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Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA), in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Der erste Schuss

Bis ans Ende der Fährte

Der Fremde im Sturm

Tunnel Kids (Deutsch und Englisch)

Heul doch den Mond an

Tarantino

Das Geheimnis der Krötenechse

Das Regenpferd

WERNER J. EGLI

DAS GEHEIMNIS

DER KRÖTENECHSE

Roman

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eISBN 978-3-03864-210-7

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)
Copyright © 2018 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt:

KAPITEL 1Gefährliche Vorzeichen

KAPITEL 2Mayday … Mayday …

KAPITEL 3Spuren im Schnee

KAPITEL 4Der Pfeil aus der Vergangenheit

KAPITEL 5Die Alte und das Mädchen

KAPITEL 6Gefangen

KAPITEL 7In der Höhle der Iksnisok

KAPITEL 8Notna und Oremor

KAPITEL 9Im Schatten der Zivilisation

KAPITEL 10Das Geisterhaus

KAPITEL 11Das Opferfest

KAPITEL 12Die andere Wirklichkeit

KAPITEL 13Das Falkenmädchen

KAPITEL 1

Gefährliche Vorzeichen

Brians Vater hatte den Flugschein gemacht, als Brian noch in den Windeln lag. Wenn man bedenkt, wie viele seither Jahre vergangen waren, konnte man Brians Vater guten Gewissens als einen erfahrenen und äußerst verantwortungsbewussten Piloten bezeichnen, dem es zuzutrauen war, seine einmotorige Cessna ohne Schwierigkeiten von Baltimore nach San Diego zu fliegen.

Seit Brians Vater den Flugschein gemacht hatte, war einiges geschehen. Zum Beispiel war Pamela auf die Welt gekommen. Außerdem war das Haus an der Craycroft Street zweimal neu gestrichen worden, das erste Mal rosarot, das zweite Mal schneeweiß. Aber das wichtigste Ereignis war der große Abschied gewesen, als Brians Mutter furchtbar geweint hatte, während Brian mit einem zitroneneis-verschmierten Gesicht zu seinem Vater aufblickte und keine Ahnung hatte, was überhaupt vorging.

Brians Vater wurde an jenem Tag als Army Captain mit einigen tausend Soldaten nach Vietnam transportiert, und so war Brians Mutter nicht die einzige Frau, die weinend auf dem Militärflugplatz stand und ihren Sohn an sich drückte.

Brians Vater hatte in Vietnam genau 37 Helikopter-Einsätze als Militärberichterstatter geflogen. Beim achtunddreißigsten erwischte es ihn übel. Absturz im Dschungel. Gesichtsverletzung, Gefangennahme durch eine Vietcong-Patrouille. Flucht. Schließlich wurde er in die Heimat zurückgeflogen.

Er sprach selten über Vietnam und nie über das, was ihm dort widerfahren war. Wahrscheinlich glaubte er, wenn er nicht darüber redete, würden die Erinnerungen schneller verblassen und eines Tages plötzlich für immer verschwunden sein.

So einfach war das jedoch nicht. Brian wusste zum Beispiel, dass sein Vater ab und zu nachts immer noch von schlimmen Alpträumen gepeinigt wurde, aus denen er jeweils völlig durcheinander und in Schweiß gebadet aufwachte.

Am Anfang, gleich nachdem man ihn aus dem Spital entlassen und nach Hause zurückgebracht hatte, war es häufiger geschehen als in den letzten Monaten. Am Anfang hatte die ganze Familie sehr gelitten, weil er plötzlich mitten in der Nacht zu schreien anfing. Brians kleine Schwester Pamela – sie war damals auf einem ganz reinrassigen Barry-Gibb-Trip gewesen – geriet jedes Mal in Panik und verkroch sich unter Brians Bett, weil sie felsenfest davon überzeugt war, dass ihr großer Bruder die Macht hatte, sie im Notfall vor drohendem Unheil zu beschützen.

Es war eine schlimme Zeit gewesen. Eine Zeit voller Angst und Terror.

Brians Vater besuchte für eine Weile mehrere Psychiater, Psychologen und Geistliche. Er nahm an Gruppentherapien mit anderen Vietnam-Veteranen teil, die ebenfalls völlig ausgeflippt waren und sich auf der Straße jedes Mal flach auf den Bauch warfen, wenn etwa ein Auto mit Fehlzündung vorbeifuhr und der Auspuff eines Motorrades knallte. Gruppentherapie half. Irgendwann schrie er nur noch, wenn ein Rettungshubschrauber auf dem Weg zum St. Thomas Krankenhaus nachts übers Haus flog. Und später schrie er auch dann nicht mehr, und die ganze Familie atmete auf, denn alle konnten jetzt die Nächte wieder durchschlafen. Und Pamela brauchte nicht mehr unter Brians Bett zu kriechen, wo Brian inzwischen seine Baseballschläger und anderen Kram aufbewahrte. Pamela wurde älter und zickiger, und sie vergaß Barry Gibb und fuhr dafür vorübergehend auf Michael Jackson ab und dann auf Madonna, und manchmal hörte man sie im ganzen Haus Papa don’t preach singen, was übrigens fast genauso ein Terror war, wie wenn Brians Vater nachts schrie.

