Nickolas Butler

Die
Herzen
der
Männer

Aus dem Amerikanischen von
Dorothee Merkel

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Hearts of Men« im Verlag HarperCollins/Ecco, New York

© 2017 by Nickolas Butler

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: ANZINGER und RASP, München

unter Verwendung eines Fotos von Arcangel

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98313-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11010-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

I. Teil Sommer, 1962
Der Trompeter

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

17 

18 

II. Teil Sommer 1996
Stardust Supper Club & Lounge

19 

20 

21 

22 

23 

24 

25 

26 

27 

28 

29 

30 

31 

32 

III. Teil Sommer 2019
Orientierungslauf

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34 

35 

36 

37 

38 

39 

40 

41 

42 

43 

44 

45 

46 

47 

IV. Teil Herbst 2019
Die Drakensberge

48 

Danksagung

Für meine Mutter und alle Mütter,

die ihrem Kind ein Buch zu lesen geben.

Für meinen Vater,
der sein Bestes getan hat.

Und für Regina,
die Königin des Nordens.

Dort, wo erloschene Sterne sich schassten,

verprassten, verblassten –

Dort, wo niemand ein Versprechen hielt.

Oh, und eins noch. Ich sende meine Liebe,

Gleich wie weit es ist und wie lange es dauert –
durch das Licht,

Durch die Zeit, durch alle Treulosigkeit der Menschen.

Dear Miss Emily, James Galvin

Hab Vertrauen, du altes Herz. Was ist das Leben schon
Anderes als Sterben.

Known To Be Left, Sharon Olds

I. Teil Sommer, 1962

Der Trompeter

1

DER SIGNALTROMPETER BRAUCHT keinen Wecker. In der modrig dumpfen Dunkelheit des Zeltes ertastet er mit seinen zierlichen Händen die Streichholzschachtel und streicht mit einem der blauen, schwefeligen Köpfe an der Schachtel entlang, bis das Streichholz Feuer fängt und das goldene Petroleumlicht der Laterne entfacht. Im nächsten Moment lodert der Docht wie eine Lunge, die in hellen Flammen steht. Der Trompeter gähnt und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Im neu geschaffenen Licht sucht und findet er seine Brille und kann nun auch die vertrauten Einzelheiten seines Zeltes erkennen, sieht die Schatten, die in den Ecken lauern, und seine eigenen Habseligkeiten. Als er die Zeltklappe öffnet, schreit eine Eule vom Wipfel eines nahe stehenden Ahornbaumes herab. Der Junge zittert in der frühmorgendlichen Kälte. Ohne Schuhe und Strümpfe huscht er leichtfüßig über die ausgetretenen Pfade des Lagers. Am Waldrand zieht er sich die weiße Unterhose herunter und pinkelt schlotternd und in weitem Bogen in die unsichtbaren, hochgewachsenen, alles erduldenden Farnwedel. Es ist ein schönes Geräusch. Wie Regenwasser, das auf eine Zeltplane prasselt. Dann kehrt er wieder ins Zelt zurück, in dem es nun dank der Flamme der Coleman-Laterne sehr viel wärmer geworden ist. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn bis zum Morgengrauen ist es nicht mehr weit.

Nelson, der in der Truppe aus dreißig Jungen der Jüngste ist, schläft allein. Seine Habseligkeiten sind ordentlich in kleine Haufen aufgeteilt: Socken, Unterwäsche, kurze Hosen, Bücher. Hemden und lange Hosen hängen an einer Leine, die er am Zeltpfahl in der Mitte befestigt hat. Morgens ist er dankbar dafür, allein zu sein. Abends jedoch hallen Lagerplatz und Wald vom leisen Gemurmel der anderen Jungen wider, man hört ihr helles Kichern und ihre nächtlichen Gespräche, und das erinnert ihn an seine eigene Einsamkeit. Es ist der fünfte Sommer, den er nun schon ins Camp Chippewa fährt, und der zweite Sommer, in dem er ein Zelt ganz für sich allein hat. Manchmal schleicht er sich um Mitternacht hinaus, um dem Schattentheater zuzuschauen, das die anderen Jungen mit ihren Taschenlampen veranstalten. Er hört zu, wie sie die Seiten ihrer Comichefte umblättern, wie sie mit der Plastikfolie ihrer Schokoladenriegel rascheln, und riecht den Rauch ihrer heimlich ins Lager geschmuggelten Zigaretten. Sein Vater hat ihm halbherzig angeboten, das Zelt mit ihm zu teilen, doch beiden, Vater und Sohn, wurde schnell klar, dass diese Geste letztendlich etwas Peinliches hatte. Nein, es war besser für Nelson, wenn er allein blieb. Vielleicht würde er irgendwann im Laufe der Woche noch einen Zeltnachbarn bekommen, einen anderen jungen Pfadfinder, der schlimmes Heimweh hat oder von den anderen ausgegrenzt wird und der nun eine Zuflucht braucht. Ein Junge, der versehentlich seinen Schlafsack eingenässt hat. Nelson würde bereit sein. Bereit, sein Hab und Gut auf eine Seite des Zeltes zu beschränken, bereit, ein zweites Feldbett aufzustellen, er würde hilfreich, freundlich, höflich, liebenswürdig und stets munter und vergnügt sein.

Nun holt er einen aus Birkenrinde geflochtenen Korb aus seinem Zelt und trägt ihn zu der von rußvernarbten Steinen umgebenen Feuerstelle des Lagers. Es scheint fast so, als würde der Leinwandstoff der Zelte, an denen er vorübergeht, von den in die Nacht hinausbrandenden Schnarch- und Traumlauten leicht hin und her wogen. Am Himmel ergießt sich die Milchstraße über das Kronendach des Waldes – lauter winzige Löcher im Firmament, so funkelnd und violett wie Amethyste oder so blassblau wie das Herz eines Gletschers. An der Feuerstelle bückt er sich und hält seine zierlichen Hände über die Glut der letzten Nacht. Die Restwärme strahlt von seinen Handflächen ab und durchdringt die weichen Polster seiner Fingerspitzen. Er kniet sich hin, beugt sich über die Feuerstelle und bläst mit der Kraft seiner vom Trompetenspiel geübten Lunge in die Glut. Nach ein oder zwei Minuten geduldigen Pustens glimmt das Feuer in einem schläfrigen Rot. Er nimmt ein wenig getrocknetes Gras und ein paar Tannenzapfen aus dem Korb und legt den Zunder in die Kohlen. Dann bläst und bläst er, bis endlich das Feuer auflodert, in kleinen Flammen, wie die Blütenblätter einer urzeitlichen Orchidee, die sich nur des Nachts entfaltet. Der Zunder gerät in Brand, und jetzt greift er mit beiden Händen in den Korb, um mehr Zweige, mehr Tannenzapfen herauszuholen. Das Feuer steigt immer weiter in die Höhe.

