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Dieter Aurass

Frankfurter Schattenjagd

Kriminalroman

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Zum Buch

Leben nach der Katastrophe 1986: Die Katastrophe von Tschernobyl breitet sich aus, bald sind weitere Reaktoren im Osten betroffen, und 500 Millionen Menschen suchen Zuflucht in Mittel- und Westeuropa. 2006: Die Welt hat sich verändert – aus dem Chaos nach dem Atomdesaster der 80er-Jahre ist Europa als föderaler Staat hervorgegangen. In Frankfurt am Main, der Hauptstadt der »Föderation der europäischen Staaten«, kämpft ein international besetztes Polizeiteam unter der Führung des jungen deutsch-chinesischen Kommissars Xaver Xiang gegen das organisierte Verbrechen. Da bringt eine Serie grausamer Morde an Mafiosi die Unterwelt der Metropole aus dem Gleichgewicht und stellt die Ermittler vor ein Rätsel. Handelt es sich um Bandenrivalität zwischen der mongolischen und der russischen Mafia, der Yakuza und den chinesischen Triaden? Oder steckt weit mehr dahinter? Und ist die geheimnisvolle Frau, die Xiang den Kopf verdreht hat, eine unschätzbare Hilfe oder eine eiskalte Killerin?

Dieter Aurass wurde 1955 in Frankfurt am Main geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Abitur begann er seine 41 Jahre andauernde Karriere bei der Polizei. 30 Jahre lang war er Ermittler des Bundeskriminalamtes in den Bereichen Terrorismusbekämpfung und Spionageabwehr. Die letzten elf Jahre seiner Polizeikarriere arbeitete er im IT-Management der Bundespolizei. Seit vier Jahren schreibt er Kriminalromane. Dieter Aurass ist seit 32 Jahren verheiratet und lebt mit seiner Frau und einer Boston-Terrier-Hündin in Mülheim-Kärlich bei Koblenz am Rhein.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Frankfurter Blutspur (2017)

Frankfurter Kaddisch (2016)

 

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mark178/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5614-5

Vorbemerkung

Für Ellen

Ich hoffe, du hast es noch nicht bereut, mich in den Anfängen meiner Bemühungen, Bücher zu schreiben, so stark ermutigt und unterstützt zu haben – es geht doch sehr viel Zeit für uns verloren.

Dafür und dafür, dass du meine ehrlichste Kritikerin bist und mir stets sagst, was dir nicht gefällt, liebe ich dich.

Gleichzeitig widme ich dieses Buch all denen, die beruflich, im Ehrenamt oder privat aus Menschlichkeit und ohne jeden Drang nach Anerkennung für Flüchtlinge und zur Minderung von deren Not etwas leisten.

Meine Hochachtung!

Prolog

April 2006 – Frankfurt am Main

Natascha zog den Pelzmantel enger um ihren mageren Körper. Es war zwar bereits Mitte April, aber nachts wurde es noch immer empfindlich kalt.

Ivan hatte ihr drei Dinge beigebracht, die sie verinnerlicht hatte und trotz ihrer erst 16 Jahre treu befolgen würde: Geh mit keinem Freier, der dich nicht vorher bezahlt hat, lass dich auf keinen Fall mit Gelben oder Braunen ein, und wage es nicht, in die eigene Tasche zu arbeiten.

Nicht, dass sie auch nur im Traum daran gedacht hätte, Geld vor Ivan zu verstecken … nein, auf keinen Fall. Er war ihr Held, ihr Beschützer und ihr Liebhaber. Er hatte sie gerettet und unter seine Fittiche genommen, als ihre Mutter vor zehn Jahren gestorben war – zumindest nahm Natascha an, dass sie gestorben war. Auf einmal war sie nicht mehr da gewesen, also musste sie gestorben sein. Niemals hätte ihre geliebte Mama sie allein gelassen. Der Zobelmantel war alles, was ihr von Mama geblieben war – und die immer mehr verblassende Erinnerung an sie. Ihren Vater hatte Natascha nie gekannt. Er musste die große Liebe ihrer Mutter gewesen sein, zumindest hatte die das immer erzählt. Er hatte sie in den Wirren unmittelbar nach dem Super-GAU, während des dadurch ausgelösten Exodus beschützt, sie von St. Petersburg sicher bis hierher nach Frankfurt gebracht und dann geheiratet. Schon auf der Flucht nach Westen war sie schwanger geworden, und sie hatten einen Sohn bekommen, der aber mit nur einem Jahr in der Großen Hungersnot im Winter 1987 gestorben war. Es musste eine schlimme Zeit gewesen sein, und Natascha war dankbar, dass sie erst zweieinhalb Jahre später zur Welt gekommen war, als es bereits Containersiedlungen für die vielen Flüchtlinge aus aller Herren Länder gab – beheizbare Unterkünfte, die nach Herkunftsländern gruppiert waren und eigene kleine Städte bildeten. Trotzdem hatte sie ihren Vater nicht kennenlernen können, denn er war bei den europaweiten Unruhen im ersten Halbjahr 1991 ums Leben gekommen.

Die Erinnerung an die Erzählungen ihrer Mutter ließ sie erneut frösteln. Der Umstand, dass sie unter dem Pelzmantel nackt war, trug nicht dazu bei, die von unten hochziehende Kälte abzuhalten. Zumal sie, jedes Mal wenn ein Wagen langsam die Straße entlangfuhr und ein potenzieller Freier die am Straßenrand stehenden Mädchen beäugte, den Mantel weit öffnete, damit die Männer einen Blick auf ihren jungen Körper werfen konnten. Aber es war bisher ein schlechter Abend gewesen, und sie stand nun schon seit zwei Stunden hier, ohne die Gelegenheit bekommen zu haben, sich in einem der Fahrzeuge wenigstens für einige Minuten aufzuwärmen.