Brians Vater macht Tierfilme. Er ist einer der bekanntesten Tierfilmer Amerikas und vielleicht sogar der übrigen Welt. Auf jeden Fall wurden seine Filme schon in Japan gezeigt und in europäischen Ländern, und eine Vitrine steht voller Auszeichnungen. Er hat zum Beispiel die weltberühmte Sache mit den Cariboos im hohen Norden des Nord-West Territoriums von Kanada gemacht. Und einen Film für Disney Productions über die letzten Grizzlybären in den Rocky Mountains.

Brians Vater heißt Hill. Mark Hill. Das steht im Vorspann seiner Filme, von denen er die meisten selbst produziert: Mark Hill Productions. Und sein Firmenzeichen ist ein Hügel, auf dem ein mächtiger Bison steht, sozusagen als stolzes Wahrzeichen der Wildnis, die sich mit letzter Kraft gegen die Zerstörungswut der Zivilisation aufbäumt.

Letzten Sommer war es, als Mark Hill die erfreuliche Nachricht erhielt, er habe den Filmpreis der Stadt San Diego gewonnen. Das ist ein Preis, der jedes Jahr an einen Filmer vergeben wird, der den absolut besten Kurzfilm über ein Tier macht, das in einem Zoo gehalten wird.

Brians Vater machte diesen Zwanzigminutenstreifen über das merkwürdige Leben einer Krötenechse namens Eleanor, die in einem Terrarium des Zoos von Baltimore gehalten wird. Er nannte den Film Das Geheimnis der Krötenechse.

Der Film war so gut, dass er eine Auszeichnung in Japan erhielt und eine in Schottland. In San Diego wollte man ihm nun den Goldenen Adler überreichen, und das war eine Ehre, über die sich Brians Vater besonders freute, denn sein Film war wirklich ein kleines Kunstwerk und keine Dutzendware, also ein Kulturgut, wenn es sowas überhaupt noch gibt, weil laufend immer alles, was mit Kunst zusammenhängt, kommerzieller wird.

Wer weiß schon, was eine Krötenechse ist? Und wer kennt schon ihre Geheimnisse?

Brian glaubte, sein Vater hätte sie erfahren. Deshalb war ihm sein Werk so gut gelungen. Brian hatte keine Ahnung, dass es ein anderes Geheimnis gab, von dem sein Vater genauso wenig wusste wie er selbst.

Eigentlich hätte Brian seinen Vater gar nicht nach San Diego begleiten sollen. Erstens hatte er Schule, und zweitens war geplant, dass sein Vater zusammen mit Brians Mutter zum 17. Hochzeitstag nach San Diego zur Preisverleihung fliegen und dann eine Woche auf Hawaii verbringen würde. So war es abgesprochen, und noch Anfang Januar dachte die ganze Familie, dass alles klappen würde.

Aber dann wurde Pamela krank. Angina zuerst, da sie den ganzen Winter hindurch bei bissigster Kälte nur irgendwelche hauchdünnen Madonna-Fähnchen getragen hatte. Eine Mittelohrentzündung folgte, dann brach Mumps aus, und Mark Hill telefonierte mit dem Reisebüro und sagte den Hawaii-Trip für zwei Personen ab.

Geistesgegenwärtig fasste Brian die Möglichkeit ins Auge, ein paar Tage von der Schule wegzubleiben. Entschuldigt natürlich. Es war immerhin eine einmalige Gelegenheit, wenn ein Sohn bei der Vergabe des Goldenen Adlers an seinen Vater dabei sein konnte. Das würde vielleicht sogar der alte Hick begreifen. Brian sprach mit seinem Vater kurz nachdem er, unaufgefordert, den Chrysler Cordoba, die Familienkutsche, gewaschen hatte. Und mit gewaschen ist echt handgewaschen gemeint, die Fenster auch innen und sämtliche Chromteile auf Hochglanz poliert. Am selben Tag schaffte Brian wie durch ein Wunder in Mathe als einziger seiner Klasse auch noch ein A+, was ungefähr bedeutete, dass ein gewisser Einstein auch nicht besser abgeschnitten hätte.

Brian suchte seinen Vater im Arbeitszimmer auf, während Pamela mit dicken Backen im Bett lag und sich mit einer dämlichen Fernsehserie beglückte. Seine Mutter war außer Haus; Aerobic und anschließend Sonnenstudio.

Wie gesagt, es war Januar. Seit Tagen schneite und regnete es. Baltimore im Schneeregen ist niederschmetternd. Schwermütige Leute springen aus höher gelegenen Stockwerken oder klettern über Brückengeländer und werfen sich aus schwindelerregender Höhe in eiskalte Fluten. Mutlose verbringen die Tage im Bett unter der Decke und weinen sich ins Nachthemd. Selbst Brian träumte von der Südsee.