Er richtet sich auf, geschmeidig, hellwach, und macht sich daran, das Holz zu einem Tipi aufzuschichten, nimmt jetzt größere Zweige, bis das Feuer laut knistert und die Dunkelheit vor sich hertreibt, zurück in das Kronendach des Waldes, wo die Eule leise davonflattert, fort von den aufgewühlten Funken und den lodernden Tannenzapfen, deren Feuer sich weit in den frühmorgendlichen Himmel hinaufreckt. Nelson geht zu den Picknicktischen, um den verrußten, mit Asche und Teeröl überzogenen Teekessel zu holen. Er schüttelt ihn, hört jedoch kein Plätschern. Also geht er den ganzen weiten Weg bis zu seinem Zelt und kehrt mit einer schweren Feldflasche zu dem nun prasselnden Feuer zurück. Er füllt den Kessel und setzt ihn auf den Feuerrost, um das Wasser zum Kochen zu bringen. Dann erlaubt er es sich, endlich auszuatmen. Er war schon seit jeher gut darin, ein Feuer in Gang zu bringen.

Nelson hat keine Freunde. Weder hier, im Camp Chippewa, noch zu Hause in Eau Claire, in seiner Nachbarschaft oder in der Schule. Es ist ihm bewusst, dass dies mit den Verdienstabzeichen zu tun hat, mit denen seine Schärpe gespickt ist – bislang sind es genau siebenundzwanzig, was ihm den Rang eines Stern-Pfadfinders verleiht. Es ist nicht unbedingt so, dass das Erringen von Abzeichen uncool ist, aber das Tempo und die Entschiedenheit, mit denen er seine Schärpe mit immer mehr Gewichten behängt hat, erwecken Neid, um nicht zu sagen Mitleid. Seine Unbeliebtheit hat möglicherweise auch mit seiner Brille zu tun, obwohl es genauso gut an seiner Unfähigkeit liegen könnte, einen Basketball zu dribbeln oder im Football einen gut gezielten Pass zu werfen – oder, was noch schlimmer ist, an der geradezu reflexartigen Geste, mit der er seinen Arm im Klassenzimmer in die Höhe schnellen lässt, um eine Frage zu beantworten. Nelson mag die Schule, ja, genießt sie sogar, strebt nach der Anerkennung seiner Lehrer, nach der wohltuenden Überraschung in ihren Gesichtern, wenn er mit irgendwelchen obskuren historischen Details aufwarten kann, die mit Intrigen im Rechtssystem oder selten vorkommenden Elementen des Periodensystems zu tun haben. Es gelingt ihm nicht, den Finger auf den wunden Punkt zu legen, auf diesen einen Bestandteil seiner Persönlichkeit, auf ebendieses Sosein, das er ändern müsste, um mehr Freunde zu gewinnen. Aber er wünscht sich sehnlichst, er könnte es. Wünscht sich, seine Vormittage und Nachmittage wären nicht auf einsame Spaziergänge durch die Flure der Schule beschränkt oder auf endlose Patience-Spiele an den verwaisten Tischen der Cafeteria. Andererseits, vielleicht ist das ja genau der Mensch, der er ist, und niemand sonst. Manchmal, wenn er sich mutig fühlt, geht er ganz in diesem Gedanken auf, stellt sich vor, er sei ein einsamer Wolf ohne Rudel, der durch die Welt wandert, so frei, wie man nur sein kann, ein autonomes Waldwesen.

Bei der Party anlässlich seines dreizehnten Geburtstags saß er im Garten, an einem glühend heißen Sonntagnachmittag im Juni, und wartete auf die Ankunft der übrigen Mitglieder seiner Pfadfindertruppe, wartete darauf, dass sie mit ihren Luftgewehren und Mützen aus Waschbärenfell kommen würden und mit ihren Geschenken, deren Papier vom sommerlichen Schweiß ganz feucht geworden und an einigen Stellen vielleicht schon gerissen wäre. Am Abend zuvor hatte er es sich wider alles bessere Wissen erlaubt, die Stapel von Geschenken vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen zu lassen: Bücher und Modellflugzeuge, Baseball-Sammelkarten und Süßigkeiten.

Auf einem der Beistelltische stand ein riesiger Glaskrug mit Limonade, der so heftig in Schweiß ausgebrochen war, als würde er gerade einem brutalen Verhör unterzogen. Der Teller voller Törtchen mit Zuckerguss war bereits wieder im Kühlschrank verschwunden, nachdem er lange genug draußen gestanden hatte, um die unwillkommene Aufmerksamkeit zahlreicher Hornissen und Fliegen auf sich zu ziehen. Seine Mutter hatte ihm dabei geholfen, jedem einzelnen Jungen einen ganzen Monat im Voraus eine Einladung zu schicken. Doch der Nachmittag zog sich immer weiter in die Länge, und kein einziger Junge kam. Also nahm er sich seinen Bogen und verbrachte Stunden damit, einen Pfeil nach dem anderen in die grellen Primärfarben einer Zielscheibe zu schießen, die am Baumstamm der prächtigsten Ulme des Gartens prangte.

