Predigtstudien

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,
Klaus Eulenberger, Doris Hiller, Kathrin Oxen,
Christopher Spehr und Birgit Weyel

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände.

Predigtstudien

für das Kirchenjahr 2017/2018

Perikopenreihe IV – Zweiter Halbband

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,
Klaus Eulenberger, Doris Hiller, Kathrin Oxen,
Christopher Spehr und Birgit Weyel

Redaktion: Martin Kumlehn

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S004

Kreuz Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Wunderlich&Weigand

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-946905-34-9

ISBN (Buch) 978-3-946905-30-1

Inhalt

E-Mail-Korrespondenz


Über den Nutzen oder den Unsinn von Zitaten in der Predigt

Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Klaus Eulenberger und Johann Hinrich Claussen

20.05.18 Pfingstsonntag


1 Korinther 2,12–16:

Geist aus Gott

Matthias Lobe / Johann Hinrich Claussen

21.05.18 Pfingstsonntag


Epheser 4,11–15(16):

Rüstzeit

Uwe Weise / Nicole Beckmann

27.05.18 Trinitatis


Epheser 1,3–14:

Zum Lob seiner Herrlichkeit

Jan Hermelink / Hans Martin Dober

03.06.18 1. Sonntag nach Trinitatis


Jeremia 23,16–29:

Wahrhaft »Hammer«

Doris Hiller / Wiebke Bähnk

10.06.18 2. Sonntag nach Trinitatis


1 Korinther 14,1–3.20–25:

… und nichts ist ohne Sprache

Redlef Neubert-Stegemann / Matthias Kempendorf

17.06.18 3. Sonntag nach Trinitatis


1 Johannes 1,5–2,6:

Lass es leuchten

Christa Usarski / Renate Gerhard

24.06.18 Tag der Geburt Johannes des Täufers


1 Petrus 1,8–12:

Wonach sich selbst die Engel sehnen

Wilfried Engemann / Bernhard Lauxmann

24.06.18 4. Sonntag nach Trinitatis


1 Petrus 3,8–15a(15b–17):

Segnet vielmehr

Holger Bentele / Martin Kumlehn

01.07.18 5. Sonntag nach Trinitatis


1 Mose 12,1–4:

Segen für eine offene Zukunft

Stefan Egenberger / Lucie Panzer

08.07.18 6. Sonntag nach Trinitatis


Apostelgeschichte 8,26–39:

Begegnungen im Resonanzraum des Glaubens

Katharina Krause / Verena Mätzke

15.07.18 7. Sonntag nach Trinitatis


Philipper 2,1–4:

Demut, wo sie hingehört

Manuel Stetter / Elisabeth Nitschke

22.07.18 8. Sonntag nach Trinitatis


1 Korinther 6,9–14.18–20:

›Was Sie über Sex wissen sollten‹

Antje Eddelbüttel / Holger Treutmann

29.07.18 9. Sonntag nach Trinitatis


Jeremia 1,4–10:

»Ich tauge nicht zu predigen!«

Christoph Levin / Kristian Fechtner

05.08..18 10. Sonntag nach Trinitatis


Jesaja 62,6–12:

Erinnerung an noch Ausstehendes

Friedhelm Hartenstein / Horst Gorski

12.08..18 11. Sonntag nach Trinitatis


Galater 2,16–21:

»… doch nun nicht ich«

Stephan Schaede / Christopher Spehr

19.08..18 12. Sonntag nach Trinitatis


Apostelgeschichte 3,1–10:

Mehr als Silber und Gold

Albrecht Grözinger / Elisabeth Grözinger

26.08.18 13. Sonntag nach Trinitatis


1 Mose 4,1–16a:

Kainsmal

Ursula Kranefuß / Doris Gräb

02.09.18 14. Sonntag nach Trinitatis


1 Thessalonicher 1,2–10:

Evangelische Fankultur leben!

Lars Charbonnier / Heike Merzyn

09.09.18 15. Sonntag nach Trinitatis


Galater 5,25–26; 6,1–3.7–10:

Nicht ohne einander

Martin Weeber / Ruth Conrad

16.09.18 16. Sonntag nach Trinitatis


Apostelgeschichte 12,1–11:

Werden wir doch als wie träumen

Stefanie Arnheim / Katharina Fenner

23.09.18 17. Sonntag nach Trinitatis


Jesaja 49,1–6:

Licht der Völker

Martin Rößler / Helge Martens

30.09.18 18. Sonntag nach Trinitatis


Jakobus 2,1–13:

Du bist da – und ich sehe Dich!

Nina Heinsohn / Susanne Platzhoff

07.10.18 Erntedankfest


1 Timotheus 4,4–5:

Nichts ist selbstverständlich

Gerald Kretzschmar / Birgit Weyel

07.10.18 19. Sonntag nach Trinitatis


Jakobus 5,13–16:

Eher im Wald als in der Kirche

Adelheid Ruck-Schröder / Thomas Stahlberg

14.10.18 20. Sonntag nach Trinitatis


1 Korinther 7,29–31:

Als ob? Erst recht!

Jörg Schneider / Simon Kuntze

21.10.18 21. Sonntag nach Trinitatis


Jeremia 29,1.4–7.10–14:

Heim-Suchungen

Ruth Poser / Kristin Merle

28.10.18 22. Sonntag nach Trinitatis


Römer 7,14–25a:

Resonanz im Hamsterrad

Paul-Gerhard Klumbies / Dirk von Jutrczenka

31.10.18 Reformationsfest


Galater 5,1–6:

Neue Währung

Klaus Eulenberger / Wilhelm Gräb

04.11.18 23. Sonntag nach Trinitatis


Römer 13,1–7:

Eine paulinische Steuererklärung

Inge Kirsner / Harald Schroeter-Wittke

11.11.18 Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres


Hiob 14,1–6:

Gott vor Gericht …!?