Die weiße Stretchlimousine war allen Mädels sofort aufgefallen, denn solche Fahrzeuge sah man hier äußerst selten. Der Straßenstrich war nicht die beliebteste Gegend für die Reichen, und wenn, dann waren es Leute mit sehr abartigen Wünschen, die sie von Edelprostituierten nicht erfüllt bekamen. Schon als der Wagen noch mehrere Hundert Meter entfernt war, konnte Natascha beobachten, dass eine der Seitenscheiben heruntergefahren war und jemand alle paar Meter etwas aus dem Wagen vor die Füße der am Straßenrand langsam näher herantretenden Mädchen warf. Sie sah und hörte, wie einige Frauen erschrocken aufschreiend zurückwichen, und konnte sich keinen Reim darauf machen. Als die Limousine noch etwa 50 Meter entfernt war, konnte sie erkennen, dass etwas in Stoff gewickeltes aus dem Wagen geflogen kam und klatschend vor die Füße ihrer Freundin Irina fiel – die es anstarrte und sich nicht mehr bewegte. Dann war der Wagen bei ihr angekommen und durch das offene Fenster flog etwas von der Größe eines Fußballs. Allerdings hingen an dem Fußball lange Fäden, die sich um ihn wickelten, als er holpernd auf sie zurollte.

Noch immer verstand sie nicht, was hier gerade geschah, und als der Ball etwa zwei Meter entfernt zum Liegen kam, trat sie verwirrt näher heran.

Je mehr sie sich dem geheimnisvollen Objekt näherte, desto mehr sahen die Fäden wie nasse, verfilzte Haare aus. Und als sie sich unmittelbar davorstehend herabbeugte, sah sie direkt in das ihr entgegenstarrende geweitete Auge, das zwischen den langen schwarzen Haaren hervorlugte und sie wie anklagend anzusehen schien.

Sie spürte nicht einmal, wie sich vor Schreck ihre Blase entleerte und der Urin ihre nackten Beine hinunterlief. Alles, was sie wahrnahm, war ein schrilles Kreischen, und es dauerte einige Sekunden, bis sie realisierte, dass es ihre eigenen Schreie waren.

Kapitel 1

Wenn ich geahnt hätte, was dieser Tag mir bescheren würde … ich wäre einfach liegen geblieben.

Nicht dass ich hätte schlafen können … keine Chance. Das hätte der ständige Lärm meiner Mitbewohnerinnen und -bewohner verhindert, die keinerlei Rücksicht darauf nahmen, dass ich eine lange Nacht gehabt hatte und meinen Schlaf brauchte, aber mindestens in gleichem Maße mein Pflichtgefühl bezüglich der Arbeit. Also sprang ich aus meiner Schlafkoje und hoffte, dass nicht Jinjin oder Romina das Badezimmer belegte, denn sonst würde ich ungeduscht zu meiner Dienststelle gehen müssen. Aus der Gemeinschaftsküche drang ein Geruch, der mich vermuten ließ, dass Mahindra wieder einmal eines seiner indischen Spezialgerichte kochte, deren sehr gewöhnungsbedürftige Aromen bei den meisten Bewohnern unserer Wohngemeinschaft auf wenig Gegenliebe stießen. Ich ging davon aus, dass Achmed und Vladimir noch schliefen, denn die beiden arbeiteten meist bis spät in der Nacht und verpennten oft den halben Tag.

Man hätte meinen sollen, dass ein gestandener Kriminalhauptkommissar sich ein eigenes Zimmer hätte leisten können, aber die Wohnungssituation in der Acht-Millionen-Metropole Frankfurt am Main wurde nicht besser, sondern von Monat zu Monat schlechter. Der Hauptstadtstatus bewirkte, dass jede Menge Bürokraten und Beamte aus Gesamt-Europa sich hier aufhalten mussten, ob sie wollten oder nicht. Den meisten von ihnen erging es nicht besser als mir, und da ich unverheiratet war, hatte ich keinerlei Anspruch auf eine eigene Wohnung, und sei sie noch so klein. Also hatten wir uns notgedrungen in dieser Multi-Ethno-Wohngemeinschaft zusammengefunden, was die meiste Zeit sogar ziemlich gut funktionierte … wenn man nicht empfindlich war und bereit, sich mit anderen Kulturen, fremden Gerüchen und bisweilen absonderlich erscheinenden Verhaltensweisen zu arrangieren.

Ich hatte für den Moment wenigstens insofern Glück, als das Badezimmer frei war und ich schnell unter die Dusche springen konnte. Ein Blick auf meine wasserdichte Seiko, die ich selbst beim Duschen niemals ablegte, zeigte mir, dass es 7:30 Uhr war. Es handelte sich um ein Relikt aus grauer Vorzeit, denn heutzutage wurden keine japanischen Uhren mehr hergestellt, zumindest nicht in Japan, denn das Land gab es nicht mehr. Na ja – das Land gab es schon noch, aber es lebten keine Menschen mehr dort. Die meisten waren tot, und die Überlebenden waren nach Australien oder Europa geflüchtet, nachdem das geschehen war, was man heute nur noch als »die Kettenreaktion« bezeichnete.

Ich war gerade dabei, die Zähne zu putzen, als mein Handy nervtötend schrillte. Es war meiner Position geschuldet, dass ich überhaupt ein Handy besitzen durfte … nein, eigentlich sollte es genauer heißen: ein Handy besitzen musste!

Ich hasste diese Dinger, mit denen du jederzeit und überall erreichbar warst. Zumal ein Klingeln in meinem Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutete, dass etwas passiert war, das meine Anwesenheit erforderte – und zwar noch vor dem eigentlichen Dienstbeginn.

»Xaver Xiang«, meldet ich mich mit vollem Namen, da ich nicht wissen konnte, ob es ein Mitarbeiter oder ein Vorgesetzter war, der mich zu erreichen versuchte. Alle Handys der Behörde waren mit Rufnummernunterdrückung ausgestattet, da wir mit diesen Geräten auch Ermittlungen führten und fremde Personen anriefen, an deren Rückruf uns nicht gelegen war.

»Ich bin’s, Basil«, erscholl die sonore Stimme des Engländers, »wir haben einen weiteren Toten. Am besten kommst du direkt zum Fundort.« Er schilderte mir noch die genaue Stelle und legte ohne ein weiteres Wort auf.

