Unicorn Rise (2).




Roman



Digitale Originalausgabe



 

Impressum


digi:tales
Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2018
Covergestaltung: Rica Aitzetmüller
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2018

ISBN: 978-3-401-84051-2

www.arena-verlag.de
www.arena-digitales.de

Folge uns!
www.facebook.com/digitalesarena
www.instagram.com/arena_digitales
www.twitter.com/arenaverlag
www.pinterest.com/arenaverlag

Prolog

 

Finster war die Nacht, der Himmel mondlos und leer. Nichts als Schwärze entsandte er auf die Löwenstadt Tannont, die ihm dieselbe Trostlosigkeit entgegenbrachte. Die Löwen-Festung war von einem Wall aus dichten Dornenhecken umgeben. Ein Aschenebel waberte darüber, als wäre er die Nahrung des abschreckend wirkenden Gewächses. Unheimliche Laute drangen durch die Dunkelheit. Darunter schmerzerfülltes Klagen und Jammern. Sie gingen von der Festung aus.

Eilig folgte Talaken Shervar seinem Totem Atophis. Die riesige Schlange wand sich geschickt über einen geheimen Weg zwischen dem dornengespickten Gestrüpp hindurch. Ein Weg, den nur sie ohne Blessuren überstand. Währenddessen stieß ihr Lord zum wiederholten Mal ein wütendes Zischen aus, als sich ein daumengroßer Dorn in seine Wange bohrte. Hastig zog er ihn heraus und schnippte ihn zur Seite.

Der Schlangenlord vergewisserte sich, dass das Buch, durch das er gerade aus der Menschenwelt nach Ambarr gereist war, sicher in den Tiefen seines Mantels verstaut war. Bevor die Prophezeiung der Hüter den Schwarzen Löwen aufgeschreckt hatte, hatte sein Portal direkt im Kronsaal geendet. Da die Prophezeiung allerdings eine Rückkehr der rechtmäßigen Thronerbin besagte, hatte Jancon Vorsichtsmaßnahmen getroffen, falls das Buch in die falschen Hände geriet. Um zu verhindern, dass ungebetene Gäste mitten im Herzen der Festung landeten, hatte er das Portal neu platzieren lassen. Eine übereifrige Maßnahme, empfand Talaken, denn außer Jancon und ihm wusste niemand, dass noch ein weiterer Zugang existierte.

Einst hatte es neben den unbeweglichen Toren sehr viele portable gegeben, alle versteckt in Büchern. Nun waren die beiden von Talaken und Jancon die letzten ihrer Art. Alle anderen Bücher hatte Jancon verbrennen und die festen Tore versiegeln lassen. Trotzdem hatte er stets die Sorge, dass weitere Portale existierten, weshalb er sein Exemplar, eine Königsinsigne, ständig bei sich trug. Sie kontrollierte sämtliche Wege zwischen den beiden Welten und zeigte ihm sofort Ort und Zeitpunkt der Nutzung eines Portals an. Niemand konnte Ambarr betreten oder verlassen, ohne dass Jancon davon Kenntnis hatte.

Talaken wusste, wie wichtig es war, vorsichtig zu sein. Und er richtete sich stets nach dem Wort des Schwarzen Löwen, der ihn zu seiner rechten Hand ernannt hatte. In den letzten Jahren hatte es in Ambarr immer wieder Aufstände gegeben, die er niederschlagen musste. Sogar Gomoys waren hin und wieder Teil davon gewesen. Talaken hatte sie gnadenlos bekämpft und öffentlich hinrichten lassen. Zur Abschreckung für mögliche Nachahmer.

Seitdem wuchs die Unzufriedenheit im Silbernen Reich immer weiter. Viele sehnten sich nach der Zeit, in der Melliaro, die Einhornstadt, der Mittelpunkt Ambarrs gewesen war. Deshalb hatte der Schwarze Löwe Vorkehrungen getroffen. Sollte es zum Krieg kommen, wäre Tannont bereit. Der Schwarze Löwe würde weder Thron noch Krone aufgeben. Er strebte nach Unsterblichkeit in jeder Art und Weise.

Als Talaken vor drei Monaten in die Menschenwelt aufgebrochen war, hatte er geglaubt, dass er den Auftrag des Schwarzen Löwen schnell erledigt haben würde. Doch er hatte ihn unterschätzt. Um die letzte Unicorn und ihr Totem auszulöschen, musste Talaken zunächst an deren Verbündeten vorbei. Eine Horde treuloser Ambarrianer, darunter Lords, Älteste und eine Hexe. Aber Talaken hatte bereits Schwachstellen unter ihnen ausgemacht, Zwietracht gesät und einen weiteren Überläufer im Visier. Außerdem hatten seine Männer das Lager der Unicorntreuen umzingelt. Zwar schützte der Bannkreis der Hexe es vor ungebetenen Gästen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dort herauskommen mussten. Und dann würde er zuschlagen!

Wenn alles nach Plan verlief, würde er Jancon schon bald das Ende der Unicorns verkünden können. Die Macht, die sein König besaß, würde sich endlich entfalten und Jancon würde sie mit ihm teilen – zumindest versprach er sich das von seiner unerschütterlichen Loyalität.

Talaken hoffte darauf, bald wieder einen eigenen Clan zu besitzen. Ein Recht der Lords, das ihm die Hüter nach Raris' Verrat verwehrten. Niemand hatte erfahren dürfen, dass es seinem Ahnherrn Raris gelungen war, das Schlangenmal weiterzugeben, bevor ihn die Unicorns vernichtet hatten. Jahrhundertelang hatte Schlangenlord für Schlangenlord im Verborgenen gelebt und stets kurz vor seinem Tod Atophis' Marcam an den nächsten würdigen Nachfolger weitergegeben. Bis es einst den Weg auf Talakens Handgelenk gefunden hatte und mit ihm die Schlange sein stetiger Begleiter wurde.

Erst an der Seite Jancons hatte sich Talaken offenbaren können. Der Schutz des Löwen sorgte dafür, dass er als Lord anerkannt wurde, obwohl ihm die meisten Ambarrianer misstrauten. Ein Clan würde seine Stellung unter dem Volk festigen und Avendun, die Schlangenstadt, würde zur wichtigsten Stadt neben Tannont werden.

