Cover

Kurzbeschreibung:

Cynthia Trevelyans größte Leidenschaft ist das Reiten. Im Gegenteil zu ihren jüngeren Schwestern lebt sie noch auf dem elterlichen Landgut in Cornwall – und manchmal zweifelt sie daran, dass sie jemals die Liebe finden wird. Als ihr Pferd Nori erkrankt, ist sie völlig verzweifelt. Ihre Mutter engagiert den Pferdeheiler Travis Forbes, der nicht nur Nori hilft, sondern mit seiner beeindruckenden Erscheinung und einfühlsamen Art auch Cynthias Herz im Sturm erobert. Doch Verpflichtungen zwingen Travis, nach Kanada zurückzukehren. Er bittet Cynthia, mit ihm zu kommen. Ist sie bereit, ihre Heimat, ihre Familie und ihr geliebtes Pferd zurückzulassen und ein Leben mitten im Nirgendwo zu beginnen?

Helene Henke

Gabe des Stolzes



Roman


Edel Elements

3. KAPITEL

Während der darauffolgenden Tage kam Travis täglich vorbei, um nach Nori zu schauen. Cynthia erwischte sich immer wieder dabei, dass sie ihre eigenen beruflichen Termine auf den umliegenden Gestüten verschob, mit dem Vorwand, sich vorübergehend um die familieneigenen Pferde kümmern zu müssen. Tatsächlich wollte sie Travis nicht verpassen, an den sie zu ihrem Erstaunen oft denken musste. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sie ständig das Gefühl, lächeln zu müssen. Natürlich ließ sie es immer wie einen Zufall aussehen, wenn sie zur selben Zeit wie er am Stall oder an der Weide erschien. Begleitet von einem warmen Flattern in ihrem Bauch, wie sie es nicht mehr empfunden hatte seit der Zeit des bevorstehenden Abschlussballs. Damals war sie völlig unerwartet vom Mädchenschwarm Steve Holds eingeladen worden und konnte ihr Glück wochenlang nicht fassen. Tatsächlich waren sie an dem Abend die Stars der Schule gewesen und für Cynthia würde dies stets eine wundervolle Erinnerung bleiben. Doch leider erwies sich der allseits beliebte Steve als äußerst langweiliger Gesprächspartner, der ihre Konversation schon nach kurzer Zeit auf langweilige Banalitäten beschränkt hatte.

Was sie nun empfand, ähnelte zwar wie damals der Schwärmerei eines Teenagers, war aber doch völlig anders. Irgendwie bedeutender, größer, und das, obwohl sie Travis gerade erst kennengelernt hatte. Sie wusste nicht einmal viel über diesen Mann und dennoch wirkte sein gesamtes Erscheinungsbild auf sie überaus anziehend. Die zufälligen Berührungen, die Nähe, wenn er plötzlich hinter ihr stand, erzeugten selbst bei der Erinnerung daran ein angenehmes Schaudern. Die Art und Weise, wie er sie ansah, wenn sie mit ihm redete. Aufmerksam und ruhig, beinahe so, als sei jedes ihrer Worte von großer Bedeutung.

Dabei war sie völlig außer sich und wütend gewesen, als sie ihn das erste Mal dort bei Nori erblickt hatte. Doch irgendetwas hatte sie davon abgehalten, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Das Gegenteil war sogar der Fall, denn kurze Zeit später musste sie sich sogar bemühen, ihre Konzentration beizubehalten, weil der schalkhafte Zug um seine wohlgeformten Lippen sie ständig aus dem Konzept zu bringen drohte. Das war vollkommen verrückt, aber kein Grund, sich weiter den Kopf zu zerbrechen über die Unmöglichkeit des Möglichen. Sie wollte diesen Zustand der Unbeschwertheit genießen.

Nach dem Brunch, währenddessen ihre Eltern sich ständig befremdliche Blicke zugeworfen hatten, trat sie zur am Salon angrenzenden Verandatür, öffnete beide Flügel und atmete tief durch.

„Was für ein wundervoller Morgen. Ihr solltet einen Spaziergang unternehmen“, schlug sie ihren Eltern vor, woraufhin sich Mutter beinahe an ihrem Tee verschluckte.

