Die englische Ausgabe erschien 2017 unter dem Titel The City always wins bei Faber & Faber Ltd. in London.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e. V. – Literaturen der Welt.

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek

E-Book-Ausgabe 2018

© 2017, Faber & Faber Ltd., London

© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Graffito © DOTDOTDOT in collaboration with SINNSYKSHIT.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142344

Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803132949

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Omar Robert Hamilton arbeitet als Filmemacher und Essayist. Außerdem ist er Mitbegründer eines Aktivisten- und Medienkollektivs in Kairo und des Palestine Festival of Literature. Sein Debütroman Stadt der Rebellion erscheint gleichzeitig in mehreren Sprachen. Er lebt in Kairo und London.

Brigitte Walitzek lebt in Berlin und ist seit 1986 Übersetzerin, unter anderem von Margaret Atwood, Jane Bowles, Carson McCullers, Jeanette Winterson und Virginia Woolf.

Für Alaa

Es wäre ein besseres Buch geworden,

hätte ich mit dir reden können.

TEIL 1

MORGEN

 

Unterschätze nie die Weisheit naiver Menschen …

#25Jan Lang lebe die Revolution.

@Alaa

20:17 – 28. Jan. 2011

1

9. Oktober 2011

Vor einer Stunde hat sie aufgehört, die Toten zu zählen. Die Flure sind so voller Menschen, Wut und Trauer, dass eine Explosion unausweichlich ist. Überall Aufschreie über neue Verluste, aufgeregte Fragen, panische Gesichter, Anrufe unter Tränen. Sie sind tot, sie sind tot, sie sind alle tot. Die Leichenhalle des Krankenhauses ist überfüllt, sie ist für so etwas nicht ausgerichtet. Außer ihr sind zwölf Personen in diesem verschlossenen Krankensaal. Elf davon sind tot. Sie kann die Eltern durch die dicke Metalltür hören. Wir müssen sie jetzt beerdigen! Noch heute Nacht! Elf hier, mindestens vier werden noch erwartet, zehn in einem anderen Raum, wer weiß, wie viele es noch werden, wie viele Verletzte es gibt, wie viele immer noch vor der Armee fliehen? Der Leichenbeschauer ist unterwegs. Nur noch eine Stunde. Haben Sie bitte Geduld. Elf – und eine Frau, die auf dem Boden sitzt und mit tränenüberströmtem Gesicht die leblosen Finger eines Mannes an ihre Brust drückt. Seine Augen – ihr Ehemann, ihr Bruder, ihr Geliebter? – sind geschlossen, seine Kleider sind zerfetzt und blutig vom gezackten Metall der Panzerketten. Ein Tuch mit aufgesticktem Jesusgesicht bedeckt seine Brust. Elf hier drin, in diesem Raum, in dem es von Minute zu Minute heißer wird, wie viele werden noch kommen? Wie lange wird das Töten weitergehen? Wie lange werden wir noch in diesem Raum eingeschlossen sein, in dem die Luft dicker ist als jede andere Luft, und die bis ins letzte Atom aus Tod besteht? Eisblöcke schmelzen zwischen den toten Körpern der Gefallenen, Dünste steigen flüsternd vom Fleisch derer auf, die für immer zum Schweigen gebracht wurden. Sie atmet tief ein. Dieser Saal. Dieser winzige Saal, in dem man mit jedem Atemzug die Toten einatmet. Wir werden euch weitertragen. Wir werden euch in uns tragen. Atme ein. Nafas. Atme ein. Nafs. Die Geruchsmoleküle, die von euren Körpern aufsteigen, eure letzte Mitteilung an die Welt der Lebenden. Ich atme euch ein. Ich werde euch in mir tragen.

»Wir müssen sie jetzt beerdigen.« Die Stimme eines Mannes. Fetzen der lauten Auseinandersetzung dringen durch die Tür zu Mariam. »Gerechtigkeit ist etwas für das nächste Leben. Überlasst die Gerechtigkeit Gott. Wir müssen sie jetzt beerdigen.«

Atme ein. Nimm den Geruch nach Früchten, Schweiß und Staub deiner Brüder in dich auf, süß wie Blut, immer durchdringender mit der nahenden Verwesung. Bald wird die Sonne aufgehen. Atme ein. Wir sind jetzt zusammen. Wir werden dafür sorgen, dass sie hierfür bezahlen.

»Aber« – eine jüngere Stimme, höflich, angespannt – »ohne Autopsie haben wir keine Beweise, und dann wird die Armee alles abstreiten.« Mariam erkennt Alaas Stimme. Er war der Erste, den sie im Krankenhaus gesehen hat, das Gesicht genauso von Locken umrahmt wie im Fernsehen. »Wenn wir Gerechtigkeit wollen, brauchen wir die Autopsien.«

Atme ein. Bleib stark. Wir werden Gerechtigkeit herstellen. Bleib stark, bleib stark für diese Frau, deren Namen du noch nicht kennst, für ihre Tränen, für ihren Geliebten. Frag sie, wie sie heißt, ob sie etwas braucht. Sie braucht ihren Mann, will, dass er aufwacht. Lass sie in Ruhe. Eis. Wir brauchen mehr Eis. Wer weiß, wie lange wir es hinauszögern müssen, dass man diese Toten beerdigen kann. Atme ein. Atme die schwere Luft ein, die sich in deinen Lungen kräuselt, sich in deinen Bronchien festsetzt, sie für alle Zeiten mit dieser Nacht auskleidet. Diese Toten werden sich in etwas Unvergessliches verwandeln.

»Mit welchem Recht redest du von Gerechtigkeit? Welche Gerechtigkeit? Welche? Es wird niemals Gerechtigkeit geben, erzähl mir nichts von Gerechtigkeit, beleidige mich nicht mit deinen Worten. Mein Sohn ist tot. Mein Sohn liegt da drin, tot, und wir reden von Gerechtigkeit? Welche Gerechtigkeit gibt es denn schon? Für die Armen? Für die Schwachen? Für die Kopten? Es kann niemals Gerechtigkeit geben. Welche Gerechtigkeit? Wie willst du für Gerechtigkeit sorgen? Der Priester sagt, wir müssen sie jetzt beerdigen, vor Sonnenaufgang. Also vergiss deine Gerechtigkeit. Vergiss deine Autopsien. Wir müssen unsere Kinder beerdigen.«

»Bitte, lassen Sie uns Ruhe bewahren.« Eine andere Stimme, die einer Frau, leise, voller Autorität. »Mein Bruder liegt dort drin neben Ihrem Sohn, HaDritak. Das hier sind die Freunde der beiden. Sie haben ihnen vertraut. Sie haben gemeinsam für die Revolution gekämpft. Wir sollten auf sie hören.«

»Und was hat uns diese Revolution gebracht?«

Sie waren nach Maspero marschiert, zum staatlichen Fernseh- und Radiosender. Die Armee eröffnete das Feuer. Ohne Zögern. Zerquetschte Leute mit ihren Panzern. Wie viele Tote liegen in diesem Krankenhaus in irgendwelchen Zimmern? Wie lange, bis sie auch hier nach uns suchen? Vor dem Krankenhaus wartet eine verunsicherte Menschenmenge. Wird die Armee kommen, um sich die mit Stahl vollgepumpten Toten zu holen, und die Beweise verschwinden lassen? Mariam war vor den Schüssen davongerannt und hatte sich in einem Gebäude versteckt, dann den blutenden Körper eines jungen Mannes zu einem Auto geschleppt, auf den Rücksitz gelegt, ihr Shirt auf seine Wunde gedrückt und ihm gesagt, alles werde gut. Sie hatte ihn hierher gebracht, ins Koptische Krankenhaus, und dann hatte ein Arzt ihn übernommen und sie wie gelähmt im neonbeleuchteten Flur zurückgelassen.