Endlich hatten er und Atophis die Dornenhecke durchquert und erreichten das riesige, eiserne Gittertor. Mit einem scheppernden Geräusch öffnete es sich, als erwartete man im Innern der Burg bereits die Ankunft der beiden. Sobald sie das Tor passiert hatten, wurde die Festung wieder verbarrikadiert.

Im Innern waren die unheilvollen Laute und Schreie deutlicher zu hören. Sie schienen von Tannonts Kerkergewölbe auszugehen. Ein schleifendes Geräusch mischte sich unter leise plätscherndes Wasser, das von den Mauern hinuntertropfte. Die schwarzen Steine, aus denen die Festung bestand, glänzten im fahlen Licht der Fackeln, die zu beiden Seiten an den Wänden angebracht waren. Vereinzelte Wasserlachen, die sich auf dem Boden gebildet hatten, zeigten das beängstigende Abbild des Schlangentotems.

Atophis war fast doppelt so groß wie eine ausgewachsene Anakonda. Ihre grellgrünen Augen besaßen eine hypnotisierende Wirkung und ihre spitzen Fangzähne waren tödliche Waffen. Ihre besondere Fähigkeit war ihre Hinterlistigkeit, der nur wenige standhalten konnten. Daneben wirkte ihr Lord fast unscheinbar. Trügerisch, denn Talakens Augen waren von derselben Farbe. Ein Zeichen dafür, dass Lord und Totem zusammengehörten. Talaken stand seiner Schlange in nichts nach.

Eine steile Treppe führte in einen der beiden Türme hinauf. Am Ende eines langen Ganges wartete eine weite Tür, die knarzend vor den beiden Besuchern aufschwang. Dahinter lag ein großer Saal, mit hoher Decke und blankem Marmorboden, der nur durch das Licht einiger Kerzen erhellt war.

Ehrfürchtig betrat Talaken den Raum. Er hielt den Kopf gesenkt. Das schwarze, schulterlange Haar bedeckte sein Gesicht. Ein bedrohliches Knurren drang an seine Ohren. Unmerklich zuckte er zusammen, strich sich über den markanten Spitzbart und kniete vor dem imposanten Thron aus schwarzem Stein nieder.

»Mein König«, sprach er, ohne aufzublicken. Neben ihm zischelte demütig sein Totem.

»Ihr seid zurückgekehrt.« Jancons raue Stimme flutete den Saal. »Erhebt Euch, Talaken, alter Freund.«

Als er es tat, schickte er Cesa, der riesigen Raubkatze, die neben ihrem Lord wachte, einen achtsamen Blick. Ein leises Brummen drang aus ihrer Kehle.

Ehrfürchtig schaute er zu seinem König auf, dessen Veränderungen seit seinem letzten Besuch noch deutlicher geworden waren. Jancon Gomoys Gesicht war von kurzem, dunklem Fell überzogen, die Nase war breit und flach, die ovalen Augen von einem durchgängigen Schwarz. Sein Äußeres glich auf erschreckende Art und Weise dem seines Totems. Das war die Folge des Unumkehrbaren Bunds, den Jancon und Cesa eingegangen waren, obwohl die Triads ihn strengstens untersagten.

Talaken fragte sich manchmal, wie weit Jancons äußerliche Anpassung noch gehen würde. Aber er wagte es nicht, dies vor seinem König ansprechen. Seit Jancon den letzten Unicorn-König getötet hatte, hatte er viel Leid über Ambarr gebracht. Er hatte jede Triad-Regel mehrmals verletzt. Und damit dunkle Magie freigesetzt, die ihn nachhaltig verändert hatte.

»Habt Ihr das Einhorn-Mädchen aufgespürt?« Jancon richtete seine Krone aus Silberkristall, die einst für die Unicorns gefertigt worden war.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Und?« Jancon lehnte sich vor und seine katzenhaften Augen verengten sich.

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie nicht weiß, wo Amaris ist.«

»Das ist unmöglich«, donnerte er. »Erabazs muss das Einhorn an seine Tochter weitergegeben haben. Ich habe selbst seinen Leichnam überprüft, bevor die Hüter ihn zu sich geholt haben. Keine Spur von dem Unicorn-Marcam an seinem Unterarm. Und ich habe das sternförmige Mal oft genug gesehen, glaubt mir!«

Talaken räusperte sich, denn das, was er seinem Herrn jetzt berichten würde, würde diesem nicht gefallen. »Das Mal befindet sich eindeutig auf der Haut der Prinzessin. Ich habe es gesehen … aber Amaris ist nicht an ihrer Seite. Das Einhorn kam nicht, um ihr zu helfen, als wir sie bedrohten.«

»Aber wenn Ihr das sehen konntet, warum habt Ihr sie dann entkommen lassen?«

»Unglücklicherweise konnte sie fliehen.«

Jancon fauchte erzürnt, schlug seine krallenähnlichen Finger in die Thronlehnen und stieß sich hoch. »Ihr seid ein Versager!«

»Vergebt mir, mein Kön-«

»Schweigt!«, schrie Jancon und Cesa brüllte drohend. »Erabazs muss sein Totem irgendwo versteckt haben«, überlegte er laut. Wie ein angreifendes Tier sprang er die Stufen zu Talaken hinunter. Dieser erstarrte, als sich Jancon vor ihm aufbäumte. Einzig seine Statur und die aufrechte Haltung erinnerten noch daran, dass er einmal ein Mensch gewesen war.

»Davon gehe ich auch aus«, stimmte Talaken ihm mit gesenkter Stimme zu.

»Ich hoffe doch, Ihr hattet Gelegenheit, die letzte Unicorn zu dem Versteck zu befragen, bevor sie Euch entwischt ist?«

»Nun … die Prinzessin wird von einer Gruppe untreuer Ambarrianer beschützt. Darunter einige Lords und eine Hexe – Venigan. Sie hat eine magische Grenze um das Waldstück gezogen, in dem sich ihr Lager befindet.«

Jancon betrachtete Talaken abschätzig. Dieser schluckte schwer.

»Venigan?« Über das Gesicht des Königs huschte ein bösartiges Lächeln.