Mark Hill hockte stundenlang am Schreibtisch, die Kopfhörer über den Ohren. Er machte Notizen. Den ganzen Tag machte er Notizen, und die Schreibtischlampe brannte ihm ins Genick. In seinem Kopf entstand ein neuer Film. Er ließ sich ungern stören. Außer von Brian. Er hoffte insgeheim, dass Brian einmal in seine Fußstapfen treten würde. Hill & Sohn Productions, sozusagen.

Brian klopfte nicht an, weil es sein Vater ohnehin nicht gehört hätte. Es war neun Uhr am Abend. Irgendwo fuhr ein Streifenwagen durch das Schneegestöber. Das Sirenengeheul weckte Murray, den Familienhund. Er hob den Kopf, drehte ihn nach allen Richtungen und begann zu heulen. Es war schwer zu sagen, was mit Murray los war. Er konnte heulen wie eine Sirene. Man hätte ihm nur ein rotes Kreuz aufs Fell zu malen brauchen, und er wäre im Feierabendverkehr, ohne einmal anzuhalten, durch die ganze Stadt gekommen.

„Murray, halt die Klappe“, sagte Brian.

Murray verstummte. Für einen Schoßhund ohne Schwanz war er ziemlich gescheit. Vielleicht war gerade dies der Grund, weniger auf die Impulse seines Schwanzes zu achten und dafür mehr auf die Eingaben seines Gehirns.

Brians Vater blickte auf, als der Schatten seines Sohnes über seinen großen gelben Notizblock fiel, den er fast vollgeschrieben hatte. Damals gab es nämlich noch keine Personal Computers, Tablets oder Mobile Telefone, und trotzdem kehrte er - am Ausdruck seiner Augen zu erkennen - aus weiter Ferne in die Realität zurück. Für einen Moment starrte er Brian an, als wäre er ein Fremder, dann lächelte er und hob die linke Muschel des Kopfhörers etwas an.

„Heh, Champ“, sagte er. „Was gibt‘s?“

Er nannte Brian Champ, weil Brian in der Schule der beste Baseballspieler war, und Champ ist die Abkürzung für Champion, was wiederum nichts mit irgendwelchen Pilzen zu tun hat, die in finsteren Kellergewölben wachsen.

„Ich dachte, Murray muss mal raus“, sagte Brian.

Sein Vater war noch ziemlich abwesend.

„Murray, huh, ach so, das stimmt. Wie spät ist es eigentlich?“

„Nach neun.“

„Nach neun?“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Bald halb zehn. Ist deine Mutter schon zurück?“

„Sie sollte jeden Augenblick kommen“, sagte Brian. „Frisch gebräunt.“

Brians Vater nahm den Kopfhörer ab und schaltete das Tonbandgerät aus. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und streckte seine Arme. Murray hatte sich von der Decke erhoben, die neben dem Schreibtisch am Boden lag. Sein schwanzloser Hintern raste hin und her, brachte den ganzen Hund ins Schwanken und stieß in einige Male schnell hintereinander gegen einen Papierkorb, der mit gelben, zerknüllten Seiten aus dem Notizblock überquoll.

„Komm, wir gehen zusammen mit Murray“, sagte Brians Vater und stand auf und nahm seine Jacke von der Lehne. „Wie sieht es draußen aus?“

„Übel“, sagte Brian. „Aber in San Diego scheint bestimmt die Sonne.“

„Wenn wir uns beeilen, können wir uns die Zehn-Uhrnachrichten ansehen.“

Sie verließen das Arbeitszimmer, und Mark Hill machte das Licht aus. In Pamelas Zimmer sagte eine Fernsehstimme eben:

„… oh Gott, der Herr Baron ist tatsächlich bereit, mir sein Herz zu schenken?“

Und eine Baron Stimme antwortete in gekünstelter Eindringlichkeit: „Ein loderndes Herz, mein Kind.“

Brians Vater streckte den Kopf ins Zimmer. „Pamela, wir gehen mal mit Murray raus.“

„Dad, du musst dir den Baron ansehen. Das ist der schönste Mann der Welt und obendrein ein echter Vampir.“

Brians Vater trat schnell ins Zimmer.

„Huh, der sieht besser aus als Clark Gable je ausgesehen hat“, hörte Brian ihn sagen. „Verlieb dich nur nicht in ihn, mein Schatz. Er ist ein ganz schlimmer Herzensbrecher.“

Als er wieder herauskam, verdrehte er die Augen.

„Wetten, dass jede Warnung zu spät kommt. Heute Nacht träumt sie von ihm und seinem roten Ferrari. Und er schenkt ihr sein Schloss in Rumänien.“

„Und was kriegt er dafür? Mumps?“

Sie lachten, als sie das Haus verließen. Murray pinkelte erst einmal gegen die Schneeschippe, die am Briefkasten lehnte. Dann trottete er hinüber in den Garten des Nachbarhauses und verrichtete hinter einer kleinen, verschneiten Ziertanne ein weiteres Geschäft.

