Rebellious Hearts




Roman



Digitale Originalausgabe



 

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Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017
Covergestaltung: Casandra Krammer
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017

ISBN: 978-3-401-84005-5

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Prolog

 

Er steht auf dem Balkon des Hochhauses, zerdrückt die Zigarette auf der Fensterbank. Achter Stock. Weit genug entfernt von dem Aufruhr am Boden und doch nah genug, um ein Auge auf das Spektakel zu werfen. Polizeiwagen sind im Einsatz, sieben oder acht. Sie haben die Randalierer eingekreist. Der schwarze Himmel über Clichy-sous-Bois gleicht einem Feuermeer. Er kann den Gestank der brennenden Autos riechen. Gummi, Reifen, geborstener Lack. Immer wieder schreien Menschen, er sieht ihre Gesichter am Boden, auf den Balkonen, verängstigt hinter geschlossenen Fenstern. Die fleckige Fassade der grauen Wohnblöcke leuchtet in warmen Tönen. Gelb und rot. Rot wie Blut. Die Sirenen am Horizont kündigen den Rettungswagen an. Zu spät.

Sie sind wütend. Er kann es spüren, selbst hier oben, selbst durch den dicken Mantel, den er trägt. Der Schuss war laut und deutlich zu vernehmen, es war mehr als ein Warnschuss. Sein Mobilfunkgerät hat es ihm verraten, kurz nach dem Knall.

Merde! Er ist tot! Dafür werden die Schweine büßen!

Er will nicht lächeln, während er das liest, doch irgendwie entwickeln sich die Dinge ganz so, wie er sie gerne hätte.

Das Spiel kann bald beginnen.

Irgendwo wimmert ein Kind. Er weiß, sobald die Sonne aufgeht, wird sich ein Sturm von hier erheben und über ganz Frankreich fegen.

Irgendwie doch ein guter Tag.

Er schließt den Mantel und verlässt den Balkon.

Kapitel 1

 

Er war noch immer hinter ihr.

Manon konnte seine Anwesenheit in ihrem Rücken spüren wie eine haarige Spinne, wie einen warmen, unangenehmen Atem im Nacken, wie einen juckenden Pickel. Sie zwang sich, den Blick nach vorne zu richten, und nahm zwei Stufen auf einmal. Piep Piep Piep. Die Metro-Türen schlossen sich. Ein schmaler, weißer Gang. Abgestandene Luft, der Geruch von heißem Gummi, viel zu tief unter der Erde. Ellbogen, Wintermäntel, hektische Schritte. Treppe hoch, Treppe runter. Eingequetscht in der Masse, dieses Gefühl stetig im Rücken, egal wohin sie ging. Es hatte begonnen, als sie den Hof des Lycée Saint-Louis passierte. Als sie sich in den Strom der Schüler in Richtung Metrostation eingeordnet hatte, den Blick auf die eigenen Füße gerichtet, auf das Smartphone-Display, auf Elizas neue Handschuhe, dann wieder das Handy. Das Gefühl blieb. Bloß nicht stehen bleiben. Zu sehr fürchtete sie, ihr unsichtbarer Verfolger könnte von hinten nach ihr greifen.

Die Masse drückte sie an die Oberfläche. Wie ein Alien tauchte sie aus der Erde auf, Tag für Tag. Das Licht blendete und war viel zu weiß, sodass man die Augen zusammenkneifen musste. Aber es gab keine Zeit zum Verweilen. Die Masse wollte weiter, immer weiter. Pausen waren nicht vorgesehen.

Die Brücke Pont d’Arcole, dahinter Notre-Dame. Touristen überall, selbst um diese Jahreszeit. Weihnachtsshopping in Paris schien auch dieses Jahr angesagt zu sein. Manon zog sich die schwarze Wollmütze tief ins Gesicht. Unter den schwarzen Stulpenhandschuhen schauten weiße Fingerspitzen hervor, so verkrampft, als seien sie bereits abgestorben. Der Wind zerrte an den kahlen Zweigen der Bäume, die das Seineufer säumten, als Manon den Fluss überquerte und sich beeilte, die Île Saint-Louis zu erreichen. Wie eine einsame Insel wuchs ihr Zuhause aus der Seine hervor, wie das gelobte Land, inmitten der Stadt und doch so isoliert. Die teuersten Wohnungen von ganz Paris reihten sich hier am Seineufer auf und schienen abfällig auf die andere Flussseite hinüberzublicken. Fickt euch, wollte Manon ihnen zurufen. Könnt ihr nicht wenigstens so tun, als wärt ihr ebenso stinknormal wie die restlichen Häuser dieser Stadt? Diese Insel war ein Gefängnis, seit ihrer Kindheit. Eingesperrt zwischen Stuckdecken, Portiers, Gänseleberpasteten, Kindermädchen und Champagnerempfängen. Manon konnte sie nicht ertragen, die distanzierte Bewunderung in den Augen ihrer Mitschüler, noch viel weniger als den Neid, den manche an den Tag legten. Vielleicht schnitt sie sich deshalb Löcher in ihre Jeans, vielleicht hörte sie deswegen hirnverbrannten Hip-Hop, ja, vielleicht hatte sie sich allein deswegen das aschblonde Haar schwarz gefärbt. Weil Schwarz Rebellion bedeutete. Die einzige Rebellion zu der sie fähig war.

Das Gefühl im Rücken wurde schwächer. Ganz so, als halte die noble Atmosphäre der Seineinsel alles Böse von ihr fern. Als tauche sie ein in einen wattegepolsterten Schutzraum, in dem sich ihre verdammt reiche, verdammt bedeutende Familie zurückziehen konnte, wenn ihr der Rest der Welt mal wieder am Arsch vorbei ging. Doch heute befand sich Manon nicht auf dem Weg nach Hause. Sie hatte versprochen, im Offenen Wohnzimmer vorbeizuschauen, dem Treffpunkt für Pariser Obdachlose. Und was sie versprach, das hielt sie.

Fluchend drückte sie sich weiter durch die Menschenmasse, ihren Verfolger hatte sie bei all dem Trubel um sie herum beinahe vergessen. Warum musste Paris immer so voll sein? Sie würde sich gehörig verspäten. In ihrer Schultasche stießen die Farbeimer klackernd aneinander.