Rolf Stieber / Gerhard Zinn

18.11.18 Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres


Offenbarung 2,8–11:

Ich kenne deine Bedrängnis

Margrit Wegner / Christof Jaeger

21.11.18 Buß- und Bettag


Offenbarung 3,14–22:

Ich stehe vor der Tür und klopfe an

Ingo-Christoph Bauer / Reinhard Mawick

25.11.18 Ewigkeitssonntag


Jesaja 65,17–19(20–22)23–25:

Konkrete Hoffnung

Kathrin Oxen / Anne Waßmann-Böhm

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Über den Nutzen oder den Unsinn von Zitaten in der Predigt

Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Klaus Eulenberger und Johann Hinrich Claussen

Lieber Klaus,

gestern bin ich im Gottesdienst gewesen, aber ich habe weder geweint noch gelacht. Nur eine Frage habe ich mit nach Hause genommen, auch weil ich mich ertappt gefühlt habe. Der junge Kollege hat in seiner Predigt etwas gemacht, was mich – nicht geärgert, aber doch enttäuscht hat. Er hat sehr gut angefangen, hatte einen feinen Aufhänger, wusste auch etwas daran aufzuhängen. Aber am Ende, als es darum ging, eine Aussage zu wagen, die einem im Sinn bleibt und ins Herz trifft, ging ihm erkennbar die Luft aus, und er hat – ein Gedicht zitiert. Es war keines von den ganz schlechten, doch es war etwas Fremdes, eine bloß herbeizitierte Bedeutsamkeit. Doch, da habe ich mich schon geärgert, mich aber auch ertappt gefühlt. Auf dem Weg nach Hause fiel mir ein, wie oft ich es ähnlich gemacht habe. Sollten wir nicht lieber auf diese Zitate, besonders von Gedichten, ganz verzichten?

Dein Johann

***

Lieber Johann,

ich habe eine Vermutung. Nämlich diese: Es macht einen Unterschied, ob jemand sich bemüht, ein ›passendes Zitat‹ zu finden – etwa, um den eigenen Gedanken eine höhere Autorität zu verleihen –, oder ob ihm auf dem Weg von der Einleitung zum Ende der Predigt etwas einfällt (ja: ein-fällt), was im gegebenen Kontext einfach unabweisbar ist. Nein, kein Sahnehäubchen, keine nette Verpackung für etwas, das eigentlich schon gesagt ist. Sondern: vielleicht eine kleine Passage aus einer Kurzgeschichte oder ein Gedicht, das ›es‹ einfach besser, genauer, inspirierter sagt, als ich es mit meinen eigenen Worten sagen könnte. Ich wäre nie darauf gekommen, eine Entsprechung zwischen den romanischen Bögen einer Kirche und dem Inneren ihrer touristischen Betrachter zu sehen. Der schwedische Poet Tomas Tranströmer hat sie entdeckt, und für mich (und Dich?) gleich mit:

In der gewaltigen romanischen Kirche drängten sich die Touristen im Halbdunkel.

Gewölbe klaffend um Gewölbe und kein Überblick.

Kerzenflammen flackerten.

Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich

und flüsterte durch den ganzen Körper:

»Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz!

In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.

Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.«

Ich war blind vor Tränen

und wurde auf die sonnensiedende Piazza hinausgeschoben

zusammen mit Mr. und Mrs. Jones, Herrn Tanaka und Signora Sabatini,

und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.

(Tranströmer, 216)

Dieses Gedicht in einer Predigt zu hören, würde mich froh machen.

Dein Klaus

***

Lieber Klaus,

das kann ich nachvollziehen. Man kann in einer Predigt nicht bloß sagen, was man selbst halt so sagen kann. Deshalb greifen wir ja auch zu den biblischen Worten, weil sie etwas aussagen, das uns unerschwinglich ist. Aber es muss doch durch uns hindurchgegangen sein. Wir sollten es nicht nur aufgelesen, sondern uns auch einverleibt haben. Wenn wir etwas Literarisches finden oder legitimerweise stehlen – der Heilige Geist kennt ja kein Copyright –, dann muss es bis zum Gang auf die Kanzel irgendwie unser Eigenes geworden sein. Oder ist das ein zu hoher Anspruch?

Doch wenn wir es nicht so halten, dann setzen wir die Verbindung zu unserer Gemeinde aufs Spiel. Um mich gleich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch zu setzen, sage ich das, was ich hier meine, mit einem Zitat, und zwar aus den unerschöpflichen »Notizheften« von Henning Ritter: »Warum so viele Zitate? Der Leser soll auch dann noch einen Gewinn haben, wenn der Autor ihm nichts von sich selbst gibt. Er ruht sich auf den schönen Zitaten aus. In gebildeten Zeiten bringt das Bildungszitat ein Wiedererkennen, stiftet Einverständnis, nähert Autor und Leser einander an. Das Gegenteil ist heute der Fall. Das Zitat vergrößert den Abstand zum Leser, gibt dem Autor weder Prestige noch Autorität – vielmehr zeigt es, dass er sich in anderen Kreisen bewegt und der Zuwendung des Lesers nicht bedarf.« (Ritter, 216)

Dein Johann

P.S.: Über Tranströmers Kirchen-Gedicht habe ich mich sehr gefreut. Von diesem schwedischen Meister stammt eins meiner ewigen Lieblingsgedichte, mit dem ich aber in einer Predigt Schiffbruch erlitten habe. Es beschreibt ein Orgelkonzert, besser gesagt, einen Moment der Stille mitten in diesem Konzert, der eine Epiphanie auslöst. Ich habe es wieder und wieder gelesen. Als ich es jedoch der Gemeinde vorgetragen habe, war es wohl zu kompliziert, ungewohnt, unvorbereitet – es flog über die Köpfe hinweg.

***

Lieber Johann,

ist es möglich, dass Du die Gemeinde einfach durch die Textmenge strapaziert und entmutigt hast? Das Gedicht besteht aus zwölf Strophen zu je vier Zeilen. Ich hätte es – selbst vorausgesetzt, es zählte zu meinen Lieblingstexten – in einem Gottesdienst nicht zitiert.

Etwas Literarisches, schreibst Du, muss »einverleibt« sein, ehe es von der Kanzel aus weitergegeben wird. Ich bin völlig einverstanden. Wenn ich in einer Predigt etwas höre, das der Prediger ›irgendwo‹ gefunden hat, vielleicht in den ehemals beliebten »Zitate(n) zum Kirchenjahr« (Vandenhoeck & Ruprecht) oder in einer Textsammlung, einem Lesebuch, spüre ich die Mühe des Suchens und die halbherzige Erleichterung: Ach, das könnte doch ungefähr passen. So herum geht es nicht. Ein literarischer Einfall kommt, oder er kommt nicht. Kommt er nicht, muss man es hinnehmen. Sonst – um es wiederum an einem Beispiel aus der Literatur zu verdeutlichen – wird man zu jenem Prediger, den Michael Krüger in seinem Gedicht »Brief« (Krüger, 43) beschreibt:

… Vorne pickte der alte Pfarrer,

ohne eine Lösung zu fordern,

wie ein schwarzer Vogel lustlos

im Evangelium, schien aber nichts

zu finden, uns zu verführen.