»Mariam«, sagte eine Stimme. Die eines Arztes. Eines Freundes ihrer Mutter. »Alles okay mit dir? Ja? Komm bitte mit mir. Die Leichenhalle ist überfüllt. Wir benutzen jetzt einen Krankensaal. Ich brauche dort jemanden, der dafür sorgt, dass niemand reinkommt. Kann ich dich darum bitten?«

Vor dem Saal blieben sie stehen. Wenn sie durch diese Tür ginge, würde es kein Zurück mehr geben. Das Gesehene würde sich nicht ungesehen machen lassen. Sie drehte den Knauf.

Die Frau, die die Hand ihres Geliebten an ihre Brust drückt, hat sich nicht bewegt. Mariam zieht das Handy aus ihrer Tasche. Akku leer. Wo ist Khalil jetzt? Sie hat ihn zurückgelassen. Sie haben den verletzten Mann gemeinsam getragen, ihn ins Auto gelegt. Fahr, rief er. Ich find dich. Sie drehte sich noch einmal um und sah, wie er, das weiße T-Shirt braun vor getrocknetem Blut, wieder in die Erste-Hilfe-Station ging. Wo ist er jetzt? Irgendwo da draußen, bei den Familien der Toten? Geh und besorg dir ein Ladegerät, Wasser. Bring dieser Frau Wasser. Frag sie, ob sie etwas braucht. Nein, niemand kann ihr geben, was sie braucht.

Draußen gelingt es der Stimme der Frau, die mit leiser Autorität von Zugehörigkeit, Verlust und Geduld spricht, die Angehörigen allmählich zu überzeugen. Ja. Doch. Wir müssen kämpfen. Wir werden für Gerechtigkeit sorgen. Eine um die andere vereinen sich die Stimmen der Trauernden zu einem Chor eines gemeinsamen Ziels. Es wird kein schnelles Beerdigen von Leichen und Wahrheiten geben. Es wird Autopsien geben. Beweise. Gerechtigkeit.

Mariam tritt auf den Flur. Die Welt ist inzwischen ruhiger geworden. Die Sonne geht auf. Sie sieht sich nach Alaa um, kann ihn aber nirgends entdecken. Noch immer säumen Menschen, die rechts und links an den Wänden sitzen, den Flur und warten – auf den Leichenbeschauer, den Angriff oder was immer als Nächstes kommt. Auf der Suche nach Wasser geht sie den Flur entlang. Die Luft hier ist frischer, sie spürt, wie sie an ihren Wangen vorbeistreicht, ihre Lungen gieren danach, aber sie versucht, ihren Atem flach zu halten. Aus Respekt.

Im Hof des Krankenhauses sitzt eine junge Frau in einem schwarzen Hoodie, vor sich eine offene Plastiktasche voller Wasserflaschen.

»Kann ich eine davon haben?«, fragt Mariam.

»Ja, natürlich«, sagt die junge Frau und reicht ihr eine.

Mariam setzt sich auf eine niedrige staubige Mauer. Ein Stück weiter sitzt eine ältere, ganz in Schwarz gekleidete, völlig reglose Frau. »Ihr seid gute Kinder«, sagt sie in die Stille hinein, wie zu sich selbst. »Mein Sohn … vielleicht kennst du meinen Sohn? Er heißt Ayman. Er ist …«

Mariam wartet, sagt nichts.

Er ist da drin. Das weiß sie. Ayman ist da drin, unter dem Eis. Immer und immer wieder sind sie auf uns losgegangen. Jeden Monat, mit Knüppeln und Masken und Gewehren und Stiefeln und Kugeln, wieder und wieder und wofür? Mariam rückt näher an die Frau heran, legt sanft eine Hand auf ihre Schulter, als neue Tränen aufsteigen. »Mein Sohn … er … er hat gesagt, auf dem Tahrir ist er zum Leben erwacht.«

2

18. Oktober 2011

Die Fahrt mit dem Aufzug hinauf ins Büro ist beängstigend: der ruckelnde Aufstieg in den zehnten Stock jedes Mal ein Akt des Glaubens an eine höhere Macht. Aber das Risiko lohnt sich: wegen der klassizistischen Ausmaße von Holzböden und hohen Decken, wegen des hereinströmenden Lichts des Spätnachmittags, wegen des Balkons, von dem aus man die niedrigeren Gebäude der Altstadt und den Nil sieht, und dort, im Zentrum des Panoramas, die ewig schwelenden Ruinen des Hauptquartiers von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei, hinter dessen verkohltem Betonskelett die Sonne wie gemalt untergeht. Khalil liebt dieses Gebäude, liebt die Tatsache, dass es dort für die vielen zehntausend Menschen, die Tag für Tag daran vorbeifahren, als Zeugnis steht: als Zeugnis für alles, was möglich, und für alles, was vergänglich ist. Ein verkohltes Symbol unseres Sieges, unser Anti-Monument für die Zukunft. Eine riesige Plakatwand erhebt sich zwischen den ausgebrannten Ruinen. Unberührt von den Flammen wird der bedeutungslose Wahlslogan zu einem Versprechen: Für die Zukunft Ihrer Kinder. Welche Poesie die Stadt uns schenkt. Auf diesem Balkon singt ihm Kairo von überallher seine Geschichte zu. Der früher einmal moderne Internationalismus des Nile-Hilton, dessen breite, einladende Fassade auf die verschlossenen Gärten und ihre geheimnisvollen Ausgrabungen hinausgeht; das muskelbepackte Terrakotta des Ägyptischen Museums, das immer noch unverrückbar dasteht, trotz der Jahre des Grauens in seinem Inneren, angefangen bei schattenhafter Korruption und schamlosem Diebstahl bis hin zu den Peitschenhieben und Knüppelschlägen der Militärpolizei, die das Gebäude, und vor allem den Keller, besetzt hatte. Oder nach Osten, wo die Gebäude landeinwärts drängen und mit ihren modernistischen Balkonen und Flachdächern zum Chor des Talaat Harb Square vorstoßen und – Khalils Liebling – dem Gebäude mit dem hohen Mansardendach und der dramatischen Schräge der grauen Schindeln, das besser in den Regen von Köln als in die Hitze Kairos passen würde, aber schön auch hier, in dieser Stadt unendlicher Vermischungen und Metaphern. Kairo ist Jazz: lauter kontrapunktische Einflüsse, die miteinander um Aufmerksamkeit rangeln, gelegentlich brillante Solos, die sich hoch über den steten Rhythmus der Straße hinaufschrauben. Vergiss New York, von hier aus kann man die ganze Geschichte der Welt sehen, sie fließt hier an uns vorbei, im Nil, der von seinen Quellen aus nach Norden strömt und dann in die Gewässer verschiedener Imperien, und all die Brutalitäten und Schönheiten, die sie bringen, die sich aufrührerisch, trotzig und streitbar in etwas Neues, Undefinierbares und Unkontrollierbares verwandeln. Diese Straßen, angelegt, um Ordnung, Vernunft und soldatische Leitung der modernen Stadt widerzuspiegeln, sind inzwischen geprägt vom unermüdlichen Rhythmus der Hausierer, Straßenhändler, Autohupen und Benzinverkäufer, alle haben sie sich ihre Stadt angeeignet, mischen Vergangenheiten mit ihrer eigenen Gegenwart, bringen ein neues Jetzt aus Süden und Norden, Jung und Alt, Stadt und Land hervor – all das vereint sich und macht laut und schrill und mit einer unbegreiflichen Schönheit auf sich aufmerksam. Ja, Kairo ist Jazz. Kein Lounge-Jazz, nicht der kommerzialisierte Lobby-Jazz, der die Geschichte weißen will, sondern die Hitze von New Orleans und die Schlachthofabfälle von Chicago. Der Jazz, der Schönheit in der Zerstörung der Vergangenheit hervorbringt, der Jazz einer unbekannten Zukunft, der Jazz, der Freiheit von den schlimmen alten Zeiten verspricht.