Detective Chief Inspector Basil Brown war kein Mann vieler Worte und beschränkte sich stets auf das Wesentliche. Er war einer der erfahrensten Ermittler meines Teams, hatte bereits vor 25 Jahren bei Scotland Yard Mordermittlungen durchgeführt, und ich war sehr froh, ihn in meiner Mannschaft zu haben. So gern ich ihn mochte, so sehr hasste ich ihn in diesem Moment für sein schlechtes Timing. Ade Frühstück, ade Kaffee, ade gemütlicher Start in den Tag.

Leise fluchend warf ich mich in meine Jeans, befreite meine Waffe aus dem Wandtresor in meiner Schlafkoje und schnallte sie um. Im Hinauseilen warf ich mir noch die Jeansjacke über, dann rannte ich die Treppen hi­nunter in den Hinterhof, wo mein Motorrad sicher untergebracht war.

Nur zehn Minuten später bog ich von Osten kommend in die Theodor-Heuss-Allee ein, verlangsamte, damit ich die Ausfahrt auf die B 44 nicht verpasste, die pa­ral­lel zur Autobahn verlief. Mir war bekannt, dass dieser Straßenabschnitt schon vor 40 Jahren als Straßenstrich genutzt worden war, vor allem deshalb, weil er gegenüber dem Areal lag, das einmal als Messegelände von Frankfurt bekannt gewesen war. Diese Zeiten waren allerdings schon lange vorbei. In unmittelbarer Folge der Kettenreaktion, als der nicht enden wollende Flüchtlingsstrom durch Europa zog, war das Gelände zunächst für Notunterkünfte genutzt worden, später waren dort festere Unterkünfte errichtet worden. Aber an dem Standort des Straßenstriches hatten all diese Entwicklungen nichts geändert.

Als ich am Ort des Geschehens ankam, war der Verkehr bereits umgeleitet und der Zugang zum Fundort der Leiche nur noch für die Polizei, die Rechtsmedizin und den Leichenbestatter möglich. Die uniformierten Kollegen erkannten mich sowohl an meiner BMW als auch an meinem Aufzug: Jeans, Jeansjacke und ein feuerroter Helm, der schon aus großer Entfernung gut zu sehen war.

Mich wunderte, dass gerade mal ein Drittel der Uniformierten einen Blick nach außen gerichtet hatten, von wo Pressevertreter hätten versuchen können, näher an den Schauplatz heranzukommen. Die anderen beiden Drittel der überwiegend männlichen Polizeibeamten hatten ihre Blicke nach innen orientiert, wo Oberkommissarin Sabina Senjuk zusammen mit Kapitan Boris Kasov stand. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht der stämmige, grobschlächtige Russe war, der das Interesse der Umherstehenden auf sich zog. Es war die Aserbaidschanerin, die teilweise mit unverhohlener Gier angeglotzt wurde. Als junger Mann mit intakter Libido konnte ich das natürlich absolut nachvollziehen. Sabina war der fleischgewordene Männertraum – zumindest für die meisten gebürtigen Mitteleuropäer. Natürlich standen viele NEOs (von »non-European Origin« – also »nicht europäische Herkunft«), wie sie inzwischen genannt wurden, oder deren Nachkommen je nach Herkunftsland nicht auf vollbusige, schlanke Schönheiten. Aber die Mehrheit der am Fundort anwesenden Polizisten wohl eher doch. Die 28-jährige Sabina war es gewohnt, diese Art von Aufmerksamkeit zu erregen, und für gewöhnlich machte sie gute Miene zum bösen Spiel. Sie hielt die Männer auf Distanz, indem sie zwar freundlich lächelte, aber durch ihre gesamte Haltung zum Ausdruck brachte: Wahrt Abstand! Heute allerdings blickte sie ernster als gewöhnlich, was mich ein wenig verwunderte.

Gemächlich schlenderte ich auf die beiden zu. »Und, wo liegt die Leiche?«, richtete ich meine Frage an Boris.

»Von da hinten bis dort drüben«, meinte er lakonisch und deutete mit der Hand einen Bereich an, den ich auf mindesten 200 Meter schätzte. Ich verkniff mir den Scherz mit dem Opfer, das von einer Dampfwalze überrollt wurde, und sah ihn nur fragend und mit hochgezogener Augenbraue an.

Boris zuckte mit den Schultern und meinte: »Die Einzelteile wurden aus einem vorbeifahrenden Wagen geworfen.« Der nur 1,70 große Russe blickte zu mir auf, was meiner Körpergröße von 1,95 geschuldet war, und sah mich abwartend an. Als ich nicht reagierte, fuhr er fort: »Komm mit, ich zeige dir den Kopf.«

Er ging voraus zu der Stelle, an der Sabina inzwischen in der Hocke einen vor ihr am Boden liegenden, fußballgroßen Gegenstand betrachtete. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, dass es sich dabei um den Kopf des Opfers handelte.

Als wir herantraten, blickte sie kurz auf. »Hi, Dex«, begrüßte sie mich nüchtern.

Es war nicht so, dass mein Team mir diesen Spitznamen gegeben hätten. Ich hatte ihn bereits als Kind in der Schule bekommen. Ich wusste bis heute nicht, was ich mehr gehasst hatte: meinen bayerischen Vornamen – das Erbe meiner Mutter – oder meinen chinesischen Nachnamen – das Erbe meines Vaters, eines China-Restaurant-Besitzers aus Frankfurt. Ein recht cleverer Mitschüler kam auf die Idee, meine Initialen, XX, als »Double Ex« (Doppel-X) zu lesen, was man hervorragend zu »Dex« abkürzen konnte. Es war wohl niemals jemand glücklicher über einen Spitznamen als ich. Seit dieser Zeit bat ich jeden, egal ob per Du oder per Sie, mich »Dex« zu nennen.

