, der anscheinend seit Tagen ohne Schlaf auskam – suchten noch immer nach Methoden, das offenbar willkürliche Auftreten dieser Erscheinungen vorauszusagen. Sie hatten hierfür den Begriff Kreellgestöber geprägt.

Materie aus einer anderen Dimension, dachte Rhodan. Materie aus dem Creaversum, die sich im Einsteinraum in etwas verwandelt, von dem niemand wirklich weiß, was es ist.

»Schutzschirmlast bei einundachtzig Prozent«, meldete Montoya. Sie erweckte nicht den Eindruck, als machte sie sich darüber Sorgen.

»Wir sind gleich durch«, beruhigte die Pilotin der MAGELLAN dennoch. »Die Partikeldichte ist gering. Sind die Traktorstrahlen einsatzbereit?«

Das Schütteln und Zittern nahm rasch ab und verschwand schließlich ganz. Nun erst spürte Rhodan die eigene Anspannung. Die astrophysikalischen Verhältnisse im Ovisystem wurden von Minute zu Minute dramatischer. In unmittelbarer Nähe von Moloch und dessen Monden war ein zielgerichtetes Manövrieren praktisch nicht mehr möglich. Nur die von ihren Molkexpanzern geschützten Diskusschiffe der Blues hatten überhaupt noch eine Chance.

»Bringen wir die Sache so schnell wie möglich zu Ende«, sagte Rhodan laut. »Die Gataser und Apasos haben die Vorbereitungen zur Bergung der Arche so gut wie abgeschlossen. Ich will dabei sein, wenn es losgeht. Unsere Leute auf der AVEDANA-NAU verlassen sich auf uns!«

Die Anzeigen neben seinem Sessel signalisierten, dass sich eins der riesigen Hangarschotten der MAGELLAN öffnete und zwei Korvetten sowie einen Schwarm Space-Disks entließ. Sekunden später erschienen die Einheiten auch als Tasterechos auf der Domwand. Sie waren vor wenigen Wochen in der Schlacht gegen die Crea im Modarksystem beschädigt worden, und der Technische Dienst des HAFENS hatte sie erst vor einer halben Stunde wieder freigegeben. Im Moment wurde alles, was auch nur einigermaßen fliegen konnte, dringend gebraucht.

»Wir stabilisieren erst mal die drei äußeren Bluesschiffe«, entschied Montoya. »Ich habe die Positroniken der Korvetten mit dem Bordrechner der MAGELLAN gekoppelt. Er übernimmt die Hauptlast der Berechnungen. Wir stoppen die Rotation und ziehen die Blues mit den Traktorstrahlern an uns heran.«

Was genau die acht Diskusschiffe in Bedrängnis gebracht hatte, war unbekannt. Die Menschen hatten ihren Notruf empfangen und waren mit der MAGELLAN zu Hilfe geeilt, weil kein anderes Rettungsschiff verfügbar gewesen war.

»Warum reagieren die nicht auf unsere Anrufe?«, fragte Petuchow. Es klang, als spräche der Funk- und Ortungschef mit sich selbst.

»Deshalb!« Bull beugte sich in seinem Sessel vor und starrte ungläubig auf die Szenen, die sich in gestochener Schärfe im Holodom abspielten. »Diese Tellerköpfe sind doch nicht mehr ganz dicht ...«

Zwischen den trudelnden Diskussen war Bewegung entstanden. Dutzende winziger Gestalten verließen die Raumfahrzeuge und versuchten, der Situation mithilfe der in die Raumanzüge integrierten Flugaggregate zu entkommen.

»Die hören einfach nicht auf uns!«, stieß Petuchow aufgebracht hervor.

»Dann ist es umso wichtiger, dass wir die Nerven bewahren.« Deringhouse hatte sich erhoben und die Arme hinter dem Rücken verschränkt. »Fangen Sie diejenigen ein, die Sie erwischen. Ansonsten gehen wir vor wie geplant. Um den Rest kümmern wir uns, sobald die Lage unter Kontrolle ist.«

Rhodan nickte. Mit der unerwarteten Evakuierung ihrer Schiffe hatten die Blues die Rettungsaktion erheblich verkompliziert. Möglicherweise hatten die Umstände sie dazu gezwungen, möglicherweise hatten sie einfach nur Angst.