Draußen lag der Garten in blühender Pracht vor dem Hintergrund sattgrüner Hügel und schroffer Felsformationen. Lächelnd hielt Cynthia die Nase in die Sonne und schloss für einen Augenblick die Augen. Heute würde sie Travis wiedersehen. Er wollte noch eine abschließende Untersuchung an Nori vornehmen. Eigentlich nicht nennenswert anders, als es in den letzten Tagen abgelaufen war. Nur dass sie dieses Mal einen festen Zeitpunkt ausgemacht hatten, was im Grunde einer Verabredung gleichkam. Sie wollte ihn am Pferdestall erwarten. Als sie sich gerade umwenden wollte, erblickte sie auf der verzierten Terrassenbrüstung einen weiteren obligatorischen Blumengruß. Sie hob das kleine Sträußchen aus Jasmin und Lavendel auf und sog deren Duft ein. Seltsamerweise empfand sie dieses Mal keinen Unmut, sondern lächelte in die Ferne, auf die Gefahr hin, ihren heimlichen Verehrer, der mit Sicherheit irgendwo hinter den blühenden Ginsterbüschen auf der Lauer lag, schwer zu irritieren. Denn ihr Lächeln galt nicht ihm, sondern war Ausdruck ihrer Vorfreude auf jemand anderes. Bedauernswerter Stewart. Irgendwie tat er ihr leid, denn eigentlich war er ein netter Kerl. Wahrscheinlich war es besser, sich gar nicht zu verlieben, als jemand Unerreichbaren zu begehren.

Nachdenklich betrachtete sie die weißen und lilafarbenen Blüten in ihrer zarten Schönheit. Wenn die Blumen eine Botschaft übermitteln sollten, wäre es an der Zeit, diese auch mal zu entschlüsseln. Sie betrat den Salon, um auf ihr Zimmer zu gehen, um im Internet ein paar Nachforschungen anzustellen.

„Kind, ich weiß ja nicht, was dich umtreibt“, sagte ihr Vater plötzlich. „Aber bitte schließe die Tür, denn deiner Mutter und mir ist es deutlich zu kühl.“

Lachend wandte sie sich wieder um und schloss die Tür.

Tatsächlich vermittelten Blumen jedweder Art in irgendeiner Form eine Botschaft oder einen Gruß. Darüber existierte zu Cynthias Erstaunen eine eigene kleine Wissenschaft, die Selamlik, Sprache der Blumen. Offenbar eine ziemlich britische Tradition, wohlgemerkt mit türkischem Ursprung, die im 18. Jahrhundert sehr populär war, sich aber bis heute unter Kennern erhalten hielt. Und unter den Botanikern. Erneut betrachtete sie das kleine Sträußchen in der Kristallvase auf ihrem Schreibtisch. Jasmin sollte ihr also mitteilen, sie sei einfach bezaubernd, und Lavendel verkündete, der Überbringer werde sein Ziel schon erreichen.

Cynthia stieß hörbar die Luft aus und schüttelte den Kopf. Im Gegensatz zu den vorhergegangenen Blumenbotschaften, bei denen es sich um kleine schwärmerische Komplimente gehandelt hatte, wie sie inzwischen wusste, drückte dieser Strauß schon einen mutigen Vorstoß aus. Ziemlich waghalsig für den sonst so schüchternen Gärtner.

Cynthia stieß ein missmutiges Schnaufen aus und entschied, sich für heute genug mit Stewarts Ambitionen befasst zu haben. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Eine Stunde noch, ihr Magen hüpfte. Das Ankleiden fiel ihr deutlich schwerer als sonst, denn für gewöhnlich griff sie nach den erstbesten Kleidungsstücken. Hauptsache, praktisch, mehr Gedanken verschwendete sie nicht auf ihre Garderobe. Nun wählte sie sorgsam ihre bestsitzende Reiterhose aus sowie eine Bluse im dezenten Karomuster, die zwar ein wenig an der Oberweite spannte, ihr aber ziemlich gut stand. Dazu eine taillierte Reitjacke und elegant glänzende Reitstiefel. Ihr langes Haar band sie zu einem hochsitzenden Zopf zusammen und legte sogar ein wenig Make-up auf.