Das Offene Wohnzimmer war eine unscheinbare Einrichtung, ein grauer Hauseingang, eingequetscht zwischen einem Antiquitätenladen und einer Fleischerei, ganz in der Nähe von Notre-Dame. Manon war über die Mutter ihrer besten Freundin Eliza auf das Projekt aufmerksam geworden, das dort dieser Tage durchgeführt wurde. Ein Kunstprojekt. Freiwillige Helfer gestalteten zusammen mit den Obdachlosen die Räume der Einrichtung neu, damit es dort endlich etwas freundlicher und wohnlicher wurde. Manons Eltern wussten natürlich nicht, dass sie dort bereits seit einer Woche ihre Nachmittage verbrachte. Sie hätten es nur schlechtgeredet. Malen mit Obdachlosen statt Hausaufgaben machen für bessere Schulnoten. Nein, Manons Eltern dachten, sie pauke Englisch und Bio mit ihren Mitschülern. Welch seltsame Vorstellung …

Sie öffnete die Tür zum Offenen Wohnzimmer und atmete erleichtert auf. Hier war sie ihren Verfolger erst mal los. Wer auch immer es war, hierhin würde er ihr nicht folgen. Beim Eintreten strömte ihr sofort der Geruch von nasser Farbe und Terpentin entgegen. Er zauberte Manon ein Lächeln aufs Gesicht. Endlich, nach einem langweiligen Schultag, der stressigen Metrofahrt, der Kälte und dieser seltsamen Ahnung, ständig verfolgt zu werden, hatte sie das Gefühl, irgendwo anzukommen.

»Hey Manon«, rief Lothar, der ihr mit einer Leiter beladen entgegenkam. »Da bist du ja endlich. Leg ab und beweg deinen Hintern ins Gemeinschaftszimmer, wir malen heute ’ne Blumenwiese.«

Manon schüttelte lachend den Kopf, schmiss Jacke und Mütze im Eingangsbereich in die Ecke, strich sich die Ponysträhnen aus der Stirn und schnappte sich ihre Farbeimer und Pinsel. Dann marschierte sie in den ersten Stock. Sie konnte die Blumen bereits vor sich sehen. Ihre würden vielleicht etwas verrückter ausfallen als die der anderen. Schwarze Sonnenblumen, lilafarbene Gänseblümchen, kreischend rote Grashalme. Manon liebte es einfach zu experimentieren. Vor allem aber liebte sie es zu malen. Mit Menschen, die sie in Ruhe ließen, die sie genauso akzeptierten, wie sie war, und sich nicht an ihrem schlechten Kleidungsstil oder ihrer schlechten Laune aufhängten. Manon mochte die Leute im Offenen Wohnzimmer. Sie waren herzlich und einfach nur normal. Ja, hier verbrachte sie ihre Nachmittage am liebsten.

 

Als Manon zwei Stunden später die Île Saint-Louis betrat, war sie die einzige Fußgängerin weit und breit. Mittlerweile war es dunkel geworden. Sie erinnerte sich an ihren Verfolger und blickte sich immer wieder um. Niemand zu sehen. Doch sie hatte es sich nicht eingebildet, ganz sicher nicht. Er war da gewesen. So wie die ganze letzte Woche. Er verfolgte sie, sobald sie aus der Schule trat, doch auf die Insel traute er sich nicht. Was wollte diese Person von ihr? Hatte sie sich etwa einen Stalker eingefangen?

Sie schüttelte verärgert den Kopf und gab den Zahlencode ein, der die große Holztür öffnete, die zum Innenhof des Anwesens ihrer Familie führte. Die schweren Flügel schlossen sich wieder hinter ihr.

Gefangen, schoss es ihr durch den Kopf.

Mal wieder gefangen. Wie eine dumme, schwarze Amsel.

 

Manon lebte ganz oben, im fünften Stock des Hauses, wie in einem Elfenbeinturm aus schwerer pastellfarbener Seide, meterhohen Decken, die jedes gesprochene Wort tausendfach durch den Raum hallen ließen, altmodischen Keramikheizöfen und goldumrahmten Familienporträts. Auf einigen dieser Porträts waren die Vorfahren ihrer Mutter zu sehen, die sich auf Dinnerpartys der englischen Queen amüsierten, oder irgendeinem deutschen Adelsgeschlecht den Handrücken küssten. Evelyne, Manons Mutter, hielt die Tradition gerne in Ehren. Die Tatsache, dass in ihren Adern blaublütiges Blut floss, auch wenn die Adelsfamilie der Montjou heute nichts mehr zu melden hatte und das jährliche Kaffeekränzchen mit den übrig gebliebenen Blaublütlern des Landes das einzige Highlight ihres verkümmerten Adelsdaseins darstellte. Manon trampelte gerne wie ein Nilpferd die Treppe hinauf, um die Porträts zum Zittern zu bringen, doch heute riss sie sich zusammen: Sie wollte Evelyne keinesfalls aus ihrem Dornröschenschlaf reißen, denn diese drohte bereits seit Tagen damit, Manon zu dem bescheuerten Buchclub zu schleppen, den sie gemeinsam mit ein paar Freundinnen ins Leben gerufen hatte.

Das Haus der Familie Borel zog sich nicht nur in die Höhe, jede der fünf Etagen war auch so riesig, dass man sich in den weitverzweigten Gängen verlaufen konnte wie in einem Labyrinth. Im Büro ihres Vaters Béranger hingen Zeitungsausschnitte und Bilder an der Wand, die ihn mit dem Präsidenten zeigten, mit Parteifreunden, auf einem Festbankett am Nationalfeiertag, im Gespräch mit irgendwelchen hochrangigen Wirtschaftsleuten, Menschenrechtlern oder prominenten Schauspielern, die im Wahlkampf für ihn die Werbetrommel rührten. Béranger Borel war Politiker, und zwar nicht irgendeiner, er war Vorsitzender der konservativen Partei Frankreichs »Les Républicains«, und damit so etwas wie ein hohes Tier. Gerade befand er sich in der Opposition, das hinderte ihn allerdings nicht daran, an diesem Wochenende einen seiner legendären Champagnerempfänge zu geben. Manon wurde schon schlecht bei dem Gedanken, den ganzen Abend mit diesen eingebildeten Anzugträgern zu verbringen und dabei die brave Tochter geben zu müssen.

Auf dem Weg nach oben spuckte sie ihren Kaugummi in das Waschbecken eines der vielen Badezimmer. Das Ding hatte spätestens seit der Metrostation Rambuteau keinerlei Geschmack mehr und Manon war sich sicher, dass die Putzfrau des Hauses vor dem großen Empfang nochmals alle ohnehin blank polierten Badezimmer durchgehen musste und den gummiartigen Eindringling finden würde. Dann hätte sie wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis. Oben angekommen schlug sie die Tür ihres Zimmers hinter sich zu und rang keuchend nach Luft. Geschafft. In ihrem Rücken drehte sie den Schlüssel im Schloss um.

Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen schlüpfte durch ihr Fenster und legte ein Schimmern auf ihre Chaoswand. Manon nannte sie so, weil sie dort alle Möbel beiseitegeschoben hatte und die Tapete stattdessen regelmäßig mit neuen Kunstwerken schmückte. Sie war ein bisschen wie der Spiegel ihrer aktuellen Stimmung – zurzeit recht düster. Das lag vielleicht am grauen Winter, den sie verabscheute. Oder aber an der Tatsache, dass ihr Bruder Thomas sich für dieses Wochenende angekündigt hatte. Heute Abend noch würde er sich aus Straßburg einfahren lassen, wo er an der École Nationale d’Administration, kurz ENA genannt, studierte. Die ENA war die Elite-Verwaltungsschule - die bedeutendsten Politiker des Landes hatten dort studiert, Béranger natürlich eingeschlossen. Manon mochte ihren Bruder nicht besonders; er, der Musterschüler, gab ihr stets das Gefühl, eine Versagerin zu sein. Er hatte sie die ganze letzte Woche dazu gebracht, schwarze Vögel und Totenköpfe an ihre Wand zu malen. Sie war von oben bis unten bedeckt mit Kritzeleien, aufgeklebten Bildern oder Zitaten aus Songtexten, die sie gut fand. Am liebsten malte Manon mit einem schwarzen Wachsstift, den sie immer griffbereit auf ihrem Schreibtisch liegen hatte. Sie tat es sowieso ständig, in ihren Schulheften, auf ihrem Collegeblock in der U-Bahn, auf alten T-Shirts und Hosen, auf dem Handrücken ihrer besten Freundin Eliza – warum also nicht auf den Wänden ihres Zimmers? Wenigstens hier konnte sie ganz ungestört so sein, wie sie war.

Eine schwarze Amsel.

Das Motiv des Vogels mit den ausgebreiteten Schwingen hatte sie gestern Abend nicht mehr fertigstellen können. Sie würde heute Nacht weiter daran arbeiten, wenn sie nach dem schrecklichen Empfang mal wieder nicht schlafen konnte. Manon knipste das Licht an und trat ans Fenster. Sie blickte durch die Spitzen der kahlen Baumkronen auf den Fluss. Jetzt am Abend war die Seine nichts anderes als ein schwarzer, langgezogener Fleck, Tinte, die sich durch die grauen Steinmassen zog. Die Lichter von Autoscheinwerfern und erleuchteten Wohnungen schimmerten zu ihr hinüber und weckten ein Gefühl von Verlorenheit in ihr. Da war so viel Leben außerhalb dieses Hauses. Doch die Scheibe hinderte sie daran, danach zu greifen.

»Glaubst du, ich bin adoptiert?«, hatte Manon ihren Lieblingsteddy früher oft gefragt. Es handelte sich um einen Schwarzbären, der an der Stelle seines linken Auges eine rote Augenklappe trug wie ein Pirat. Manon hatte sich damals auf einem Flohmarkt in den verwahrlosten Teddy verliebt und ihr Kindermädchen hatte ihn ihr gekauft, nachdem sie so traurig darüber gewesen war, dass ihre Eltern mal wieder keine Zeit für sie gehabt hatten. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr hergegeben, oft hatte er ihr in einsamen Stunden Trost gespendet.

Manon wurde das Gefühl nicht los, dass zwischen ihr und ihren Eltern eine Entfernung lag, die sich einfach nicht überwinden ließ. Entweder waren die beiden tagelang so beschäftigt, dass sie kaum ein Wort mit Manon sprachen. Oder sie waren da – weil irgendein wichtiger Empfang anstand - und hatten ständig etwas an ihr auszusetzen. Manchmal sah sie das Unbehagen in den Augen ihres Vaters, wenn er sie einem neuen Kollegen vorstellen musste. Oder ihr blickte einfach nur Verwirrung entgegen, wenn sie ihn im Affekt eines Streites anschrie. Verwirrung darüber, dass dieses Wesen seine Tochter sein sollte.

Manon, das eigentümliche Gewächs. Er gab sich ja nicht mal die Mühe, sie kennenzulernen. Seine Politik war schließlich kompliziert genug, warum sich da noch mit ihr beschäftigen.

Bei ihrer Mutter Evelyne war es anders. Manon hatte viel darüber nachgedacht, warum ihre Mutter Thomas stets bevorzugte, obwohl sie doch ihre einzige Tochter war. Vielleicht lag es genau daran. Manon wusste, dass Evelyne es als Kind nicht leicht gehabt hatte, dass sie als Mädchen in ihrer Aristokratenfamilie immer weniger wert gewesen war als ihre Brüder. Dass sie niemals dieselben Chancen gehabt hatte. Dass sie als Mädchen genauso zu funktionieren hatte, wie ihre Eltern es verlangten. Und dasselbe forderte sie nun von Manon, als würde sie es nicht ertragen, wenn Manon ein freieres Leben leben könnte als sie selbst. Wenn sie glücklicher sein dürfte. Ganz so als habe sie Angst, in ihrer Tochter all das zu sehen, was sie selbst verpasst hatte. So einfach war das. Manon war ein schmerzhafter Stachel in Evelynes Leben. Sie war etwas, das Evelyne weit von sich stoßen musste, um das eigene Leben ertragen zu können. Manon konnte es nicht ändern und sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, brachte nichts, also hatte sie es irgendwann einfach akzeptiert. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Mutter als die Frau zu sehen, bei der sie leben musste, bis sie achtzehn war. Inzwischen war es fast normal geworden. Und doch gab es Momente, in denen sich Manon nach Eltern sehnte, mit denen sie einfach abends vor dem Fernseher sitzen oder Sonntagmittag in irgendeinem Fast-Food-Laden einen Burger verspeisen konnte. Eltern, die vielleicht ein wenig langweilig, dafür aber ganz normal waren.

Manon schlüpfte aus ihren Winterklamotten und schmiss sich in Leggins und Wollpulli auf ihr Bett. Dann griff sie nach ihrem Smartphone.

Hilfe, Wochenende :-/, postete sie in der WhatsApp-Gruppe ihrer besten Freunde. Was ihre Mitschüler freuen mochte, war für Manon an diesem Abend ein Albtraum. Ein ganzes Wochenende alleine mit ihrer Familie. Eliza fuhr zu ihrem Vater-Tochter-Wochenende in die Auvergne (Manon konnte sich ihre Nagellack- und Dauerwellenfreundin nur schwerlich beim Wandern im Schlamm des Vulkanparks vorstellen) und Patrick, der dritte im Bunde, war in Calais, um seinen heiß begehrten Physikwettbewerb zu gewinnen. Was sollte sie bloß ohne ihre Freunde anstellen?