Mark Hill und Brian gingen langsam nebeneinander die Straße hinunter. Brian trug seine Baseballmütze mit dem Abzeichen der Baltimore Orioles, der Profimannschaft von Baltimore. Obgleich die Mütze ein großes Schild hatte, regnete Brian nasser Schnee ins Gesicht.

Brians Mutter fuhr mit dem Chrysler Cordoba vorbei, bemerkte die beiden jedoch nicht, obwohl sie winkten. Der Chrysler war wieder völlig verdreckt. Brian tat das Herz weh. Über ihnen im Schneeregen flog eine DC-10 vorbei. Das Hill-Haus steht eigentlich nicht in einer Flugschneise, aber manchmal, je nach den Wetterverhältnissen, fliegen die Verkehrsmaschinen den Flughafen über einen nahe gelegenen Golfplatz hinweg an.

„Schade, dass das mit Hawaii nicht klappt“, begann Brian vorsichtig.

„Jammerschade ist das“, erwiderte sein Vater. „Hawaii ist ein Paradies.“

„Ich könnte zu Hause bleiben und auf Pamela aufpassen“, schlug Brian vor.

„Das ist sehr zuvorkommend von dir, Champ, aber du weißt, dass Pamela durchdrehen würde, wenn wir euch beide allein lassen.“

„Ich könnte ihr jeden Tag drei Mal zwanzig Baldriantropfen in ihr Cherry-Cola tun“, sagte Brian.

Sie blieben stehen. Das Licht einer Straßenlaterne schien in Mark Hills Gesicht, das von der schlecht verheilten Vietnam-Narbe etwas entstellt war. Er grinste breit.

„Was willst du, Brian?“, fragte er. „Ich denke, du hast doch den Cordoba nicht umsonst gewaschen.“

„Ich habe ein A+ in Mathe“, sagte Brian. „Wann hat es sowas schon einmal gegeben?“

„Hattest du überhaupt schon einmal ein A+ in Mathe?“

„Einmal. Letztes Jahr. Dafür durfte ich zum Iron Maiden-Konzert gehen.“

„Du warst enttäuscht, wenn ich mich recht erinnere.“

„Weil ich der einzige war, der seine kleine dämliche Schwester dabei hatte.“

Brians Vater lächelte. „Was willst du dieses Mal, Champ?“

„Hm, ich hab‘ mir gedacht, dass es von Vorteil für mich und meine Zukunft wäre, wenn ich dich nach San Diego begleiten würde.“

Mark Hill kniff die Augen etwas zusammen. Abschätzend blickte er Brian an.

„Hast du mit deiner Mutter darüber geredet?“, fragte er.

„Nein. Ich dachte, ich frage erst dich. Von Mann zu Mann. Mom hat gesagt, dass du selbst fliegen willst. Mit der Cessna.“

„Ja, hab‘ ich vor, Brian. Die Wettervorhersagen sind günstig für einen Flug in den Südwesten. Ich könnte einen Abstecher nach Tucson machen und meinen alten Freund Frank Finkeltraub besuchen. Er hat mich schließlich auf die Idee gebracht, die Geschichte mit der Krötenechse zu machen.

„Toll, Daddy. Wir könnten zusammen das Desert-Museum besuchen. Außerdem könnte ich für meine Schule einen Filmbericht über die Preisverleihung machen und dabei den neuen Camcorder ausprobieren, den ich von euch zu Weihnachten geschenkt bekommen habe.“

„Wir könnten nach Los Angeles fliegen, und ich könnte dir anstatt Disneyland die Studios zeigen.“ Mark Hill legte einen Arm um Brians Schultern. „Komm, wir gehen nach Hause und besprechen die Sache mit deiner Mutter.“

Sie drehten um, obwohl Brian seinen Vater warnte, dass Murray vor dem Schlafengehen mindestens zwei Haufen machen sollte. Vor der Haustür redete Mark Hill dem Hund ins Gewissen. „Wir haben einen neuen Teppich im Wohnzimmer, Murray. Denk daran und blamier mich nicht.“

Murray wedelte seinen Hintern, als hätte er verstanden. Aber Brian kannte ihn. Murray war in dieser Beziehung ein ganz durchtriebener Bastard, obwohl er als Lhasa Apso einen einwandfreien Stammbaum hatte, der bis nach Tibet zurückzuverfolgen war.

Brians Mutter sagte, dass sie sich durch die äußerst sporadischen Glanzleistungen ihres Sohnes in Mathe nicht davon überzeugen lassen könne, Brian damit zu belohnen, dem Unterricht für eine Woche fernzubleiben. Außerdem, so fürchte sie, würde Dr. Hickling Miller, Brians Rektor, niemals zustimmen, weil Brian zu jenen Schülern gehörte, die auf Dr. Hickling Millers schwarzer Liste standen.