Kein Leitfaden, kein Trost …

Kommt der Einfall aber – und besteht er vor dem kritischen Blick –, gehört das zu den glücklichsten Begebenheiten. Was er mit sich führt, tut dem biblischen Text keine Gewalt an, es verbiegt ihn nicht, unterwirft ihn sich nicht. Aber es taucht ihn in ein überraschendes Licht, in dem die Konturen klarer werden und die Tiefenschärfe zunimmt. Und er kann dazu beitragen, dass eine Predigt entsteht, die nicht nur das in der Regel kleine Kirchenvolk erreicht, sondern auch diejenigen, »die draußen sind« (Kol 4,5). Und das gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Predigtkunst heute. Finde ich.

Dein Klaus

Lieber Klaus,

vielleicht muss man sich nur klarer entscheiden. Also, entweder ist einem nichts zugefallen, dann arbeitet man mit dem, was man hat: Bibel, Kirchenjahr, eigenen Empfindungen und Gedanken, dem, was man selbst sagen kann oder nicht. Dazu kann – aber bitte nicht jeden Sonntag – gehören, Lücken, Offenes, Ratlosigkeiten zu benennen.

Oder einem ist etwas eingefallen, ohne dass man mühsam gesucht hätte. Dann nimmt man es und macht es sich so zu eigen, dass es am Ende kein Zitat mehr ist – wie ein Jazzmusiker, der eine Standard-Melodie aufnimmt und in ein eigenes Spiel verwandelt. Ich habe das einmal mit einem Rilke-Text so versucht: seinen Ton, seine Motive, auch einzelne Wendungen aufgenommen, aber daraus eine eigene Meditation-Improvisation gemacht. Nachher habe ich denen, die gefragt haben, natürlich gesagt, dass ich mich von Rilke habe inspirieren lassen, aber in der Predigt fiel der Name nicht. Es war ja meins geworden.

Oder man hat einen literarischen Text, der für sich stehen bleibt. Also nimmt man ihn wie einen fremden Gast mit auf die Kanzel für eine Dialogpredigt. Er ist ein Gegenüber, kein Vehikel meiner Botschaft, spricht und streitet mit mir. Doch manchmal findet man am Ende zu einem überraschenden Zusammenklang. Zum Beispiel das von dir nicht zitierte, sondern aufgerufene »Brief«-Gedicht von Krüger: Da geht einer in den Gottesdienst, alles ist totes Ritual, dem alten Pfarrer fällt nichts ein, »nach einer Stunde war alles vorbei« (Krüger, 43). Aber dann, beim Gang aus der Kirche, hinaus und zurück in die Welt, geschieht plötzlich dies:

Draußen lag ein unerwartet helles Licht

über dem See, und ein Wind kam auf,

der mich die Unterseite der Blätter

sehen ließ.

Vielleicht also geht es gar nicht um ›Zitat oder Nicht-Zitat‹, sondern viel grundsätzlicher darum, wie wir so leben und lesen, dass uns so etwas zufällt.

Dein Johann

***

Lieber Johann,

gleich muss ich etwas zitieren, was mir durch Deinen letzten Beitrag in Erinnerung gekommen ist. Wolfdietrich Schnurre hat diese Notiz in seinem fast vergessenen, gleichwohl großartigen Buch »Der Schattenfotograf« gebracht (Schnurre, 75): »Faulkner, auf dem Campus befragt, was man als angehender Schriftsteller tun müsse, um das Leben kennenzulernen: ›Lesen, lesen, lesen.‹ Deprimierende Antwort. (Jedoch nur für Kolumbus, nicht für den Mönch.)« Was bleibt, wenn man Schnurres absolute Fixierung auf Geschriebenes für sich selbst relativiert? Vielleicht dies: Natürlich kann man das Leben kennenlernen auch auf andere Weisen: als Autofahrerin, Teilnehmer an Demonstrationen, als Mutter oder Seelsorger. Ohne Lesen wird es aber auch dann nicht gehen. Weil die Bücher einen prinzipiellen Überschuss meiner eigenen Erfahrung gegenüber enthalten. In ihnen finde ich etwas, was mir nie zuteil würde (weil ich ja bin, wie ich bin, notwendig beschränkt in meinen Wahrnehmungen). Eine Synthese zwischen Mönch und Entdecker schiene mir eine gute Voraussetzung dafür, dass man in der Predigt etwas zu sagen hat.

Übrigens spreche ich nicht (wie Henning Ritter) von ›Bildungszitat(en)‹. Ich würde als Prediger nie voraussetzen, dass die, die mir zuhören, ein Zitat erkennen und wissen, woher es stammt. (Dann zerfiele die Gemeinde ja in einen Teil, der zufrieden registriert, sich auszukennen, und einen anderen, der fragt: Was meint er denn jetzt? Dann wäre das kulturelle Hochgefühl der einen der Verdruss der anderen.) Nein: Entweder verwandle ich ein Zitat mir so an, dass es zu ›meinem‹ Text wird (so, glaube ich, hast Du es im Zusammenhang mit dem Rilke-Zitat gemeint), oder ich präsentiere es so, dass alle erfahren, woher es stammt und, vor allem: wie und warum es in diese Predigt kommt. Sie machen eine Entdeckung, im besten Fall freuen sie sich an einer geglückten Formulierung. Und zwar einer solchen, die ihren Glauben befördert, kräftigt, belüftet. Das Vergnügen daran könnte das Ende des Gottesdienstes überdauern.

Dein Klaus

Literatur: Michael Krüger, Brief nach Hause © 1993 Residenz Verlag GmbH, Salzburg – Wien, in: Johann Hinrich Claussen (Hg.), Spiegelungen. Biblische Texte und moderne Lyrik. Eine Anthologie, Zürich 2004; Henning Ritter, Notizhefte, Berlin 2010; Wolfdietrich Schnurre, Der Schattenfotograf (Roman), Neuausgabe Berlin 2010; Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, Aus dem Schwedischen von Hans Grössel, © 1997 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München


A

Pfingstsonntag

1 Korinther 2,12–16:

Geist aus Gott


Matthias Lobe

Eröffnung: Muttersprache der Kinder des Vaters

Aus keiner Windmaschine

sei je ein Brausen gekommen

von solcher Gewalt.

Zungen auf jedem Haupt,

gespalten wie Feuer

Zungen spaltet. (Warum?)

Eine Stimme für alle, jeder

verstehbar jedem, auch dir,

wärst du dabei gewesen.

(Die Muttersprache

Der Kinder des Vaters.)