Um nicht ganz in Trübsal zu ertrinken, zog sich Manon ihre großen knallroten Designerkopfhörer über die Ohren und stellte die Musik auf Anschlag. Musik war ihr Leben, genauso wie das Zeichnen, und so hatte Manon ihr ganzes Taschengeld in die besten Kopfhörer gesteckt, die sie im Internet hatte finden können. Sie gehörten ebenso zu ihr wie die Stulpenhandschuhe und die eingerissenen Jeans. Jetzt fuhr der Beat durch ihren Körper wie ein zweiter Herzschlag und Manon begann, sich zu entspannen.

Halt durch, Süße :-* Bin ja bald wieder da!, schrieb Eliza bei WhatsApp und Manon wünschte sich einen tiefen, wochenendlangen Dornröschenschlaf.

 

Der Salon war bereits voller Menschen. Die Nacht vor der meterlangen Fensterfront aus Glas zeichnete Eisblumen und Kristalle an die Scheiben, so kalt war es mittlerweile geworden. Manon kam sich vor wie in einem russischen Winterpalast, die Kronleuchter an der Decke legten einen goldenen Schimmer in den riesigen Tanzsaal, in dem ihre Eltern heute Tische mit weißen Decken hatten aufstellen lassen. Hinter den bodentiefen Fenstern lag ein kleiner Innenhof samt Garten, das flackernde Licht von Glaslaternen beschien die Kieswege zwischen den kahlen Beeten.

Evelyne hatte klare Vorstellungen davon, wie sich ihre Tochter bei einem solchen Champagnerempfang zu kleiden hatte. Natürlich. Widerwillig hatte Manon sich das schwarze Cocktailkleid übergezogen, das zu diesem Zweck in ihrem Schrank hing. Nach einem Blick in den Spiegel hatte sie jedoch befunden, dass ihr Körper einfach nicht gemacht war für solche Kleider. Er sehnte sich nach bunt gekringelten Strumpfhosen, die sich um ihre blassen Beine drückten wie Schlangen, nach einem gemütlichen Kapuzenpulli, nach Stulpenhandschuhen, die aussahen, als seien sie kaputt. Ein bisschen kaputt war in Manons Augen sowieso das allerbeste. Ein bisschen kaputt, das war verwegen, das war aufregend, das war anders. In diesem Kleid fühlte sie sich einfach nur nackt und hilflos. Während sie in eine Ecke gedrückt all die Menschen mit ihren eleganten, sündhaft teuren Klamotten und ihren oberflächlichen Attitüden beobachtete, schweiften ihre Gedanken wieder zu der Person ab, die sie zu verfolgen schien. Sie hatte kein Gesicht zu ihrem Verfolger, sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass er existierte, und doch war das Gefühl in ihrem Nacken jedes Mal so stark, dass sie schon nicht mehr an Einbildung glaubte.

Evelyne hatte Manon angewiesen, mit einem Tablett durch die Menschentrauben zu schlendern und den Gästen Champagner anzubieten, doch sie zögerte diese Aufgabe so lange wie möglich heraus, versuchte mit der Wand in ihrem Rücken zu verschmelzen oder sich hinter den schwarzen Ponysträhnen zu verstecken, die ihr in die Augen fielen. Wie gerne wäre sie jetzt wieder im Offenen Wohnzimmer gewesen oder in Elizas kleiner Bude, die über und über bestückt war mit Sailor-Moon-Postern.

Ihr Vater begrüßte soeben den Pariser Bürgermeister, während Evelyne mit einer Gruppe kostümierter Ehefrauen herumalberte, die im Gegensatz zu Manon scheinbar tatsächlich Spaß daran hatten, aufgetakelt durch die Gegend zu laufen. Unbewusst wanderten Manons Finger zu ihrem Handy, das sie in der Tasche der schwarzen Strickjacke trug, die sie sich über die Schultern gelegt hatte. Sie hätte es nicht ausgehalten, mit nackten Schultern hier zwischen all den Fremden zu stehen.

In eben diesem Moment vibrierte das Smartphone. Sie spürte die leichten Druckwellen an ihren Fingerspitzen und an ihrem Bauch. Ihre Hand packte die Kunststoffhülle und zog sie aus der Jackentasche.

 

Liebe Manon, stand da, als sie das Display entsperrte. Unbekannter Absender.

 

Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass sich die Flügeltüren des Salons öffneten. Evelynes Freudenschrei ging durch die Menge, in der Tür stand Thomas, in Anzug und Krawatte. Sein Blick scannte den ganzen Raum. Manon sah wieder auf das Handy.

 

Willkommen bei BrotherHood! Heute fängt dein neues Leben an.

 

Als sie irritiert nach oben blickte, stand Thomas direkt vor ihr. Er nahm ihr das Smartphone aus der Hand und ging wortlos davon.

Kapitel 2

 

David wusste nicht, ob es richtig war.

Während er über den harten Asphalt des Parkplatzes lief, steckte er fröstelnd die Hände in seine Hosentaschen und dachte an die Worte seiner Mutter, kurz nach Abduls Tod.

»Sie haben uns das Herz aus dem Körper gerissen und es vor aller Öffentlichkeit totgetreten. Aber unser Herz kann wieder wachsen. Es muss wieder wachsen, David.«

Nervös zog er eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche und steckte sich eine Kippe an. Er wusste, dass er damit Geld aus dem Fenster schmiss, Geld, das seine Familie nicht besaß, doch das Rauchen half ihm dabei, sich den Kopf freizupusten. Er wusste, dass es eine Sucht war, eine todbringende, und doch ließ er es zu. Nur eine, sagte er sich. Nur bis ich diese Gedanken in meinem Kopf geordnet habe.

Um ihn herum ragten die Plattenbauten in die Nacht, seine Welt schien aus Beton gemeißelt, grau und fleckig, jetzt war alles bloß noch schwarz. Wenn er hier in einen Zug stieg, konnte er nach einer Stunde im Zentrum von Paris wieder auftauchen, es war wie eine Weltreise. David ignorierte eine Gruppe pöbelnder Jugendlicher, die in ihre dunklen Kapuzen gehüllt die harten Typen markierten. Ihn würden sie nicht angehen, dafür war er viel zu groß, seine Bomberjacke verstärkte diesen Effekt. Genau wie sein abweisender Gesichtsausdruck. Ein schwarzes Gesicht aus geballter Wut.

Davids Ziel war der Plattenbau mit der Hausnummer zwanzig, in dessen Keller die Besprechung stattfinden würde. Vor der Eingangstür mit der zersprungenen Glasscheibe lehnte Robin an der Wand und inhalierte ebenfalls weiße Rauchschwaden.

»Irgendwann gehen wir an dem Zeug drauf«, sagte David und schmiss seine Kippe zu Boden. Mit den abgewetzten Turnschuhen drückte er die Glut auf dem Asphalt aus.