Ja, denkt Khalil, das hier ist es. Die ganze Arbeit, die sie bisher in Cafés und bei jedem zu Hause und in Rosas Wohnung erledigt haben, kann hier jetzt gebündelt werden. Chaos – ihr Magazin, ihre Website, ihr Podcast – wird hier ein neues Zuhause finden. Er dreht sich um, geht vom Balkon wieder hinein und sieht Rania gegen zersplitterte Bodenbretter treten, ihre kleine Gestalt ganz in Schwarz gekleidet, die Haare an den Seiten modisch kurz geschnitten, ein Spinnen-Tattoo auf der linken Schulter.

»Was sollen wir hier?«, fragt sie, deren Stimme immer lauter ist als die aller anderen. »Die Spinnweben sind älter als das ganze Gebäude! Der Boden ist völlig morsch. Warst du schon in der Küche? Sieht aus, als wäre jemand dort abgeschlachtet worden.«

»Komm schon, Rania«, sagt Khalil. »Die Decken sind hoch, der Aufzug funktioniert und der Pförtner ist so alt, dass ihm alles egal ist. Es ist perfekt!«

»Hast du das Bad gesehen?«, gibt Rania zurück. »Garantiert spukt es da drin. Ich bin ja echt für Industrieromantik oder was auch immer, aber diese Bude wird über uns zusammenfallen. Wir haben für so was keine Zeit. Ich für meinen Teil hab keine Ahnung, wie man eine Wohnung instand setzt. Ich hab ja schon Probleme, einen Wasserkocher zu bedienen. Ich schalte ihn ein, und manchmal sitzt er einfach nur da und starrt mich an. Wir stecken mitten in einem Medienkrieg. Wir müssen arbeiten!«

»Aber sieh dir den Balkon an«, antwortet Khalil. »Wenn er erst mal sauber ist, wird die ganze Welt dort rumhängen wollen.«

»Wir wollen nicht die ganze Welt.«

»Wir wollen zumindest einen Teil davon.«

»Dann mach dich mal lieber bereit, es mit den Ratten aufzunehmen, weil es nämlich ihr Balkon ist. Weißt du, was passiert, wenn du eine Ratte in die Enge treibst? Hast du schon mal eine in die Enge getrieben?«

Hafez hört der Auseinandersetzung schweigend zu. Er lehnt im Türrahmen des Balkons und betrachtet die neue Aussicht. Wie immer ist er elegant gekleidet, die Haare kurz geschnitten, Brille mit modisch dicker Fassung, ein Taschenbuch in die Außentasche seiner dünnen Jacke gequetscht: Herodot, Joyce, Gramsci, nichts Besonderes. Nach zwei Jahren Arbeit an seiner Dissertation in London orientiert er sich unverkennbar am Edward-Said-Modell akademischer Gelehrsamkeit.

»Wollen wir nicht lieber im Greek Club weiterstreiten?«, schlägt er vor. »Da ist eine Party heute Abend, und ich muss so langsam ein bisschen vorglühen.«

»Meinetwegen«, sagt Rania. »Aber sag mir vorher doch bitte noch, wie wir dieses Riesending bezahlen sollen?«

»Crowdfunding«, antwortet Khalil. »Vermietung von einzelnen Räumen, ein Café. Rosa hat es durchgerechnet.«

Rosa leuchtet mit der Taschenlampe ihres Handys unter die Spüle in der Küche. Der Lichtstrahl fällt ungebrochen durch ein klaffendes Loch in den Kacheln. »Sieht aus, als hätte hier jemand Beweise entsorgt.«

»Super«, stöhnt Rania. »Sehr tröstlich.«

»Mach dir keine Sorgen«, antwortet Rosa. »Da draußen ist jede Menge Geld. Wir kriegen das schon hin.«

»Und wenn es doch knapp wird«, ergänzt Khalil, »können wir immer noch schwedische Fördermittel oder was weiß ich beantragen.«

»Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir keine Förderung wollen?« Ranias Stimme wird noch lauter, erfüllt den riesigen Raum. »Mein Gott, wenn ich euch auch nur eine Sekunde aus den Augen lasse! Schwedische Fördermittel, sagt er! Schwedische! Erst drängst du uns eine Wohnung auf, die wir nicht bezahlen können, die von einer Armee von Ratten beherrscht wird und in der es keine funktionierenden Toiletten gibt. Und wenn wir den Vertrag unterschrieben haben und die Rechnungen uns über den Kopf wachsen, schleppst du uns Botschafter Björn oder Kulturattaché Helmut an, mitsamt einem Haufen Antragsformularen. Weißt du, was passiert, wenn du anfängst, Fördergelder anzunehmen?«

»Entspann dich, ich hab doch nur Spaß gemacht.«

»Also, wie sieht’s aus?«, wirft Hafez ein. »Gehen wir in den Greek Club?«

»Ich muss arbeiten«, wehrt Khalil ab.

»Woran?«

»Maspero.«

»Scheiße. Kannst du das nicht morgen machen?«

»Es hätte schon vor Tagen fertig sein sollen.«

»Hättest du Lust, morgen mit mir rauszufahren? Raus aus Kairo?«

»Wohin?«

»Ich hab einen Tipp bekommen. Anscheinend verleiht die Armee Rekruten an die Farm eines Geschäftsmanns. Ich will versuchen, ein paar Fotos zu machen. Rekruten, Mann. Verdammt, das ist Sklaverei.«

»Nur wenn ich mit dem Schnitt fertig werde.«

»Das kannst du doch morgen früh machen. Heute Abend gehen wir auf die Party, du legst dir einen schönen kreativen Kater zu, und ich hole dich gegen Mittag ab. In Ordnung?«

»In Ordnung, Hafez.«

»Selbst in Ordnung. Jetzt hast du mir ein schlechtes Gewissen gemacht.«

Rania sieht sich noch einmal im Raum um und öffnet den rostigen Stromverteilerkasten. Zwei kleine Spinnen huschen heraus. »Da habt ihr’s. Aber gut, ich sag nichts mehr.«

3

Ein ganzes Universum kann von einem Blick abhängen, einer Zigarette, einem Scherz.