»Wissen wir schon etwas über die Volkszugehörigkeit? Was ist … nein, was war er? NEO, NEO-Mix oder Ethno-Mix?«

Als »NEO-Mix« bezeichnete man Menschen, deren Eltern zwei verschiedenen nicht-europäischen Ethnien zugehörten, und als »Ethno-Mix« die zunehmende Anzahl von Menschen, deren einer Elternteil aus Europa stammte und deren anderer Elternteil im Rahmen des Exodus nach der Kettenreaktion nach Europa gekommen war. In den letzten Jahren war es immer schwieriger geworden, die Herkunft eines in Europa lebenden Menschen zu bestimmen.

»Nein«, antwortete Sabina kopfschüttelnd, »sie haben den Chip entfernt, bevor sie seine Teile auf die Straße geworfen haben. Die Hand mit der Tätowierung fehlt ebenfalls, also werden wir auf die DNA-Analyse warten müssen.« Sie griff mit zwei gummibehandschuhten Händen nach dem Kopf, stellte ihn auf den Hals und strich die von klebrigem Blut durchnässten Haare aus dem Gesicht. »Aber wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich auf mindesten 75 Prozent mongolisch tippen.«

Ich hätte einen ähnlichen Tipp abgegeben, aber angesichts der Tatsache, dass wir in den vergangenen zwei Wochen bereits drei NEOs mongolischer Herkunft tot aufgefunden hatten, war ich mir sowieso relativ sicher, dass wir hier einen Teil des vierten Opfers dieser Mordserie vor uns hatten. Auch bei den anderen dreien waren die Identifizierungsmerkmale entfernt worden.

Bereits im Jahr zwei nach Tschernobyl war aufgrund des nicht enden wollenden Zustroms von Flüchtlingen aus Russland, China, Indien, Japan und noch einigen anderen Ländern ein »Identitätsfeststellungsgesetz« erlassen worden, das jeden Bewohner und jede Bewohnerin Europas verpflichtete, sich sowohl einen Identitäts-Chip implantieren zu lassen als auch eine Tätowierung auf dem rechten Handrücken zu tragen. Dabei handelte es sich um einen Barcode, also eine Anzahl unterschiedlich breiter Striche, anhand derer man in einer Datenbank die Identität einer Person feststellen konnte. Das hatte den Vorteil, dass das Unwesen mit verlorenen oder gefälschten Ausweisen ein für alle Mal ein Ende hatte. Selbstverständlich hatte es Versuche gegeben, die eigene Identität durch selbstgestochene oder von Tätowierern angefertigte Tattoos zu fälschen, aber eines der bestgehüteten Geheimnisse dieser Zeit war gewesen, dass die legale Tinte eine chemische Substanz enthielt, die von den Scannern erkannt werden konnte. Fälschungen waren unmöglich. Alle Institutionen, die früher das Recht oder die Notwenigkeit hatten, sich einen Ausweis zeigen zu lassen, waren mit Barcode-Lesern ausgestattet und hatten Zugriff auf die Datenbank, die lediglich die Identität eines Bürgers übermittelte. Dazu zählten neben den Melde- und Standesämtern natürlich auch Banken, Versicherungen oder Krankenhäuser. Der unterhalb des Schlüsselbeins implantierte Chip konnte nur von Sicherheitsbehörden ausgelesen werden und übermittelte darüber hinausgehende Informationen wie Vorstrafen, Strafakten, Gesundheitsdaten und noch einiges mehr. Auch alle gebürtigen Europäer waren verpflichtet worden, sich dieser Prozedur zu unterziehen, was zu großen Problemen geführt hatte. Ich erinnerte mich an diese schlimme Zeit, die sogar eine Partei hervorgebracht hatte, die sich »WskT« nannte – »Wir sind keine Tiere«.

Ich zwang mich, diese nicht zielführenden Gedanken abzuschütteln, damit ich mich wieder der Gegenwart widmen konnte. »Was war das für ein Wagen, aus dem die Teile geworfen wurden? Konnten die Zeugen etwas dazu sagen?«

Diesmal war es Boris, der antwortete: »Sogar eine ganze Menge. Das war ein wirklich auffälliges Fahrzeug, und wir haben sogar das Kennzeichen.«

Ich zog erneut überrascht die Augenbrauen hoch.

»Mach dir keine Hoffnungen, Dex. Wir hätten das Fahrzeug auch ohne Kennzeichen identifizieren können. Es handelte sich um eine weiße Stretchlimousine, von denen es in ganz Frankfurt nur zwei gibt. Sie gehören einem Fahrdienst-Service, der hochrangige Persönlichkeiten wie Rockstars, Filmschauspieler oder Politiker zu irgendwelchen offiziellen Anlässen kutschiert. Der Wagen war eine Stunde vorher aus der Garage der Firma gestohlen worden, und wir haben ihn etwa zwei Kilometer entfernt aufgefunden.« Noch bevor ich die sich daraus ergebende Frage stellen konnte, ergänzte er: »Völlig ausgebrannt, also keine Chance, darin verwertbare Spuren zu finden.«

»Okay«, ich überlegte einen kurzen Moment, »dann lasst die Leichenteile in die Rechtsmedizin schaffen, und wir treffen uns auf der Dienststelle.« Da es nichts mehr zu sagen gab, drehte ich mich um, schwang mich auf mein Motorrad und brauste in Richtung meiner Dienststelle davon.

Die EPO, also die »European Police Organisation«, war im designierten Polizeipräsidium der Stadt Frankfurt untergebracht – ein Gebäude, das 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Platz bot.

Als die Behörde vor fünf Jahren gegründet worden war, stand sehr schnell fest, dass der Hauptsitz in der Hauptstadt der »Föderation der europäischen Staaten« liegen würde. Mangels Platz hatte die Regierung entschieden, dass das bereits geplante und im Bau befindliche neue Frankfurter Polizeipräsidium einer alternativen Bestimmung zugeführt werden würde.