Offenbar waren sämtliche Systeme der Diskusraumer ausgefallen. Vielleicht war die Flottille in ein besonders heftiges Kreellgestöber geraten. Welche fatalen Folgen das haben konnte, hatten auch die Menschen an Bord der MAGELLAN bereits erleben müssen.

Der Expeditionsraumer hatte inzwischen gestoppt. Für eine direkte Beteiligung an der bevorstehenden Operation war der Kugelriese viel zu schwerfällig. Deshalb hielt er sich im Hintergrund und übernahm lediglich die Koordination. Rhodan beobachtete, wie die Space-Disks zwischen den Bluesraumern, die hilflos durchs All taumelten, hin und her huschten, um die in alle Richtungen fliehenden Besatzungsmitglieder der Havaristen einzusammeln. Gleichzeitig setzten die Korvetten ihre Traktorstrahler ein. Die entsprechenden Projektoren erzeugten ein gerichtetes Hyperfeld, in dessen Einflussbereich die kinetische Energie eines materiellen Objekts manipuliert werden konnte. Um komplexe Bewegungen über mehrere Achsen – und genau solche vollführten die Diskusschiffe der Blues derzeit – zielgerichtet zu beeinflussen, bedurfte es allerdings einer erheblichen Rechenkapazität.

»Sieht gut aus«, kommentierte Petuchow die neuen Bilder. Drei der Molkexraumer hatten ihre wilden Drehungen bereits merklich verlangsamt und bewegten sich vom Pulk weg. Ihre schwarzen Außenhüllen schienen das Licht der Sterne beinahe gierig in sich aufzusaugen.

»Ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich dieses Zeug sehe«, sagte Bull leise, als hätte er die Gedanken seines Freunds gelesen. »Auf was haben sich diese Azaraq da bloß eingelassen ...?«

»Sie haben eine Chance gesehen und sie ergriffen«, gab Rhodan zurück. »Auch wir Menschen haben uns im Laufe unserer Geschichte immer wieder von bestimmten Rohstoffen abhängig gemacht – Holz, Eisen, Kohle und vor allem Erdöl. Wenn uns die Arkoniden nicht mit teilweise völlig neuen Technologien bekannt gemacht hätten, würde die Erde heute anders aussehen.«

Er verstummte, als ihm bewusst wurde, dass besagte Erde derzeit eine verlassene Welt war, ein verwaister Planet, auf dem kein einziger Mensch mehr lebte, weil die veränderte Strahlung der Sonne es nicht erlaubte. Wie viel Schuld trug er selbst an dieser Entwicklung? Er war noch immer davon überzeugt, dass seine nun schon fast zwanzig Jahre zurückliegende Begegnung mit den Arkoniden das Fundament für eine bessere Zukunft für alle Menschen gelegt hatte. Doch der Gedanke an unbewohnte Städte, brachliegende Industriezentren und eine nach und nach verfallende Infrastruktur ließen seine Zuversicht bröckeln.

»Hör auf damit, Perry!« Wie zuvor Deringhouse hatte sich auch Reginald Bull von seinem Platz erhoben und war neben Rhodan getreten. Nun legte er eine Hand auf Rhodans Schulter. Kurz trafen sich die Blicke der beiden Männer, die gemeinsam schon so viel erlebt hatten. »Ich habe in meinem Leben zweifellos den ein oder anderen Fehler gemacht«, sprach Bull weiter. »Aber dir zu den Sternen zu folgen, war ganz sicher keiner davon.«

Perry Rhodan lächelte. »Danke, Reg. Ich ...«

Der Alarm verhinderte, dass er seinen Satz beendete.

»Kreellgestöber!« Petuchows Schrei schien die Zeit für einen Atemzug anzuhalten. Dann brach hektische, aber zielgerichtete Betriebsamkeit aus.

»Verschlusszustand eingeleitet und ... komplett«, meldete Gabrielle Montoya nur einen Augenblick später.