Als Erstes hörte er ihre Stimme. »Wir gehen nirgendwohin«, schrie sie.

»Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht.« Die Stimme des Offiziers war laut, fest. »Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht, und jetzt reicht es. Wenn Sie jetzt bitte …« Er deutete auf die Straßen, die in die Altstadt zurückführten. Er trug eine Sonnenbrille, natürlich, obwohl es mitten in der Nacht war. Fünfzehn Männer mit Sturmmasken bildeten einen Halbkreis hinter ihm. Aber Mariam hatte keine Angst. »Wir gehen nirgendwohin, solange die Forderungen der Revolution nicht erfüllt sind!«

Die Wangenmuskeln des Offiziers verkrampften sich angesichts dieser Unverschämtheit. »Und was«, fragte er kalt, den Blick starr auf Mariam gerichtet, »würde Sie dazu bringen, nach Hause zu gehen?«

Sie zögerte keinen Augenblick: »Die Verhaftung von Ahmad Schafiq und all seiner Minister. Für den Anfang.«

Einer der Soldaten rollte mit den Schultern, bewegte den massigen, offenbar steifen Hals hin und her. Irgendjemand rennt immer als Erster. Wenn eine Büffelherde zusammenbleibt, ist sie unangreifbar. Aber die Wölfe streichen um die Ränder herum. Das Knacken von Tasern erfüllte die Luft. Die Menge brach auseinander. Die Wölfe nahmen die Verfolgung auf.

Die hohen gelben Straßenlaternen, die unter den hastigen Schritten der Rennenden erzittern, die Rufe der auseinanderspritzenden Menge, die Soldaten mit ihren Gewehren und Knüppeln: alles nichts im Vergleich zu ihrer zur Faust geballten Hand, die sich, während sie rennen, rhythmisch neben ihm hebt und senkt, und alles, was er sehen kann, ist die nahende Entscheidung.

Eine ganze Zukunft entsteht durch die Berührung einer Hand. Eine ganze Welt, die möglich gewesen wäre, wird zerstört.

Und jetzt ist sie hier, lebt mit ihm zusammen, liegt neben ihm im Bett und liest die Nachrichten auf ihrem Handy.

»Frühstück?«, fragt er.

»Klar«, antwortet sie.

»Soll ich dir zeigen, wie man ein Ei brät?«

»Nicht heute.«

»Jeder muss doch wenigstens eine Sache kochen können.«

»Ich kann kochen.« Sie legt das Handy hin.

»Und was?«

»Toast.«

»Toast hat nichts mit Kochen zu tun.«

»Er muss heiß werden.«

»Heiß ist nicht genug.«

»Hitze verändert ihn aber, also ist es Kochen. Außerdem kann ich ein Ei braten.«

»Irgendwann machen wir Pasta.«

»Ich hasse Pasta.«

»Du hasst Pasta?«

»Weil man nicht weiß, ob sie aus einer Armeefabrik kommt.«

Ihr Handy summt, sie greift danach.

Rania: Zurzeit sechs aktive Streiks. Wir sollten als Nächstes eine Sonderepisode dazu bringen.

»Rania findet, wir sollten eine Episode über die Streiks bringen.«

»Ich dachte, wir fahren raus, um was über die Befreiung von Suez zu machen?«

»Ich weiß. Aber das können wir jederzeit. Die Streiks finden jetzt statt.«

»Klar. Ich besorg uns Frühstück.« Er steht auf, zieht seine Hose an.

Im Aufzug denkt er wieder an jenen Moment, als sie Hand in Hand rannten und sich dann in den dunklen, fast zugewucherten Türeingang eines Gebäudes drückten. Khalil nickte dem alten Pförtner zu. Sie ließ ihre Hand in seiner, als sie durch die spiralförmigen Schatten der Treppe nach oben stiegen, ein einziger gelber Lichtstrahl fiel durch die staubigen Fenster.

Er blieb stehen, drehte sich zu ihr um. »Du heißt Mariam, oder?«

Sie zog ihre Hand aus seiner. »Woher weißt du das?«

»Ich war im Camp auf dem Platz in deiner Nähe. Ich muss … ich muss gehört haben, wie jemand deinen Namen gesagt hat.«

Sie saßen auf dem Balkon, beobachteten, wie die Soldaten nun langsam wieder zurück in Richtung Tahrir gingen. »Arschlöcher«, sagte Mariam und schnippte ihre Zigarette über die Balkonbrüstung.

Dann drehte sie sich zu ihm um. »Und? Was machst du so?«

»Eine Zeitlang hab ich als Stringer gearbeitet«, sagte er. »Du weißt schon, als einer, der ausländische Journalisten rumführt, mit Leuten in Kontakt bringt, für sie übersetzt und was nicht alles.«

»Und dann?«

»Dann kam die Revolution.«

»Und?«

»Und jetzt will ich einen Radiosender aufbauen.«

»Wirklich?« Sie klang interessiert. »Und wie willst du das anstellen?«

Nachdem sie einmal angefangen hatten zu reden, konnten sie nicht mehr aufhören. Als die Soldaten sich verzogen hatten, sagte sie, sie müsse ihre Freunde suchen, blieb aber in der Tür noch einmal stehen. »Und?«, fragte sie. »Wie kommt es, dass wir uns nicht schon auf dem Tahrir kennengelernt haben?«

»Weil meine Freunde zu nichts zu gebrauchen sind.«

»Du hättest ja auch von selbst Hallo sagen können.«

»Findest du es denn gut, auf Demos angebaggert zu werden?«, sagte er lächelnd, und sie lachte.