Als sie wenig später im Stall an Noris Box stand, um ihr Pferd auf die Weide zu führen, erblickte sie die breitschultrige Gestalt am Eingang. Obwohl durch das einfallende Sonnenlicht nur schemenhaft etwas zu sehen war, erkannte sie Travis sofort. Niemand sonst auf dem Gestüt füllte den Türrahmen so aus. Ihr Herz schlug höher.

„Guten Morgen, Cynthia.“ Travis kam behäbig auf sie zu. „Wie geht es Nori heute?“

Cynthia befestigte einen Strick an Noris Halfter und führte ihn aus der Box. „Anscheinend ist er vollkommen genesen. Er arbeitet mit mir, als wäre nie etwas geschehen.“

„Das freut mich zu hören.“

Travis ging an ihr vorbei, um behutsam das Bein des Tieres abzutasten. Cynthia vernahm den Hauch eines Moschusduftes an ihm. Um sich nicht anmerken zu lassen, welchen Tumult Travis’ Gegenwart in ihr auslöste, streichelte sie hingebungsvoll Noris Nüstern.

„Bringen wir ihn auf die Weide? Dann prüfe ich noch einmal seine Bewegungsabläufe“, schlug er vor.

Nebeneinander traten sie aus dem Stall und führten Nori auf die Weide. Auf der anderen Seite des weitläufigen Auslaufbereichs winkte Penny zu ihnen herüber, während sie im Galopp über die Weide ritt. Etwas weiter lümmelte ihr Freund gelangweilt am Gatter herum.

Travis und Cynthia lehnten beide die Arme auf den Balken des Zauns und beobachteten Nori.

„Nun, das sieht ja alles gut aus. Ich bin sehr zufrieden“, sagte Travis nach einer Weile.

Lächelnd wandte sich Cynthia ihm zu und bemerkte am Ausdruck in seinen Augen, dass er sie schon länger angesehen haben musste. Mit seiner Aussage konnte er sowohl Noris Fortschritte wie sie selbst gemeint haben. Irritiert blinzelte sie ihn an, während sie spürte, wie das Blut ihr in die Wangen schoss.

„Wie hast du das bloß angestellt?“, fragte sie, um sich abzulenken, und deutete auf ihr Pferd. „Bist du so eine Art Wunderheiler?“

Er lachte auf, dunkel und warm. „Nein, aber manche nennen das, was ich tue, traditionelle, alternative Heilkunde. Man kann es nicht lernen, es ist einfach da, dieses Gefühl für unbemerkte Leiden. Ich habe schon als Kind verletzte Vögel oder Katzen geheilt, indem ich Gliedmaßen wieder eingerenkt habe.“

„Also doch ein bisschen Wunder, oder?“, scherzte Cynthia. „Ich habe zwar von Menschen mit derartigen Fähigkeiten oder sogenannten Pferdeflüsterern gehört, aber noch keinen getroffen.“

Mit einem wissenden Lächeln nickte er ihr zu. „Ich bin daran gewöhnt, dass mir Zweifel entgegenschlagen, aber am Ende zählt nur, dass einem kranken Tier geholfen wird.“

„Entschuldige bitte“, erwiderte sie schuldbewusst. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Wenn jemandem Spott gilt, dann mir, weil ich so unwissend bin. Mein ganzes Leben habe ich mit Pferden verbracht. Besonders Nori liebe ich ganz besonders. Da ist es eher traurig, dass eine erfahrene Pferdebesitzerin sich bisher alternativen Heilungsmethoden verschlossen hat.“

„Vielleicht liegt es nur daran, dass du bisher Glück hattest. Oftmals lernt man Dinge erst kennen, wenn man in die entsprechende Situation kommt.“

Er wandte seinen Blick wieder Nori zu, der sich zwar immer noch etwas von dem wilden Spiel der jungen Pferde fernhielt, aber deutlich bewegungsfreudiger war als vor ein paar Tagen.