(Neumann, 60)

Den Bericht von den Ereignissen, auf die der Dichter anspielt, haben die Gottesdienstbesucher noch im Sinn. Gerade erst ist die ›Festlegende‹ von Pfingsten verlesen worden, diese Herausforderung für jede Lektorin mit all den schwierig auszusprechenden und zu betonenden fremdländischen Namen: »Mesopotamien, Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien …« Sie berichtet davon, wie der Geist Gottes ausgegossen wird über Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Sprache und davon, wie hier Menschen ein unglaubliches Erlebnis haben: Der Geist Gottes ergreift unterschiedslos und scheinbar ungeordnet alle, die da sind, und lässt sie erfahren, was es heißt, sich zu begegnen, sich zu verstehen über Trennendes hinweg: Fremdes, Unvertrautes, ja Befremdliches erschließt sich auf einmal nach seinem verborgenen Hintersinn und wird augenblicklich als zum Eigenen zugehörig und vertraut erlebt. ›Versöhnung statt Abgrenzung‹ könnte man plakativ als Motto über diese Szene setzen. Es gibt ein unsichtbares Band, das alle miteinander vereint, hinter allen Gegensätzen und Unterschiedlichkeiten, die das äußere Bild bestimmen.

»Wärst du dabei gewesen« (Neumann), hättest du dieses auch einmal gespürt: Dieses Feuer und dieses »Brausen«, das keine von Menschen gebaute Maschine je würde erzeugen können. Diese Macht ist größer als alles, was Menschen erschaffen können; sie kommt von Gott – soweit die Pfingsterzählung, die im Zentrum des Gottesdienstes an diesem Sonntag stehen soll. Jedes Fest hat seine Geschichte, die ihren Raum beansprucht. Der Gottesdienst ist der Ort, an welchem die den Sinn des Festes tragende Heilsbotschaft als Festlegende hörbar gemacht und aktualisiert wird. Pfingsten ist – anders als Weihnachten und Ostern – bereits auf dieser narrativen Ebene sehr viel anspruchsvoller und deutungsbedürftiger … und dann dieser Predigttext!

II Erschließung des Textes: Theologische Argumentationsbrocken

Die fünf Verse aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther im zweiten Kapitel sind tatsächlich »Korinthische Brocken« (Christian Lehnert), die einem heutigen Predigthörer sperrig in die Ohren kommen, ist doch schon die längere Argumentation des Paulus an sich nicht leicht nachzuvollziehen. Von den Parteiungen innerhalb der korinthischen Gemeinde geht Paulus über zu einer Reflexion über die Bedeutung des Kreuzes Christi als einer »Torheit« (moria) für diejenigen, die versuchen, sie mit menschlicher Weisheit zu entschlüsseln. So bringt er menschliche und göttliche Weisheit in einen Gegensatz, der nur durch die Gabe des göttlichen Geistes aufgehoben werden kann. Dieses Geschehen ist der ›pfingstliche‹ Teil seiner Argumentation, die in einem durch und durch theologisch-diskursiven Duktus nur verhalten durchscheint.

Meines Erachtens setzt Paulus drei verschiedene Denkfiguren voraus. Erstens eine Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass die erkennende Instanz dem zu erkennenden Gegenstand substanziell gleichartig sein muss: »… davon reden wir auch nicht mit Worten, wie sie menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen« (V. 13). Diese Position wird später bei Thomas von Aquin im Sinne einer Adäquationstheorie der Wahrheit wie folgt definiert: ›veritas est adaequatio rei et intellectus‹ (Summa theol. qu. XVI, art. 1,3): ›Wahrheit ist die Übereinstimmung des Gegenstandes und des Verstandes.‹ Im Umkehrschluss bedeutet dieses, dass menschliche Weisheit die Wahrheit Gottes zu fassen nicht in der Lage ist.

Das führt zu einer zweiten Voraussetzung, die das Verständnis Gottes betrifft. Gott verbirgt sich in einem »Geheimnis« (V. 7), das von keinem ergründet werden kann, der nicht den Geist Gottes verliehen bekommen hat: »… uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit« (V. 10). Luthers Unterscheidung eines ›deus absconditus‹ von einem ›deus revelatus‹ dürfte an diesen Formulierungen seinen Anhalt gefunden haben: Das Wesen Gottes kann nur durch die Offenbarung als Gabe seines Geistes erkannt werden. Der Geist ist das Werkzeug, mittels dessen ein Mensch die »Tiefen der Gottheit« ergründen kann. Das Pfingstereignis als Ausschüttung des Geistes zielt darauf, dass Menschen in die Lage versetzt werden, den Schleier des Geheimnisses fortzuziehen: Wahrheit (aletheia) als ›Unverborgenheit‹.

Drittens schließlich bleiben dieses Wahrheits- und Gottesverständnis nicht ohne Folgen für die Sozialgestalt der christlichen Gemeinde. Eine Unterscheidung von Geistbegabten und Unwissenden tritt ein, die ein inklusives Verständnis der christlichen Gemeinde nach sich ziehen müsste: »Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden.« (V. 14) Diese sich andeutende Konsequenz eines esoterischen Begriffs von Gemeinde steht quer zum Pfingstereignis, das auf Entgrenzung und Öffnung für den Kosmos zielt.

III Impulse: Verbanne Trug und Schein

Klaus Eulenberger hat vor sechs Jahren bereits skeptisch kommentiert, dass der heutige Hörer sich wohl kaum von den eindeutigen Zuordnungen, die Paulus in seinem Text vornimmt, zu identifizieren vermag. Die Entgegensetzung von geistbegabt und unwissend, natürlichem und geistlichem Menschen bzw. von Geist der Welt und Geist Gottes wirken schematisch und gehen an unserem Selbstverständnis dann vorbei, wenn man sich einer der beiden Seiten eindeutig zuzuordnen versucht. Da wird man wohl meist beide Seiten als Teilaspekte der eigenen Person ansetzen. Doch als Differenzierungen eines komplexen Themas sind sie ebenso hilfreich wie die Figur, sich Gott als Geheimnis vorzustellen. Hier gewinnt die theologische Reflexion die Unterscheidung von offenbar und verdeckt.

In diesem Sinne lässt sich der enthusiastische Sog des Pfingstereignisses durch die paulinischen Differenzierungen in seiner Komplexität noch genauer erfassen. An die Stelle von ›Versöhnung statt Abgrenzung‹ stellt sich die Frage, wie enthusiastische Verschmelzung und identitäre oder esoterische Abgrenzung so miteinander in einen Abgleich gebracht werden können, dass das Recht der jeweils anderen Position gewahrt bleibt – ganz so wie Philipp Spitta es 1833 erbeten hat: ›O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.‹

Liedvorschlag: EG 136,1 »O komm, du Geist der Wahrheit«.