Während des Abendessens fiel es ihm schwer, seine Tränen zurückzuhalten, und als sie dann kamen, flossen sie ihm heiß und ungestüm an den sonnenverbrannten Wangen herab. Seine Mutter und sein Vater saßen ihm am Gartentisch gegenüber und sahen zu. In der feuchten Luft des Juniabends klebte die rotweiß karierte Baumwolltischdecke an den aus Mammutbäumen gezimmerten Tischplanken. Zwei Luftballons rahmten die Tafel zu beiden Seiten ein. Sie hingen an ihren Plastikschnüren und machten in der drückenden Sommerluft nicht die geringste Bewegung, vollführten nicht einmal die winzigste Drehung. Seine Mutter kam um den Tisch herum, setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter.

»Ich verstehe das nicht«, schluchzte er. »Wir haben ihnen doch Einladungen geschickt! Vor Wochen schon! Wo sind sie denn alle? Wo bleiben sie nur?« Es lag bestimmt nicht in seiner Absicht, dass seine Stimme in einem solchen Heulton aus ihm herausbrach, aber sie tat es, höher und schriller als die des achtjährigen Nachbarsmädchens, das just in diesem Moment am Haus vorbeihüpfte, ohne Schuhe und Strümpfe, sein geliebtes Springseil hinter sich herziehend. Genauso gut hätte er das gesamte Helium einatmen können, das die alles andere als festlich wirkenden Ballons enthielten, die zu beiden Seiten seines Kopfes schwebten.

»Oje«, sagte seine Mutter und versuchte, ihn zu beruhigen. »Es ist Sommer. Bestimmt sind sie alle zu ihren Wochenendhäusern oder in die Ferien gefahren. Und du hattest doch einen wunderbaren Tag, nicht wahr? Hier, im Garten, mit deinem Vater und mir? War es nicht ein herrlicher Tag? Und da gibt es ein paar Geschenke, die du noch gar nicht ausgepackt hast, nicht wahr, Clete?«

Sein Vater sah zu ihnen hinüber, durch seine unendlich dicke Brille hindurch, deren Gläser so trüb waren wie Quarzgestein. Er schlug mit der Hand nach einer Hornisse, die im Zickzackkurs seinen Kopf umkreiste.

»Also, Nelson«, sagte er ausdruckslos, »dieses Geplärre – also dieses Geplärre hier … Jetzt sag ich dir mal was, und das mag hart klingen, aber das ist es nicht. Diese Jungen, diese sogenannten Freunde von dir? Die werden schon ganz bald wieder aus deinem Leben verschwinden. Das kann ich dir versichern. Das tun sie immer. Schau mich zum Beispiel an. Ziehe ich fröhlich mit irgendwelchen Kumpels durch die Gegend? Nein. Es kommt immer eine Zeit, da musst du es ganz alleine schaffen, verstehst du, und vielleicht ist diese Zeit ja jetzt da, so leid es mir tut, das zu sagen.« Er räusperte sich ungehalten.

Doch der Junge weinte nur noch mehr, trotz all seiner Bemühungen, die heißen Tränen und den Schluckauf zu unterdrücken, der ihm vor lauter Kränkung, Einsamkeit und Scham in die Kehle stieg.

»Jetzt ist Schluss mit dem Geheule!«, fuhr Clete ihn an. »Du bist dreizehn Jahre alt, Nelson! Männer tun so etwas nicht – du hörst sofort auf zu heulen! Ist das klar?«

»Lass ihn doch«, sagte Nelsons Mutter, in einem strengeren Ton, als Nelson ihn jemals zuvor von ihr gehört hatte. Dorothy Doughty wagte es nur selten, das Urteil ihres Mannes anzufechten. »Der arme Junge. Lass ihn in Frieden.«

Während des vergangenen Jahres war Nelson aufgefallen, dass eine gewisse Spannung in der Luft lag, eine gewisse Beklemmung, deren Ursache er nur auf sich selbst zurückführen konnte. Irgendetwas stimmte nicht. Türen wurden zugeschlagen, mit zunehmender Häufigkeit und Lautstärke. Vater kam abends spät zum Essen nach Hause und marschierte dann direkt ins Schlafzimmer oder ließ sich in seinen Sessel im Wohnzimmer fallen. Mutter weinte still, während sie das Geschirr spülte, und wenn er sie fragte, was los sei, eilte sie sofort ins Bad, verriegelte die Türe, und die einzige Antwort, die er bekam, bestand aus dem Rauschen des Wassers, das ins Waschbecken floss. Im Garten verlor der früher so makellos gepflegte Teppich aus Rispengräsern seinen stetigen Kampf gegen Löwenzahn und Gundelrebe.

»Aber es stimmt doch, Dorothy. Und das weißt du genau! Nenn mir eine einzige Freundin von dir aus der Schule, die du auch heute noch triffst. Eine einzige.«

»Clete, hier geht es nicht um mich – und um dich auch nicht, im Übrigen. Das ist Nelsons Tag, und der arme Junge –«

»Ich sage dir jetzt mal, wo du Freundschaften schließt. Freundschaften schließt man in der Armee, im Schützengraben und an der Front. Mit Männern, die sich für dich vor eine Kugel werfen, die mit dir ihre letzte Zigarette und den letzten Tropfen Wasser aus ihrer Feldflasche teilen. Es geht hier nicht um Geburtstagskuchen und Kerzen, Nelson. Mit jemandem befreundet zu sein, das bedeutet Loyalität. Lebenslange Treue. Du kommst jetzt bald in ein Alter, in dem dir das immer klarer werden wird. Nicht mehr lange, und es wird keine Spielsachen und keinen Kuchen mehr geben, keine Partys und auch keine Freunde. Dann gibt es nur noch einen Tag nach dem anderen. Die Tage werden sich so gleichförmig aufeinanderstapeln, dass du dich am Nachmittag nicht mehr daran erinnern kannst, was du am selben Morgen noch zum Frühstück gegessen hast. Es tut mir leid, dir das an deinem Geburtstag sagen zu müssen, aber so ist es eben. So sieht die Realität aus.«

Nelson wurde einen Moment lang ganz still. »Ich dachte, sie mögen mich«, heulte er dann wieder los. »Wenigstens ein bisschen. Genug, um zu meiner Geburtstagsparty zu kommen. Und keiner bringt es fertig, wenigstens kurz hier aufzutauchen? Keiner!« Es erschien ihm unmöglich, die Lautstärke seiner Stimme zu kontrollieren. Sie war wie ein grellgelber Luftballon, der sich losgerissen hatte und in den Himmel hinauftrudelte.