»Solange sie Amaris nicht gefunden hat, kann sie auch nicht auf die Kraft des Einhorns zugreifen. Noch ist sie unfähig, die wahren Absichten eines Menschen zu erkennen. Das nutzen wir bereits für unsere Zwecke. Wir werden dieses Nest von innen ausräuchern. Nichts wird mehr davon übrig bleiben.«

»Das hoffe ich, Talaken, alter Freund.« Jancon grub seine krallenähnlichen Finger in die Schulter seines Getreuen.

Talaken zuckte unter dem Schmerz zusammen. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen!«

Cesa ließ ein bedrohliches Knurren vernehmen.

»Gut.« Jancon kehrte auf seinen Thron zurück. »Ich will, dass die Unicorns dafür bezahlen, was sie getan haben.«

»Das werden sie, mein Lord-König. Ich versichere es Euch.«

Jancon nickte. Der Schlangenlord verneigte sich vor seinem Herrn und wandte sich zum Gehen.

»Und … Talaken?«

Er hielt inne und drehte sich zum König herum.

»Ich habe dreihundert Ambarrianer, die auf Euch eingeschworen und bereit sind, mit Euch nach Avendun zu ziehen, solltet Ihr erfolgreich sein.«

Talaken lächelte. Er sah seinen Clan in greifbarer Nähe. »Ich danke Euch, mein König!«

»Selbstredend erhaltet Ihr dann auch die Mittel, um die Schlangenstadt wieder vollständig aufzubauen.«

»Wie großzügig von Euch, mein Herr.«

»Solltet Ihr jedoch versagen …« Jancons kalter Blick glitt zu Atophis, die neben ihrem Lord verharrte. »So wird es Cesa ein Vergnügen sein, Eurer Schlange den Kopf abzubeißen. Habt Ihr das verstanden?«

Talaken durchfuhr ein eisiger Schauer. »Gewiss, Euer Gnaden.« Atophis ließ ein leises Zischen hören. Er wollte sie nicht verlieren. Sein Totem war alles, was er hatte. Alles, was ihm etwas bedeutete.

Bevor er sich umwandte, verbeugte er sich noch mal vor seinem Herrn und dessen Totem, das die Reißzähne bleckte. Talaken erinnerte sich an früher, als Cesa ein beinahe zahmer Löwe gewesen war, der mit seiner Magie die Fantasie anderer Wirklichkeit werden lassen konnte. Doch jetzt brachte der Hass seines Lords nichts als Dunkelheit in dem Löwen hervor.

Zusammen hatten Jancon und Cesa Chaos und Tod über das Silberne Reich gebracht. Und Talaken hatte ihnen dabei geholfen. Für ein neues Ambarr, in dem Atophis und er einen festen Platz hatten, gleichermaßen verehrt und gefürchtet wurden. Jetzt würde er es auch zu Ende bringen.

Kapitel eins

 

Was auf dem Spiel steht

 

»Ich wette auf Tara.« Mellot, der Lord des Maulwurfs, schob seine Brille mit den dicken Gläsern die Nase hinauf.

Ich kam nicht umhin, ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Seit Sonnenaufgang trainierte ich bereits mit Gerrit Schwertkampf. Von vier geplanten Anläufen hatte er schon zwei für sich entscheiden können.

»Kurze Pause«, sagte Gerrit, ging zum Rand des Übungsplatzes und nahm einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche. Über uns kreiste sein Totem. Genau wie die anderen Schutztiere es mit ihren Lords hielten, wich auch der Greif Gerrit nicht von der Seite. Er blieb stets in seiner Nähe. Nur ich, angeblich die rechtmäßige Herrscherin über Ambarr, war allein. Ich hatte mein Einhorn immer noch nicht gefunden. Diese Tatsache brachte mich in Gefahr. Eine Gefahr, die neu war und unerwartet.

»War ja klar, dass du auf sie zählst!« Neben Mellot lehnte sich Mirvari gegen den Stamm einer Tanne. Die beiden hatten sich - anders, als Marybell und Cole - gegen eine Frühstückspause entschieden. Sie waren geblieben, um sich auch die letzte Trainingseinheit anzusehen.

Mir stand der Schweiß auf der Stirn, mein Arm schmerzte bereits, doch ich wollte nicht aufhören. Mein Ehrgeiz trieb mich an. Vor zwei Tagen hatte ich kläglich gegen Mirvari verloren. Ich hatte vor, sie herauszufordern, sobald ich dafür bereit war. Gerrit gab sich Mühe mit mir. Ich hatte mich bereits verbessert, hatte ihn einige Male schlagen können, aber das reichte mir nicht. Ich wollte den Unicorntreuen beweisen, dass ich Durchhaltevermögen besaß. Dass ich mich nicht so schnell geschlagen geben würde und dass sie auf mich zählen konnten.

»Außerdem … du hast nichts, womit du wetten kannst«, belehrte Mirvari Mellot.

Ich wischte mir über die Stirn und trank ebenfalls etwas. Meine Kehle war staubtrocken.

»Wer wettet, braucht zunächst mal einen Einsatz. Du besitzt nichts – außer Flausen im Kopf.«

Mellots braune Augen glühten zornig auf. »Und wie immer hast du keine Ahnung, Mirvari!« Er kramte in seiner Hosentasche und zog eine goldene Taschenuhr hervor, deren Anblick auch Gerrit und mich beim Trinken innehalten ließ.

»Wo hast du die her?«, wollte Mirvari wissen.

Mellot grinste überlegen. »Talpa hat sie unter der Erde entdeckt. Cool, oder?«

»Sie ist sehr schön«, sagte ich.

»Hin und wieder findet Talpa etwas, wenn er gräbt. Und manchmal lässt es sich verkaufen. So habe ich früher immer mein Taschengeld aufgebessert.«

Mirvari griff in ihren Stiefel und holte einen rubinbesetzten Dolch hervor, den sie vor Mellots Füßen in die Erde steckte. »Ich halte dagegen.«

Gerrit und ich sahen zu, wie Mellot das Fundstück seines Totems daneben legte. »Abgemacht!«

»Wollt ihr nicht endlich anfangen?« Um Mirvaris Lippen zuckte ein hinterhältiges Lächeln. Wenige Meter neben ihr schimmerten die purpurfarbenen Augen ihrer Wölfin durch das immergrüne Geäst.