4

27. Oktober 2011

Eine Insel aus Weiß schwebt hell erleuchtet auf einer fernen Plakatwand, und mit etwas Mühe kann sie die Worte erkennen: »WIR MÜSSEN UNSERE KINDER SO ERZIEHEN, DASS SIE WERDEN WIE DIE JUNGEN MENSCHEN IN ÄGYPTEN« – BARACK OBAMA. Sie empfindet einen leisen Anflug von Stolz, unterdrückt ihn aber sofort wieder. Scheiß auf Obama. Und scheiß vor allem auf Mobinil, die diesen Satz für ihre Werbung benutzen. Sie geht rein. Sie hat Anrufe zu erledigen. Der Tag ist einfach nicht lang genug. Listen. In ihren Taschen finden sich immer irgendwelche Listen auf irgendwelchen Zetteln, ihre Jeans sind stets voller Tintenflecke von billigen Kugelschreibern. Der Tag ist einfach nicht lang genug. Wenn sie zu viel darüber nachdenkt, über die Unmengen an Arbeit, die vor ihr liegen, über diese grenzenlose Stadt voller Verletzungen und Narben und Bedürfnisse, die nie erfüllt werden können, alles, wofür es zu kämpfen gilt, und alles, was gewonnen werden muss, wenn diese Gedanken überhand nehmen, dreht sich ihr der Kopf. Sie hätte Ärztin werden sollen, es gibt keinen Zweifel am Wert von Ärzten, wie können beide Eltern Ärzte sein und die Tochter nicht? Einen Moment lang wird ihr schwindlig, sie hält sich am Geländer fest und senkt den Blick hinunter auf den Boden, wo eine lange Ameisenprozession über die staubigen Kacheln zieht, ihre Lebensaufgabe liegt klar vor ihnen: das Tragen eines Blatts; Hunderte pflichtbewusster Arbeiter schuften unermüdlich bis zu ihrem Ende, ohne ihr Tun zu hinterfragen, arbeiten zum Wohl aller. Ein Leben voller Listen und Internetseiten und schlafloser Nächte kann niemals bewirken, was ein Arzt an einem einzigen Tag bewirkt. Aber was hätte sie anderes tun können? Ihre Mutter mit ihren kostenlosen Sprechstunden alleinlassen, um in Minya zu studieren? Ihren Vater um Hilfe bitten, um die glückliche Erleichterung auf seinem Gesicht zu sehen, weil er ihr jetzt doch einen Studienplatz an einer privaten Universität kaufen konnte? Nein, es gab keine andere Möglichkeit. Sie ist eine Organisatorin, eine Maschine, eine Macherin. Also mach. Und zwar jetzt. Du hast Glück. Du wurdest hierfür geboren. Sie spürt die Papiere in ihrer Tasche, zieht Kraft aus den Listen, den aktiven Streiks, den zu erledigenden Anrufen, den bevorstehenden Protesten, den Ereignissen, die publik gemacht werden müssen, den großen Projekten und den flüchtigen Gedanken, den Leuten, an die sie sich erinnern, den Büchern, die sie lesen, den Fertigkeiten, die sie sich aneignen muss. Und aus den Ideen für Aktionen. Sie wirft einen letzten Blick auf die Stadt. Du bist nicht allein. Tahrir ist überall. Die neuen Verbindungen, die gelernten Lektionen sind eine unaufhaltsame Flutwelle der Möglichkeiten.

Ihr Handy summt –

Brillante neue Episode von @ChaosCollective. Unbedingt anhören.

Von @ChaosCollective zusammengestellte Beweise zu den Toten von Maspero sollten Internationalem Gerichtshof vorgelegt werden.

Da sie das Handy schon einmal in der Hand hat, geht sie auf Twitter –

Heute, 11:00. Erstes Treffen zur Diskussion von Plänen für neuen Radiosender.

Essam Atta wurde von Polizei zu Tode gefoltert und –

Klick. Das Handy ist aus. Ein Reflex. Sie ist noch nicht bereit für einen weiteren Märtyrer. Sie muss sich erst wappnen.

Website und Podcast sind eingerichtet und in Betrieb, ein monatliches gedrucktes Magazin ist in Arbeit. Jede Woche produziert Mariam die Show, Rania führt die Interviews, Khalil zeichnet sie auf und schneidet alles zusammen, Rosa schreibt die Überleitungen und säuselt ihr samtiges Señorita-Love-Daddy-Intro: »Hallo, geliebte Befreite auf den Straßen unserer Revolution, heute bringen wir euch Neuigkeiten von der Front, Musik aus dem Underground und den politischen Beat, den ihr braucht, um durch die Woche zu kommen.« Die Maspero-Episode wurde 70 000 Mal runtergeladen und von fast jedem unabhängigen ägyptischen Fernsehsender übernommen, die Analyse der Militärkugeln wurde von einem Dutzend ausländischer Zeitungen aufgegriffen, jeden Tag hat der Chaos-Twitter-Feed tausend neue Follower.

Aber was, wenn die Leute nicht mehr auf die Straße gehen? Neun Monate sind vergangen, seit Mubarak zurücktreten musste und die Armee die Macht übernommen hat, und alle sind erschöpft von den ständigen Sit-ins und den kleineren Schlachten des Sommers. Es gibt Wut, das steht außer Frage. Aber wenn Maspero nicht der Funke ist, was dann? Wie viele müssen noch sterben? Wann werden die unbesiegbaren Massen auf die Straße zurückkehren?

Nein. Die Revolution ist unaufhaltbar. Chaos wird Nachrichten verbreiten, Analysen, Taktiken und Triumphe aus Bahrain, Libyen, Jemen, Syrien, Palästina. Wir fangen mit den Ländern des Arabischen Frühlings an, weiten aus auf die ganze arabische Welt und dann? Wer weiß. Sie können nicht mit uns mithalten, einer Armee aus Samsungs, Twitter-Feeds, HTCs, E-Mails, Facebook-Events, privaten Chat-Gruppen, iPhones, Anrufen, SMS-Nachrichten, die sich Millionen Mal pro Sekunde vernetzen. Eine Armee von unendlicher Beweglichkeit – unmöglich auszumanövrieren. Das Einzige, was sie können, ist, den Stecker zu ziehen, die Leitung zu kappen. Und die ganze Welt hat gesehen, was passiert ist, als sie das versuchten. Sie haben keine Optionen mehr. Wir haben einen nicht zu überbietenden taktischen Vorteil. »Teile und herrsche« gilt nicht mehr, weil wir nicht mehr geteilt werden können. Wie wollen sie uns kontrollieren, wenn wir uns endlich alle sehen, miteinander reden, gemeinsam planen können? Erst auf Arabisch, dann mit dem Rest der Welt auf Englisch. Das Imperium sät seine eigene Niederlage.

Sie haben den Stecker gezogen, und wir haben sie bekämpft, wir haben ihre Polizeiwachen niedergebrannt, wir haben sie aus unseren Städten verjagt. Sollen sie ruhig noch einmal kommen. Sie haben jetzt Angst vor uns.

5

16. November 2011

»Schaut euch das an«, sagt Khalil und wendet sich den französischen Dokumentarfilmern zu. »Ich liebe dieses Viertel. Die Leute kriegen nichts, aber auch gar nichts vom Staat, aber schaut’s euch an: Die Straßen sind sauber, die Häuser gestrichen, überall Pflanzen. Alle können sich sicher fühlen.«

Die Straßen sind so lang, so gerade und so schmal, dass man das Ende nicht sehen kann. Hohe rote Backsteinmauern neigen sich nach vorne und bilden schattige Straßenschluchten, die kaum breit genug sind, um ein Auto durchzulassen. Ein Tuk Tuk zuckelt an ihnen vorbei. Khalil nimmt Blickkontakt zu einem alten Mann auf, der vor seinem Laden sitzt und einladend auf zwei leere Stühle deutet. Khalil legt dankend die Hand auf die Brust und fährt fort.