»Glaub mir, wir sterben an ganz anderen Dingen«, entgegnete Robin. Er trug den schwarzen Kapuzenpulli mit dem roten Che Guevara-Aufdruck. Sein rotblondes Haar war kurz geschoren – Militärlook, Überlebenstaktik. In der Banlieue war Image alles. Er musterte David mit diesem besorgten Blick. Robin schien seine Zweifel stets zu riechen wie alten Käse. Er war älter als David. Eigentlich war er mal Abduls Freund gewesen. Vielleicht war das der Grund dafür, warum David ihm vertraute.

»Bist du bereit?«, fragte Robin und deutete mit dem Kopf in den dunklen Hauseingang. »Heute drücken wir den Zünder.«

»Mir geht da eine Sache nicht aus dem Kopf«, entgegnete David, den Blick auf den Parkplatz und die rostenden Autos gerichtet.

»Du sollst nicht immer so viel denken«, witzelte Robin. Er lachte dabei nicht. Eigentlich hatte David ihn niemals lachen sehen. Hatte Abdul gelacht? Auch daran erinnerte er sich nicht.

»Was ist in der Nacht wirklich geschehen, als Abdul gestorben ist?«

»Das habe ich dir doch schon erzählt. Tausend Mal haben wir darüber gesprochen.«

»Und wenn ich es noch einmal hören will?«

»Brauchst du das, um das Ding hier durchziehen zu können? Bist du wirklich so schwach, David? Dann schicke ich dich jetzt lieber nach Hause.«

»Nein! Ich bin dabei, das habe ich dir versprochen und dazu stehe ich auch. Ich lasse mir nur nicht gern meine Gedanken verbieten.«

»Dann wälz sie heute Abend im Bett weiter, wir müssen da jetzt rein.«

Er löste sich von der Wand, und gab den Blick auf eines der schwarz-roten Graffitis frei, die hier überall prangten. David folgte ihm ins Haus, die Kellertreppe hinab. In der Waschküche stand die Türe offen, knapp zwanzig junge Männer drängten sich hier auf Kisten und Plastikstühlen. Die meisten von ihnen waren schwarz. Sie hatten ihre Wurzeln in Mali, wie David, in Algerien oder im Senegal. Robin begrüßte Vitali, dessen Eltern aus der Ukraine stammten. Er selbst schien fast der Einzige zu sein, der keine ausländischen Wurzeln aufzuweisen hatte. War das der Grund, warum Robin ihr unangefochtener Anführer war? Selbst hier in der Gemeinschaft der Banlieue hatten sich die Regeln der Gesellschaft durchgesetzt.

David drückte sich im hinteren Teil des Raumes an die Wand, er mied den Blickkontakt mit den anderen Anwesenden. Irgendwie fiel es ihm noch immer schwer, sich mit dieser Gruppe zu identifizieren, auch wenn er hinter der Mission stand. Robin hatte recht. Er musste aufhören, so viel nachzudenken.

»So Leute, in eben diesen Minuten beginnt die Mission BrotherHood. Es ist uns gelungen, die Smartphones der Zielpersonen zu hacken, sie bekommen alle heute Abend eine nette Begrüßung und eine App von uns, die wir auf ihren Handys installieren und die sie so schnell nicht mehr loswerden. Dabei bedienen wir uns verschiedener Apps, die sie sich bereits auf ihr Smartphone geladen hatten und die uns als Einfallstor dienen. Meistens Bildbearbeitungs-Apps, die auf fast alles zugreifen dürfen und somit heimlich im Hintergrund unsere BrotherHood-App auf den Zielhandys installieren können. Klingt gut, oder? Unsere Hacker aus dem Darknet haben ganze Arbeit geleistet!«

Gelächter hallte durch die Waschküche, manche nickten anerkennend.

»Das heißt aber auch, dass für euch ab morgen der echt harte Arbeitsalltag beginnt. Der Baron und ich wollen eine lückenlose Überwachung und so viele Informationen wie möglich. Die Informationen sind unser Kapital, um die Spieler bei Laune zu halten und zum Ziel zu bringen. Hin zum großen Feuerwerk, wie ich es gerne nenne.« Eine Falte legte sich in Robins Mundwinkel, die sein Gesicht spöttisch und hart wirken ließ. »Ihr habt alle bereits euer Einsatzgebiet erhalten und die Zielpersonen ins Visier genommen. Jetzt beginnt Level zwei: Ihr nehmt Kontakt auf. Haut nicht mit der Brechstange drauf los, ihr müsst das Ganze geschickt angehen. Und am besten sympathisch, mit viel Charme. Traut ihr euch das zu?«

Er sah allein David an, als er diese Frage stellte. Ganz so als glaube er nicht daran, dass dieser auch nur einen Funken Charme und Sympathie auf sein Gesicht zaubern konnte. Aber David biss die Zähne aufeinander und nickte. Er würde ihm das Gegenteil beweisen. Mein Gott, es war doch reines Schauspiel! Das beherrschte hier ja wohl jeder. Auch so eine Überlebenstaktik.

»Gut, dann zieht ihr gleich morgen früh los. Ich halte euch übers Handy auf dem Laufenden«, sagte Robin und lud dann alle noch auf Wodka und Bier ein. Er schritt in Richtung Tür, um weitere Flaschen zu holen. David, der ebenfalls aufgestanden war, um die Veranstaltung zu verlassen, versuchte ihn einzuholen.

»Weißt du, über was ich manchmal nachdenke?«, fragte er, als er Robin an der Tür erreichte. Dieser schüttelte genervt den Kopf. »Warum der Baron an unseren Treffen nicht teilnimmt. Niemand von uns hat ihn jemals gesehen, und doch gibt er die Marschrichtung vor. Findest du das nicht komisch?«

Jetzt schien Robin verärgert. »Geh nach Hause, David«, sagte er. »Du hast morgen einen langen Tag vor dir.«

Während sich die anderen die Birne zukippten, trat David wieder in die kalte Dezemberluft. Er wusste nicht wohin. Er wollte auf keinen Fall nach Hause.

Er musste nachdenken. Über so vieles nachdenken.

Kapitel 3

 

Manons Körper reagierte instinktiv. Sie wollte sich von hinten auf ihren Bruder stürzen, um das Smartphone wieder an sich zu bringen, wie ein Raubtier, wie ein Vogel im Sturzflug. So wie sie es als Kind schon so häufig getan hatte, jedes Mal wenn Thomas versucht hatte sie zu bevormunden. In diesem Fall kam ihr allerdings der Pariser Oberbürgermeister, Monsieur Lambert, in die Quere, der, beladen mit einem Glas Champagner und einem Teller Kaviarhäppchen, einfach mitten im Raum stehen blieb. Manon knallte gegen seine breite Seite, sodass sie ein Stück gemeinsam durch den Raum schlitterten. Der Champagner schwappte über und besudelte das Jackett des Politikers, der Kaviar landete sowohl in Manons Ausschnitt als auch in Lamberts Gesicht. Er bot einen schrecklichen Anblick, und obwohl Manon wusste, dass sie nun von allen Gästen im Saal angestarrt wurden, konnte sie sich ein hysterisches Glucksen nicht verkneifen.