»Ach, mein Schatz«, sagte seine Mutter und zog ihn enger an sich. Ihre beiden Körper glühten vor Hitze, und er spürte, wie ihre Kleider zusammenklebten, spürte, dass sein eigener Körper nicht mehr klein genug war, um von ihr in dieser Weise umarmt zu werden, und doch schien ihm sein Herz nicht groß genug, als dass es dieses Zerbrechen hätte verkraften können, diese Zurückweisung. »Ich liebe dich so sehr«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich liebe dich so, so sehr.«

»Ich will doch nur, dass man mich mag. Bin ich denn kein netter Mensch? Bin ich das etwa nicht

»Aber natürlich bist du das, Nelson. Natürlich bist du das.«

»Bin ich das nicht? Bin ich kein netter Mensch, Mama?«

»Jetzt lass sofort dieses Gejammer sein!«, befahl Clete. »Jetzt sofort!«

»Hör nicht auf den alten Meckerfritzen, Nelson«, gurrte sie. »Wir können hier zusammen sitzen bleiben, solange du willst. Alles Liebe zum Geburtstag, mein süßer kleiner Junge.«

»Es tut mir leid, dass ich weine«, brachte er heraus. »Ich will ja eigentlich gar nicht weinen. Ich will das überhaupt nicht.«

»Ist schon okay, mein Schatz.«

»Hör auf!«, schrie sein Vater. »Hör mit dem Geheule auf!« Seine Stimme war so schneidend wie der Finger, den er seinem Sohn ins Gesicht hielt, als zielte er mit einer Pistole auf ihn. Vor lauter Schweiß glitt ihm seine Brille am Hang des Nasenrückens herab. Und dann sprang er plötzlich auf die Füße, schnallte seinen Gürtel auf und versuchte, das klebrige Leder aus den in der Hitze ganz feucht gewordenen Gürtelschlaufen seiner Baumwollhose zu ziehen. Er riss so heftig daran, als wollte er den Motor eines Rasenmähers anwerfen, aber der Gürtel blieb an seiner Taille haften und seine vor Schweiß glitschige Brille fiel ihm aus dem Gesicht auf den grünen Plastikrasen, mit dem die Veranda ausgelegt war.

»Clete, nein!«, rief seine Mutter. »Clete, nicht heute, okay? Nicht doch, Clete!«

Die Lektionen, die Clete Doughty seinem Sohn erteilte, hatten in letzter Zeit eine neue Intensität gewonnen, was dazu führte, dass Dorothy einen Teil der Gewalt, die für Nelson gedacht war, abfing. Diese Entwicklung erschreckte sie alle drei, sogar Clete, der einmal mit zitternden Händen und bebender Unterlippe über ihrem Körper gestanden hatte, der neben der Küchenspüle auf die Erde gestürzt dalag.

Doch jetzt peitschte der Gürtel hervor wie eine Giftschlange. Seine Schnalle leuchtete bedrohlich im schwindenden Nachmittagslicht, der Dorn stach in die Höhe wie ein einzelner Reißzahn, und Clete Doughty ließ ihn durch die Luft knallen wie eine Bullenpeitsche. »Hör mit dem Geheule auf, junger Mann, hörst du? Ich werde das nicht länger dulden!«

Nelson schrumpfte im Schoß seiner Mutter immer mehr in sich zusammen, so schmerzlich seiner Größe bewusst, des Abgrunds, an dem er stand – so dicht vorm Heranwachsen, so kurz davor, ein Mann zu werden, und doch nur ein Junge, immer noch nur ein Junge, der sich duckte und jammerte, an der Brust seiner Mutter, der auf den Hieb wartete … Aber er wird mich doch sicher nicht hier schlagen, hier in ihren Armen, nicht hier …

In letzter Zeit waren diese Prügel immer häufiger vorgekommen. Wenn es nicht der Gürtel war, dann musste ein hölzerner Löffel herhalten oder ein sorgfältig ausgewählter Zweig der Trauerweide, die im Garten der Nachbarn wuchs. Nelson hatte noch nie zuvor einen Baum gehasst, geschweige denn eine ganze Baumart, bis auf diesen Weidenbaum; bis sein Vater ihn dort hingeschickt hatte, um just die Waffe auszusuchen, mit deren Hilfe er seinen Hintern so wund schlagen würde, dass er die folgenden beiden Nächte nur noch auf dem Bauch liegend schlafen konnte. Dabei war es auch nicht hilfreich, eine brüchige Rute zu wählen, denn sein Vater nutzte diese so lange, bis sie zersplitterte, und verlangte dann eine andere.

»Hallo? Entschuldigung?«, ließ sich in diesem Moment eine zögerliche Stimme hören. Der Klang kam aus Richtung der Garage, von der Einfahrt her, und war so unerwartet wie das Klingeln eines Telefons oder als würden alle Glocken der Stadt gleichzeitig läuten.

Die Sonne, die bisher so unendlich heiß im westlichen Himmel gehangen hatte, schien nun ihren Schmelzofen ein wenig herabzukühlen. Auf dem Vogelfutterplatz im Garten landete ein Kardinalspaar und begann zu singen, als hätte es dem Gast, der in der Auffahrt stand, als Eskorte gedient. Clete strich sich das Haar aus der Stirn und bückte sich, um seine Brille aufzuheben, während Dorothy ihre Umarmung löste und aufschaute. Nach und nach beruhigte sich das hektische Heben ihres Brustkorbs.

Auch Nelsons Weinen ließ nach, doch wie? Wie, wie war dies möglich?