„Wenn ich das richtig sehe, führt ein Weg um die Weide herum“, sagte Travis. „Sollen wir ein Stück gehen?“

Cynthia stimmte gerne zu. Sie liefen den Weg an der Weide entlang. Innerhalb des Gatters hatte sich Nori von den anderen Pferden gelöst und folgte ihnen mit behäbigen Schritten.

„Er hat eine sehr enge Bindung zu dir“, stellte Travis fest.

„Ja, wir sind fast sein ganzes Leben lang zusammen.“

Nach einer Weile beschlossen sie doch den Weg zu verlassen und spazierten in ein angrenzendes, kleines Waldstück hinein.

„Ich finde es sehr interessant, was du tust“, sagte sie in der Hoffnung, er würde mehr über sich und seine Arbeit erzählen.

„Es ist eine Art Talent, man kann es nicht erlernen, es ist einfach da. Genau erklären kann ich es nicht, es fällt mir einfach leicht, mich in Tiere einzufühlen, mich auf sie einzustellen und dadurch herauszufinden, was mit ihnen nicht stimmt. Als Junge wurde mir die zweifelhafte Ehre zuteil, bei der Zähmung eines Wildpferdes dabei zu sein. Ein Erlebnis, das ich niemals vergessen habe, weil es unerträglich war, mit anzusehen, wie das Tier sowohl psychisch wie körperlich gequält wurde, um seinen Willen zu brechen.“

„Wie schrecklich. Wo gibt es denn heutzutage noch solche rückständigen Vorgehensweisen?“

Sein Blick verdüsterte sich. „Glaub mir, alles Schlimme, das du dir vorstellen kannst, wird irgendwo auf der Welt praktiziert. Im Umgang mit Tieren ist der Mensch wahrlich oft rückständig. Ich habe mich bemüht, mich mehr über sanftere Methoden der Zähmung zu informieren, und festgestellt, dass es eigentlich ganz einfach ist, das Vertrauen eines Pferdes zu erlangen und ihm verständlich zu machen, dass ich sein Herdenführer bin. Man nutzt einfach die natürlichen Instinkte wie Flucht- und Herdentrieb.“

„So wie die Join-up-Methode, bei der man das Pferd erst mal zur Ruhe kommen lässt“, fügte Cynthia hinzu und freute sich, dass seine Miene sich wieder entspannt hatte.

„Richtig. Und während dieser Lehrzeit entdeckte ich die Fähigkeit, mich in die Tiere hineinzuversetzen, ihr Verhalten und ihre Körpersprache zu verstehen.“

Unwillkürlich betrachtete Cynthia seine großen Hände und erinnerte sich, wie sanft er Nori abgetastet und mit welcher Kraft er das Gelenk wieder eingerenkt hatte.

„In Kanada lernte ich dann später von den Ahousaht, meine Fähigkeiten zu verfeinern. Seitdem helfen wir uns gegenseitig, wenn es darum geht, kleinere Verletzungen bei Mensch und Tier zu beheben. Der nächste Arzt ist in den Wäldern Kanadas für gewöhnlich kilometerweit entfernt.“

„Ahousaht“, sinnierte Cynthia. „Ich habe das Gefühl, dieses Wort schon einmal gehört zu haben. Es ist die Bezeichnung für die First Nation People?“

Travis nickte lächelnd. „Das ist zwar politisch korrekt ausgedrückt, aber du darfst auch Indianer sagen. Die Ahousaht, die ich kenne, haben kein Problem mit dieser Bezeichnung, auch wenn sie allgemein umstritten ist. Es sind großartige Menschen und …“ Er blieb plötzlich stehen und betrachtete eingehend ihr Gesicht. „… gewissermaßen gibt es da ein paar Ähnlichkeiten zwischen dir und den Ahousaht-Frauen, wenn auch nur andeutungsweise. Deine hohen Wangenknochen, die geschwungenen Augenbrauen, der Teint, das dunkle Haar …“

Er malte mit dem Finger in der Luft die Konturen ihres Gesichtes nach, als würde er sie streicheln, ohne sie zu berühren.

Cynthia spürte ihren Herzschlag im Hals und lachte nervös.