»Entschuldigen Sie«, murmelte sie, während sie nach einem Stapel Papierservietten griff und Lambert damit abzutupfen versuchte. »Das war nicht meine Absicht. Das Parkett ist hier so rutschig …«

»So eine Sauerei …«, fuhr der Mann ihr über den Mund, bemühte sich dann aber wieder, sein freundliches Politikerlächeln aufzusetzen. Thomas trat von hinten heran und versuchte die Situation zu entspannen. Er bot Lambert ein neues Jackett an und versicherte, seine Familie werde selbstverständlich die Kosten für die Reinigung übernehmen. Manon warf er bloß einen vernichtenden Blick zu. Normalerweise mied er seine Schwester bei seinen Besuchen im Hause Borel, wahrscheinlich, weil sie ihm irgendwie peinlich war. Thomas verstand einfach nicht, warum sie sich so sehr gegen ihre Eltern und das Leben auf der Île Saint-Louis zur Wehr setzte. Kein Wunder, er eiferte Béranger in allen Lebensbereichen nach und genoss sein privilegiertes Leben in vollen Zügen.

»Gib mir mein Handy«, erwiderte Manon kalt über den Kopf des Bürgermeisters hinweg. Sie wusste, sie bewegte sich auf ganz dünnem Eis, doch sie würde Thomas’ Provokationen nicht widerstandslos hinnehmen. Er wollte sie zurechtweisen, doch die Anwesenheit des Politikers hinderte ihn daran, sie wie ein kleines Kind zu behandeln.

»Später. Du hast jetzt andere Verpflichtungen. Besorge dem Bürgermeister ein neues Glas Champagner.«

Als könne er sie so einfach abspeisen! Lambert hob beschwichtigend die Hände, als wolle er die Situation deeskalieren, und trottete dann kopfschüttelnd davon. Manon imitierte spöttisch einen Knicks und tat, als würde sie sich abwenden, um Thomas’ Auftrag zu erfüllen. Stattdessen wirbelte sie jedoch herum und versuchte nach seinem Anzug zu greifen. Sie bekam einen Zipfel seiner Jacke zu fassen und krallte sich daran fest wie eine Ertrinkende. Ihr Bruder wehrte sich so gut es ging, doch er schaffte es nicht, das Handy vor ihren flinken Fingern in Sicherheit zu bringen. Manon fischte es aus seinem Jackett und presste so fest die Hände um das Gerät, als wäre es ein Teil ihres Körpers. Ihr Herz. Ihr Hirn. Einfach lebensnotwendig. Thomas war außer sich, sie sah, wie ihm die beherrschten Gesichtszüge entglitten. Auch ihre Eltern würden sie für diese Aktion köpfen, so wie man es während der französischen Revolution mit Aristokraten getan hatte. Manon war das in diesem Augenblick egal. Sie hatte ihr Handy zurückerobert und konnte sich endlich dieser mysteriösen Nachricht widmen, die sie kurz vor Thomas’ Eintreffen erhalten hatte. Sie verschwand zwischen den Gästen, sodass ihr Bruder sie aus dem Blick verlor. Dann öffnete sie eine der Glastüren, die nach draußen führten, und schlüpfte hindurch.

Viele Laternen waren mittlerweile abgebrannt, wodurch der kleine Garten in angenehmer Dunkelheit lag. Manon biss sich auf die Lippen, weil es viel kälter war, als sie gedacht hatte, vor allem wenn man bloß ein Cocktailkleid mit Strickjacke trug. Dennoch schlüpfte sie aus den unbequemen Schuhen mit Absatz und wanderte barfuß über die kalten Kieselsteine. Die Kälte und die Nacht wirkten beruhigend, sie zogen Manon zurück auf die eigenen Füße, das Getöse ihres Herzschlags wurde leiser und sie konzentrierte sich ganz auf ihr Handy.

 

Willkommen bei BrotherHood! Heute fängt dein neues Leben an.

 

Was sollte das bedeuten? Sie hatte diesen Namen nie zuvor gehört. Erst jetzt realisierte sie, dass sie die Nachricht vorhin noch gar nicht zu Ende gelesen hatte.

 

Du wurdest auserwählt, an dem interaktiven Game BrotherHood teilzunehmen. Die App befindet sich nun bereits auf deinem Handy. Öffne sie und du wirst dich fragen, wie du jemals ohne den Kick von BrotherHood hast leben können! Denn wir bieten dir ein exklusives Spiel, das so noch nie dagewesen ist. Am Ende haben die Finalisten die Chance, ein Feuerwerk zu entfachen, das ihr bisheriges Leben, diese Stadt und das Leben ihrer Bewohner vollkommen auf den Kopf stellen wird. Willst du unser Held sein? Willst du dein Leben ändern und ihm endlich einen Sinn geben? Dann spiele jetzt!

 

Manon ließ sich auf den Boden sinken, sie spürte jetzt gar nicht mehr, wie sehr sich die Dezemberluft in ihre Haut fraß. Sie saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Kiesweg, aus den Augenwinkeln registrierte sie das Schimmern der Lichter des Salons, das durch die Spalten der Seidenvorhänge zu ihr drang. Die Feier schien nach ihrer kleinen, ungeplanten Showeinlage nun wieder in vollem Gang zu sein. Ihr war es letztlich nur recht, dass sie dem Trubel so hatte entfliehen können. Sie las die Nachricht, die sie über WhatsApp empfangen hatte, ein zweites Mal durch, noch immer unfähig, sich einen Reim darauf zu machen. Lag hier eine Verwechslung vor? Hatte sie in der Schule irgendwas verpasst?

Manon schloss ihren Posteingang und klickte sich durch das Smartphone-Menü. Zwischen Candy Crush und ihrem Radiowecker wurde sie tatsächlich fündig: Ein rotes Quadrat prangte dort, in dem sich eine schwarze Faust in die Höhe streckte, darunter prangte der Schriftzug »BrotherHood«. Diese App hatte Manon nicht installiert, da war sie sich sicher. Ihr Daumen schwebte über der Anwendung. Sollte sie es wagen, sie zu öffnen? Oder handelte es sich hier um einen Virus, der ihr Handy zum Implodieren bringen würde?

Sie ging das Risiko ein. Ihr Daumen drückte auf das Quadrat. Zwei stählerne Fäuste kreuzten sich über einem blutroten Grund, der Schriftzug »BrotherHood« flimmerte über das Display. Begleitet wurde dieses Intro von einer epischen Musik, wie aus einem schlechten Fantasyfilm. Hatte sie sich etwa ein dämliches Rollenspiel eingefangen?