»Oh, es tut mir leid«, sagte Jonathan Quick und kam jetzt hinter der Hausecke hervor. »Es tut mir … schrecklich leid, dass ich so spät komme.«

»Ach, das ist doch überhaupt nicht schlimm, Jonathan!«, sagte Dorothy. »Du kommst gerade rechtzeitig für ein Stück Kuchen und Eiscreme!«

Nelson putzte sich hastig die Nase und wischte sich die Augen. Wunder über Wunder! Jonathan Quick, Pfadfinderstammesführer, fünfzehn Jahre alt und schon einen Meter achtzig groß. Mitglied der Schulschwimmauswahl, feste Größe im Footballteam, Shortstop in der Baseballauswahl, Mitglied des Gesangsvereins und der Modelleisenbahner. Jonathan Quick, der nun in Nelsons Einfahrt stand und eine Schachtel in der Hand hielt. Sie war in Zeitungspapier eingepackt, das mit lauter Cartoons bedruckt war, und obendrauf prangte eine rote Schleife. Jonathan warf einen verstohlenen Blick in Nelsons Richtung und hielt das Geschenk, als wäre es eine heiße Kartoffel, die er nur zu gern an jemand anderen weiterreichen würde.

»Na so was«, sagte Clete. »Jonathan. Was für eine nette Überraschung.« Der Gürtel kroch heimlich wieder um seine Taille, während Clete um den Gartentisch lief und Jonathan seine Hand entgegenstreckte. »Wie schön, dass du dich zu uns gesellst.«

»Ich möchte mich wirklich entschuldigen«, sagte Jonathan und schien nun fast schon wieder unmerklich den Rückzug anzutreten, die Einfahrt hinunter, in der er eben erst erschienen war. »Ich kann nicht lange bleiben, wissen Sie. Im Garten meiner Oma ist letzte Nacht ein riesiger Ast abgebrochen und ich habe ihr versprochen, dass ich noch vorbeischaue, um das ganze Chaos wegzuräumen. Ich wollte ja auch eigentlich viel eher hier sein, aber mein jüngerer Bruder Frank ist heute von ein paar Bienen gestochen worden und wir mussten ihn ganz schnell ins Krankenhaus fahren. Ich hatte ja keine Ahnung, dass man gegen Bienen allergisch sein kann. Wusstest du das, Nelson?«

Nelson war so glücklich, in dieser Weise von Jonathan Quick zur Kenntnis genommen zu werden, dass ihm die vielen Tränen, die er eben noch vergossen hatte, plötzlich vollkommen gegenstandslos erschienen. »Hast du Lust, ein paar Pfeile zu schießen?«, platzte es aus ihm heraus.

»Äh … na klar«, sagte Jonathan. »Aber – wie gesagt, ich kann nicht besonders lang bleiben. Wegen meiner Oma und so.«

Nelson hätte Jonathan am liebsten an die Hand genommen, während er ihm in den Garten vorausging. Clete sackte, immer noch vor Wut kochend, auf einem der Stühle in sich zusammen und stopfte sich ein gefülltes Ei nach dem anderen in den Mund, mit wild mahlendem Unterkiefer. Dorothy strich derweil mit zitternden Händen das Tischtuch glatt. Strich immer und immer wieder darüber, als wären ihre Handflächen zwei heiß dampfende Bügeleisen.

Nelsons Geburtstagsgast blieb etwa fünfundzwanzig Minuten. Genug Zeit, um ein paar einigermaßen gut gezielte Pfeile abzuschießen und zusammen mit Nelsons Eltern – wenn auch recht verkrampft – Happy Birthday zu singen. Genug Zeit für ein Stück Kuchen und eine Kugel geschmolzenes Vanilleeis. Genug Zeit, damit Nelson das Geschenk öffnen konnte und einen Korb aus Birkenrinde darin vorfand.

»Das habe ich selbst gemacht«, sagte Jonathan. »Für dich.«

Nelson umfasste den Korb andächtig mit seinen Händen. »Das hast du für mich gemacht?«, stotterte er.

»Ja, tut mir leid, dass er nicht ganz so dicht geflochten ist, aber … Ich habe nur zwei davon gemacht. Deiner war der erste.« Er wurde rot, weil ihm so unversehens die Wahrheit herausgerutscht war. »Den anderen habe ich meiner Oma geschenkt«, fügte er feierlich hinzu, obwohl er seinen zweiten Versuch in Wahrheit Peggy Bartlett geschenkt hatte, einem Mädchen, von dem er hoffte, es im Oktober zum Schulball einladen zu können.

»Oh, das ist ja wunderschön!«, rief Dorothy und klatschte ein-, zwei-, dreimal leicht in die Hände. »So ein begabter junger Mann!«

»Tja, dann«, sagte Jonathan und schüttelte Nelson die Hand. »Alles Gute zum Geburtstag, alter Kumpel.«

»Danke«, sagte Nelson, der immer noch den Korb bestaunte. »Vielen, vielen Dank!«

Und dann flüchtete der ältere Junge die Einfahrt hinunter, während Nelson reglos stehen blieb und den Korb in Händen hielt. Wie leicht er doch war und wie unregelmäßig geflochten. Nelson fragte sich, womit er ihn wohl füllen könnte, fragte sich, was wohl bedeutsam genug war, um der beispiellosen Großzügigkeit seines älteren Freundes gerecht zu werden.

Er stellte den Korb auf den Gartentisch, neben die Geschenke, die seine Eltern für ihn gekauft hatten: eine neue Hose, ein Bausatz, aus dem man eine tatsächlich funktionierende Uhr bauen konnte, und ein Kinderbuch über den amerikanischen Bürgerkrieg. Aber es war der Korb, zu dem sein Blick immer wieder zurückkehrte. Eine unvollkommene, bezaubernde kleine Krone.

2

DER KESSEL ZISCHT. Nelson nimmt ihn vom Feuer, trägt ihn rasch zu seinem Zelt und schüttelt ihn in Richtung seiner Uniform, sodass das heiß sprudelnde Wasser und der fauchende Dampf in den olivgrünen Stoff einziehen. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Methoden, mit denen man Kleider bügeln kann, wenn man kein Bügeleisen zur Hand hat, und in einigen von ihnen ist Nelson schon sehr geübt. Eine andere Methode, die er vorzugsweise benutzt, besteht darin, das zerknitterte Kleidungsstück mit Essig zu bespritzen. Dies hat jedoch zur Folge, dass sowohl Uniform als auch Pfadfinder eine recht penetrante Geruchsnote verbreiten, und er hat ohnehin schon Mühe genug, Freunde zu finden.