Die Schwärze des Weltraums war plötzlich verschwunden. An ihre Stelle war ein milchiges Flimmern getreten, dort flackerten in schneller Folge Punktblitze auf und erloschen ebenso rasch wieder.

»Die Dichte liegt bei zwei Komma fünf sechs eins Kilogramm pro Kubikmeter«, gab Petuchow die ersten Ortungsergebnisse bekannt. »Das ist rund das Doppelte dessen, was eine normale Sauerstoffatmosphäre aufweist. Schon bei zehn Prozent Lichtgeschwindigkeit wäre das so, als würde man gegen eine massive Wand rasen ...«

Wie zur Bestätigung seiner Worte trafen die ersten Notrufe ein. Zwei Space-Disks meldeten trotz aktiver Schutzschirme Verletzte aufgrund von Kreellphänomenen im Schiffsinnern. Hinzu kamen astrogatorische Probleme, weil die Fremdmaterie auf gefährliche Weise hyperphysikalisch mit den Triebwerken und den Impulsen der Steuersysteme interagierte.

»Wir tun, was möglich ist, aber wir gehen kein unnötiges Risiko ein!«, ordnete Conrad Deringhouse an. »Es nutzt niemandem, wenn wir gemeinsam mit den Blues durch den Weltraum trudeln. Sobald sich die ersten Ausfälle bemerkbar machen, ziehen wir uns zurück!«

»Verstanden und übermittelt, Sir!«, bestätigte Mischa Petuchow.

Nach und nach kam so etwas wie Ordnung in das Chaos. Trotz der schwierigen Voraussetzungen flogen die Piloten ihre Space-Disks mit großem Geschick und hoher Präzision.

 

Knapp dreißig Minuten später war alles vorbei. Während die Besatzungen der kleinen Beiboote die letzten Blues aus dem Weltraum fischten und wenn nötig medizinisch versorgten, brachten die Korvetten die stabilisierten Molkexraumer auf einen Kurs Richtung Außenrand des Systems. Sofern alles nach Plan verlief, konnten sie dort später von den Azaraq aufgesammelt und wieder in Besitz genommen werden.

»Einschleusung abgeschlossen!«, verkündete Gabrielle Montoya wenig später. »Keine Verluste. Unsere Leute sind – von leichteren Blessuren abgesehen – wohlauf. Keine nennenswerten Schäden am Material. Die Blues sind registriert und auf dem Weg in die Krankenstation der MAGELLAN. Wir weisen ihnen nach der vorgeschriebenen Quarantäne Unterkünfte an Bord zu, bis sie abgeholt werden.«

»Gut gemacht!«, lobte Conrad Deringhouse knapp.

Im Holodom sah Perry Rhodan, dass die MAGELLAN bereits wieder Fahrt aufgenommen hatte und sich zügig von der gigantischen Kreellwolke entfernte. Die Hauptpositronik zeigte passend dazu eine Perspektive, die alle wesentlichen Brennpunkte des Ovisystems umfasste: die verformte Sonne selbst sowie den Gigantplaneten Moloch und seine 42 Trabanten, von denen jeder selbst mindestens so groß wie die Erde war.

In diesem System sind alle Dimensionen ins Riesenhafte verschoben, dachte Rhodan. Dazu passt, dass auch die AVEDANA-NAU unglaubliche zwölf Kilometer lang ist und elf Milliarden schlafende Menschen an Bord hat.

Versonnen starrte der Protektor auf die mächtige, blaue Kugel von Moloch. Mit 170.000 Kilometern Durchmesser war sie größer als der heimische Jupiter – und sie wuchs noch immer. Die Redrift-Ereignisse sorgten nicht nur für einen permanenten Nachschub an Kreell, das sich in seinen diversen Entwicklungsstadien Schicht um Schicht auf der Oberfläche und in der Atmosphäre ablagerte, sondern auch für die bizarren, an Fraktale erinnernden Wolkenmuster, die geradezu ein Eigenleben zu haben schienen.