„Ein exotisches Aussehen wurde mir schon des Öfteren bescheinigt, aber so spezifisch höre ich das zum ersten Mal. Vielleicht sollte ich mal meinem Vater ein wenig auf den Zahn fühlen, was die Ahnengeschichte meiner Familie betrifft.“

Als Kind hatte sie manchmal gedacht, sie sei adoptiert worden, weil sie sich deutlich von ihren beiden Schwestern unterschied. Gut, ihre außergewöhnliche Körpergröße ließ sich noch erklären, da sowohl ihr Vater wie dessen Brüder von hochgewachsener Statur waren. Aber ihr südländisch anmutendes Äußeres und ihr tiefbraunes, fast schwarzes Haar ließen sie zwischen ihren feenhaften Schwestern herausstechen wie ein Kuckucksvögelchen im Schwalbennest. Wenn sie ihre Eltern gefragt hatte, warum sie sich so von ihren Schwestern unterschied, wurde sie meist belächelt. Die Natur habe es eben so eingerichtet.

Irgendwann hatte sie aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen, es sogar vergessen. Doch Travis’ Hinweis erinnerte sie nun wieder daran, dass sie nie hartnäckig genug auf Antworten bestanden hatte. Sie nahm sich vor, später ihren Vater aufzusuchen.

„Vielleicht solltest du das wirklich“, erwiderte er und hielt seinen Blick für einen Moment weiterhin prüfend auf sie gerichtet.

„Lass das nicht meine Mutter hören, sie ist nämlich ziemlich stolz darauf, in die erhabene Adelslinie der Trevelyans eingeheiratet zu haben“, erwiderte sie leichthin.

„Mmh“, machte Travis. „Ich habe deine Mutter ja kennengelernt und glaube, ihr seid euch sehr ähnlich.“

Cynthia gab ein empörtes Schnaufen von sich, fühlte sich aber dennoch gewissermaßen ertappt. Nur wer sie näher kannte, bemerkte die charakterlichen Ähnlichkeiten, da Cynthia alles dafür tat, diese nicht offenzulegen. Von ihrer äußeren Erscheinung konnte er wohl kaum geredet haben.

„Also, mir ist es völlig egal, wie adlig unser Adelstitel ist“, verteidigte sie sich und reckte ihr Kinn in die Höhe. „Da komme ich wohl eher nach Vater, von dem ich offensichtlich auch meine Körpergröße geerbt haben muss.“

Travis machte eine bedeutungsvolle Miene. „Genau das meinte ich. Es ist diese Art von Stolz in eurem Auftreten, der Art, wie ihr euch gebt, deine Mutter und du. Auch wenn die Hintergründe völlig unterschiedlich sind. “

Cynthia blickte ihn verwundert an. Ihr war nicht bewusst, dass jemand ihr selbstbewusstes Auftreten, das oft nur eine Fassade war, als Stolz interpretieren könnte.

Sie gingen ein Stück weiter durch die Stille des Waldes, die einzig vom Rauschen des Windes in den Baumwipfeln unterbrochen wurde.

„Was hast du eigentlich damit gemeint, als du sagtest, du würfest Baumstämme? Es hat nicht ganz wie ein Scherz geklungen“, sagte Cynthia nach ein paar Schritten.

Ein feines Lächeln zog sich über seine Mundwinkel. „Nicht ganz, das ist richtig. Ich bin Holzfäller, da bleibt es nicht aus, hin und wieder auch mal einen Baumstamm zu werfen.“ Er zwinkerte ihr zu.

Fasziniert lauschte Cynthia seiner Erzählung über die kleine Siedlung am Fuße der Columbia Mountains, wo Travis ein mittelständisches Holzverarbeitungsunternehmen aufgebaut hatte. Zugewanderte Holzfäller arbeiteten dort Hand in Hand mit den Nation People, sodass sich im Laufe der Jahre eine Gemeinschaft entwickelt hatte, von der beide Seiten profitierten. Seine Beschreibung der Gegend rund um British Columbia ließ sie staunen. Sie liebte die Landschaft Lelants und konnte sich kaum vorstellen, dass die Schönheit der Natur anderorts so viel imposanter wirken sollte. Laut Travis war in Kanada alles mindestens doppelt so groß wie in Europa, vielleicht sogar die Menschen.