Thalys faszinierte mich auf unerklärliche Art und Weise − obwohl sie mich, genau wie ihr Lord, täglich spüren ließ, dass sie mich nicht mochte. Den Grund dafür kannte ich nicht. Mirvari schwieg sich darüber aus, sodass ich nur Vermutungen anstellen konnte. Hatte es mit Meffids Tod zu tun? Gaben sie mir die Schuld daran, dass Talaken die Zwergin getötet hatte? In der Nacht unserer Ankunft im Lager hatte ich den Eindruck gehabt, dass Meffid Mirvari etwas bedeutet hatte. Aber warum sagte sie das nicht einfach?

Nach dem Runenspiel mit Venigan, während dem sie wohl eine ungemütliche Wahrheit in den Flammen der Hexe gesehen hatte, war ihr Verhalten mir gegenüber nur noch schlimmer geworden. Das Spiel zeigte jedem eine andere Geschichte. Erinnerungsfetzen unserer Ahnen, Bilder aus einer längst vergangenen Zeit. Sie waren in uns und die Runen der Hexe machten sie für uns lebendig. Was auch immer Mirvari gesehen hatte, laut Mellot und Gerrit zeigten ihr die Runen stets dasselbe. Und sie hasste es. Aber was hatte das bitte mit mir zu tun?

»Bist du soweit?«, fragte Gerrit und riss mich damit aus meinen tiefen Gedanken. Mir fiel es schwer, sie hinter mir zu lassen, dennoch nickte ich und richtete Elyova aus. Einst hatte das Schwert meinem Vater gehört. Jetzt führten meine Hände seine durchscheinende Klinge aus kostbarem Silberkristall.

»Tara ist ziemlich gut geworden«, hörte ich Mellot sagen.

»Nicht gut genug«, entgegnete Mirvari. Gerrit schwang sein Schwert in der Luft und ich hielt mit Elyova dagegen. Die Klingen klirrten gegeneinander. Gerrit holte erneut aus und ließ sein Schwert auf mich herabschnellen. Schützend hielt ich Elyova vor mich. Es federte seine Klinge ab, doch Gerrits Kraft zwang mich nach hinten. Ich wollte eine geschickte Drehung machen, so wie er es mir gezeigt hatte, doch ich geriet ins Stolpern.

Gerrit stieß vor. Die Spitze seines Schwertes stoppte nur wenige Zentimeter vor meiner Kehle. Enttäuscht von mir selbst seufzte ich. »Sorry, Mellot.«

 

Beim Mittagessen bekam ich keinen Bissen runter. Ich stocherte in den Kartoffeln herum und war mit meinen Gedanken ganz woanders. Warum hatte ich versagt? Die Niederlage am Morgen hatte sich auf meine Stimmung geschlagen. Und selbst Gerrits Aufmunterungen prallten an mir ab wie ein Ball an einer Wand.

Die tatsächliche Schlacht lag noch vor uns. Nur dass dabei viel mehr auf dem Spiel stand als eine hübsche Taschenuhr.

Verstohlen sah ich zu Cole, der am Tischende saß. Ihn schien meine erfolglose Trainingseinheit völlig kalt zu lassen. Was mich wunderte, denn ich hatte den Eindruck, dass es im ganzen Lager kein anderes Gesprächsthema gab – Mirvari sei Dank. Er sah nicht einmal zu mir rüber.

Das Desinteresse des Phönixlords schmerzte mich. Schließlich hatte ich mit Cole die Reise hierher angetreten. Nun wusste ich nicht mehr, wie ich mit ihm umgehen sollte. Einerseits spürte ich eine tiefe Verbundenheit zu ihm, aber andererseits hatte SanWen, der Lord des Drachen Alrisha, angedeutet, dass der Phönix es auf den Thron abgesehen haben könnte. Ich zog die Brauen zusammen, als Mirvari hinter Cole trat, ihre Arme um seine Schultern schlang und lachte. Eine Gemütsregung, die man selten bei ihr sah. Eigentlich immer nur, wenn Cole in ihrer Nähe war.

Ich fühlte mich furchtbar, verraten, hintergangen, ausgetauscht. Allein. War ich weniger wert, weil ich mein Totem nicht hatte? Manchmal glaubte ich, dass viele im Lager so dachten.

Wen konnte ich um Rat fragen, wem noch vertrauen? In den vergangenen Tagen hatte es Momente gegeben, in denen mein Misstrauen so groß gewesen war, dass ich jedem eine Intrige zugetraut hätte. Selbst Marybell, meiner besten Freundin, die ich schon fast mein ganzes Leben lang kannte.

Wann immer ich über diese Möglichkeit nachdachte, spürte ich einen stechenden Schmerz im Herzen. Coles Freundschaft zu Mirvari machte das nicht besser. Sie hasste mich. Und vermutlich würde sie mich am liebsten vor die magische Grenze setzen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Nie zuvor hatte ich mich derart unwissend gefühlt. Ich war unfähig, irgendjemanden in diesem Lager zu durchschauen, pendelte zwischen Verfolgungswahn und Todesangst. Meine Nerven lagen blank. Ich war schreckhaft, fahrig, unkonzentriert. So konnte es nicht weitergehen.

Seufzend zog ich den Ärmel meines Pullovers über mein Marcam. Den Anblick des sternförmigen Mals an meinem Handgelenk konnte ich jetzt nicht ertragen. Es erinnerte mich nur wieder daran, wer ich sein sollte. Der Lord des Einhorns. Amaris. Dem mächtigsten Schutztier von allen. Nur zusammen mit meinem Totem konnte ich mein Erbe, den Thron des Silbernen Reiches, vom Schwarzen Löwen zurückerobern. Doch bis jetzt war ich nichts weiter als eine Prinzessin, ohne Totem und ohne Königreich.

Vermutlich hielt Amaris sich versteckt. Vor Jancon, dem Schwarzen Löwen, und seinem Handlanger Talaken, dem Schlangenlord. Aber warum auch vor mir?

Wir waren gefangen in einem Waldstück in Glenveagh. Und mit jedem Tag wuchs in mir die Befürchtung, dass ich Amaris hier nicht finden würde. Deshalb musste ich fort! Doch die Tatsache, dass Talaken und seine mordlüsterne Schlange jenseits von Venigans magischer Grenze auf uns lauerten, machte es geradezu unmöglich, das Lager zu verlassen.