Literatur: Klaus Eulenberger, Predigtstudien IV/2 (2011/2012), Freiburg im Breisgau 2012, 71–74; Christian Lehnert, Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus, Berlin 2013; Peter Horst Neumann, Pfingsten in Babylon, Salzburg/Wien 1996.

B

Johann Hinrich Claussen

IV Entgegnung: »Wärst du dabei gewesen«

Aus keiner Windmaschine

sei je ein Brausen gekommen

von solcher Gewalt.

Eine Stimme für alle, jeder

verstehbar jedem, auch dir,

wärst du dabei gewesen.

Viele große christliche Feste tragen in sich den lauten oder stillen Seufzer ›Ach, wäre ich dabei gewesen!‹ Sie führen zurück zum Ursprung, zum reinen Anfang, als das Entscheidende und Erlösende auf einmal da war, neu, rein und jung, ein Wunder und ein Geheimnis, ein Rausch und ein Glück. Ach, wäre ich dabei gewesen – ich, der ich nur ein Spätling bin, ein Nach-Nach-Nachkomme nach Hunderten von Jahren, der das Wunder nur von fern kennt, aus schwer zu entziffernden Dokumenten, aus kaum noch verständlichen Büchern, der nur noch Bruchstücke und Brosamen des Geheimnisses aufklauben kann und am Ende immer bloß wiederholt, was andere längst vor ihm schon unzählige Male gedacht, empfunden und getan haben: ›Wir sind nur Epigonen‹ (Albert Schweitzer).

Wenn es aber unmöglich ist, den weiten und tiefen Graben der Geschichte zu überspringen, sich zurück zu träumen zum reinen Anfang, so zu tun, als lebte und glaubte man im wunderbaren »Damals«, dann ist es gerade notwendig und auch schön, die Erinnerung an den Ursprung zu feiern. In der Feier wird die Ursprungsgeschichte erzählt und vorgelesen. Der Raum wird ihr zu Ehren hergerichtet und geschmückt. Musik wird für sie gespielt und Lieder werden gesungen. Darin verbinden sich zwei gegensätzliche Momente: Der Ursprung wird festlich vergegenwärtigt, zugleich aber auch in seiner Entfernung sichtbar. In unseren Gottesdiensten wird der Ursprung ja nicht nachgespielt oder neu inszeniert, sondern nur zu Gehör gebracht, seine Geschichte wird verlesen. Dabei entsteht – hoffentlich ein inneres Bild bei den Hörenden –, doch zugleich sind alle gefordert, sich zu dieser fernen Geschichte zu verhalten. Was ist ihr Sinn, ihre Bedeutung für uns heute? Zeitübergreifende Wahrheitsmomente leuchten auf: ›Versöhnung statt Abgrenzung‹. In Bruchstücken ereignet sich ein Verstehen von gleich zu gleich. Ein Geheimnis leuchtet auf und lockt – bleibt aber auch fern, man selbst bleibt auf der Seite der Welt, des Menschlichen, der Unwissenden, die diesen Geist in seiner herrlichen, göttlichen Anfangsgestalt so nicht haben, sondern die von Ferne zuschauen und zuhören, etwas davon in ihre Menschenwelt zu übersetzen versuchen. Wir sind nicht dabei gewesen. Aber darum feiern wir ja, weil dieser Anfang doch auch unser Anfang ist.

V Erschließung der Hörersituation: Rausch und Begeisterung

Über den Kanzeln unserer Kirchen und über den Schreibtischen in den Arbeitszimmern unserer Pfarrhäuser schwebt laut oder leise die Aufforderung: ›Du sollst relevant sein!‹ Wenn wir einen Gottesdienst vorbereiten, einen biblischen Text studieren, um einige Tage danach über ihn zu predigen, sehen wir uns stets vor der Aufgabe, den Menschen, die dabei sein werden, etwas zu geben, was ihnen in ihrem Leben hilft, ihnen so einleuchtet, dass es für sie einen Nutzen hat – allerdings einen Nutzen höherer Ordnung. Das hat seinen guten Sinn. Aber manchmal frage ich mich, ob das eigentlich an jedem Sonntag so sein muss, ob ich das überhaupt jedes Mal leisten kann. Ich merke doch selbst, wie es mir manchmal gelingt, es manchmal aber bei einer bemühten Anstrengung bleibt, ich künstlich konstruiere, um etwas Fremdes als ein möglicherweise Eigenes vorzustellen. Dann frage ich mich, ob ich mir nicht einen falschen Maßstab für meine Predigt gesetzt habe. Ist die ›Hörersituation‹ tatsächlich das Kriterium, das Maß aller Dinge? Ist die Situation, in der ich und meine Gemeinde leben, dafür nicht zu beschränkt, begrenzt, in sich gefangen, wenig erhebend, ziemlich verdreht, sodass es darum gehen müsste, ihr etwas anderes gegenüber zu setzen und entgegen zu stellen, sodass ein Kontrast entsteht, wir uns in der Predigt nicht bloß selbst wiedererkennen, sondern etwas Neuem begegnen, das unsere Möglichkeiten übersteigt, uns aber gerade deshalb ebenso irritieren wie inspirieren könnte. Dazu bietet Pfingsten eine sehr schöne Gelegenheit. Denn es zeigt uns ein Christentum, das aus der Begeisterung lebt. Und dies ist nicht nur eine Erinnerung an einen fernen historischen Ursprung, sondern auch ein höchst gegenwärtiger Anstoß, über unsere nordwesteuropäische Wirklichkeit hinauszuschauen – zum Beispiel nach Afrika (und damit auch in unsere Nachbarschaft, in der allzu oft von uns unbemerkt ein afrikanisches Christentum lebt).

Eine deutsche Afrikanistin wird während einer Reise von ihren südafrikanischen Gastgebern am Sonntag mit in ihre Kirche genommen: »Während des Gottesdienstes gerieten insbesondere junge Frauen in Trance, die, wie mir die neben mir stehenden Frauen versicherten, muslim boyfriends hatten. Alle Frauen, die in Trance geraten wollten, gingen nach vorne in die erste Reihe, wo sie, direkt vom Geist ergriffen und alle Hierarchie in der Kirche außer Kraft setzend, in Zungen redeten, die Arme ausstreckten und irgendwann zusammenfielen. Während die Frauen ihre ganz persönliche Kommunikation mit dem Geist herausriefen, kamen Pastoren und andere Kirchenmitglieder, die den Frauen gemeinsam die Hände auflegten, die sie auffingen, flach auf den Boden legten und abwarteten, dass sie wieder zu sich kamen. Nur diejenigen, die nicht aufhören konnten zu schreien, wurden von männlichen Kirchenmitgliedern in einen Nebenraum geführt oder getragen, wo sie mit Gebeten und Worten weiterbehandelt wurden. Ich staunte, dass Frauen in interreligiösen Beziehungen sich ausgerechnet in einer Pfingstkirche gut aufgehoben fühlten, die doch ein sehr dezidiertes Christentum repräsentieren. Aber vielleicht bieten solche Kirchen starke Rezepte gegen starke emotionale Spannungen, denen Menschen und insbesondere junge Frauen nicht nur in Afrika ausgesetzt sind.« (Rüther, 94)