„Die halbe Schule steht auf Hicks schwarzer Liste“, brummte Brian, während er eine Dose Hundefutter aufmachte. Murray hockte zu seinen Füßen und geiferte ihm schwanzwedelnd auf die Turnschuhe. Brians Vater saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und nippte an seinem Schlummertunk, einem doppelten Scotch.

Brians Mutter war im Schlafzimmer oder im Badezimmer oder sonst wo, sie war jedenfalls nicht zu sehen. Sie rief, dass Brians Name zuoberst auf Dr. Hickling Millers Liste stünde, und sie es mit eigenen Augen gesehen hätte.

„Das war im Sommer, Mom!“, rief Brian. „Kurz nach Schulanfang. Da herrschte in unserer Schule noch das wahre Chaos, und Hick nahm mich besonders aufs Korn. Frag doch Billy Smith, wenn du es mir nicht glaubst. Außerdem ist Hick ein völlig verkalkter Greis.“

„Billy Smith steht auch auf der Liste.“

„Weil wir Freunde sind. Hick hatte es von Anfang an auf uns abgesehen. Er gab uns keine Chance. Einmal, als er in den Schulhof fuhr, sah er am Fenster unseres Klassenzimmers einen nackten Hintern. Er drehte völlig durch und behauptete, es wäre Billy gewesen. Es war aber Kevin Pratt, der für Hick einen auf Vollmond gemacht hat, und nicht Billy.“

„Der eine ist so unverschämt wie der andere“, rief Brians Mutter aus dem Schlafzimmer oder aus dem Bad.

„Mom, kannst du mir vielleicht erklären, wie es kommt, dass Hick glaubt, er könne Billy und Kevin auseinanderhalten, wenn er beim Vorbeifahren für eine Sekunde einen nackten Hintern am Fenster sieht. Und nicht etwa im ersten Stock, sondern im dritten.“

Brians Mutter schwieg. Dafür tauchte jetzt Pamela auf. Sie wandelte lautlos, aber mit Lauerblick, auf ihren nackten Füßen durchs Wohnzimmer. Brian füllte Murrays roten Plastiknapf mit einem aufdringlich riechenden Brei. Murray drehte schier durch. Er war der absolut gefräßigste Köter, den Brian kannte. Deswegen musste er vor dem Schlafengehen mindestens zweimal kacken. Kein Hund fraß mehr als Murray. Und keiner machte so unverschämt große Haufen.

Pamela lehnte sich im Durchgang zur Küche gegen die weißgetünchte Backsteinmauer und blickte Brian von unten herauf an. Ihr Gesicht war ziemlich verschwollen und rotgefleckt.

„Du sieht aus wie eine zu heiß gebadete Kaulquappe“, zischte Brian. Das war natürlich nicht sehr brüderlich, und Pamela rannte ins Schlafzimmer zu Brians Mutter und schrie irgendetwas von seelischer Grausamkeit.

Brian machte das Licht in der Küche aus und ging auf sein Zimmer. Über seinem Schreibtisch hing eine Landkarte der USA. Er folgte mit den Augen der ungefähren Flugroute Baltimore – San Diego. Zwischenlandung in Knoxville, Tennessee, Oklahoma City, Oklahoma, Albuquerque, New Mexico und Tucson, Arizona. Der Flug würde zwei Tage in Anspruch nehmen, auch bei günstigen Wetterverhältnissen. Von Oklahoma City bis San Diego sah die Landkarte ziemlich leer aus. Bis auf Phoenix und Tucson waren keine Städte eingezeichnet. Richtige Städte, meinte Brian. Natürlich gab es noch Silver City und Yuma und ähnliche Nester. Sein Blick blieb an Silver City hängen. Ziemlich abgelegenes Nest musste das sein. Mindestens sechzig Meilen vom nächsten Freeway entfernt. Die Karte war ziemlich leer dort, und es waren einige Bergzüge und Täler eingezeichnet.

Brian hatte keine Ahnung, was ihn dazu trieb, den Atlas hervorzuholen und sich das Gebiet nördlich von Silver City auf der New Mexico-Karte genauer anzusehen. Landkarten übten auf ihn schon immer eine beinahe magische Anziehungskraft aus. Es gibt Gebiete auf dieser Welt, die er so gut kannte, als wäre er schon dort gewesen. Brian glaubte, dass er sich zum Beispiel in Alaska kaum mehr hätte verirren können. Es gibt dort unter anderem ein Nest, das Takotna heißt. Das Nest liegt in einem Tal der Kuskokwim Berge und ist über eine Dreckstraße zu erreichen, die am Nordufer des Kuskokwim River beginnt und hinter Takotna auf einem Bergpass endet. Wer, außer Brian, wusste das schon?