Zwei Mal rennt er mit dem Kessel zwischen Lagerfeuer und Zelt hin und her und hüllt das Hemd und die kurze Hose, die an der Leine hängen, in eine Dampfwolke ein. Endlich stellt er befriedigt fest, dass sich seine Uniform nun in einem makellosen Zustand befindet. Und weil sich im Osten der Horizont bereits leicht aufzuhellen beginnt, macht er sich auf den anderthalb Kilometer langen Weg zum Paradeplatz, der sich in der Mitte des Camp Chippewa befindet. Währenddessen hat er genug Zeit, seine Lippen aufzuwärmen und auf der Trompete zu üben, ohne dabei befürchten zu müssen, seine Truppe oder die Truppenführer oder auch seinen Vater aufzuwecken. Letzterer hat sich bereit erklärt, für den einwöchigen Aufenthalt im Camp Chippewa als Aufsichtsperson zu fungieren, obwohl Nelson ihn kaum jemals in dieser Funktion hat tätig werden sehen. Sein Vater zieht es vielmehr vor, nach jeder Mahlzeit zum Zeltplatz zurückzukehren, sich dort an einen der alten Picknicktische zu setzen und eine Biografie des Baseballspielers Gabby Hartnett zu lesen, der für die Chicago Cubs gespielt und Eingang in die Hall of Fame gefunden hat. Oder er beschäftigt sich damit, die verknotete Angelschnur zu entwirren, die sich beständig um ihre Spule zu wickeln scheint. Er solidarisiert sich auch kaum jemals mit den anderen Vätern, die ihren Söhnen überallhin folgen, während diese von einer Lageraktivität zur nächsten rennen, etwa um ihre Kochkünste zu vervollkommnen, sich durch einen Orientierungslauf zu navigieren oder aus ein paar Lederfetzen eine Geldbörse zu basteln. Es kommt Nelson so vor, als sei das Camp für viele dieser Väter eine Art Urlaub von ihren Jobs, ihren Frauen und dem Rest ihres Lebens. Sie alle, auch diejenigen, die überall dabei sind, erwecken den Anschein, als nähmen sie an den Aktivitäten der Woche kaum Anteil. Nur sehr selten geben sie einen Ratschlag oder eine kluge Empfehlung von sich. Allenfalls sagen sie ab und zu so etwas wie: »Wir könnten noch ein wenig mehr Holz für das Feuer gebrauchen« oder: »Gebt acht, ich habe letzte Nacht einen Kojoten gehört.« Und solche Äußerungen sind jedes Mal unweigerlich von einem scherzhaften Stoß in die Rippen oder einem verschwörerischen Zwinkern begleitet.

Nelson hat es sich diese Woche zum Ziel gesetzt, nicht weniger als fünf Verdienstabzeichen zu erringen. Er möchte noch vor seinem sechzehnten Geburtstag in den Rang eines Adlers aufsteigen. Cletes Pfadfinderkarriere war dagegen recht glanzlos verlaufen. Nelson hat die mottenzerfressene Uniform seines Vaters gesehen – die niedrigen Rang- und wenigen Verdienstabzeichen. Doch sobald sein Vater das eine oder andere Glas über den Durst getrunken hat, erinnert er Nelson an das, was wirklich zählt: nämlich, dass er mit Auszeichnung im Zweiten Weltkrieg gedient hat, dass er von Afrika nach Norden Richtung Italien und von dort nach Frankreich marschiert ist, bevor man ihn im Alter von zweiundzwanzig Jahren und im Rang eines Stabsunteroffiziers ehrenvoll aus der Armee entlassen hat. Doch Nelson ist davon überzeugt, dass es für die ihm vorherbestimmte Zukunft in der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika keine bessere Vorbereitung gibt als das, was er hier im Camp Chippewa und bei den wöchentlichen Treffen seiner Truppe in der Vorhalle der evangelischen Kirche Saint Luke’s lernt. Jetzt muss sein Körper nur noch mit seinem Gehirn aufschließen. Vielleicht wäre sein Vater ja dann stolz auf ihn, wenn er sein Leben der Armee widmete, auch wenn Nelson keine Ahnung hat, wie ein solcher Stolz aussehen – geschweige denn sich anfühlen – würde. Eine Umarmung vielleicht? Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass sich das Ganze auf einen festen Händedruck und ein damit einhergehendes grimmiges Lächeln beschränken würde. Dennoch, das war doch etwas, auf das man hinarbeiten konnte.

Die Signaltrompete in Nelsons zierlichen Händen stammt von seinem Großvater, der vor einem halben Jahrhundert im Ersten Weltkrieg gedient hat. Als Nelson noch klein war, lag die Trompete auf dem staubigen Sims des offenen Kamins, direkt neben der in Glas und Eichenholz eingerahmten, zusammengefalteten amerikanischen Flagge. Nelson hatte seinen Vater monatelang anbetteln müssen, bis Clete es ihm endlich erlaubte, auf der Trompete zu spielen, aber nur in seinem Zimmer und bei geschlossener Tür. Seitdem lässt er sie kaum jemals aus den Augen und sorgt dafür, dass ihr Messing immer glänzt. Ein Kleinod.

Während der meisten Nächte im Camp nimmt Nelson sein Instrument mit ins Bett, aus Angst davor, die anderen Jungen könnten versuchen, ihm seine Trompete zu stehlen. Nicht etwa, weil sie neidisch darauf wären, sondern weil sie wissen, wie kostbar sie für ihn ist. Er kann sehen, wie sie während der Mahlzeiten von ihren Plätzen an den Esstischen auf ihn zeigen. Und auch, dass sein eigener Vater so gut wie nichts dagegen unternimmt, genauso wenig wie die Väter der anderen oder die Truppenführer, die manchmal mit den Jungen zusammen essen, sich jedoch meistens um einen gesonderten Tisch versammeln. Nelson kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, worüber sie dann so reden, diese erwachsenen Männer in ihren Kleine-Jungs-Uniformen, die dasselbe Essen essen, dieselben Gebete murmeln, dieselben Lagerfeuerlieder singen und dieselben Schwüre ablegen. Die einzige Stimme, von der Nelson jemals hört, dass sie sich zu seiner Verteidigung erhebt, zumindest dann und wann, ist die von Jonathan Quick, und selbst er scheint mehr aus Gereiztheit und Langeweile, wenn nicht gar Abscheu zu reagieren oder auch aus dem Wunsch heraus, sich gegen die anderen zu stellen – und nicht aufgrund eines Gefühls irgendeiner besonderen Verbundenheit oder aus Mitleid.