»Willkommen, Manon«, ertönte plötzlich eine tiefe Männerstimme. Manon drehte erschrocken den Lautstärkepegel hinunter. Doch hier im verlassenen Garten hörte ihr sowieso niemand zu. Auf dem Bildschirm entfaltete sich eine Karte von Paris.

»Ich begrüße dich bei unserer Mission«, sprach die Stimme weiter. »Man nennt mich den Roten Baron und ich werde dich nun in die Regeln unseres Spiels einweisen.«

Das Ganze musste wirklich ein Missverständnis sein. Aber woher kannte diese App ihren Namen? Und wie kam sie auf ihr Handy? War das mal wieder eine neue Facebook- und Google-Masche, um noch mehr Daten von ihrem Smartphone abzugreifen? Und wer zum Teufel nannte sich heute noch »Roter Baron«? Der tönte derweil nach kurzer Pause weiter, um die Spielregeln zu erklären:

»Zwanzig Auserwählte kämpfen in Paris um die Krone. Du bist eine von ihnen. Ihr alle erhaltet über BrotherHood Aufgaben, die ihr bestehen müsst, und Hinweise, denen ihr folgen sollt. Am Ende einer jeden Einheit winkt den Gewinnern eine Belohnung. Natürlich werden die Aufgaben und Rätsel mit zunehmender Spieldauer schwieriger, nur die Gewinner schaffen es ins jeweils nächste Level und im großen Finale kämpfen schließlich die Besten unter euch um den endgültigen Sieg. Du musst dich jetzt entscheiden, ob du, Manon, Teil dieser erlauchten Reise sein möchtest. Du solltest vorher bedenken, dass BrotherHood keine simple Schnitzeljagd ist – BrotherHood wird dein Leben umkrempeln, BrotherHood erfordert vollsten Einsatz und wertvolle Lebenszeit. Sobald du den Start-Button drückst, gibt es kein Zurück mehr – es wird dir nicht möglich sein, aus dem Spiel auszusteigen. Außerdem ist es dir strikt untersagt, mit anderen Personen über BrotherHood zu sprechen. Solltest du diese Regel brechen, droht dir die sofortige Disqualifizierung. Möchtest du Teil dieses sozialen Experiments sein? Bist du bereit, dich von mir, dem Roten Baron, an deine Grenzen bringen zu lassen? Möchtest du als Held vom Platz gehen? Dann wähle jetzt.«

Bei der Nennung ihres Namens war Manon zusammengezuckt. Scheiße, der Typ hatte sie direkt angesprochen. Er wusste scheinbar, wer sie war. Ihr Herz begann erneut wie wild zu klopfen, während auf dem Bildschirm plötzlich zwei Schaltflächen aufploppten. Auf der einen stand »Nein danke«, auf der anderen »Spiel starten«. Manons Daumen schwebten über dem Handy. Was für ein theatralischer Auftritt. Sie würde doch wohl mal hineinschauen dürfen, in dieses ach so tolle Spiel? Auch wenn ihr Herz sie anderes glauben lassen wollte, so leicht würde sie sich von diesem mysteriösen Baron keine Angst einjagen lassen.

Manon presste den rechten Daumen auf das »Spiel starten«-Feld. Wieder erstreckte sich der Stadtplan über das Display.

»Ich beglückwünsche dich zu deiner Entscheidung, Manon!«, erklang erneut die tiefe Stimme des Barons. »Hier kommt deine erste Aufgabe.« Ein Textfeld bedeckte die Karte und im Sekundentakt reihten sich kleine rote Buchstaben aneinander.

Für die kommenden Wochen brauchst du viel Kraft, las Manon im Flüsterton. Ziehe deshalb los und besorge dir etwas, das dir Freude macht – sei es ein neuer Pullover, ein Fahrrad, eine Tafel Schokolade oder eine goldene Uhr. Der Kniff besteht allerdings darin, dir dein Geschenk nicht zu kaufen. Du sollst es stehlen. Geh in den Laden, nimm dir, worauf du Lust hast, und genieß den Thrill – du wirst das Adrenalin für die kommenden Aufgaben brauchen.

Manon lachte kurz auf. Es klang abfällig und erinnerte sie ein wenig an das Miauen ihres Hauskaters Monsieur le Roi. Dann schloss sie die Anwendung mit einem verächtlichen Fingerschnippen. Das Ganze war eindeutig ein schlechter Scherz. Wahrscheinlich wurde sie gerade Opfer eines Mitschülers, der mal kräftig über ihre Dummheit lachen wollte. Warum sollte sie zur Diebin werden? Bestimmt nicht, weil eine App es ihr befahl.

Enttäuscht steckte sie das Handy zurück in ihre Jackentasche und erhob sich mit steifen Beinen vom kalten Boden. Plötzlich war die Nacht wieder schwarz und feindselig. Wie sollte sie jetzt ungesehen in ihr Zimmer zurückkehren? Der kleine Garten, in dem sie sich befand, war wie ein Innenhof zwischen Salon, Küche und einem Gästezimmer, dessen Terrassentür verschlossen war. Doch vielleicht konnte sie es über die Küche versuchen? Manon hatte Glück. Die Glastür zur Küche öffnete sich ohne ein Geräusch, in dem dunklen Raum war nur das Surren des Kühlschranks zu hören. Maurice, der Hauskoch der Borels, hatte anscheinend immer noch keinen Feierabend, sonst wäre die Tür bereits verschlossen gewesen. Manon atmete erleichtert auf und schlich sich auf Zehenspitzen ins Treppenhaus.

Kapitel 4

 