Darüber mussten sie beide herzlich lachen.

Es war schon fast Nachmittag, als sie mit Nori am Halfter in den Stall zurückkehrten. Penny hatte soeben die letzten Pferde versorgt und in ihre Boxen zurückgebracht. Auch für Nori lag frisches Heu bereit. Nachdem sie sich fröhlich verabschiedet hatte, fuhr sie mit ihrem mürrischen Freund davon.

Travis half Cynthia dabei, Nori zu striegeln, wobei sie sich über den Pferderücken hinweg weiter unterhielten. Sie bemerkte, wie sein Blick ihr auch folgte, wenn er den Kopf gesenkt hielt, was ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken trieb. Zwischendurch musste sie ihr Gesicht abwenden, damit er nicht die Röte in ihrem Gesicht bemerkte. Doch irgendwann waren sie ohnehin beide verschwitzt von der Arbeit. Sorgfältig bearbeiteten sie mit ihren Wurzelbürsten Noris Flanken, bis sie den Hals erreichten. Als Cynthia fertig war, legte sie Bürste und Striegel beiseite und wollte nach Noris Trense greifen, um diese abzunehmen. Travis hatte das offenbar auch gerade vorgehabt, denn seine Hand legte sich in dem Moment auf die ihre, als sie nach dem Zaumzeug griff. Cynthia fuhr leicht zusammen, weil seine Berührung wie ein leichter Stromstoß auf sie wirkte. Instinktiv wollte sie verschämt zurückweichen, doch er hielt ihre Hand fest und zog Cynthia zu sich heran. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, legte er seinen Arm um ihre Taille, woraufhin sich ihr Oberkörper nach hinten neigte. Er neigte sich ihr langsam entgegen, bis sein Gesicht dem ihren so nahe war, dass sie seinen Atem sanft auf dem ihren spürte. Seine Augen waren dunkel, das Grün schimmerte wie eine verwunschene Waldlichtung. Einen Moment hielt er inne, als warte er ihr Einverständnis ab. Das Atmen fiel ihr schwer, in ihrem Kopf rauschte ein Bergbach. Seine Lippen legten sich auf ihren Mund und Cynthia geriet ins Taumeln. Doch seine Umarmung war sicher und stark, sein Kuss zurückhaltend sanft und gleichzeitig leidenschaftlich. Instinktiv schlang sie beide Arme um seinen Hals, er verstärkte seinen Griff. Durch ihre Kleider spürte sie die Kraft seines Körpers. Aus dem Bergbach wurde ein tosender Wasserfall. Er löste sich von ihren Lippen und streifte ihr die Jacke von den Schultern. Nori schnaubte neben ihnen. Verunsichert blickte Cynthia auf ihr Pferd und wieder zu Travis. Er lächelte, hob sie auf die Arme und trug sie in die benachbarte, mit frischem Stroh ausgelegte Box. Cynthia lauschte in die Umgebung, um sicherzustellen, dass sich niemand mehr im Stall aufhielt. Sicher konnte sie nicht sein, aber plötzlich war es ihr egal. Travis küsste ihren Hals und Cynthia keuchte leise auf. Seine Hand glitt zu den Knöpfen ihrer Bluse, die sich wie von alleine öffneten. Sie fuhr unter sein Hemd und strich über die samtweiche Haut seines Rückens. Ihre Verwunderung darüber währte nur einen Moment, denn im nächsten fand sie sich in Stroh gebettet wieder, sein lächelndes Gesicht über ihr, während er sich damit beschäftigte, lästige Kleidungsstücke wie von selbst verschwinden zu lassen. Eine unbeschwerte Süße bemächtigte sich ihrer und steigerte sich in einen Rausch der Sinne. Sie nahm nur noch seinen Körper wahr, der sich dem ihren anpasste, als hätten sie einander ein Leben lang gesucht und endlich gefunden. Er liebte sie voller Hingabe, erkundete jeden Zoll ihres Körpers, bedeckte sie mit Küssen. Sie gab zurück, was sie geben konnte, instinktiv und ohne Scheu. Sie war eins mit ihm, eins mit sich selbst und eins mit dem Duft, der sie umgab. Für sie hätte die Zeit in diesem Moment einfach stehen bleiben können.