Die städtischen Beamten mussten am alten Standort im Bahnhofsviertel verbleiben oder wurden auf kleinere Dienststellen im gesamten Umland der stetig wachsenden Stadt verteilt. Einige wenige der Frankfurter Ermittlungsbeamten wurden in die neue Behörde versetzt, der große Rest der Mitarbeiter stammte aus verschiedenen Ländern Europas. Durch die Bank waren es verdiente Männer und Frauen, die in ihren Landesbehörden viele Erfahrungen gesammelt hatten.

Mein Team war zuständig für die Todesermittlungen in der Abteilung »Organisierte Bandenkriminalität – NEO«. Wir beschäftigten uns mit den Bandenmorden im Umfeld der bekannten und weniger bekannten Verbrecherorganisationen, also Yakuza, Triaden, Russenmafia und der vielen Gruppen aus Indien, Pakistan, der Mongolei und jedem anderen Land, aus dem Flüchtlinge nach Europa gekommen waren. Es gab kein Land, aus dem im Zuge der Migration derjenigen, die nur ihr Leben hatten retten wollen, nicht auch eine kriminelle Organisation nach West-Europa gekommen war, und jede dieser Banden stand mit allen anderen in ständigem Konflikt um Geschäftszweige oder Reviere – für uns eine Garantie, dass wir niemals arbeitslos werden würden.

Selbstverständlich gab es nach wie vor die alteingesessenen kriminellen Organisationen, wie die italienische Mafia, französische oder spanische kriminelle Strukturen, die bereits vor der Kettenreaktion und dem da­rauf­folgenden Exodus in Europa ihr Unwesen getrieben hatten. Diese lieferten sich bisweilen erbitterte Revierkämpfe mit den zugewanderten Kriminellen. Aber für diese Gruppierungen war eine andere Einheit der EPO zuständig, auch wenn sich unsere Ermittlungen bisweilen überschnitten.

Nachdem ich mein Motorrad im Innenhof des ehemaligen Polizeipräsidiums – nun die Zentrale der EPO – abgestellt hatte, begab ich mich in den 11. Stock des Westflügels, wo unsere Abteilung ihren Sitz hatte.

Als sich die Fahrstuhltür öffnete, sah ich mich unvermittelt Direktor Ruben van Kilsdonk gegenüber, meinem Vorgesetzten und Leiter der Abteilung »Organisierte Kriminalität«. Der Niederländer war eine beeindruckende Erscheinung, trotz seiner 55 Jahre. Die weiße, wallende Mähne, sein weißer Vollbart und die dazu in starkem Kontrast stehende gebräunte Haut ließen ihn nicht wie den typischen Niederländer aussehen, der er ansonsten aber in jeder Beziehung war. Er hatte bereits vor dem Exodus für Interpol in Den Haag gearbeitet und sollte nach meinen Informationen schon damals wie auch noch heute in einem riesigen Wohnmobil gelebt haben. Dies stellte bei der extremen Wohnsituation im Allgemeinen und den noch schlimmeren Zuständen in Frankfurt im Besonderen einen Luxus dar, den selbst der Behördenleiter nicht vorweisen konnte, was ihm mehr als einmal neidvolle Blicke seiner Untergebenen und Vorgesetzten eingebracht hatte.

Mit meinen 32 Lebensjahren war ich ihm an Erfahrung weit unterlegen und fragte mich ständig, warum er ausgerechnet mich zum Leiter der Einheit gemacht hatte. Als er mir vor einem Jahr die Aufgabe übertragen und ich ihn nach dem Grund gefragt hatte, war ich mit der Antwort nicht zufrieden gewesen. Er hatte mich geheimnisvoll angelächelt und mit seiner tiefen Bassstimme gesagt: »Wenn Sie es in einem Jahr immer noch nicht wissen, fragen Sie mich noch mal. Aber ich traue Ihnen zu, dass sie es selbst herausfinden werden.«

Entgegen seiner Voraussage hatte ich es immer noch nicht herausgefunden, aber das musste nichts bedeuten, denn die Einschätzung meiner eigenen Person und meiner eigenen Fähigkeiten war noch nie meine Stärke gewesen. Aber ich würde den Teufel tun und ihn fragen … nicht ums Verrecken. Das ließ mein Stolz nicht zu.

»Lassen Sie uns zu den anderen gehen, Dex. Wir müssen uns besprechen.«

Ich folgte ihm wortlos in die Einsatzzentrale, wo sich alle Teammitglieder versammelt hatten. Sabina und Boris hatte ich ja schon am Fundort der Leichenteile getroffen, Basil Brown hatte mich von eben dieser Zentrale aus angerufen, aber die anderen beiden waren wohl von zu Hause direkt in die Zentrale gekommen und saßen nun erwartungsvoll auf ihren Plätzen: Lieutenant de Police Jacqueline Bertrand und Detective Lee Chang. Die 32-jährige Französin und der 24-jährige Hongkong-Chinese entsprachen in keiner Weise dem Klischee, wie man sich früher oft Frauen aus Frankreich oder junge Männer aus Hongkong vorgestellt hatte. Jacqueline war lediglich 1,60 groß und mehr als nur leicht übergewichtig. Ich fragte mich, wie sie die Polizeiaufnahmeprüfung geschafft hatte. Doch sie hatte andere Qualitäten, die ihr unscheinbares Äußeres mit den strähnigen braunen Haaren und den unauffälligen, aber warmen braunen Augen mehr als wettmachten. Sie hatte ein geradezu empathisches Einfühlungsvermögen in Zeugen und Verdächtige, was sie zur fast perfekten Verhörspezialistin machte. Der Außeneinsatz war nicht ihr Gebiet, und sie versuchte, so oft wie möglich im Büro zu bleiben.