VI Predigtschritte: Komm auch zu uns

Vor Kurzem habe ich wieder einmal in Ruhe die Ostergeschichten der Evangelien gelesen und dabei eine Entdeckung gemacht. Sie hat mich überrascht, obwohl sie eigentlich auf der Hand liegt, nämlich: Von Freude, Glück und Beseligung ist da kaum die Rede. Die kirchliche Gewohnheit hatte mir wohl die ›österliche Freudenzeit‹ zu einer solchen Selbstverständlichkeit gemacht, dass ich einigermaßen irritiert darüber war, dass die Frauen am offenen und leeren Grab sowie die Männer, denen der Auferstandene in Galiläa erschien, sich so gar nicht gefreut haben. Entweder haben sie nichts begriffen oder sie haben nur das empfunden, was auch Hiob ergriffen hatte, als plötzlich Gott aus einer Wetterwolke zu ihm sprach: »Entsetzen und Staunen« (Türcke, 106). Das Markus-Evangelium endet in seinem originalen Schluss mit nacktem Erschrecken, nur langsam und in feinen Zwischenschritten öffnet sich bei Matthäus und Lukas eine Ahnung von Glück.

Fröhlich, erlöst, begeistert, rauschhaft beglückend geht es erst Pfingsten zu. Jetzt erst sehen und verstehen die Freundinnen und Apostel Jesu, dass ›die Sache Jesu weitergeht‹. Da jetzt ihr Herz hell lodernd brennt, bemerken sie, dass es schon die ganze Zeit in ihnen gebrannt hat. Ihnen war nur das innere Auge verschlossen gewesen. Jetzt sehen sie, was in ihnen ist. Und was ihnen innerlich aufgeht, jeder und jedem für sich und allen gemeinsam, was sie erfasst und verbindet, das geben sie – in einer fließenden Bewegung – weiter an andere. Ungehemmt, frei, spontan, fröhlich zeigen sie ihren Glauben, werden zu einer Gemeinde. Pfingsten – das Fest, an dem sich endlich das Glück des Glaubens Bahn bricht, gefeiert und geteilt wird. Pfingsten – das Fest, an dem wir sehen, was weit vor uns war, was neben uns ist und was immer noch in uns sein kann.

Komm, Heiliger Geist,

der du die Gräser knickst (oder nicht),

der du dich zeigst (oder nicht) als Flammenzunge über dem Haupt,

bei der Heumahd oder während der Traktor zum Stoppelnpflügen

im Tal der Haselnußhaine ausrollt, oder wenn Schneefälle

in der Sierra Nevada die Krüppeltannen verschütten.

Ich bin nur Mensch, also brauche ich sichtbare Zeichen,

das Bauen an Treppen der Abstraktion ermüdet mich schnell.

Oft bat ich, du weißt es selbst, die Figur in der Kirche

erhöbe für mich die Hand, nur ein einziges Mal.

Doch ich verstehe, die Zeichen können nur menschlich sein.

Also erweck einen Menschen, irgendwo auf der Welt

(nicht mich, ich weiß, immerhin, was Charakter bedeutet)

und laß mich, ihn sehend, Dich bewundern.

(Milosz, 179)

Literatur: Czeslaw Milosz, Veni Creator, in: Johann Hinrich Claussen (Hg.), Spiegelungen. Biblische Texte und moderne Lyrik. Eine Anthologie, Zürich 2004; Kirsten Rüther, Afrika: genauer betrachtet. Perspektiven aus einem Kontinent im Umbruch, Wien 2017; Christoph Türcke, Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob, Springe 2017.


A

Pfingstsonntag

Epheser 4,11–15(16):

Rüstzeit


Uwe Weise

I Eröffnung: Schön kämpferisch!

Unter den drei Hochfesten der Christenheit ist in unseren Breiten Pfingsten das Fest, welches mehr und mehr an Plausibilität verliert. Würden die Gottesdienste an Pfingsten nicht an vielen Orten kasual durch die Feier der Konfirmation gestützt und emotional als rite de passage aufgeladen sein, unterschieden sich die Besucherzahlen kaum von einem der x-beliebigen Sonntage in der folgenden Trinitatiszeit. Wir feiern aber Pfingsten Land auf Land ab weiterhin als ein Fest des Heiligen Geistes, als Begabung, als Geburtstag der Kirche, als Konfirmation und manches mehr. Ein schönes Fest! Ein auf- und anregendes Fest! Ein immer noch geistesgegenwärtiges Fest – an dem vom Prediger viel erwartet wird. Gerade weil das Fest an selbstverständlicher Plausibilität verliert, bietet es Chancen für die Predigt.

Nun aber ist der Festrausch verflogen und Pfingstmontag ist die Zeit der ›Schwarzbrotgemeinde‹, die dem Festgetümmel der Auspubertierten und ihrer Mischpoken ausgewichen ist. Pfingstmontag, es kommt die sehr treue Kerngemeinde oder die noch wenigstens halbverbundene ›Zweitfeiertagsgemeinde‹, die immerhin drei- bis viermal im Jahr den Weg vor den Altar findet. Wenn uns vielleicht am Pfingstsonntag aus zu viel Rücksicht auf die Endkirchlichten etwas der Mut gefehlt hat, so können wir es doch endlich jetzt singen; etwas kampfestüchtig und verschworen im kleinen Kreis der irgendwie Treuen, die wissen, was sie hören, was sie singen, was sie glauben und was Pfingsten noch soll, genau das, was wir uns jetzt trauen anzustimmen (schön kämpferisch!): »O, komm du Geist der Wahrheit, …« (EG 136) und deshalb freut es und tröstet zu singen »… darum musst du uns rüsten / mit Waffen aus der Höh.«

Sich rüsten lassen für die Fährnisse des gemeindlichen Lebens ist eine der Grundlagen christlicher Existenz. Denn wirklich nichts gelingt uns aus uns selbst, es sei denn, Gott rüstet uns zu. Das bleibt mein erster Gedanke beim HÖREN unseres Textes. Ich werde zu- und ausgerüstet, manchmal auch aufgerüstet, damit ich über die melancholische Gutmenschlichkeit unserer Kirche hinaus im Glauben gedeihen und leben kann.