Die Monde – als halbtransparente, graue Sphären dargestellt – zogen ihre Bahnen nicht auf den üblichen Orbitalen, sondern umkreisten Moloch auf fünf exakt definierten Schalen und über sämtliche Achsen hinweg. Die gesamte Anordnung wirkte auf eine provozierende Weise künstlich, als hätten deren Schöpfer ihren Triumph über die Natur hinausschreien wollen: »Seht her, zu was wir in der Lage sind!«

Sobald die MAGELLAN die letzten Ausläufer der Kreellwolke hinter sich gelassen hatte, beschleunigte de Vasconcelos das Raumschiff und setzte Kurs auf Impos. Der Mond nahm eine Position als fünfter von acht Trabanten auf der zweiten Orbitalschale ein – nur ein winziges Rädchen in einem gewaltigen Getriebe, und doch für Rhodan derzeit der wichtigste Ort im Universum.

Auf Impos war die AVEDANA-NAU niedergegangen, jene Weltraumarche, in der die fast vier Jahre zuvor abtransportierten Bewohner der Erde im Tiefschlaf lagen. Das Schiff war damals mit seinen elf Milliarden Passagieren aufgebrochen, um eine Welt namens Vimana anzufliegen. Dort, so hatten die Memeter versprochen, würden die Menschen eine neue Heimat finden. Die Havarie auf Impos hatte diesem Plan ein vorläufiges Ende gesetzt.

»Haben wir Kontakt zu Leyden und Tolot?«, erkundigte sich Rhodan.

Der geniale Physiker und sein halutischer Partner hielten sich an Bord der AVEDANA-NAU auf, um die elf ebenfalls schlafenden Memeter zu wecken. Soweit er wusste, war das auch gelungen. Eine ganze Weile hatten sie sich über Relaissonden verständigen können, doch diese waren nach und nach ausgefallen. Seitdem hatte sich die Verbindung zur Arche auf ein paar verstümmelte Funksprüche beschränkt. Das besonders im Raum um Moloch tobende Kreellchaos, das sich beständig verstärkte, machte eine Kommunikation jedoch inzwischen so gut wie unmöglich.

»Wir haben einige rudimentäre Datenpakete von der DOLAN empfangen, Sir«, antwortete Mischa Petuchow. »Es scheint, als hätten Leyden und Tolot die Lage im Griff. Wenn es den Blues gelingt, die Memeterarche aus ihrem Kreellpanzer zu befreien, sollte sie in der Lage sein, Impos aus eigener Kraft zu verlassen.«

Rhodan nickte. Das waren gute Nachrichten. Die Energievorräte der AVEDANA-NAU gingen zur Neige – und falls elf Milliarden Menschen auf einmal aus mehrjährigem Tiefschlaf erwachten, hilf- und orientierungslos im Innern eines unbekannten Raumschiffs, war eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes nicht mehr zu verhindern.

Hinzu kam die Gefahr, die Moloch selbst darstellte. Laut Eric Leyden hatten die immensen Kreellmengen vor langer Zeit so etwas wie ein Bewusstsein entwickelt. Eine ähnliche Genese hatten die Menschen auch beim Halatium beobachtet, bei dem es ab einer bestimmten Massekonzentration ebenfalls zur Ausbildung von Intelligenz gekommen war. Das prominenteste Beispiel war wohl METEORA, die in ihrer Urform eine ein Meter durchmessende Kugel aus purem Halatium gewesen war. Das klang nicht nach viel, doch wenn man bedachte, dass diese Substanz bereits in mikroskopischen Mengen zu wahren Wunderdingen fähig war, relativierte sich das Ganze.

Im Fall von Moloch hatten Leyden respektive die Memeter das Ergebnis dieses Prozesses als supraheterodynamisches Wesen bezeichnet, eine Art zwischendimensionale Existenzform, eine groteske Mischung aus biologischem Leben und hyperphysikalischem Quasibewusstsein. Wie so vieles, was mit der unheilvollen Verbindung zwischen Creaversum und Einsteinraum zusammenhing, gehörte für Rhodan auch das sogenannte Suprahet zu jenen Dingen, die im großen Schöpfungsplan nicht vorgesehen waren. Dieses ... Etwas, das sich allen Analysen und Einschätzungen entzog, durfte eigentlich nicht existieren. Es war das Ergebnis einer gefährlichen Wechselwirkung zwischen zwei Dimensionen, die sich aus noch ungeklärten Gründen ineinander verhakt hatten.