Bei einem Hongkong-Chinesen wie Lee Chang, wobei Lee der Nachname war, hätten die meisten Menschen direkt an das Kampfsport-Idol Bruce Lee gedacht. Seine drahtige Figur und die geringe Größe hätten diesen Gedanken nahegelegt … bis man ihn in Aktion sah. Noch nie hatte ich einen tollpatschigeren Menschen kennengelernt als Chang. Er stolperte, blieb an Tischkanten und Türrahmen hängen, warf reihenweise Gläser und Tassen um und war unablässig damit beschäftigt, sich zu entschuldigen. Dabei stieß er in der Regel wieder mit jemandem zusammen oder warf etwas um. Alles in allem fast untragbar für einen Polizeibeamten … wäre da nicht seine Passion für und geniale Begabung im Umgang mit Computern und Technik gewesen. Das war der Hauptgrund, warum ich ihn in mein Team geholt hatte. Allerdings hatte er noch weitere Fähigkeiten offenbart, die er in seiner ihm eigenen Bescheidenheit nie erwähnt hatte und die auch nicht in seiner Personalakte standen: Er sprach sieben Sprachen fließend und war auch ein kombinatorisches Genie. Er erkannte Zusammenhänge, wo andere nur einen Wust an Daten und Informationen sahen.

Ich musste neidlos anerkennen, dass eigentlich jeder in meinem Team mir in seinem Spezialgebiet oder an allgemeiner Erfahrung überlegen war, weshalb ich mich ständig als Leiter der Einheit infrage stellte.

Van Kilsdonk begrüßte die Anwesenden: »Meine Damen, meine Herren, lassen Sie uns zusammenfassen, was wir bisher an Informationen haben, bevor ich die weitere Vorgehensweise in Ihre Hände gebe. Ich habe gerade das Ergebnis der DNA-Untersuchung bekommen.«

Kapitel 2

Es war nicht ungefährlich, sich in den Kreisen der Russenmafia zu bewegen, aber Boris Kasov kannte keine Angst. Er hatte ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das er deutlich nach außen trug. Das schüchterte sein jeweiliges Gegenüber in der Regel ausreichend ein, um ihn nicht so leicht zum Opfer werden zu lassen. Zusätzlich verfügte er über eine Rücksichtslosigkeit, die von anderen oft als Grausamkeit bezeichnet wurde und die ihm den Ruf eines gefährlichen Mannes beschert hatte … zumindest in den Kreisen, in denen er sich beruflich bewegte.

So absurd es klang: Er freute sich darauf, wieder einmal den Klang der russischen Sprache zu hören, wenn er gleich mit Sergeij Radenko zusammentreffen würde. Seinen Kindern zuliebe sprachen er und seine Frau Ivana auch zu Hause nur englisch, das sich inzwischen als europäische Amts- und Verkehrssprache etabliert hatte. Als die Flüchtlinge nach Europa kamen, war Englisch der große gemeinsame Nenner gewesen, wenn es darum ging, sich mit den vielen Fremden verständigen zu können.

Boris war einer der ersten Russen gewesen, die die Zeichen der Zeit erkannt und die Flucht aus Moskau angetreten hatten. Als am 26. April 1986 das Atomkraftwerk in Tschernobyl, im Norden der Ukraine, in die Luft flog, war er ein junger Polizist von 21 Jahren gewesen, hatte nur wenige Wochen zuvor Ivana, die Mutter seiner einjährigen Tochter geheiratet und nun aus Sorge um die Familie die Nachrichten aufmerksam verfolgt. Zunächst hatte ihn die Information beruhigt, dass ein extrem strenger Westwind die Radioaktivität nach Osten trug. Als dann aber die ersten Meldungen kamen, dass sich aus bisher nicht zu klärenden Gründen im Nachgang der Katastrophe von Tschernobyl die Probleme rasend schnell in Richtung Osten zu verbreiten schienen, war er sehr nachdenklich geworden. Schon nach kurzer Zeit kamen Horrormeldungen aus Armenien, Indien und schließlich auch aus China und Japan.

Während in den westlichen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Schweden und Spanien sofort alle Reaktoren auf »Stand-by« geschaltet wurden, wurden in der Sowjetunion die Bürger durch beschönigende und verharmlosende Meldungen beruhigt und nicht über das wahre Ausmaß der Katastrophe informiert. Erst als nach und nach noch mehr Reaktoren im Osten Europas und Asien durchbrannten, zeichnete sich auch für den letzten Sowjetbürger das nicht mehr zu verheimlichende Desaster ab. Als schließlich 204 Reaktoren in 17 Ländern den Strahlentod in ihre Umgebung ausgespien hatten, war Boris schon lange nicht mehr in seiner Heimat.

Boris war nicht dumm und besaß darüber hinaus eine ausufernde Fantasie. Er hatte sich in den düstersten Farben ausgemalt, was in der nächsten Zeit passieren würde, als viele Russen noch wie gelähmt vor den Fernsehgeräten saßen und auf Anweisungen warteten. Er war nicht der mustergültige Sowjetbürger, der nur auf die Befehle des Staates wartete. Er war selbstständig und beschloss früh genug, eigenständig zu handeln. Er packte seine Frau und das Kleinkind in seinen uralten Lada und machte sich, so schnell es ging, auf den Weg nach Westen. Dabei war ihm von Anfang an klar gewesen, dass Polen oder Tschechien als Zielländer seiner Flucht keine Option waren. Was viele sich in den Anfängen der Entwicklung noch nicht klarmachten, war der Umstand, dass diese Länder von der zu erwartenden Flüchtlingswelle aus dem Osten überrollt und diesem Ansturm nicht gewachsen sein würden. Boris’ Entscheidung stand sehr schnell fest: nach Deutschland fliehen, zumal er ein wenig Deutsch in der Schule gelernt hatte. Also reisten sie auf dem schnellsten Weg in die DDR, wo sie sich aber nicht lange aufhielten. Als immer mehr Menschen aus Polen und Ungarn in die DDR flüchteten, sah Boris seine Voraussage bestätigt: Die Bevölkerung der DDR floh selbst vor den drohenden chaotischen Zuständen in ihrem Land aufgrund von Lebensmittelknappheit und allgemeiner Mangelversorgung. Die Mauer, der angebliche »Schutzwall gegen den Imperialismus des Westens« wurde von den eigenen Bürgern niedergerissen – allen voran von den Soldaten, die kurz zuvor noch die Bürger an der Flucht gehindert hatten. Boris und seine Familie schlossen sich an und ließen sich in der Nähe von Frankfurt am Main nieder.