Ich war mit meinem Gefolge umzingelt. Ausgeliefert. Aber noch hatte ich keine Idee, wie wir ungesehen an dem Schlangenlord und seinen Leuten vorbeikommen sollten.

Ich starrte mich an Cole und Mirvari fest.

»Ich glaube, ich hatte dich vor Typen wie ihm gewarnt.« Marybell wedelte mit einem Schokoriegel vor meinem Gesicht herum.

Schnell widmete ich mich wieder meinen inzwischen kalten Kartoffeln. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Neeeeein, gar nicht.« Sie schob ihren Stuhl an mich heran und biss ein Stück ihres Riegels ab.

»Ich bin nur in Gedanken, wegen Mellots Uhr.«

»Natürlich.« An ihrem amüsierten Tonfall erkannte ich, dass sie mir nicht glaubte. »Cole ist ein ESSEP.«

»Was zum Henker ist ein ESSEP?«

»Neue Wortschöpfung. Stammt von mir.«

»Toll.«

»Es steht für eingebildeter, selbstverliebter, sexistischer Pisser.«

»Interessant.«

»Und du hast ne Schwäche für ihn.«

»Ist das so offensichtlich?«

Sie nickte. »Wenn er wirklich lieber mit dieser Verrückten abhängt als mit dir, dann ist er es nicht wert, dass du auch nur einen Gedanken an ihn verschwendest.«

Woher wusste sie nur wieder, wie es in mir aussah?

»Und das mit der Uhr …« Sie stand auf, rückte den Stuhl an den Tisch und senkte die Stimme. »Das überlass mal mir.« Sie stopfte sich den Rest des Riegels in den Mund und zeigte mir ihre schokoladenverschmierte Hand.

Ich sah ihr nach. Bevor sie aus der Hütte ging, hielt sie bei Mirvari und Cole. »Gratuliere zur neuen Uhr!« Marybell klopfte Mirvari auf den Hintern und streifte die Schokolade dabei unauffällig an deren Hose ab.

Ich musste mich wirklich bemühen, nicht laut loszulachen.

»Sag mal, spinnst du?«, fauchte Mirvari.

»Oh, sorry, ich konnte nicht widerstehen«, beteuerte Marybell.

Mirvari ballte die Faust. »Na, warte …«

Cole hielt sie am Arm zurück.

Meine Freundin reckte grinsend beide Daumen in meine Richtung, dann verschwand sie zur Tür hinaus.

 

Etwas Ablenkung von meinen Gedanken und Sorgen fand ich am Nachmittag. Gerrit hatte eine weitere Trainingseinheit mit dem Schwert direkt nach dem Bogenschießen mit Marybell angesetzt. Dankbar für die Möglichkeit, mich auspowern und meiner angestauten Wut freien Lauf lassen zu können, machte ich mich auf den Weg.

Die anderen wussten nichts von der Zusatzstunde. SanWen bestand auf Ruhephasen zwischen dem Training. Und auf Mirvari konnte ich gut verzichten.

Schon von Weitem hörte ich das dumpfe Einschlagen der Pfeile in der Zielscheibe. Es war Gerrits Charme zu verdanken, dass Marybell Pfeil und Bogen für sich entdeckt hatte. Sie konnte nicht genug von den Trainingsstunden mit ihm bekommen, bei denen er dicht hinter stand und seine Hand auf ihre legte, um mit ihr den Bogen zu spannen. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie nur selten ihr Ziel verfehlte. Gerrits Lob schien in ihr einen weiblichen Robin Hood hervorzurufen.

Im Schatten einer Eiche stehend wartete ich, bis Marybell ihren Pfeil abgeschossen hatte. Ihr Ehrgeiz war erstaunlich. Zweifellos war er Gerrits Anwesenheit geschuldet. Dass Marybell ein Auge auf ihn geworfen hatte, war unübersehbar. Sie ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu berühren, tätschelte ihn am Arm, fand ständig lose Wimpern in seinem Gesicht oder Flusen auf seinem Hemd. Auffälliger ging es nicht. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass Gerrit sich daran keineswegs störte. Noch schien sich aber keiner zu trauen, es dem anderen zu sagen.

Marybells Pfeil zischte durch die Luft, direkt in die rot markierte Mitte der Zielscheibe.

»Klasse Schuss!«, lobte Gerrit sie.

»Wer kann, der kann.« Marybell ließ den Bogen sinken.

Ich applaudierte. »Das war echt super!«

»Da ist sie ja!« Marybell lächelte breit, als sie mich sah.

»Perfektes Timing«, sagte Gerrit und tauschte den Bogen gegen sein Schwert.

»Na, dann zeigt mal, was ihr drauf habt.« Marybell zog die Pfeile aus der Zielscheibe und steckte sie zurück in ihren Köcher.

»Kann losgehen.« Gerrit kam auf mich zu.

Ich umklammerte Elyovas Griff, konzentrierte mich auf meine innere Stärke, meine Intuition. Da war sie wieder, die Magie, die von dem Schwert meines Vaters ausging. Ob Einbildung oder Realität, für mich strahlte es eine positive Macht aus, die ich für mich nutzen wollte. »Du brauchst mich nicht zu schonen!«

»Hatte ich nicht vor.« Gerrit holte mit seinem Schwert aus und preschte auf mich los. Blitzschnell ließ ich mich fallen, rollte zur Seite weg und sprang wieder auf die Beine.

Das Schwert schien mich zu führen. Es war mehr als nur das Erbe meines Vaters. Ich war mehr. Zusammen waren wir stark und es fühlte sich gut an. Diesmal war ich diejenige, die Gerrit zurückdrängte. Weiter, schneller, fester. Unsere Klingen schlugen aneinander und Gerrit verlor den Halt. Sein Schwert fiel neben ihm zu Boden.

Ich hatte ihn besiegt.

Keuchend starrte er zu mir hoch. Hinter uns brach Marybell in Jubelschreie aus. »Das war unglaublich!«

Perplex hielt ich die Silberkristallklinge ins Licht der warmen Herbstsonne. Endlich hatte ich eine Vorstellung davon, wer ich sein konnte. Tara Unicorn kam immer mehr zum Vorschein, während das Bild der unsicheren Tara Bennet langsam verblasste.

Kapitel zwei

 

Ambarrs Gesetze

 

Ich saß auf den Stufen unserer Blockhütte. Der Himmel leuchtete in einem sanften Rosa und die ersten Sterne zeigten sich schwach am Firmament.