Während er auf den Atlas starrte, verwandelte sich das Gebiet nördlich von Silver City vor seinem geistigen Auge in ein kleines echtes Stück dieser Welt, das ihn völlig in seinen Bann schlug. Es war fast, als schaute er durch den Sucher seines neuen Camcorders, und die blauen Linien auf der Karte wurden zu Flüssen und Bächen, an deren Rändern Eis glitzerte. Es schneite. Die Wipfel mächtiger Kiefern bogen sich im bretterharten Wind, der durch die engen, finsteren Täler heulte. Dunkle Wolken ballten sich an den zerklüfteten Felsgipfeln der Berge, von denen einige über 10000 Fuß hoch waren. Ein hungriges Pumaweibchen schlich durch den Schnee und schreckte ein Kaninchen auf, das frierend im Gestrüpp gehockt hatte, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Das Kaninchen gab Fersengeld. Es rannte so schnell es konnte durch eine tiefverschneite Senke zum Ufer eines kleinen zugefrorenen Teiches. Der Puma erspähte das Kaninchen. Er jagte in langen Sätzen hinter ihm her. Das Kaninchen schlug einige Haken, aber es entkam dem Puma nicht. Der Puma erwischte es am Ufer des Teiches im kahlen Weidengestrüpp. Der Todesschrei des Kaninchens klang fast wie der Schrei eines Menschen.

Etwas weiter vom Teich entfernt, in einem lichten Wäldchen, saß eine alte Eule auf dem Ast eines toten Baumes. Der Wind blähte das prächtige Federkleid auf. Die Eule äugte zu einigen blauen Blechstücken hinunter, die in einem lichten Unterholz herumlagen.

Blaue Blechstücke!

Der Wind trieb Schneestaub durch das Unterholz. Brian konnte nicht mehr genau erkennen, was alles im Schnee herumlag. Es sah beinahe aus, als hätte jemand einen Haufen Schrott ausgeschüttet. Ein Lastwagen voll Sperrgut. Verbogene Blechteile, Glasscherben. Der Wind ließ etwas nach. Die Sicht wurde besser. Bei einem der Blechstücke handelte es sich ohne Zweifel um ein Stück vom Seitenruder eines Flugzeuges. Ein geknickter Flügel ragte aus einer Schneewehe. Jetzt konnte Brian die Nase des Flugzeuges sehen. Sie war aufgerissen, der Propeller völlig verbogen.

„Jesus, das ist Blue Jay“, stieß er leise hervor.

Blue Jay, das war die Cessna seines Vaters. Brian traute seinen Augen nicht, als er sich selbst durch den Schnee stapfen sah. Er ging im Unterholz auf das Flugzeugwrack zu. Einen Teil der Kabine konnte er nun ausmachen. Das Gesicht seines Vaters am Fenster. Mark Hill hatte den Mund geöffnet, und es schien, als wollte er um Hilfe schreien, aber dann sagte er mit ruhiger Stimme:

„Champ, warum legst du dich nicht aufs Ohr. Ich werde mit deiner Mutter reden.“

Brian schrak aus seiner ureigenen, virtuellen Welt.

Sein Vater stand hinter ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Hast du ausgerechnet, wie viele Meilen es von hier nach San Diego sind?“, fragte er.

Brian schüttelte den Kopf. Jetzt merkte er, dass seine Hände feucht geworden waren. Er wischte sie am Hemd ab und blickte zu seinem Vater auf.

„Hast du den Wetterbericht gesehen?“, fragte er ihn.

„Sieht gut aus für nächste Woche“, sagte er. „Zurzeit haben die dort unten ziemliches Sauwetter. Es schneit in den Bergen, und es herrschen Rekord-Minus-Temperaturen. Aber nächste Woche soll sich ein starkes Hochdruckgebiet entwickeln.“

„Was weißt du über die Gegend zwischen Albuquerque und Tucson?“

„Hm, ziemlich dünn besiedeltes Gebiet.“

Brians Vater beugte sich vor und warf einen Blick auf den Atlas. „Hier, das ist das Quellgebiet des Gila Rivers. Man hat es zu einem nationalen Wildnis Gebiet erklärt, weil es so abgelegen und unzugänglich ist.“

Brians Mutter kam ins Zimmer.

„Brian, hast du deine Schwester wirklich eine Kaulquappe genannt?“, wollte sie wissen.

„Mom, du weißt doch, dass sie sich Zeug einbildet“, sagte Brian. „Warum sollte ich sie Kaulquappe nennen?“ Er erhob sich und nahm die Baseballmütze vom Kopf. Sein blondes Haar war ziemlich zerzaust. Er warf die Baseballmütze aufs Bett und begann, die Kleider, die er morgen tragen wollte, aus dem Schrank zu nehmen.

„Du siehst so blass aus, Brian“, stellte seine Mutter fest. „Wirst du mir etwa auch noch krank?“

„Ich bin okay, Mom“, entgegnete Brian. „Darf ich mich jetzt vielleicht ins Bett begeben oder soll hier zu dieser späten Stunde vielleicht eine Konferenz stattfinden?“

„Du bist in letzter Zeit schlecht gelaunt, Brian“, sagte seine Mutter. Sie sah wundervoll aus. So, als wäre ihr Leben eine einzige Fiesta. Dabei arbeitete sie als Rechtsanwältin bis zu 14 Stunden am Tag, außer an Sonn- und Feiertagen.