II Erschließung des Textes: Rüstzeug für das Mit- und Füreinander

Der Predigttext ist Teil der ekklesiologischen Eröffnung (Eph 4,1–16) des paränetischen Schlussteils des Epheserbriefes. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage der Einheit der Kirche (VV. 1–6) und die Ämter der Gemeinde (VV. 7–16). Diese Erörterungen werden paränetisch gerahmt durch die Aufforderung zur Liebe. Versucht man sich dem Text von der Argumentationsstruktur zu nähern, so drängen sich mir vier Leitfragen auf:

a) Wer gibt was? – Die fünf Ämter, die in V. 11 aufgeführt werden, sind dem Text nach nicht aus soziologisch-institutioneller Notwendigkeit auf die Gemeinde gekommen. Sie sind vielmehr vom erhöhten Christus selbst gegeben. Sie sind Gaben, Geschenke Gottes (ob es Begabungen sind, wird nicht gesagt). Damit werden die Ämter Apostel, Prophet, Evangelist, Hirte und Lehrer auf ihre Weise als Gottesgabe veredelt und nicht aus einem frühchristlichen Utilitarismus heraus begründet. Sie sind gesetzt und an sich Grundlage der Gemeinde. Dies ist umso bedeutender, da sich mit dieser Ämterliste eine vorkirchliche Verwurzelung der Kirche in Israel nachweisen lässt (vgl. Röm 11,18). Apostel und Propheten sind damit die verbürgten Empfänger direkter Offenbarung. Allen Ämtern aber ist der Dienst am Wort und seiner Weitergabe gemein. Insofern sind sie grundlegend für die Kirche und können auch als solche nur gottgegeben sein.

b) Für wen? – Die von Gott gegebenen Ämter sind kein Selbstzweck. Sie sind für die Heiligen – also alle Christen (vgl. Eph 1,1) der Gemeinde und deren Zurüstung da. Sie sind Gerüst, Rüstung, ja Rüstzeug für das Miteinander und das Füreinander in der gemeindlichen Gemeinschaft der Heiligen. Denn der Weg bis zur »Einheit des Glaubens« (V. 13) ist lang und beschwerlich – davon handelt auch der Epheserbrief insgesamt – aber auf diesem Weg sind die Ämter als Rüstzeug Stärkung der Gemeinde, »… in der jeder dem anderen ein Christus werden darf und soll« (Bonhoeffer, 121).

c) Warum? – Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Ämter ist der Aspekt, dass sie der Zurüstung der Gemeinde dienen, damit sie sich zum Leib Christi bauen kann (V. 12). Das Verb katartizo meint »zurüsten, ausrüsten« und dies nicht in irgendeinem provisorischen Sinn, sondern zur Vervollkommnung oder Vollendung (vgl. Art. katartizo, 661). Das unterstreicht ihren ursprünglichen Charakter als Gottesgabe. Diese Ämter selbst sind in ihrer Anlage vollkommene Gaben und rüsten die Gemeinschaft der Heiligen zu ihrer Vollkommenheit auf. Eine Gemeinschaft im Leib Christi wäre nicht vollständig, nicht vollkommen – quasi verkrüppelt – ohne diese und andere unverzichtbare Ämter, wie sie die urchristlichen Gemeinden ja in breiter Vielfalt ausgebildet haben. Die Vollendung der einzelnen Christen als Menschen in der Welt vollzieht sich dann in dieser Linie (V. 13b; vgl. Pokorný, 179).

d) Wie sollen wir leben? – In der Liebe! In wahrhaftiger Liebe (V. 15)! Sie baut sich für die Kirche von Christus her auf und macht alle Glieder des Leibes zur Erzählgemeinschaft dieser Liebe: der Liebe zu Gott, der Liebe zum Nächsten und der Liebe zu mir selbst. Diese dreifache Liebe ist das grundlegende Kennzeichen jeglicher christlicher Lebensform in Kirche und Gemeinde.

III Impulse: Die Pfingstinsel

Der Text dient in diesem Gottesdienst dem Kasus des Kirchenjahres – Pfingsten! Er soll an diesem speziellen ekklesiologischen Festtag aufdecken, wie die Kirche gemacht ist: »… dann musst du uns rüsten / mit Waffen aus der Höh …« oder in deutlich konkreter Steigerung dieser Bitte: »Gib uns in dieser schlaffen und glaubensarmen Zeit / die scharf geschliffnen Waffen / der ersten Christenheit.« (EG 136,2)

Dass diese Waffen – scharf geschliffen und aus der Höh – ganz anderer Natur sind als die üblichen Arsenale der Welt, ist gerade an diesem Tag zu vergegenwärtigen. Die Rüstung, Ausrüstung und Zurüstung der Gemeinde in der spezifischen Form der Ämter kann einen heilsamen Blick darauf werfen, dass die Ämter der Kirche letztendlich ›Werkzeuge Gottes‹ sind. Und im Licht von Pfingsten heißt dies unausweichlich, wie kann die Kirche selbst, jede Gemeinde und erst recht jeder einzelne Christ ›Werkzeug (= Rüstung) Gottes‹ in der Welt sein?

Dass in der Predigt keine martialisch-militärische Sprache Einzug hält, beginnt damit, dass die Wörter Rüstung, rüsten, Ausrüstung usw. auf ihren semantischen Ursprung zurückgeführt und von friedensbewegter Verengung befreit werden. Vielleicht gelingt dies beispielhaft in der Predigt damit, dass unser Text in der aus heutiger Sicht vielleicht etwas romantischen Rüstzeitkultur der DDR-Kirche bedacht werden soll. Rüstzeiten waren für Kinder, Jugendliche, Familien, jedwede Gemeindegruppen eine konzentrierte zeitlich begrenzte Lebenskultur des Miteinanders und Füreinanders, in der über die christliche Existenz unter den Bedingungen einer Diktatur nachgedacht und ein christliches Leben eingeübt wurde. Solche Rüstzeiten – von denen wenn möglich erzählt werden sollte – waren subversive Werkstätten, damit man als Christ gedanklich gut ausgerüstet und spirituell zugerüstet in der Welt sein Christsein leben konnte. Sie haben Christen mit dem Heiligen Geist einer tragfähigen Gemeinschaft gestärkt, um nach dieser Zeit aufrecht, gestärkt und klar auch allein weitergehen zu können. Rüstzeiten waren ›Pfingstinseln‹ zarter Vollkommenheit, auf denen von Jesus erzählt wurde, die Nachfolge Jesu konkretisiert und die Gemeinschaft in Liebe gelebt wurde. Die gelassene Widerstandskraft dieser Kultur war eine der Kraftquellen, die die Kirche ihre Rolle im Umbruch 1989/90 hat einnehmen lassen.