Andererseits ... Er schüttelte den Kopf. Wenn das Universum so etwas wie das Suprahet hervorbringen konnte, hatte es dann nicht das gleiche Recht auf Leben wie jene elf Milliarden Menschen, die es bedrohte? Und nur weil die Menschen etwas nicht verstanden, musste das noch lange nicht heißen, dass es etwas nicht gab.

Rhodan war nicht unbedingt ein Anhänger der Darwin'schen Evolutionstheorie im klassischen Sinne, die ohnehin von vielen Laien falsch interpretiert wurde. Der britische Naturforscher hatte nie das ihm zugeschriebene und oft zitierte »Recht des Stärkeren« propagiert, sondern lediglich offenbart, dass jene Arten überlebten, die sich neuen Bedingungen am schnellsten und besten anpassten. Dabei musste keineswegs zwangsläufig Gewalt im Spiel sein.

Angesichts dessen, was da im Holodom von Sekunde zu Sekunde größer wurde, war es allerdings nicht einfach, die Angst im Zaum zu halten und naturphilosophische Prinzipien zu bemühen. Das Suprahet repräsentierte etwas Urtümliches, eine primitive Kraft, die sich nicht darum scherte, dass der Mensch das Universum in Kategorien und Zustände gliederte. Sein Kern reduzierte sich auf das pure Vorhandensein. Es verfolgte keine Ziele, schmiedete keine Pläne, kannte keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es war einfach da und tat, was ihm ein wie auch immer gearteter Instinkt gebot.

Die Memeter hatten das Monster einst gezähmt. Vielleicht hatten sie es sogar vernichten wollen und waren gescheitert, weil sich so etwas wie das Suprahet nicht vernichten ließ. Am Ende war die Anlage der 42 Monde entstanden, ein technisches Gebilde, das selbst die unglaublich anmutenden Leistungen der Liduuri bei Weitem übertraf.

Der Drache hatte sich in seine Höhle zurückgezogen und war eingeschlafen. Doch dann war die AVEDANA-NAU gekommen und auf Impos havariert. Dabei musste die Memeteranlage beschädigt worden sein. Die Folge war eine Kaskade von Ereignissen gewesen, die zu der prekären Situation geführt hatten, mit der Rhodan nun fertigwerden musste und bei der es um nicht weniger als die Existenz der gesamten Menschheit ging.

In den Jahren vor der Expedition der MAGELLAN nach Andromeda hatte er sich immer wieder die gleichen Fragen gestellt. Wie hatte es so weit kommen können? Warum gerieten die Erde und ihre Bewohner immer wieder in den Fokus von Mächten, die ihnen schaden wollten? Und wie viel Anteil hatten er und seine Handlungen an dieser Entwicklung?

Andromeda hatte Antworten gebracht, auch wenn das Bild nach wie vor unvollständig war. Ebenso wie Rhodan selbst war auch die Menschheit nur eine Figur in einem perversen »kosmischen Schachspiel«, das zwischen zwei Entitäten ausgetragen wurde, die sich in vielen Aspekten der Beurteilung normalsterblicher Lebewesen entzogen. ES und ANDROS inszenierten ihren seit Jahrzehntausenden tobenden Konflikt auf dem Rücken Unschuldiger, und das erfüllte Rhodan mit einem geradezu heiligen Zorn.

»Funkanruf von Tagrep Kerrek, Sir«, riss ihn die Stimme von Petuchow aus seinen Gedanken. »Alle Schiffe und Drohnen sind in Position.«

»Geben Sie ihn mir!«, verlangte Rhodan.