Kairo: die Stadt der Zukunft, die neue Metropole voller Pflanzen, die kaskadenartig über die Kanten von mit Sonnenkollektoren bestückten Dächern hinabstürzen, breite Alleen mit weißgetünchten Gebäudefassaden, sorgfältig restaurierte Häuser neben baulichen Innovationen, und alles singt gemeinsam in einem Chor aus Neu und Alt. Bürgerinitiativen werden bald in den verlassenen architektonischen Schätzen der Altstadt ein neues Zuhause finden, auf dem Fluss wird reger Nahverkehr herrschen, die schattigen Flächen unter Brücken und Überführungen werden zu gemeinschaftlich genutzten Anlagen erblühen, durch Straßenbahnen verbunden mit ausgezeichneten Schulen, sauberen Krankenhäusern, gut sortierten Buchhandlungen und allen zugänglichen Parks. Die Revolution hat begonnen, und Tag für Tag ersetzen die Menschen in dieser Superkolonie aus Zement, die in den Jahrzehnten staatlichen Versagens durch die Intelligenz des Kollektivs zusammengehalten und vor dem Zusammenbruch bewahrt wurde, das Regime durch ihre Energie und Eigeninitiative. Irgendetwas hier, in Kairos Mischung aus Dauerhaftigkeit und Frömmigkeit und Nähe, verbindet die Menschen miteinander. Hier hat Gesellschaft noch einen Wert, denkt er, hier gibt es noch echte Nachbarschaftlichkeit.

»Ich finde nicht, dass die Straßen so besonders sauber aussehen«, murmelt der Regisseur, schiebt die Sonnenbrille in seine weißen Haare und sieht sich misstrauisch um.

Khalil wendet sich von ihm ab. Das hier ist nur ein Job, sagt er zu sich selbst. Du bist nur ihr Stringer. Du musst dich nicht mit ihnen anfreunden. Jeden Tag treffen neue Journalisten, Filmemacher und Künstler ein. Mit nichts kann man im Augenblick leichter Geld verdienen als mit der Arbeit eines Stringers. Zwei Aufträge pro Monat decken die halbe Miete für das Chaos-Büro ab. Er geht ihnen voran.

Als die Graffitidichte zunimmt, weiß er, dass sie in der Nähe sind.

DIE REVOLUTION GEHT WEITER

NIEDER MIT DER MILITÄRHERRSCHAFT

MÄRTYRER BASSEM GOUDA, HELD VON MAADI 

Sie gehen die schmale Treppe hinauf. Von oben ist das Gemurmel eines Fernsehers zu hören. Leise, respektvoll geht er die Stufen hinauf, die zur Wohnung des Märtyrers führen. Der Fernseher wird lauter.

Ja, Alaa ist weiterhin standhaft und weigert sich vehement, die Fragen eines Militärgerichts zu beantworten …

Die Tür oben ist offen, ein einziges Paar Schuhe steht davor. Khalil zieht seine aus und bedeutet den anderen, es ihm nachzutun. Er klopft an die Tür, erhält aber keine Antwort. Kein Licht brennt, nur der Fernseher läuft.

Als Zivilist muss sein Fall vor einem Zivilgericht verhandelt werden. Tausende Ägypter wurden bereits von Militärgerichten verurteilt, aber erst Alaas Verhaftung hat das Augenmerk nun auf diese Tatsache gelenkt.

Durch den schmalen Flur wirft er einen Blick ins erste Zimmer. Abu Bassem sitzt vor dem Fernseher, ein Telefon in der Hand, zwei weitere auf einem kleinen Tisch vor sich.

»Abu Bassem?«, sagt Khalil. Seinen richtigen Namen weiß er nicht, er ist überall einfach nur als Abu Bassem bekannt, Bassems Vater.

»Ach ja.« Abu Bassem winkt sie herein. »Treten Sie ein. Einen Moment nur. Kommen Sie herein. Ich schreibe gerade einen Tweet, damit die Leute sich diese Sendung ansehen.«

Während Abu Bassem noch mit Handy und Fernseher beschäftigt ist, nehmen die Besucher in dem beengten Raum Platz und beobachten ihn schweigend. Er ist schmal, aber drahtig, die Trauer zeigt sich nur in seinen Schultern.

Über Abu Bassem, in der Mitte des kleinen Zimmers, hängt ein Hochglanzposter. BASSEM GOUDA: MÄRTYRER DER REVOLUTION. Die Augen des jungen Märtyrers blicken durch die Kamera hindurch, er ist zum Schutzheiligen seines eigenen Zuhauses geworden.

Alaa weiß, dass die ganze Welt zusieht und das Land hinter ihm steht, und das gibt ihm Kraft.

Einen Moment später gibt der Regisseur ein missmutiges Brummeln von sich und sieht demonstrativ auf seine Uhr. Aber Abu Bassem konzentriert sich immer noch auf den Fernseher. Das ganze Land redet über Alaa, seinen Widerstand gegen die Armee, seine Verhaftung, die baldige Geburt seines ersten Sohnes. Abu Bassem sagt kein Wort, bis das Interview mit Manal, Alaas Frau, zu Ende ist.

»Tut mir leid. Einen Tee vielleicht? Eine Pepsi?«

»Vielen Dank, wir brauchen nichts«, antwortet Khalil. »Wie ich schon am Telefon gesagt habe, sind diese Männer vom französischen Fernsehen. Sie möchten etwas über Ihren Sohn hören. Und wenn es Ihnen recht ist, möchte ich das Gespräch aufzeichnen, um es online zu stellen.«

»Natürlich.« Abu Bassem sitzt würdevoll unter dem Poster seines Sohnes.

Hinter ihnen baut der Kameramann auf.

»Also … wo fangen wir an?«

»Wir wollen natürlich einfach was über seinen Sohn hören!«, erklärt der Regisseur auf Englisch, in den Raum hinein.

»Wir finden es wichtig«, übersetzt Khalil und positioniert sich zwischen Abu Bassem und dem Regisseur, »zuerst etwas über Ihren Sohn zu erfahren, über sein Leben.«

»Mein Sohn war ein großartiger Junge. Ein großartiger Junge. Immer hilfsbereit. Er hat mir immer geholfen. Hat immer gelächelt. Wenn wir ihn um etwas gebeten haben, hat er es sofort gemacht. Er konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden.«

Die Würde Abu Bassems ist fast unerträglich. Er weint nicht, flucht nicht, schwört keine Rache. Aber er ist auch nicht gebrochen. Khalil kommt sich irgendwie vor wie ein Tier, im Vergleich zu dem älteren Mann, der so still ist, dass er das Gefühl hat, für ihn zornig sein zu müssen, für ihn weinen und um Worte ringen zu müssen.

»Mein Sohn wollte Musiker werden. Mit dem Computer. Er und seine Freunde haben mehrere Songs geschrieben.«

»Was sagt er?«, flüstert der Regisseur Khalil ins Ohr.

»Er spricht über seinen Sohn«, antwortet Khalil.

»Sag ihm, dass er erzählen soll, wie er getötet wurde.«

»Immer mit der Ruhe«, murmelt Khalil, aber Abu Bassem hat schon aufgehört zu reden. »Es tut mir leid« – Khalil konzentriert sich wieder auf ihn. »Bitte, fahren Sie fort.«

»Mein Sohn hat sich gegen Mubarak erhoben, für die Rechte von uns allen. Er war schon am fünfundzwanzigsten dabei, nicht erst am achtundzwanzigsten, wie die anderen von der Muslimbruderschaft. Er wollte nicht, dass seine Kinder so chancenlos aufwachsen wie er.«

Khalil betrachtet Bassems Poster, sieht in die Augen, die in die Welt blicken, und fragt sich, ob er ihn gesehen hat. Am achtundzwanzigsten Januar. Dem Tag, an dem wir die Polizei auf der Qasr al-Nil Bridge schlugen. Vielleicht standen sie in der Menge sogar nebeneinander. Da war ein junger Mann. Das erste Leben, das Khalil an diesem Tag verlöschen sah. Zwei Zentimeter weiter links, ein Windstoß, ein Blick auf die Uhr – der unvorhersehbare Unterschied zwischen Leben und Tod.