Predigtlied: EG 136 »O komm, du Geist der Wahrheit« – nach Möglichkeit alle Strophen.

Literatur: Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (DBW 1), München 1986; Ulrich Heckel/Rosemarie Micheel, Himmel – Erde … und zurück. Sieben Abschnitte aus dem Epheserbrief (Texte zur Bibel 26), Neukirchen-Vluyn 2010; (Art.:) katartizo, EWNT II, Stuttgart u.a. 21992, 661f.; Petr Pokorný, Der Brief des Paulus an die Epheser (ThHNT 10/II), Leipzig 1992.

B

Nicole Beckmann

IV Entgegnung: Die ›Big Five‹ als Werktätige

Mai 1989 in Thüringen. Konfirmation. Vier Jugendliche werden ›eingesegnet‹. Bis auf eine junge Birke, festgebunden an der Regenrinne neben dem Eingang, deutet wenig darauf hin, dass sich hinter den alten Mauern drei Mädchen und ein Junge zu ihrem Glauben bekennen. Das Ungewöhnliche ist wohl auch, dass zur Gemeinde an diesem Sonntagmorgen zwölf junge Erwachsene vom westlichen Elbestrand gehören. Deutsch-deutsche Begegnung am Vorabend der Wende, wenngleich ungeahnt damals.

Mir ist die Szene noch mit klarem Kontrast vor Augen: Das Laubgrün draußen und die Bekräftigung der vier »Auspubertierten« drinnen, herausgehoben aus »ihren Mischpoken« und dem fast trotzigen Gesang der Gemeinde von der festen Burg und der treuen Wehr und Waffen und gleichfalls herausgehoben wir Wessi-Verwöhnkonfirmierte. Die ihr Bekenntnis seinerzeit eher peinlich berührt und ohne Konsequenzen für drinnen oder draußen gehaucht hatten.

»Sich rüsten lassen« nennt A das Geschehen eines Daseins im Drinnen und Draußen von Glauben und Vertrauen. Damit ist sein Brennpunkt der Perikope auf die spirituelle Transmission fixiert. Hier betont A die substanzialistische Beschreibung der Ämter von »Apostel«, »Propheten«, »Evangelisten«, »Hirten« und »Lehrern« (V. 11) und pointiert deren Gestalt und Genese als Charismen. Die frühchristliche Aufzählung dieser ›Big Five‹ erlangt eine defensive Konnotation: Sie markiert zwar den theologiegeschichtlich bedeutsamen Übergang in eine sich auch strukturell verfestigenden Gemeinde. Argumentativ aber bleibt der Ämterkatalog über seine soteriologische Schnittstelle mit dem Christusgeschehen verbunden.

Allein: Es gehört zum protestantischen Schwarzbrot, dass christliche Existenz sich sola gratia ereignet. Das gilt für ihre schnöde Faktizität (Jer 1,5; Ps 139,13) und insbesondere dort, wo der Mensch als kreatives ›Produkt‹ selbst zum schöpferisch (Werk-)Tätigen wird. So wichtig also diese ›genetische‹ Dimension der Ämter ist, so wesentlich ist das ›wozu‹, die funktionale Seite ihres Da-Seins und So-Seins. Und: Dann ist die exklusive Gnadenhaftigkeit auch darauf zu befragen, wie diese sich in der Gestaltung coram mundo ausdrückt. Epheser 4 rückt die Ämter zwischen die Pole von Gabe und Aufgabe. Über den Gaben-Charakter jedes Amtes ereignet sich Durchlässigkeit in den Alltag christlichen Lebens und Webens. Für den hermeneutischen Ort der Perikope ist es geboten, ihre ekklesiologischen Leitpfosten – die Gemeinschaft der »Heiligen« (V. 12) als Kristallisationsort frommer Existenz – à jour zu bringen.

V Erschließung der Hörersituation: ›Ämter‹ und Arbeiten 4.0

Im Jahre 2018 – Jubiläumsjahr mit der Gründung der ersten Raiffeisen-Genossenschaften und dem zweihundertsten Geburtstag von Karl Marx – lohnt es sich, der reformatorischen Arbeits- und Berufsethik unter den Bedingungen vom ›Internet of things‹ neues geistliches Leben einzuhauchen. Dieses scheint umso bedeutsamer, als Luther in seinen Schriften aus den frühen 1520er-Jahren zu einer für die ständisch organisierte Gesellschaft seiner Zeit revolutionären Einschätzung von Arbeit und Beruf kommt.

In seiner Adelsschrift von 1520 richtet Luther gegenüber einer Höherbewertung des geistlichen Amtes oder weltlicher Ämter einerseits seine Berufsethik schöpfungstheologisch aus. Damit spannen die Achsen von Berufung und Beruf ein Koordinatensystem auf, in das jeder Mensch als Gottes Geschöpf eingezeichnet und insofern substanziell verortet ist. Andererseits stellt er in der Schrift ›Wider die Mönchsgelübde‹ auch die funktionale Relevanz von Amt, Beruf und Arbeit heraus: Arbeit gelangt über die ›Sinnform‹ Beruf zu einer universalen, bis dato nicht gekannten Wertschätzung. In seiner Freiheitsschrift von 1520 wird für Luther Arbeit – mit den Worten Ernst Langes – zum ›Gottesdienst im Alltag der Welt‹: In der beruflichen Tätigkeit ereignet sich sowohl die Verweltlichung Gottes als auch und insbesondere die Entweltlichung des Menschen als basaler Freiheitsakt.

Entgegen der reformatorischen Neubestimmung von Beruf und Arbeit als Verweltlichung Gottes und Entweltlichung des Menschen stehen seit drei Jahrzehnten deren Grundvoraussetzungen zur Disposition: Arbeit wird immer weniger als Erfüllung einer anthropologischen Konstante begriffen. Die Gleichwertigkeit von Arbeitsformen – seit 1520 bis tief ins 20. Jahrhundert der Markenkern protestantischer Sozialethik – wird über Zeitarbeitskonzepte und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in ihr Gegenteil verkehrt (vgl. Jürgens/Hoffmann/Schildmann). Lebenslanges Lernen schließlich degeneriert in funktionaler Engführung zur Zugangsvoraussetzung für das System Arbeitswelt.

Hier erweist es sich für die Predigerin als hilfreich, die vier Leitfragen von A mit einer Richtungsänderung zu versehen und sie als Lesehilfe über die Perikope zu legen:

a) Wer gibt was?dauerhaften sozialen Notwendigkeit von Gestaltung