Eine Sekunde später manifestierte sich das dreidimensionale Bild eines Fremdwesens vor ihm, ein Oberkörper mit dem charakteristisch flachen Schädel eines Blues. Der bläuliche Pelz des gatasischen Flottenkommandanten wies einen unübersehbaren Grauschleier auf. Rhodan fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte oder ob der Effekt lediglich der gestörten Übertragung geschuldet war.

»Tharvis«, begrüßte er Kerrek mit dessen offiziellem Titel. »Wie geht es Jolkar?«

Einen Moment lang schien der Gataser irritiert. Offenbar wunderte er sich darüber, dass Rhodan angesichts der bedrohlichen Lage Zeit fand, sich nach dem Befinden von Kerreks Sohn zu erkundigen.

»Gut. Danke der Nachfrage, Protektor Rhodan«, kam dann die Antwort. »Ich habe ihm das Kommando eines der Schlachtschiffe übertragen, die im Orbit um Impos als Relaisstellen dienen und unsere kleineren Einheiten bei der Navigation unterstützen.«

»Sie haben ihn direkt in den Einsatz geschickt?«

»Er ist mein Sohn!«, erwiderte Kerrek, als sei damit alles gesagt. »Und sein Leben gehört Ihnen. Er wird es mit Freude geben, um Ihr Volk zu retten.«

Rhodan seufzte innerlich und verzichtete darauf, den Tharvis darauf hinzuweisen, dass weder er noch sein Sohn ihm etwas schuldig waren. Auch wenn die von Julian Tifflor und Sud entwickelten Medikamente Jolkar Kerrek von der Geißel des Choroba nemoc befreit hatten: Rhodan wäre nicht mal im Traum auf die Idee gekommen, die Heilung eines Todkranken an irgendwelche Bedingungen zu knüpfen. Eine solche Geisteshaltung dem stolzen Tagrep Kerrek gegenüber verständlich zu machen, war jedoch so gut wie unmöglich.

»Was Sie und die Ihren heute für uns tun, ist mit einem Leben niemals aufzuwiegen«, sagte Rhodan dennoch. »Lassen Sie uns gemeinsam von der hellblauen Kreatur der Verantwortung erhoffen, dass niemand von uns in den kommenden Stunden weitere Opfer zu beklagen hat.«

Der Tharvis kreuzte die langen Arme vor der Brust und neigte den Tellerkopf, vermutlich eine Geste der Anerkennung.

»Wohl gesprochen, Protektor«, gab er dann zurück. »Egal welche Götter wir verehren – heute brauchen wir sie alle. Mit Ihrem Einverständnis gebe ich in wenigen Minuten den Befehl.«

»Tun Sie das«, bestätigte Rhodan.

Einen Augenblick lang schien es, als wolle Tagrep Kerrek noch etwas hinzufügen. Dann jedoch erlosch sein Holo, ohne dass er etwas gesagt hatte.

»Mein großer Zeh juckt.« Reginald Bulls Stimme klang heiser. »Der rechte ...«

»Dann zieh deinen Stiefel aus und kratz dich«, reagierte Perry Rhodan nüchtern. »Du weißt, dass ich nichts auf Vorahnungen gebe. Wir haben in den vergangenen Jahren genug Rückschläge einstecken müssen. Heute werden nicht nur die Götter, sondern auch das Glück auf unserer Seite sein!«

2.

Perry Rhodan

 

Die MAGELLAN hatte drei Millionen Kilometer vor Moloch erneut gestoppt. Das war weit genug entfernt, um den schlimmsten Auswirkungen des erwachenden Suprahets zu trotzen, aber nah genug, um zumindest einige halbwegs verlässliche Ortungsdaten zu erhalten. Trotzdem war die Position alles andere als optimal. Die von Mischa Petuchow und Renaya Dalva de Vasconcelos abwechselnd hervorgestoßenen Flüche legten davon ein beredtes Zeugnis ab.

»Ist das alles, was Sie hinkriegen?«, kommentierte Reginald Bull den Umstand, dass die in den Holodom projizierten Bilder von zahllosen Störstreifen und -schlieren durchzogen waren.