Nur fünf Jahre später hatte seine Familie die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt, und er hatte aufgrund seiner Erfahrung erneut in den Diensten der Polizei gestanden.

Boris konzentrierte sich auf seine bevorstehende Aufgabe und betrat das »Little St. Petersburg«, die Schaltzentrale des Mafiapaten von Frankfurt, Sergeij Radenko. Bereits am Eingang hielt ihn ein bulliger Riese auf und wollte ihn filzen.

»Wage es nicht, mich abzutasten, du hirnloser Idiot«, fuhr Kasov ihn auf Russisch an, »Sergeij erwartet mich, und ich werde ihm nicht ohne meine Waffe gegenübertreten. Ich bin Polizist und gehe nirgends unbewaffnet hin, ist das klar?«

Dieses in Verbindung mit einem vernichtenden Blick vorgetragene Statement schien den Türsteher zu verunsichern, und er zögerte, irgendetwas zu tun. Boris nutzte die Unfähigkeit des sehr einfach strukturierten Mannes, sich zu entscheiden, und drängte an ihm vorbei in die Tiefe des Lokals. Im Hinterzimmer, dem »Büro des Paten«, wartete Radenko hinter seinem Schreibtisch und lächelte ihm selbstbewusst entgegen. Rechts und links des riesigen Möbelstücks standen mit vor der Brust verschränkten Armen zwei weitere Riesen, diese beiden allerdings in makellosen schwarzen Anzügen. Die Beulen unterhalb der linken Achsel sprachen eine deutliche Sprache, und Boris sah für den Moment darüber hinweg, dass es Privatleuten seit Jahren gesetzlich untersagt war, Waffen zu tragen. Seit den Unruhen von 1991 gab es auch keine Ausnahmen für die Bodyguards der Reichen und Prominenten. Waffen durften ausschließlich von Staatsbediensteten mitgeführt werden. Dass sich die Mitglieder der zahlreichen Verbrecherorganisationen einen Dreck um das Gesetz scherten, war eine allseits bekannte Tatsache. Allerdings riskierten sie langjährige Haftstrafen, wenn sie auf der Straße mit diesen Waffen erwischt wurden.

Radenko erhob sich aus seinem Ledersessel und streckte die Arme in einer einladenden Geste von sich. »Boris, alter Freund, wie schön, dich zu sehen. Hast du dich endlich entschlossen, die Seiten zu wechseln?« Er lachte laut auf über seinen eigenen Scherz. »Lass dich an meine Brust drücken.«

Boris ignorierte den alten Russen, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Dann blickte er zu Radenko auf, der immer noch mit ausgebreiteten Armen hinter seinem Schreibtisch stand. »Mach dich nicht lächerlich, Sergeij, du weißt, warum ich hier bin. Und ich werde den Teufel tun, einen Mafiapaten zu umarmen. Also setz dich wieder hin und lass uns wie Erwachsene reden, okay?«

Mit einem vernehmlichen Seufzen setzte sich Radenko, von dem Boris wusste, dass er im vergangenen Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert hatte. Dennoch sah er dank zahlreicher chirurgischer Eingriffe eher wie Mitte 50 aus. Er schnipste mit den Fingern, und einer der beiden Bodyguards setzte sich schwerfällig in Bewegung. Kurz darauf standen eine Flasche teuren Wodkas und zwei Wassergläser auf dem Tisch. Radenko schenkte in beide Gläser etwa halbvoll ein und schob eines über den Schreibtisch auf Boris zu.

Der hatte keine Probleme, auch im Dienst einmal ein Glas zu trinken – wenn es denn der Sache diente. Außerdem war es ja nur Wodka, also für einen echten Russen vergleichbar mit Muttermilch. Deshalb ergriff er das Glas und erhob es.

»Na sdorowe!«

Beide tranken das Glas auf einen Zug leer, und Boris musste eingestehen, dass es wirklich ein Genuss war, mal wieder einen delikaten Wodka zu trinken.

»Aaah«, ließ sich Radenko hören und stellte sein Glas hart auf die Ebenholzoberfläche des Schreibtisches. »Also, mein Freund, was führt dich zu mir? Ich denke doch, dass es kein Höflichkeitsbesuch ist, oder?« Wieder lachte er laut, aber es kam Boris eher gekünstelt vor.

»Du weißt, weshalb ich hier bin. Was ist das mit den Mongolen, die wir zurzeit reihenweise und in ihre Einzelteile zerlegt von der Straße auflesen?«

Radenko blickte erstmals ernst und nachdenklich vor sich auf den Schreibtisch. Boris geduldete sich. Nichts würde einen stärkeren Gesichtsverlust erzeugen, als wenn er einen aufdringlichen oder nervigen Eindruck bei seinem Landsmann erweckte.

»Natürlich habe ich mir schon gedacht, warum du gekommen bist«, begann der Mafiaboss schließlich langsam. »Diese unselige Geschichte mit den ›Erben des Khan‹, ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

Boris runzelte verwundert die Stirn. »›Erben des Khan‹? Von dieser Gruppe habe ich noch nichts gehört.«

Wieder lachte Radenko. »Doch, doch, aber du kennst sie wahrscheinlich eher als die ›Dschingis‹, oder? Sie bezeichnen sich nur innerhalb ihrer Gruppe als die ›Erben des Khan‹. Ich finde das ziemlich lächerlich. Allerdings muss ich auch zugeben, dass mir das Ende einiger dieser Barbaren nicht wirklich nahegeht. Im Gegenteil«, äußerte er mit einem leisen Kichern und einem feisten Grinsen auf dem Gesicht, »ich möchte fast sagen, es ist gut fürs Geschäft.«

Boris war bekannt, dass die »Dschingis« vor allem im Drogen- und Prostitutionsgeschäft mitmischten und somit direkte Konkurrenten der Russenmafia waren. Deshalb war Radenko auch seine erste Anlaufstelle für Nachforschungen gewesen. Er kannte den alten Paten schon seit Jahren und wusste, dass er etwas besaß, was normale Menschen ausgerechnet bei einem nachweislichen Verbrecher weder erwarteten noch nachvollziehen konnten: Ehre. Es war eine Art der Ganovenehre, wie es sie schon seit Jahrhunderten gab. In bestimmten Dingen würde er seinen Landsmann nicht anlügen. Im Gegenteil: Hätten die Russen etwas mit den Morden an den Mongolen zu tun, dann hätte Radenko sich indirekt damit gebrüstet und ihn mit einem Augenzwinkern aufgefordert, doch zu versuchen, es ihm nachzuweisen. Er war ein Fuchs, und ein Nachweis wäre so gut wie unmöglich gewesen. Also glaubte Boris ihm.