Fast war es David, als liege ein Flüstern auf dem Parkplatz zwischen den Hochhäusern, ein Murmeln, übriggeblieben und zurückgelassen von all den vielen Menschen, die hier tagsüber achtlos vorbeigeeilt waren. Sein Körper zitterte mittlerweile vor Kälte und er wusste, dass es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Er nahm die Abkürzung, die ihm Abdul einst gezeigt hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Er hatte Abdul zum Fußballspielen begleiten dürfen und natürlich hatten sie dabei die Zeit vergessen. David sah ihn vor sich laufen, seinen großen Bruder, der immer gewusst hatte, was zu tun war. Heute war er ganz allein hier auf diesem Trampelpfad zwischen den Wohnhaustürmen. Als David seinen Wohnblock erreichte, blieb er noch zehn Minuten unter den Bäumen vor dem Eingang stehen und schaute mit Schmerzen im Bauch hinauf, in den sechsten Stock, wo seine Familie lebte. Waris, seine Mutter, würde wütend sein. Er war den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, hatte sich nicht um seine drei kleinen Geschwister gekümmert. Um seine beiden jüngeren Brüder, zehn und dreizehn Jahre alt. Und um Siri, das Nesthäkchen. David musste seiner Mutter auch gestehen, dass er seinen Job als Zeitungsverteiler gekündigt hatte. BrotherHood brauchte all seine Ressourcen, doch das konnte er Waris natürlich so nicht sagen. Er würde sich von ihr als Versager ausschimpfen lassen, und irgendwie hatte sie ja auch recht. Schon das Zeitungsaustragen hatte ihn jedes Mal Überwindung gekostet. Am liebsten hatte er die Artikel und Nachrichten gelesen, bevor er sie den Leuten in den Briefkasten gesteckt hatte. Allerdings kostete das Zeit. Die er nicht hatte. Seine Kollegen hatten viel mehr ausgetragen als er. Was wiederum seinem Chef gar nicht gefallen hatte. Doch David wollte sich nicht anpassen. Dem Stumpfsinn. Der Gleichgültigkeit. Dem Grau um ihn herum. Jeder, der sich nicht wehrt, stimmt zu. Robins Worte spukten ihm durch den Kopf. Er hatte ja so recht. Sie musste aufhören, die teilnahmslose Zustimmung, dieses Hinnehmen, die Opferpose. Was sie brauchten, war ein Warnschuss, ein Feuerwerk, und am Ende am besten eine ganze Revolution. Aber war BrotherHood der richtige Weg?

Das Denken hatte sich noch immer nicht schlafen gelegt.

Im Treppenhaus stank es nach Abfall und Urin. David passierte die Wände aus Graffiti - der Aufzug war mal wieder defekt. Er drehte den Schlüssel vorsichtig in der Metalltür, in der Hoffnung, dass alle schon schliefen, doch das Klappern von Töpfen in der Küche raubte ihm jede Hoffnung. Waris stand dort in einem orangefarbenen Kleid, die dunklen, faltigen Hände um einen Metallschwamm gepresst, mit dem sie einen mit Hirse verklebten Topf sauber zu scheuern versuchte.

»Du bist zu spät«, sagte sie und er hörte ihrer Stimme an, wie enttäuscht sie von ihm war.

»Ich habe versucht, dir das Essen warm zu halten.«

»Danke, aber ich habe keinen Hunger.«

»Wo hast du dich herumgetrieben?« Ihr afrikanischer Akzent ließ ihre Worte hart und abgehackt klingen.

»Ich habe meinen Job gekündigt.« Er lehnte am Türbogen der Küche, die Beine verschränkt, und kam gleich zur Sache. Es brachte nichts, die Wahrheit aufzuschieben. Sie würde es sowieso erfahren, wenn nicht von ihm, dann von der Nachbarschaft oder seinem Chef persönlich.

»Was hast du? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wir brauchen das Geld! Deine kleine Schwester hat nicht mal eine Mütze für den Winter!«

Siri. Sie war sechs Jahre alt, wer ihr Vater war, wusste niemand. Noch nicht einmal Waris selbst. Die Männer kamen und gingen bei seiner Mutter wie die Jahreszeiten, das war wohl ihre größte Schwäche. Obwohl sie ihre Kinder über alles liebte, schaffte sie es nicht, dieses Verhalten abzulegen. Erst recht nicht seitdem Abdul gestorben war. Abdul, der Älteste, der immer alles angepackt hatte, der stets gewusst hatte, was zu tun war. Man sollte niemals seinen Sohn begraben müssen. David schmerzte es jedoch ebenso, seinen großen Bruder verloren zu haben. Der Große beschützte den Kleinen. Was sollte er jetzt ohne Abdul tun? David wünschte, er hätte ihn schützen können. Dann wäre er jetzt nicht der Große. Dann wäre Waris nicht so unzufrieden.

»Der Job war nicht gut«, sagte er, »ich suche mir einen anderen.«

»Was ist denn jemals gut genug für dich?«, keifte sie. »Was für Vorstellungen hast du eigentlich vom Leben? Glaubst du etwa, du könntest Professor werden, an so einer Uni? Pah, sie lassen dich doch noch nicht mal studieren ohne Abitur und ohne Geld. Glaubst du, irgendjemand interessiert sich für deine Zukunft? Du musst die Jobs machen, die für uns vorgesehen sind, David, es gibt keine Alternative.«

»Es gibt immer eine Alternative.«

»Oh nein.« Sie schüttelte wild den Kopf mit ihrem buschigen, schwarzen Haar. Es sah so aus, als stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Ich lebe schon viel länger als du«, sagte sie, »und es hat nie eine Alternative gegeben. Egal wie sehr ich gekämpft habe. Jetzt bin ich des Kämpfens müde. Ich mag es nicht, den Touristen hinterherzuputzen. Doch es ist die einzige Möglichkeit für mich, ein paar Cent zu verdienen, damit meine Kinder nicht hungern. Für euch mache ich das, David, für euch, nicht für mich. Und diese Verantwortung musst du auch übernehmen. Es geht um deine Familie!«

»Ich geh noch eine rauchen.« David deutete auf die kleine Kochnische mit dem Fenster. Waris war so wütend, vielleicht auch so traurig, dass sie anfing, in ihrer Muttersprache Boboda vor sich hin zu murmeln. David kannte diese Sprache, die von einer Minderheit in Mali gesprochen wurde. Er verstand sie ein wenig, doch er beherrschte sie nicht perfekt. Wenn er darüber nachdachte, dann war er eigentlich nichts so richtig. Kein Franzose. Kein Afrikaner. Er war eine seltsame Mischung aus Dingen, die keiner haben wollte. Waris verschwand in dem engen Badezimmer, in dem David nicht einmal aufrecht stehen konnte, um sich bettfertig zu machen. Ihr Schlafzimmer teilte sie sich mit David – tagsüber war der kleine Raum ihr Wohnzimmer. Waris bezog das alte Sofa, er eine ausklappbare Liege, am liebsten direkt unterm Fenster, sodass er in den Himmel schauen konnte. Mehr Platz hatte die Familie Keita nicht. Davids Geschwister schliefen in Hochbetten im zweiten Zimmer - dort gab es kein Tageslicht. Man gewöhnte sich an alles. Genau darin lag das Problem.

Von einer halb eingezogenen Wand geschützt, schob David Colaflaschen und dreckiges Geschirr beiseite, setzte sich auf den kleinen Kühlschrank und öffnete das Fenster. Die kalte Luft weckte die müde Haut auf seinem Gesicht, irgendwo jaulte ein Hund und David blies weiße Kringel in die Nacht.

Morgen begann seine Mission.

Morgen begann BrotherHood.

Kapitel 5