Gedankenverloren strich ich über das Mal an meinem Handgelenk. In den vergangenen Stunden war es heller geworden, es setzte sich noch deutlicher von der umliegenden Haut ab. Oder bildete ich mir das nur ein? Ich war so vertieft in den Anblick des sternförmigen Flecks, dass ich Marybell erst bemerkte, als sie mir eine Decke umlegte.

»Danke«, hauchte ich und sah von meinem Marcam auf.

Marybell, die den Köcher voller Pfeile immer noch über den Schultern hatte, setzte sich neben mich und stützte ihre Unterarme lässig auf den Knien ab. »Vielleicht ist es irgendwo da oben.« Sie deutete zum Mond, der silbrig über dem Lager hing, als hätte ihn jemand in den Himmel gepinnt. Sein Leuchten erinnerte mich an die Mähne des Einhorns, das ich am Tag von Marybells Ankunft im Lager, im Wald zu sehen geglaubt hatte.

»Der Mond scheint dich zu verfolgen.« Sie kicherte.

»Sieht ganz danach aus.«

Die Bäume bildeten ein riesiges Fenster, durch das wir einen herrlichen Blick auf den Himmel hatten.

»Was gibt es denn hier zu sehen?« Gerrit kam aus der Hütte neben unserer, in der Hand einen Apfel.

»Hach«, säuselte Marybell. »Wir halten Ausschau nach dem Einhorn, sonst nichts.«

»Also ich bin ja kein Experte, aber ich glaube nicht, dass es da oben irgendwo rumfliegt«, sagte er, bevor er einen kräftigen Bissen von seinem Apfel nahm.

Zwei Hütten weiter öffnete sich quietschend die Tür und Mirvari steckte den Kopf heraus. Sie sah demonstrativ an uns vorbei zum Waldrand, wo Thalys ihre abendliche Runde machte.

»Hallo Mirvari«, begrüßte ich sie. Ich hatte beschlossen, betont freundlich mit ihr umzugehen. Mirvari und ich würden es noch eine ganze Weile miteinander aushalten müssen. Und das auf engstem Raum. Hier im Lager war kein Platz für Anfeindungen. Aber mit diesem Bemühen schien ich ziemlich alleine dazustehen, denn sie ignorierte mich demonstrativ. Dieses Mädchen machte es einem echt nicht leicht.

»Willst du dich nicht zu uns setzen?«, fragte ich lauter und um einen freundlichen Ton bemüht.

Marybell stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite. Ich reagierte nicht auf sie.

Mirvari verdrehte mehr als deutlich die Augen. Die Arme vor der Brust verschränkt, marschierte sie auf uns zu. »Hat einer von euch Cole gesehen?« Sie zwirbelte eine Strähne ihres dicken braunen Haars um den Finger.

»Wir dachten, er wäre bei dir.« Hatte er sie etwa links liegen gelassen, so wie mich zuvor? Arme Mirvari!

»Offensichtlich nicht«, antwortete ich, sah aber im nächsten Moment die Sorge in ihrem Gesicht. Sofort schob ich meine Schadenfreude beiseite. Wo war Cole? Ich ließ meinen Blick umherschweifen und eine innere Beklemmung stieg in mir auf. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen!

»Was hast du nur mit dem Phönix?« Gerrit gluckste. Unwillkürlich horchte ich auf.

»Da musst du dir wirklich keine Sorgen machen, er ist ja einer anderen versprochen.« Mirvaris spöttischer Unterton entging mir nicht. Offenbar war der Plan meines Vaters, mich und Cole miteinander zu verheiraten, alles andere als ein Geheimnis unter den Lords. Von SanWen wusste ich, dass er bei einigen zu Unmut geführt hatte, weil sie sich übergangen gefühlt hatten. Der Phönix sollte an meiner Seite über Ambarr regieren. Eine verrückte Vorstellung, die auch für meinen Geschmack zu weit ging. Trotzdem hatte ich sie unwillkürlich mehr als einmal bis zu Ende gedacht.

»Klingt fast so, als wärst du eifersüchtig.« Der Lord des Graugreifen grinste.

Ohne Vorwarnung hechtete Mirvari auf Gerrit zu, packte ihn am Kragen und drückte ihn mit dem Rücken gegen die Hauswand. Der Apfel fiel polternd zu Boden.

»Hey, ist ja gut«, rief Gerrit.

Ich sprang auf. »Muss das sein, Mirvari? Er hat es nicht so gemeint, war doch nur ein Witz.«

Mirvari löste ihren Griff und blickte mir geradewegs in die Augen. »Haha, sehr lustig!«

»Die geht zum Lachen aber auch in den Keller, was?«, murmelte Marybell neben mir, doch scheinbar nicht leise genug, denn Mirvaris zornfunkelnder Blick traf nun sie.

»Was willst du eigentlich, Mensch?« Mirvari ließ von Gerrit ab und baute sich vor Marybell auf. Die hob abwehrend die Hände.

»Ganz ruhig, Ronja Räubertochter. Ich bin nur hier, um auf meine Freundin aufzupassen.«

»Und du denkst, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist? Du hast ja nicht mal ein Totem.«

Marybell stemmte sich hoch. »Ach ja? Dafür habe ich …« Sie machte eine Pause, offenbar suchte sie nach dem passenden Begriff. »Andere Qualitäten«, sagte sie endlich. »Außerdem … wird dir das nicht langsam langweilig: du und deine Totem-Sprüche? Aber bitte. Wenn man sonst nichts hat.«

Mirvaris Miene verfinsterte sich noch weiter. »In Ambarr gelten andere Gesetze. Zum Beispiel, dass dort Menschen wie du nichts verloren haben. Und sollte sie auf die Idee kommen, dich nach Ambarr mitzunehmen …« Sie zeigte mit dem Finger erst auf mich, anschließend auf Marybell. »Dann bist du so gut wie tot!«

Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Hatte sie das ernst gemeint? Manchmal fürchtete ich mich davor, zu was Mirvari fähig war.

»War das jetzt etwa ne Drohung?«, wollte Marybell wissen.

Mirvari zuckte die Schultern und ging zurück zu ihrer Hütte.