»Haltet den Mund, Leute«, sagt er dann bei solchen Gelegenheiten. »Wir sind eine Truppe, okay? Lasst uns auch so handeln wie eine.« Oder: »Der Nächste, der sich über Trompeter lustig machen will, kann das mal mit mir versuchen. Dann wird er ja sehen, was er davon hat.«

So nennen ihn die anderen Jungen, das weiß er jetzt, Trompeter. Nicht, um der Aufgabe, für die er bekannt ist, Ehre zu erweisen, sondern vielmehr als Spitzname, der voller Hohn ausgesprochen wird. Eine weitere Methode, ihn auszustoßen.

Der Pfad windet sich zwischen kleinen, urzeitlichen Seen hindurch, die noch aus der Zeit stammen, als sich gewaltige Gletscher wie Dampfwalzen durch diese Landschaft schoben. Aus dem sicheren Schutz der Bäume schauen die Rehe Nelson zu, tänzeln kurz auf der Stelle und springen dann in großen Sätzen tiefer in den Wald hinein. Einmal huscht auch ein Stinktier an ihm vorüber, doch glücklicherweise hält es seinen Schwanz gesenkt. Schließlich öffnet sich der Pfad zum Paradeplatz, in dessen unmittelbarer Nähe die Betreuer und Mitarbeiter des Lagers untergebracht sind, und jetzt hört er auch schon geschäftige Geräusche aus dieser Richtung – undeutliches Stimmengemurmel, Türen, die zugeschlagen werden, das Plätschern von Wasser. Die Betreuer und Mitarbeiter wohnen in kleinen Blockhütten und es heißt, dass irgendwann auch die Zeltlagergäste in solche Unterkünfte umziehen werden.

Der Nebel ist so dicht, dass Nelson den Fahnenmast nicht sehen kann, der etwa zweihundert Meter entfernt steht, und die Luft ist derart schwer, dass er sich fragt, ob er sein Hemd nicht ganz umsonst gebügelt hat. Während er weiterläuft, werden seine Stiefel vom Tau immer nasser. Am Fahnenmast angekommen, schaut er auf seine Taschenuhr, übt noch ein paar Tonleitern und dann, punkt sieben Uhr, stellt er die Füße akkurat nebeneinander, richtet sich kerzengerade auf, hebt die Trompete an die Lippen und bläst die Reveille.

Die Signaltrompete sendet ihren Schall über den Paradeplatz, der aus einer grasbewachsenen Ebene zu Füßen einer kleinen Anhöhe besteht, auf deren Spitze sich der Fahnenmast erhebt. Die Anhöhe ist mit Feldsteinen eingefasst und hinter ihr wachsen hufeneisenförmig eine Reihe majestätischer Ahornbäume in die Höhe. Ganz gleich, was die anderen denken mögen – Nelson liebt diese ihm auferlegte Verantwortung. Liebt die feierliche, von höchster Stelle abgesegnete Macht des Instruments aus Messing, das er in Händen hält, wie er es tief aus dem Bauch und dem Zwerchfell heraus zum Leben erweckt, wie die Töne hervorbrechen und den Nebel durchschneiden, die Zeltleinwände durchbohren und die Kreaturen des Waldes bei ihrer Nahrungssuche aufschrecken. Ihr Schall lässt sogar die dichte weiße Ohrbehaarung des über achtzig Jahre alten Pfadfinderlagerführers Wilbur Whiteside erzittern. Kaum dass dieser den freudigen Klang von Nelsons Signal vernimmt, springt er aus seinem schmalen Bett, wirft sich munter ein Handtuch um den Hals und die mageren Hüften, setzt sich eine riesige Schwimmbrille auf, hinter der seine Augen so aussehen wie die eines überdimensionalen Frosches, und huscht leichtfüßig zum Bass Lake hinunter. Unten am See angekommen, schiebt er die Rohrkolben auseinander, stürzt sich splitternackt in das stille, klare Wasser, durchschneidet mit seinen dürren alten Armen die Oberfläche des Sees und schwimmt einmal hin und zurück. Nelson hat Wilburs morgendliche Runde natürlich noch nie mit eigenen Augen gesehen, aber er hat davon gehört. Vielleicht hat ihm ja ein älterer Junge davon erzählt, der am frühen Morgen dort nach Barschen geangelt hat und vom Anblick des bleichen alten Wilburs, der sich durch den See pflügt, aufgeschreckt wurde.

Mittlerweile kann Nelson ein paar der Lagerbetreuer sehen, wie sie sich in Richtung Fahnenmast aufmachen, während sie noch die Hemdzipfel in die kurzen Hosen stopfen, Gürtel zuschnallen und olivgrüne Socken an Beinen mit mageren Knien hochziehen. Sie kommen ihm entgegen, unterhalten sich mit heiseren Stimmen, lachen leise. Er kann hören, wie das taubenetzte Gras ihre Wanderstiefel bei jedem Schritt quietschen lässt, wie sie sich ab und zu räuspern und auf die Erde spucken, und er hört die Musik der losen Münzen in ihren Hosentaschen. Hätte man ihn gefragt, mit welchem Wort sich seine Bewunderung für diese jungen Männer zusammenfassen ließe, hätte er sie als Helden bezeichnet. Aber natürlich fragt ihn niemand, und so bleibt die Hochachtung, die er für sie hegt, ein Geheimnis. Einige von ihnen halten ihn für einen streberischen Schleimer, aber die meisten behandeln ihn leutselig und sind nett zu ihm.