»Was sagt er?«, flüstert der Regisseur.

»Erzähl ich später«, antwortet Khalil. »Sie sagen also, Bassem war kein Mitglied der Muslimbruderschaft. Und seine Freunde?«

»Nein, seine Freunde auch nicht. Aber ich und sein Onkel sind Mitglieder.«

»Verstehe.«

»Ich habe immer gehofft, er würde sich uns anschließen, wenn er ein bisschen älter ist. Vielleicht bei den Wahlen. Aber er hatte seinen eigenen Kopf. Kennen Sie seine Musik? Ich verstehe sie nicht wirklich, aber seine Freunde … Wollen wir vielleicht ins Internetcafé gehen?«

»Möchtet ihr ins Internetcafé seines Sohnes gehen?«, fragt Khalil den Regisseur.

»Nein, wir müssen uns beeilen.«

Plötzlich fühlt sich Khalil zutiefst fremd unter diesen Leuten, ein Reiseführer, der das Unglück anderer zu Geld macht, ein billiger Vergil, der Fremde durch das Märtyrer-Labyrinth der Stadt geleitet.

»Es tut mir leid«, sagt er auf Arabisch zu Abu Bassem. »Diese Leute haben einen langen Tag hinter sich. Aber ich würde Sie gern begleiten.«

»Was hast du zu ihm gesagt?«, fragt der Regisseur fast aggressiv. Khalil spürt, wie ihm das Blut in den Kopf schießt.

»Dass ich gern mit ihm ins Internetcafé gehe.«

»Ich habe doch gesagt, wir haben dafür keine Zeit!«

»Ihr habt keine Zeit.«

»Unsere Versicherung deckt uns nicht ab, wenn wir so spät noch hier sind.«

»Hier?«

»Ja, hier. In einem Viertel wie diesem.«

»Dann solltet ihr jetzt lieber gehen«, sagt Khalil.

Er wendet sich wieder Abu Bassem zu. Er versteht genug Französisch, um ein paar Beleidigungen mitzubekommen.

»Es tut mir leid«, sagt Khalil noch einmal. »Sie haben einen Anruf bekommen und müssen dringend über etwas anderes berichten. Sollen wir gehen?«

Abu Bassem erhebt sich, schüttelt Hände und begleitet die Franzosen zur Tür, durch die sie hastig verschwinden. Khalil spürt, wie sein Herzschlag sich verlangsamt, fühlt sich allmählich wieder sauber. Er wird nicht mehr als Stringer arbeiten. Zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren haben wir es nicht nötig, unsere Geschichten nach Frankreich oder England oder Amerika zu verkaufen. Wir werden alles hier gewinnen oder verlieren.

»Haben Sie es denn nicht eilig?«, fragt Abu Bassem.

»Wenn Sie es nicht eilig haben, habe ich es auch nicht.«

Abu Bassem hängt sich bei Khalil ein, und gemeinsam gehen sie langsam aus der Wohnung, die Treppe hinunter und die langen Straßen der Erinnerung entlang.

»Am Morgen des achtundzwanzigsten haben wir uns gestritten. Ich hatte Probleme mit dem, was er tat. Aber er war nie unhöflich oder respektlos. Er konnte gut mit Menschen umgehen. Das konnte er. Ich habe ihn angefahren, habe etwas Gemeines gesagt. An dem Tag, an dem er starb. Ich muss jeden Tag daran denken. Wir wollen einfach nur, dass er als Märtyrer anerkannt wird. Es wird erst dann Gerechtigkeit geben, wenn diese Straße nach ihm benannt wird.«

ABU BASSEM

Er zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis oben hin zu, bindet sich ein Tuch um den Hals, öffnet leise die Wohnungstür und geht die Betonstufen der dunklen Treppe hinunter, vorbei an dem Graffito, das seine Welt mit traurigem Stolz erfüllt. Er geht durch die schmalen Straßen, hält sich dicht am Rand, um den Winterpfützen auszuweichen, die in der kraterähnlichen Mitte vor sich hinmodern, bis die Sonne wieder zum Vorschein kommt, geht denselben Weg, den er jetzt jeden Tag einschlägt. Er weiß, er weiß, er weiß, dass er es nicht so oft tun sollte. Dass er sein Leben wieder in den Griff bekommen muss. Dass er die, die er noch hat, lieben und beschützen muss. Noch nicht. Bald, aber jetzt noch nicht. Wir werden dafür sorgen, dass unsere Straße nach dir benannt wird. Er wendet sich nach links. Die nackte Glühbirne hängt über der Tür. Er geht hinein und setzt sich in die dritte Nische, die tiefste, die abgeschiedenste. Er nickt dem Jungen zu, der an einem angestoßenen alten Laptop sitzt und den Gruß respektvoll erwidert. Er legt die Hand auf die Maus und beginnt mit den erlernten Bewegungen. Zweimal auf den orange-blauen Kreis klicken, den Pfeil hochziehen zu dem weißen Feld ganz oben, noch einmal klicken und tippen. Zwei Worte, die er vor Monaten gelernt und deren Bedeutung er nie hinterfragt hat. Wenn der Bildschirm sich verändert, auf das erste große englische Wort drücken: YouTube. Als Nächstes zieht er das zusammengefaltete Stück Papier aus seiner Brieftasche und tippt, einen nach dem anderen, die englischen Buchstaben ein: kiko mahragan. Und Bassem erscheint, das Gesicht ernste Falten gelegt, die Mütze ein kleines bisschen schief. Die rechte Hand deutet in Richtung Kamera, die linke Hand hält ein Mikrofon, der junge Mann, der Musiker, sein Sohn. Das Bild bewegt sich nicht, lässt sich nicht bewegen, es ist einfach nur da, und dahinter erklingt die Musik, Bassems junge Stimme, von einer Maschine so verzerrt, dass sie kaum noch zu erkennen ist, aber sie ist da, und dieselben Gefühle wie immer brechen über ihn herein, und seine Brust zerspringt fast vor Trauer und Stolz und Zorn.

6

Der Junge im Video bewegt sich nicht. Sein Blut hat sich auf dem Pflaster schwarz verfärbt. Niemand weiß, was zu tun ist. Niemand kennt seinen Namen.

Khalil drückt auf Pause, bewahrt den Moment in der Intimität seines Tonstudios mit der Rolle Dämmwolle, die von der Decke hängt, dem breiten Holzschreibtisch mit den zwei Mikrofonen und Mariams VISIT- PALESTINE-Poster darüber. Er atmet tief ein, bevor er die Kopfhörer aufsetzt. Der Dirigent vor seinem Orchester. Noch einen Augenblick, dann wird er sich die Tondateien eine nach der anderen anhören, sie nach Höhepunkten durchsuchen und mit groben, brutalen Schnitten in seine fünf Kategorien einordnen: wichtig, zweitrangig, atmosphärisch, Motivwechsel, Effekt. Fünf Farben für fünf Säulen, aus denen er das Klanggebäude der Woche errichten wird. Fünf Farben, die den Hörer dazu bringen sollen, Abu Bassems Schmerz zu sehen, sich seiner Mahnwache anzuschließen. Er drückt noch einmal auf Play. Inzwischen wissen wir, wie er heißt. Er heißt Bassem.