Es war schon dunkel, als Cynthia heimkehrte und vor dem Spiegel in der Halle ein wenig atemlos innehielt. Ihre geröteten Wangen konnten vom schnellen Gang herrühren, doch die einzelnen Strohreste sollte sie besser aus ihrem Haar zupfen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, während sie mit den Händen durch die langen Strähnen fuhr, um sie zu ordnen. Sie fühlte sich seltsam aufgewühlt, als flögen Schmetterlinge nicht nur durch ihren Bauch, sondern über jede Stelle ihres Körpers, die Travis zuvor berührt hatte. Es fiel ihr nicht leicht, den Drang zu unterdrücken, ihr Glück in die Welt hinauszurufen, und es kostete sie einiges an Mühe, ihre Fassung zu bewahren. Nachdem sie einen letzten prüfenden Blick auf ihre Kleidung geworfen hatte, öffnete sie die Tür zum Salon. Ihr Vater saß im Lehnsessel und las die Tageszeitung, während Mutter geschäftig auf die Tastatur ihres Laptops eintippte. Vermutlich war sie gerade dabei, zwei ahnungslose Singles aus der englischen Upperclass füreinander zu bestimmen. Ihr Vater blickte kurz auf und nickte ihr zu.

Sie trat in die heimelige Wärme, ließ sich auf das breite Sofa nieder und griff in die stets auf dem Tisch stehende Schüssel mit Konfekt. Genüsslich biss sie ein Stück vom Zuckerguss ab.

Obwohl sie gar nicht mehr daran gedacht hatte, sprudelte die Frage plötzlich und völlig unbesonnen aus ihr heraus. „Sagt mal, habe ich eigentlich indianische Vorfahren?“

Es wurde noch stiller im Raum, als es ohnehin schon war, und unwillkürlich schoss Hitze durch Cynthia hindurch. Doch es war zu spät. Was sie eigentlich lapidar dahergesagt und als vermeintlichen Scherz gemeint hatte, lag plötzlich mit schwerer Ernsthaftigkeit im Raum. Erschrocken über ihre Unbedachtheit, schloss sie für einen Moment die Augen.

Worte sind wie Vögel. Hat man sie einmal losgelassen, kann man sie nicht mehr einfangen.

Das alte Sprichwort ging ihr durch den Sinn. Das Zeitungspapier raschelte empört, als ihr Vater seine Lektüre sinken ließ. Das klappernde Geräusch der Tastatur verstummte beinahe so anklagend wie der Blick, den ihre Mutter ihr zuwarf.

„Jetzt geht das wieder los“, entfuhr es ihrer Mutter mit einem Stoßseufzer. „Haben wir diese Diskussion nicht längst beigelegt?“

Cynthia brauchte einen Moment, doch blieb ihr nun nichts anderes übrig, als sich der Situation zu stellen. Natürlich hatte sie immer geahnt, dass ihr anderes Aussehen von irgendeinem Ahnen herrührte, von dem die Familie vielleicht nicht gerne sprach. Aber indianische Vorfahren hatte sie dabei nie in Betracht gezogen, umso mehr überraschten sie die ernsten Gesichter ihrer Eltern.

„Ihr habt mir als Kind versichert, dass ich nicht adoptiert worden bin, ja. Aber es ist nun mal nicht von der Hand zu weisen, dass ich völlig anders aussehe als Rebecca und Emilia. Genau genommen, ähnle ich nicht mal euch beiden.“

„Na hör mal, Kind“, kam es rügend von ihrem Vater. „Wie kommst du denn auf einmal wieder darauf.“

Cynthia hob die Schultern und schob sich zur Ablenkung ein weiteres zuckersüßes Konfektstück in den Mund, bevor sie antwortete. „Travis … ich meine, Mister Forbes hat mich auf eine gewisse Ähnlichkeit zu den Ahousaht-Indianern in Kanada hingewiesen.“

Sie fand, das Wort Ahousaht klang ausgesprochen schön.