Sie verkörpern selbstverständlich genau das, was zu werden sein sehnlichster Wunsch ist: groß, stark, sonnengebräunt, geschickt, immer einen Scherz parat, mutig, rechtschaffen, freundlich. Manche von ihnen sind Messgehilfen, andere Ministranten. Einige sind Senatoren oder UN-Botschafter im Schülerparlament, andere sind Mannschaftskapitäne, Klassensprecher oder Herausgeber der Schulzeitung. Diese jungen Männer schließen ihn nicht aus der Herde aus, weil er zu schwach ist, und sie machen sich nicht über seine Andersartigkeit lustig. Sie setzen oder stellen sich einfach nur neben ihn, an den Picknicktischen oder in der Bogenschießanlage, geben ihm Anleitungen, erklären ihm, wie man die verschiedensten nützlichen und komplexen Knoten knüpft, bringen ihm bei, wie man ein Amateurfunkradio benutzt und wo man selbst dann Wasser aufspüren kann, wenn es eigentlich keines gibt. Sie zeigen auf Sternbilder am Firmament, nennen ihm die Namen einzelner Sterne, bestimmen die Wolkenarten, die von West nach Ost und wieder zurück ziehen, und erklären ihm, was solche himmlischen Wanderschaften für das Wetter des nächsten Tages zu bedeuten haben. Sie kennen die Spuren der Tiere, die Gesänge der Vögel, wissen über die Zucht von Tauben und Kaninchen Bescheid. Und an den meisten Tagen, wenn sie sich frühmorgens dem Fahnenmast nähern, nehmen sie ihn mit der freundschaftlichen Gleichgültigkeit eines älteren Bruders zur Kenntnis. Sie nicken ihm zu oder sagen vielleicht »He, Trompeter« oder begrüßen ihn mit einem freundlichen »Nelson«. Er hat sich immer schon nach einem Bruder gesehnt.

Jetzt spielt er die Reveille zum zweiten Mal und kurz darauf tauchen immer mehr und mehr Jungen aus dem Nebel auf, lachen durcheinander, trampeln mit ihren Füßen, boxen sich spielerisch in die Seite. Sie versammeln sich in ihren jeweiligen Truppen, in zwei lang gezogenen Reihen, die Gesichter zur Fahnenstange gewandt. Manche spielen an einem Seil herum oder üben das Knüpfen eines Knotens. Von Nelsons Warte sieht es so aus, als könnte genauso gut eine Armee vor ihm stehen, die sich am Ende eines langen, verzweifelten Krieges befindet, zu einem Zeitpunkt, an dem nur noch kleine Jungen und alte Männer übrig sind, um in den Kriegsdienst eingezogen zu werden. Die Betreuer, Köche und Verwaltungsangestellten bilden ihre eigene Reihe auf dem Grat des Fahnenstangenhügels, die Gesichter den unter ihnen stehenden Pfadfindern zugewandt. Ihre Haltung ist merklich steifer, die Haare auf ihren Kniescheiben dunkler und der Geruch ihres Aftershaves hängt schwer in der Luft. Nelson sieht, wie sich seine eigene Truppe in Position stellt, am östlichen Rand des Paradeplatzes, in der Nähe des sumpfigen Seeufers. Unter ihnen ist auch sein Vater, die morgendlichen Bartstoppeln noch nicht wegrasiert, mit schief sitzendem Pfadfinderhalstuch. Er streckt die steifen Arme in die Luft und gähnt in aller Öffentlichkeit so hemmungslos wie ein gelangweilter Silberrückengorilla, der im Begriff steht, sich ganz gemütlich auf Futtersuche zu begeben.

Pfadfinderführer Wilbur schreitet jetzt der Reihe der Betreuer entgegen, mit im Rücken verschränkten Händen. Nelson bläst die letzte Reveille. Ein paar Nachzügler brechen aus dem sich allmählich hebenden Nebel hervor, als wären sie vor irgendeinem gefährlichen Waldtier auf der Flucht. Auch sie stehen nun stramm, mit roten Gesichtern und außer Atem. Ein Fahnenträger nähert sich dem Fahnenmast mit größtmöglichem Respekt; das ist etwas, worauf Wilbur besteht. Und jetzt faltet man – mit der Sorgfalt und Zartheit, mit der das Personal des teuersten Hotels des Landes ein Bett herrichten würde – die Fahne auseinander, befestigt sie an einem Karabinerhaken und zieht sie gewandt und in gleichmäßigen Tempo in den Himmel hinauf. Wilbur duldet keinerlei ruckartige Bewegungen, während das Sternenbanner in die Höhe steigt. Es ist ein ganz besonderer Anblick, wie sich die Fahne so geschmeidig und zielgenau emporhebt, und es scheint kaum vorstellbar, dass der Mechanismus, der sich hinter diesem Höhenflug verbirgt, aus nichts anderem besteht als lauter Jungen im Teenageralter.

Der Fahnenträger tritt zurück, und alle Lagerteilnehmer heben die Hand ans Herz, um den amerikanischen Treueeid zu sprechen. Dann hält Wilbur seine allmorgendliche Ansprache. Für viele Jungen, deren Mägen mittlerweile recht laut knurren, stellt diese nicht enden wollende Ansprache den stumpfsinnigsten und am schwersten zu ertragenden Moment des Tages dar. Er kann ihnen einfach nicht schnell genug zu Ende gehen, denn dann folgt der wilde Wettlauf zum Speisesaal, der gewaltige Ansturm hungriger Massen.

»Pfadfinder«, hebt Wilbur an, »wir sind diese Woche mit dem herrlichsten Wetter gesegnet, und ich hoffe, ihr nutzt eure Zeit sinnvoll.« Er schreitet auf dem Gras in der Nähe des Fahnenmastes entlang und als er näher kommt, wird Nelson ganz starr. »Schon Benjamin Franklin hat uns einmal gesagt: ›Liebst du das Leben? Dann verschwende die Zeit nicht, denn daraus ist das Leben gemacht.‹ Pfadfinder, ich weiß, dass euch die Abenddämmerung eures Leben wie etwas vorkommt, das unendlich weit entfernt ist, aber ich stehe hier vor euch, um euch zu sagen: Unser Leben währt nur einen Augenblick, und ich würde äußerst ungern erfahren, dass auch nur ein einziger Pfadfinder unter euch seine kostbare Zeit hier im Camp Chippewa mit Faulenzen verschwendet.«

Jetzt breitet sich ein Ausdruck des Ekels auf Wilburs altem, schrumpeligen Gesicht aus.