»Hast du einen Vorschlag, wo ich weitersuchen könnte?«

Diesmal lachte Radenko von Herzen und konnte sich kaum wieder beruhigen. »Das meinst du wirklich ernst, nicht wahr? Ich kann es nicht glauben: Die Polizei bittet mich um Hilfe. Bekomme ich auch einen Sheriffstern, so als Hilfssheriff?« Wieder lachte er schallend. »Ich würde es mal bei den Schlitzaugen versuchen. Den Japsen traue ich am ehesten zu, dass sie so eine Schweinerei anrichten.« Er schüttelte sich. »Wirklich grauenvoll.«

Boris bemerkte, dass der alte Mann erneut ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken konnte. Sein Mitleid mit den Getöteten hielt sich schwer in Grenzen.

»Gut«, bemerkte Kasov trocken, »dass du so ein mitfühlender Mensch bist.« Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Wir sehen uns, Sergeij, wir sehen uns.«

Auf den Hinweis bezüglich der Japaner ging er nicht näher ein, vor allem, da er wusste, dass sich bereits andere um diesen Ermittlungsansatz kümmerten.

Kapitel 3

Die japanische Yakuza residierte nicht, wie es bei der italienischen Mafia oder der Russenmafia noch immer üblich war, in Hinterzimmern von Gaststätten oder Spielhöllen. Ihre Organisation hatte den Anstrich der Legalität in Form von Firmensitzen, Holdings oder sogar Banken. Und so hatten sich Lee Chang und Basil Brown zu dem mit Spiegelglas verkleideten Bürogebäude in der Innenstadt von Frankfurt begeben, wo sie die Zentrale des Frankfurter Ablegers der Yakuza wussten. Trotz der dünnen Anstands-Tünche war die Yakuza als das rücksichtsloseste und brutalste der vielen kriminellen Syndikate bekannt. Die Frankfurter Gruppe stellte zwar nur einen kleinen Ableger der Japaner dar, weil seit vielen Jahrzehnten Düsseldorf der bevorzugte Siedlungspunkt von Menschen dieser Herkunft gewesen war. Aber selbstverständlich durfte in der europäischen Hauptstadt eine Vertretung der Yakuza nicht fehlen. Hier, im Zentrum Europas, spielte die Musik. Hier wurden die großen politischen Entscheidungen getroffen, und hier waren die Politiker ansässig, die es galt, durch Bestechung oder Erpressung zu beeinflussen.

Der gebürtige Hongkong-Chinese Chang hatte sich schon oft gefragt, warum ein erheblicher Prozentsatz der Japaner nach Europa geflüchtet war. Als am 27. April 1986 die Kettenreaktion Japan erreicht hatte, hatte mehr als die Hälfte der Bevölkerung das Leben verloren – entweder sofort, aufgrund des radioaktiven Fallouts aller nacheinander durchbrennenden 49 Reaktorblöcke des Landes, oder in der nach der Katastrophe ausbrechenden Massenpanik. Er hätte eher vermutet, dass die japanische Bevölkerung nach Neuseeland oder Australien flüchten würde. Warum so viele von ihnen in Europa gelandet waren, würde er wohl nie erfahren.

Chang fragte sich zudem manchmal, ob die kriminellen Elemente verschiedener Nationen zusammen mit denen, die lediglich ihr Leben retten wollten, nach Europa gekommen waren, weil sie davon ausgehen konnten, dass das dort durch den Massenexodus zu erwartende Chaos ein Eldorado für Kriminelle schaffen würde.

Chang hatte sich gerade mit seinen Eltern in London befunden. Er war vier Jahre alt gewesen und sein Vater, ein hochrangiger Politiker in Hongkong, hatte die ganze Familie zu einem längeren dienstlichen Aufenthalt mit nach England genommen. Selbstverständlich konnte Chang sich nicht an diese Zeit erinnern, aber sein Vater hatte ihm später oft erzählt, dass er bereits damals überlegt hatte, nach England auszuwandern. Die vertraglich geregelte Rückgabe der Kronkolonie Hongkong an China lag damals zwar noch elf Jahre in der Zukunft, aber Changs Vater sah keinerlei Chance für sein politisches Überleben in Hongkong, wenn erst das kommunistische China dort wieder die Zügel in der Hand hielt. Diesem Aufenthalt in England verdankte die Familie mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Leben, denn die meisten Kernkraftwerke Chinas befanden sich in der Küstenregion des riesigen Landes … wo auch Hongkong lag.

Also war er in England aufgewachsen und hatte dort eine gute Ausbildung erhalten, was auch dem Umstand zu verdanken war, dass sein Vater innerhalb kürzester Zeit zum Minister für Flüchtlingsfragen aufgestiegen war und die Familie somit ein gutes und sicheres Einkommen hatte. Nach seiner Ausbildung und dem Studium der Informatik hatte er sich seinen Beruf nicht ausgesucht – der Beruf hatte sich ihn ausgesucht. Scotland Yard war auf ihn zugekommen und hatte ihn gefragt, ob er für eine damals noch recht neue Einheit arbeiten wolle, die sich mit der Bekämpfung der Computerkriminalität beschäftigte. Die neue Aufgabe hatte ihn gereizt, und so war er bei der Polizei gelandet.