„Ich bin in letzter Zeit keineswegs schlecht gelaunt“, widersprach Brian. „Ich bin vielleicht hin und wieder nur etwas enttäuscht, weil du die dämliche schwarze Liste von Hick zum Maßstab nimmst, um über mich zu urteilen.“

„Das tue ich nicht, Brian. Das tu ich ganz bestimmt nicht. Aber Dr. Miller würde es dir kaum erlauben, eine Woche lang vom Unterricht fernzubleiben.“

„Schon gut, Mom“, sagte Brian. „Wenn ich mal einen Strafverteidiger brauche, suche ich mir einen anderen.“ Brian grinste schief. „Gute Nacht.“

„Du tust, als hätte ich dich gekränkt, Brian.“

„Mom, es ist alles in Ordnung! Ich bleibe lieber zu Hause. Ich habe nämlich eben Blue Jay gesehen. Oder das, was von ihr übrig geblieben ist.“ Brian knöpfte sein Hemd auf. „Du bist abgestürzt, Dad“, sagte er. „In den Bergen, ungefähr fünfunddreißig Meilen nördlich von Silver City.“

Brians Mutter starrte ihn an, als wäre er übergeschnappt. „Mit solchen Sachen scherzt man nicht, Brian“, sagte sie ernst.

„Ich hab‘s gesehen“, beharrte Brian. „Tut mir leid.“

Mark Hill lachte. „Geh jetzt ins Bett, Champ“, sagte er und nahm Brians Mutter am Arm. „Komm, ich bin auch müde.“

„Gute Nacht, Brian“, sagte Brians Mutter. „Schlaf gut.“

„Gute Nacht, Mom“, sagte Brian. „Gute Nacht, Dad.“ Brians Vater drehte sich in der Tür noch einmal um und zwinkerte ihm mit einem Auge zu.

„Bin ich allein abgestürzt oder warst du dabei, Champ?“ Brian verzog sein Gesicht.

„Ich muss dabei gewesen sein“, sagte Brian. „Sonst hätte ich es nicht gesehen.“

„Ich glaube nicht, dass Dr. Miller zustimmen wird“, sagte Brians Mutter. „Aber ich kann es morgen früh versuchen.“

„Danke, Mom“, rief Brian hinter ihr her. Als sie draußen waren, stülpte er sich die Baseballmütze mit dem Schild nach hinten über seinen blonden Haarschopf und setzte sich an den Schreibtisch. Er stützte seinen Kopf mit beiden Händen und konzentrierte sich auf den Punkt im Atlas, etwa 35 Meilen nördlich von Silver City.

Das Pumaweibchen war dabei, das Kaninchen zu fressen. Blut troff von seinen Lefzen. Brian stapfte durch den Schnee, aber er wusste nicht wohin. Es schneite so dicht, dass er nichts mehr sehen konnte. Brian irrte herum. Schließlich stand er auf und ging ins Badezimmer. Er putzte sich die Zähne und versuchte sein Haar zu kämmen. Als er zurück in sein Zimmer gehen wollte, stand Murray auf dem Teppich im Flur und wedelte. Normal schlief er entweder auf dem Sofa oder vor der Tür zum Elternschlafzimmer. Manchmal nahm ihn Pamela ins Bett, aber jetzt hatte sie Mumps, und man konnte nie wissen, wie ein tibetanischer Terrier darauf reagierte oder ob er vielleicht sogar ansteckungsgefärdet war.

„Leg dich lang“, flüsterte Brian.

Murray rührte sich nicht vom Fleck. Brian ging ins Bett und löschte das Licht aus. Draußen fuhr der Schneepflug vorbei. Irgendwann schlief Brian ein. Als er am Morgen erwachte, war Terror im Haus. Pamela hatte den Haufen entdeckt, der mitten im Wohnzimmer auf dem teuren Teppich still vor sich hin dampfte. Sie schlug Alarm, und Murray tat, als wäre er nicht der einzige Hund im Haus.

KAPITEL 2

Mayday … Mayday …

Der Himmel über ihnen war wolkenlos und von einem tiefen Blau. Sie befanden sich über dem Pfannenstiel von Texas. Schräg unten konnte Brian den Palo Duro Canyon erkennen. Aus einer Höhe von 6000 Fuß sah er aus wie eine kleine Scharte in einer zerfurchten Ebene mit ausgetrockneten Flussbetten und niederen Hügelzügen. Dünnen Adern gleich schlängelten sich ein halbes Dutzend Flüsse durch die Prärie ostwärts. Einer davon, der Prärie Dog Town Fork, der südliche Quellfluss des Red Rivers, hatte in Tausenden von Jahren sein Bett tiefer und tiefer in die Erdkruste gegraben und dadurch eine lange Steilwandschlucht gebildet, in der früher die Comanchen und die Kiowa Indianer zum Schutz vor den eisigen Blizzards ihre Winterlager aufgeschlagen hatten. Irgendwann, wenn sich Brian recht entsann, im Winter 1874, schickte die Armee ihre Blauröcke aus, um die Indianer im Palo Duro Canyon zu überfallen und auszulöschen.