Er spürt das Gewicht der Hand des alten Mannes auf seinem Arm, und in seinem Herzen erklingt eine alte Musik:

I’ve been in

the storm

so lo-ong

Der Plattenspieler in der mit Linoleum ausgelegten Ecke. Die lange verbotenen LPs. Der alte Mann allein in seinem Labyrinth. Eine lautlose Kugel, ein zersplitterter Schädel, ein Anruf aus dem Leichenschauhaus.

Khalils Vater ging zum Studium nach Amerika und kam nie wieder zurück. Er sollte Geiger werden, seine Eltern schickten ihn an die Juilliard, damit er sich, fernab von der grundlegenden Unvorhersehbarkeit des Lebens in Nablus, ganz auf seine Karriere konzentrieren konnte. Alles verlief nun in ruhigeren Bahnen. Gewissheiten wurden geschaffen. Aus Nidal wurde Ned.

Sie sprachen nie darüber. Über Palästina. Zuhause. Sie sprachen überhaupt nie richtig über irgendwas. Nur über die Musik. Die Musik und die Empfindungen, die sie dabei teilten. Die Musik erklärte für Nidal mehr, als Worte es jemals gekonnt hätten.

Khalil sieht das Internetcafé, das einsame Licht in der dunklen Gasse, bemerkt, wie vorsichtig Abu Bassem auftritt, spürt seinen Arm und fragt sich, ob er, und sei es auch nur für einen Augenblick, die Stelle seines Sohnes einnehmen kann. Bassem wacht über uns alle. Der Märtyrer ist ein Zeuge, der von der Ungerechtigkeit spricht, die er sieht. Er stellt sich gegen die Gewalt und wird von ihr besiegt. Rachel Corrie vor ihrem Minotaurus.

»Und jetzt werden wir gefragt, wieso wir immer noch protestieren. Von Leuten, die glücklich sind und essen und heiraten und sich verhalten, als wäre niemand für sie gestorben, als ob da draußen nicht weiterhin Menschen für sie protestierten und für sie verprügelt würden. Diesen Leuten kann ich nur eines sagen: Fragt uns nicht, wieso. Mein Sohn ist für sie gestorben, und jetzt werde ich für sie sterben, und alle auf dem Tahrir werden für sie sterben – also sagt nicht, dass es Zeit ist, ruhig zu sein, sagt nicht, wir sollen nicht protestieren, sagt uns nicht, dass wir zu Hause bleiben sollen, fragt uns nicht, wieso. Für wen sterben wir denn? Für uns selbst? Wir haben hier gelebt und waren glücklich und alles. Und wir sterben, um das Töten und die Korruption zu stoppen. Wir sterben, weil wir Respekt wollen. Wir sterben für Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Und wir sterben für euch. Fragt uns also nicht, wieso. Bitte. Bleibt ruhig zu Hause. Aber morgen werden sie euch antun, was sie uns angetan haben. Oder Schlimmeres. Weil genügend Leute es zulassen. Bleibt zu Hause, esst, ruht euch aus, habt ein schönes Leben und wartet ab, was morgen mit euch geschieht.«

Der Märtyrer stirbt für das Zeugnis, das er ablegt, und du, Abu Bassem, bist der shahed deines Sohnes, des shaheed, bist der Zeuge des Märtyrers, derjenige, der sich nicht zum Schweigen bringen lässt, derjenige, der die Wahrheit sieht und spricht.

Eine simple Kirchenorgel, die ein paar ganz gewöhnliche Töne anschlägt, um die Leute auf sich aufmerksam zu machen. Dann erhebt sich die Stimme –

I’ve been in

the storm

so lo-ong

Khalil hört die Musik im Kopf und lässt den Tag, an dem er versuchte, von seinem Vater etwas zu erfahren, noch einmal ablaufen. Palästina. Wie ist es? Es war eine einfache Frage, doch sie wussten beide, wie die wirkliche Frage lautete: Wieso ist es nicht unser Zuhause? Und die Antwort, der Blick, der tiefe Zug an der Zigarette, die Pause. Sein Vater stand aus dem Sessel auf, knöpfte seine schäbige Weste zu, strich sie glatt und ging zum Plattenspieler. Es gibt nicht nur eine Antwort, hatte er gesagt. Khalil sah das Plattencover, ein Schwarzweißfoto von Reverend Franklin. Schweigend hörten sie zu, wie die Stimme des Reverend sich mit seinem Chor vereinte und jenen tiefen Ton langempfundenen Schmerzes hielt, bevor sie hinabstürzte in Klagen an Gott. Die Stimme, schwer wie ein Berg, erfüllte das Zimmer mit den Niederlagen und Verlusten ganzer Generationen.

I’ve been in

the storm

so lo-ong

Khalils Finger schweben über der Tastatur, warten auf seine Musik. Er wird sich das Video noch einmal ansehen. Ein Windstoß, eine Drehung des Kopfs, schwarzes Blut auf dem Asphalt, die Kälte der Leichenhalle. Heute bin ich Brutalist und baue logische Blöcke ein, die nicht infrage gestellt werden können: Nachrichten, Interview, Musik, Abspann. Heute bin ich Modernist und zerschneide die Segmente, um versteckte Wahrheiten durch katalytische Kombinationen aufzudecken. Heute bin ich Romantiker, und das musikalische Spektakel wird über der Logik des Interviews und der Faktentreue der Nachrichten thronen. Heute werde ich deine Musik finden.

I’ve been in

the storm

so lo-ong

children

Die fluoreszierende Leere im Zimmer eines toten Sohnes.

Sein Vater, die Einsamkeit der Schneelandschaft und die stille Zelle. Abwesenheit, ein leeres Fluoreszieren.

I’ve been in

the storm

so lo-ong

Oo-o-o-oh

Lord, give me little time

to pray

7

17. November 2011

»Du musst helfen, Mariam, du musst. Er hat die Wand von Umm Aymans Haus bemalt und sie haben ihn mitgenommen und wir wissen nicht wohin und sein Telefon ist aus und du musst uns helfen sie haben ihn letzte Nacht mitgenommen und wir haben es erst heute Morgen gemerkt und wissen nicht wo er ist du musst helfen, Mariam, ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Ist ja gut, Tante, beruhig dich«, sagt Mariam. »Alles wird gut. Erzähl mir alles, was du weißt, und wir finden ihn. Wo genau wurde er denn verhaftet?«

Keine Stunde später stürmt Mariam die Stufen zur Polizeiwache Qasr al-Nil hinauf, dicht gefolgt von Rania und Malik, einem Anwalt. Ohne das geringste Zögern tritt sie vor den jungen Beamten, der an dem ziemlich mitgenommenen Schreibtisch in der Eingangshalle sitzt.

»Sie halten jemanden rechtswidrig fest.«

»Was? Wer sind Sie überhaupt?«