Mutter seufzte genervt auf. „Haben jetzt alle den Verstand verloren? Wie mir scheint, verbringst du zu viel Zeit mit diesem Kanadier und er hat wohl zu lange unter Wilden gelebt.“

„Dieser Kanadier, wie du ihn bezeichnest, Mutter, ist hier, weil du ihn herbestellt hattest“, konterte Cynthia.

„Das habe ich in der Tat, aber er sollte sich um die Pferde kümmern und nicht um die Tochter des Hauses.“ Ihre Mutter warf ihr einen Blick zu, der sie bis ins Innerste zu durchschauen schien.

Cynthia fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen schoss, weil sie unwillkürlich an den vergangenen Nachmittag mit Travis denken musste und sich fragte, ob man ihr ansah, was in der Scheune vorgefallen war. Natürlich war das lächerlich, aber Mütter schien eine besondere Gabe dafür zu besitzen, ihren Kindern anzumerken, wenn irgendetwas nicht stimmte.

Cynthias schlechtes Gewissen, dieses Gespräch überhaupt in Gang gebracht zu haben, erweckte gleichzeitig ihren Widerstand. Sie hatte nicht vor, klein beizugeben, wie sie es ihr Leben lang getan hatte, wenn es zu Streitigkeiten kam. Davon hatte sie endgültig genug. Vor allem, wenn es darum ging, die lupenreine Ahnenfolge der Trevelyans infrage zu stellen. Darauf reagierte ihre Mutter nahezu allergisch.

„Was ist dein Problem, Mutter? Du trägst den ehrenwerten Namen Trevelyan auch nur durch Heirat.“

„Ich verbitte mir diesen Tonfall, Lady Trevelyan. Im Gegensatz zu dir und deinen Schwestern habe ich immerhin Respekt vor alteingesessenen Familiennamen.“

Cynthia presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf. Vielleicht war sie zu weit gegangen. Verletzen wollte sie niemanden, sondern nur Antworten bekommen.

„Einer meiner Vorfahren, Evan Trevelyan, ging 1875 nach Kanada, kurz nachdem am Klondike River Gold entdeckt worden war“, sagte ihr Vater im ruhigen Tonfall.

„Jetzt kommt wieder diese unsägliche Awan-Geschichte“, kommentierte daraufhin seine Frau mit einem abfälligen und wenig damenhaften Schnauben.

Cynthia blickte überrascht auf. Sie hatte zumindest noch nie von dieser Geschichte gehört, über die sich Mutter so abfällig äußerte und dabei den Namen Evan so fremdartig aussprach. Sie wandte sich ihrem Vater zu. „Ist das wahr? Warum hast du mir nie davon erzählt?“

Lord Trevelyan faltete behäbig seine Zeitung zusammen und legte sie auf den Beistelltisch. „Ich würde vorschlagen, wir begeben uns in die Bibliothek. Dort können wir uns unterhalten, ohne deine Mutter zu stören.“

Sofort sprang Cynthia auf. Eine seltsame Aufregung überkam sie. Würde ihr Vater tatsächlich ein Geheimnis lüften oder wollte er nur wieder den Streit zwischen ihr und Mutter auf möglichst taktvolle Weise schlichten, indem er Cynthia einfach aus dem Brennpunkt entfernte?

Sie war gespannt. Bevor sie ihrem Vater folgte, drückte sie noch ihrer Mutter einen versöhnlichen Kuss auf die Wange.

In der Bibliothek angekommen, steuerte ihr Vater direkt auf eins der deckenhohen Mahagoniregale zu und zog ein schweres Buch heraus. „Als du ein Kind warst, hast du viel gefragt, aber es war zu früh, dir Antworten zu geben, die du auch verstehen konntest. Gleich vorab, du bist selbstverständlich unsere erstgeborene Tochter und unser beider ganzer Stolz.“

Cynthia lauschte dem sanften Bariton ihres Vaters und lächelte. „Ich habe auch nichts anderes erwartet.“

Er legte ihr eine abgegriffene Landkarte vor. Bedächtig strich Cynthia mit dem Finger über das wächserne Papier. Sie musterte die schlichte Skizzierung der Karte und stellte sich vor, ob dort wohl die Gegend eingezeichnet war, in der Travis lebte.