Laut Hicks Geschichtskenntnissen war es das letzte Mal gewesen, dass irgendwelche Indianer dort unten im Schutze des Canyons ihre Tipis aufgeschlagen hatten und in Frieden auf den nächsten Frühling warteten, um wieder auf die Bisonjagd zu gehen.

Es gab keine Büffel mehr dort unten.

Es gab dort unten auch keine Indianer mehr.

Irgendwie sah das Land trostlos aus. So ungastlich, dass es noch immer beinahe menschenleer war und man sich die Indianer und die Bison zurück wünschte.

Brian hatte bei Hick amerikanische Geschichte. Er hatte der Klasse von den Indianern erzählt und von der Abschlachtung der Bison. Brian erinnerte sich jetzt gut an seine Worte: „Das Land versorgt heute Millionen von Menschen. Früher, bevor wir es eroberten und urbar machten, lebte in dieser grenzenlosen Wildnis eine Handvoll Geschöpfe, die vom Reichtum dieses Landes keinen blassen Schimmer hatten. Ist es da ein Wunder, dass das Volk der Indianer dem Untergang geweiht war?“

Brian wünschte, Hick wäre mitgeflogen. Er hätte sich selbst davon überzeugen können, dass es hundert Jahre nach dem blutigen Massaker im Palo Duro Canyon noch genug Platz gab für einige Tausend Menschen, die nichts anderes als in Freiheit leben wollten.

Apropos Hick. Nach einem kurzen Telefonat mit Brians Mutter ließ er Brian zu sich in sein Büro kommen. Er saß hinter dem Schreibtisch im Schatten eines riesigen Sternenbanners. Hinter ihm an der Wand hingen ein Portrait des Präsidenten der USA und der Spruch In God We Trust.

Er hatte einen Berg Papiere vor sich auf dem Schreibtisch. Als Brian eintrat, linste er kurz über die dicken Gläser seiner Brille hinweg zu Brian auf und murmelte etwas, was wahrscheinlich nur für seine eigenen Ohren bestimmt war.

Er ließ Brian dreieinhalb Minuten in absoluter Stille vor dem Schreibtisch stehen, während er die Papiere durchblätterte. Es waren Arbeiten von Brian und Berichte seiner Lehrer. Schließlich nahm er die Brille ab und blickte auf. Aus drei Metern Entfernung konnte er nicht schlecht sehen. Aber wenn einer im dritten Stock seinen nackten Hintern aus dem Fenster hält, konnte er später unmöglich sagen, wer es gewesen war.

„Hill“, sagte er, als hätte er Brians Namen eben erst in den Papieren entdeckt.

„Ja, Sir.“

„Es ist dir wohl bekannt, dass mich deine verehrte Frau Mutter angerufen hat.“

„Jawohl, Sir.“

„Du hast gute Eltern, Hill, auf die du stolz sein kannst.“

„Ich weiß, Sir. Ich glaube, ich werde später nie meine Jugend verantwortlich machen können, falls irgendetwas schief geht.“

Hick runzelte die Stirn. Man konnte direkt sehen, wie es dahinter in seinem Gehirn rumorte. Er versuchte zu ergründen, ob Brian ihn eben verarscht hatte, oder ob Brian tatsächlich über ein hochentwickeltes Verantwortungsbewusstsein verfügte, das ihn sorgenvoll an seine spätere Zukunft denken ließ.

„Du bist intelligent“, sagte Hick plötzlich aus seinen Gedanken heraus. „Du kannst es zu etwas bringen.“

Brian gab ihm darauf keine Antwort. Er hatte das schon tausend Mal gehört. Von allen möglichen Leuten.

„Aus sämtlichen Berichten deiner Lehrer geht hervor, dass dir eine große persönliche Belastung zu schaffen macht, Hill: deine Faulheit!“

„Sir, im Sport …“

„Deine Faulheit, Hill, hängt wie ein stinkender Hemmklotz an dir. Sie behindert deine intellektuelle Entfaltung. Sie ist eine Sperre, die dich nicht in den fünften Gang schalten lässt, wenn du verstehst, was ich meine. Man müsste dir ein gelbes Schild anhängen mit vier schwarzen Punkten drauf, damit jeder gleich erkennen kann, dass du ein Behinderter bist.“ Hick lehnte sich zurück. Er gefiel sich selbst, wenn er redete. „Wann, mein junger Freund, erhebst du dich und wirfst deinen Krückstock von dir?“

„Ich bin dabei, Sir. Mit der letzten Mathearbeit schaffte ich eine A+.“

Hick nickte in Gedanken versunken. Plötzlich beugte er sich vor und zeigte mit seinem dürren Finger auf ein Papier, randvoll mit einer nahezu unleserlichen Handschrift, die Brian als die seine erkannte.

„Du hast geschrieben, dass du ein Mensch bist, der über ein geistiges Kameraauge verfügt. Was meinst du damit?“