Ein Großteil der Aufnahmen stammten von Einheiten der Gataser und Apasos und wurden von Relaisschiffen empfangen, vorgefiltert und dann direkt an die MAGELLAN übermittelt. Die Menschen hatten versucht, die qualitativ mangelhaften Bilddaten durch den Einsatz eigener Technik zu verbessern, doch selbst Sonden schafften es mittlerweile im Idealfall nur noch bis in die oberen Schichten der Atmosphäre von Impos. Eine Annäherung an Moloch war komplett unmöglich.

»Wollen Sie es vielleicht selbst versuchen, Sir?« Die Entgegnung kam ungewöhnlich scharf, beinahe aggressiv. Nur einen Atemzug später wurde sich Petuchow bewusst, wen er da gerade anfauchte. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er zerknirscht. »Ich bin ...«

»... frustriert und genervt wie wir alle, Mister Petuchow«, fiel ihm Bull ins Wort. »Sparen Sie sich Ihre Entschuldigung, und wirken Sie lieber Ihre Magie. Ich weiß, dass Sie es besser können – und ich will verdammt noch mal wissen, was da unten vor sich geht!«

»Verstanden, Sir«, erwiderte der Funk- und Ortungschef.

Rhodan warf seinem Freund einen schnellen Blick zu, und über die Gesichter beider Männer huschte ein verhaltenes Lächeln. Frust war nicht per se etwas Schlechtes, wenn man es verstand, ihn zu kanalisieren und in die richtigen Bahnen zu lenken. Reginald Bull war in der Kunst, anderen die dafür nötigen Impulse zu geben, ein ebensolcher Experte wie Perry Rhodan selbst.

Tatsächlich wurden die Übertragungen kurz darauf besser, auch wenn die meisten Szenen nach wie vor wirkten, als hätte man sie inmitten eines arktischen Schneesturms aufgenommen.

Was wahrscheinlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist, dachte Rhodan.

Obwohl er schon unzählige Male in ähnlichen Situationen gesteckt hatte, war er von der Realitätsnähe moderner Holotechnik stets aufs Neue fasziniert. Als sich der mächtige Torso der AVEDANA-NAU aus dem grauweißen Durcheinander schälte, glaubte er die Kälte, die auf Impos herrschte, körperlich zu spüren.

Die Bilder wurden vermutlich von einem der Bluesdiskusse geliefert, denn der Aufnahmewinkel folgte einer steilen Kurve, drehte sich dann seitlich von der Außenhaut der Arche weg und schwenkte in die nähere Umgebung. Dort war der Boden in wimmelnder Bewegung. Kurzzeitig hatte Rhodan den Eindruck, auf die schäumende Oberfläche eines orkangepeitschten Sees zu blicken. Dann gewann die Darstellung deutlich an Schärfe – und er erkannte die Armee der Hornschreckwürmer.

Die unterarmlangen Tiere belagerten die AVEDANA-NAU nach wie vor. Nach der Teilreparatur der Untergrundanlagen von Impos durch Eric Leyden und Tuire Sitareh hatten Hyperimpulse das Milliardenheer der Kreellbiester eine Zeit lang aufgehalten. Doch die Strahlung schien ihre Wirkung zu verlieren, was womöglich mit den physikalischen Veränderungen im Ovisystem zu tun hatte. Je aktiver Moloch und damit das Suprahet wurde, desto chaotischer waren die Auswirkungen auf die Raum-Zeit und damit auf alles, was dort kreuchte und fleuchte.

Leyden und Sitareh hatten ihnen ein paar Stunden Zeit erkauft – nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Längst hatten die Hornschreckwürmer erneut damit begonnen, gegen die riesige Arche anzurennen. Rhodan bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, als er daran dachte, wie er gemeinsam mit den Eisbrechern gegen die tödliche Gefahr gekämpft und versucht hatte, ein Eindringen der Kreellgeschöpfe in die AVEDANA-NAU zu verhindern. Nadine Bellusca und ihre Mitstreiter, die kurz nach der Havarie der Arche erwacht waren und mehr als drei Jahre lang einen nahezu aussichtslosen Kampf ums eigene und das Überleben von elf Milliarden weiteren Menschen geführt hatten, waren auf Impos zurückgeblieben.