»Hallo? Ich rede mit dir!« Marybells Gesicht war puterrot angelaufen, doch Mirvari dachte nicht daran, ihr zu antworten. Bevor sie in die Hütte ging, schaute sie noch einmal über ihre Schulter zurück. Ihr Mund verzog sich dabei zu einem spöttischen Lächeln.

»Die würde ich an deiner Stelle sofort aus dem Land werfen«, fauchte Marybell. Normalerweise hatte sie ein ziemlich dickes Fell, aber die Abneigung, die Mirvari uns gegenüber an den Tag legte, ging selbst an ihr nicht ohne Weiteres vorüber.

»Die ist doch krank! Was hat sie überhaupt damit gemeint: In Ambarr herrschen andere Gesetze?« Sie schaute fragend zu Gerrit.

Der zuckte die Achseln. »Ihr solltet Mirvari nicht allzu ernst nehmen. Sie spielt sich gern auf, sonst nichts. Unter den Purpurwölfen ist das ganz normal. Da gilt das Recht des Stärkeren. Die müssen so tun, als hätten sie die absolute Macht.«

»Purpurwolf«, grunzte Marybell. »Was für ein hübscher Name für ein so fieses Biest. So stelle ich mir die Tochter von Attila dem Hunnenkönig vor.«

Ich musste zugeben, dass der Vergleich passte. Äußerlich, als auch charakterlich - zumindest so weit ich das bisher beurteilen konnte – hatte sie etwas von einer mürrischen Kriegerin.

»Dieses Gesetz, von dem Mirvari gesprochen hat …«, begann Marybell nochmals an Gerrit gewandt. »Das gibt es aber nicht wirklich, oder?«

Jetzt war auch ich gespannt auf seine Antwort.

Er druckste herum. »Och, na ja, vielleicht gibt es für Thalys so etwas wie einen Freifahrtschein in Bezug auf Menschen in Ambarr.« Er bückte sich nach dem Apfel und hob ihn auf.

»Es gibt was?«, fragten Marybell und ich wie aus einem Mund.

Seelenruhig säuberte Gerrit den Apfel an seinem Ärmel. »Das ist so ein altes Gesetz, das unbedingt überholt werden müsste, wenn ihr mich fragt.«

Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. Was war das für eine Welt, in der Menschen einfach so getötet werden durften, nur weil sie aus einer anderen Welt kamen?

Obwohl ich mich Ambarr zugehörig fühlte, konnte sich ein Teil von mir nicht vorstellen, jemals dort zu leben. Jener Teil, der in der Menschenwelt verwurzelt war. Ich hatte es mir nicht eingestehen wollen, aber nun, da mir klar wurde, was mir meine bisherige Heimat bedeutete, hatte ich Angst davor, sie hinter mir lassen zu müssen.

Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Einerseits war ich neugierig auf diese fremde Welt, die eigentlich mein Zuhause sein sollte, andererseits spürte ich Zweifel darüber, ob Ambarr jemals eine Heimat für mich werden konnte. War ich zu lange fort gewesen? Würde ich mich dort immer fremd fühlen?

Und zwischen all diesen Fragen, die mich beschäftigten, drängte sich eine besonders beängstigende ganz gewaltsam in den Vordergrund: Was passierte, wenn ich das Einhorn nicht fand?

Ich vertrieb sie aus meinem Kopf. Denn eins war sicher: Dieser Krieg war unausweichlich, um Ambarr aus Jancons Klauen zu befreien. Ob mit oder ohne Einhorn.

 

Nachdem Gerrit sich in seine Hütte zurückgezogen hatte, gingen Marybell und ich in unsere. Während sie nach nur kurzer Zeit eingeschlafen war, standen meine Gedanken einfach nicht still.

Im fahlen Licht der Kerze, neben meinem Bett, sah ich Marybells bunte Mähne, wo in der ersten Nacht noch Cole gelegen hatte. Auch wenn ich es nur ungern zugab, vermisste ich ihn. Unsere Gespräche und seinen übertriebenen Beschützerinstinkt. Wo er wohl den ganzen Tag über gesteckt hatte? Auch Fayx, Coles Phönix, hatte ich seit dem Morgen nicht gesehen. Nicht mal Mirvari hatte gewusst, wo Cole war. Bei diesem letzten Gedanken meldete sich ein Ziehen in meinem Bauch. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber je länger ich über Mirvari und Cole nachdachte, desto heftiger wurde es.

Draußen tobte ein Sturm. Wind pfiff um die Hausecken. Er suchte sich einen Weg hinein und drang durch feine Ritzen im Gebälk, sodass die Kerze haltlos flackerte.

Ich wickelte die Decke enger um mich. Gespenstige Schatten tanzten an den Wänden.

Im nächsten Moment wurde der Wind so heftig, dass er mit einem Poltern eines der beiden Fenster neben der Tür aufriss. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett. Als ich es schließen wollte, bemerkte ich, dass mir feine, weiße Flocken entgegenwehten. Es schneite – erneut.

Ich schaute hinaus auf den zentralen Platz, der nun verlassen dalag. Das Feuer war erloschen. Nur noch ein feiner Rauchstreifen schlängelte sich von dort aus in die Höhe.

Alle waren längst in ihren Hütten, bis auf die magischen Tiere, die heute Nacht das Lager bewachten. Im Schatten der Bäume, unweit der Hütten, in denen Gerrit, Mellot, Cole und Mirvari schliefen, sah ich Thalys. Schnuppernd reckte sie ihre Schnauze dem Schnee entgegen. Sie war wunderschön, genau wie all die anderen Totems.

Wie ich die Purpurwölfin so betrachtete, stieß ich versehentlich mit dem Arm gegen den Fensterrahmen. Sofort stellte Thalys die Ohren auf und schaute in meine Richtung. Ihr Blick war interessiert, aber nicht grimmig.

Ich lächelte und nickte ihr zu. Eine Weile schauten wir einander einfach nur an, dann wandte sie den Blick ab und setzte ihre Runde um das Lager fort.

Leise schloss ich das Fenster und kuschelte mich wieder unter die Decke. Unvermittelt überkam mich Erschöpfung. Als hätten der Schnee und Thalys eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt, schlief ich sofort ein.

Kurz darauf hetzte ich durch Dublins dunkle Straßen. Hinein in die Kirche meines Vaters. Ich hörte das Einrasten des Schlosses, als die schwere Tür hinter mir zufiel, und rannte nach vorne, bis zum Altar. Mondlicht fiel durch das Buntglasfenster auf den Boden, wo sich die Umrisse der Figuren aus dem Fenster als Schatten bewegten.

Einer davon war der eines Einhorns. Plötzlich wurden die dunklen Bilder in Farbe getaucht und ich war mittendrin. Schnee wirbelte um das Einhorn, das über Hügel und durch grüne Täler galoppierte. Ich hörte, wie seine Hufe über den Boden trabten, spürte den Wind in seiner Mähne. Und für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich durch seine Augen sehen.

Vor mir lag die Silberne Stadt. An den Spitzen der hohen Palasttürme wehten blaue Fahnen, auf jeder ein silberner Stern umringt von geschwungenen Linien.

Im nächsten Moment war der Schnee verschwunden und ich war wieder zurück in der Kirche. Das Mondlicht flackerte. Das Wiehern des Einhorns wurde so laut, dass das Buntglasfenster zerbarst. Millionen Scherben stoben umher. Sie klirrten auf den Boden und auf den Altar, wo sie Dads aufgeschlagene Bibel eindeckten. Schützend hielt ich mir die Arme vor mein Gesicht.

Dann wachte ich auf.

Mit einem Ruck schlug ich die Decke zurück, die ich bis über den Kopf gezogen hatte, und schnappte nach Luft. Es dauerte einen Augenblick, ehe ich realisierte, wo ich war.

Ich wandte mich zum Fenster, das der Wind in der Nacht aufgestoßen hatte. Der anbrechende Tag schickte sein warmes Licht hindurch. Weit und breit war keine einzige Schneeflocke zu sehen. Entweder hatte es in der Nacht nur ganz kurz geschneit oder auch das war Teil dieses merkwürdigen Traums gewesen. Die Bilder, die er mir gezeigt hatte, waren mir noch deutlich im Gedächtnis.

Warum hatte mir mein Unterbewusstsein ausgerechnet Dads Kirche gezeigt? Irgendetwas sagte mir, dass das Buntglasfenster darin eine entscheidende Rolle gespielt hatte. War es, weil das Fenster einst als Tor gedient hatte?

Onkel Cinnak hatte mir erzählt, dass Meffid Cole und mich einst durch das Tor im Buntglasfenster hierher gebracht hatte. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf hatte Jancon alle Tore in die Menschenwelt versiegeln lassen. Alle, bis auf sein eigenes und Dads Bibel, von deren Existenz der Schwarze Löwe keine Ahnung hatte.

War es möglich, dass das Buntglasfenster dennoch ein Geheimnis hütete, das ich zuvor übersehen hatte? Was, wenn Amaris in dem Fenster gefangen war? Je mehr ich über den Traum nachdachte, umso mehr kam er mir wie ein Zeichen vor. Alle Details fügten sich wie ein Puzzle zusammen. Das Symbol, das ich auf der blauen Flagge gesehen hatte, war das Wappen meiner Familie, das Zeichen der Unicorns, welches Cinnak stets um den Hals trug. Ich versuchte, mich an die genaue Bezeichnung zu erinnern, und es dauerte einen Moment, bis sie mir einfiel: Ambrin.

Alles schien auf rätselhafte Art und Weise zusammenzupassen. Und ich wusste, die Zeit war gekommen, das Lager zu verlassen. In die Kirche zurückzukehren und dort nach dem Einhorn zu suchen, war riskant. Vielleicht irrte ich mich und ich würde nichts vorfinden als die quälenden Erinnerungen an den Mord meines Adoptivvaters. Die Möglichkeit, dass es anders kommen würde, bestand jedoch. Manchmal war ein Risiko unumgänglich, wenn man weiterkommen wollte. Ich musste es versuchen.

Während meine Gedanken immer noch im Traum und meinem Entschluss festhingen, nach Dublin zurückzugehen, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Kurz nach acht. Ich hatte länger geschlafen als gedacht. Wahrscheinlich war das dem harten Training der vergangenen Tage geschuldet. Mein Körper nahm sich seine Erholung und ich konnte es ihm nicht verdenken.

Es klopfte leise und ich riss den Kopf herum. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür einen Spalt und Cole lugte hindurch. »Oh, du bist wach?« Er kam rein und schloss leise die Tür hinter sich, um Marybell nicht zu wecken.

»Wo hast du gesteckt?« Sofort fing mein Herz wie wild an zu klopfen, als hätte ich gerade einen Sprint hingelegt. Für einen Moment vergaß ich, worauf mich mein Traum gebracht hatte, und ich war einfach nur froh, dass Cole zurück war und wieder mit mir sprach.

Er zog sich einen Stuhl vom Tisch heran und setzte sich mir gegenüber. »Ich war auf einer geheimen Mission«, verriet er flüsternd. »SanWen, Ezra und ich haben uns auf die Suche nach einem weiteren Lord und seinem Totem gemacht.«

»Noch ein Lord?«, flüsterte ich aufgeregt.

»Erinnerst du dich, dass Meffid uns nicht ins Lager begleiten konnte, weil sie einem anderen jungen Lord helfen wollte?«

»Stimmt, das hatte ich total vergessen.« Erst jetzt fiel mir auf, dass Meffid trotzdem vor uns beim Lager eingetroffen war. »Aber sie hat ihn nicht gefunden, oder? Sonst wäre sie ja nicht so schnell beim Lager gewesen, um uns beim Kampf gegen Talaken zu helfen.«

»Genau.« Cole nickte. »Ach, und der Lord ist eine Sie, kein Er. Sie heißt Ivy.«

»Ivy«, wiederholte ich den Namen leise. »Und warum war es so schwer, sie zu finden?«

»Ihre Kinderfrau wurde getötet, genau wie die von Mirvari. Ein Grund, weshalb sich ihre Spur verloren hatte. Anders als wir hatten die beiden niemanden aus Ambarr, der sich in dieser Welt um sie gekümmert hat. Der ihnen hin und wieder geholfen hat.«

»Und SanWen hat sie gefunden?«

»Um genau zu sein Alrisha. Der Drache hat sie im Norden des Landes ausfindig gemacht und wir haben ihn begleitet. Du glaubst nicht, wie abgefahren es ist, auf einem Drachen zu reiten!«