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»Selten verbindet sich fundierte Sachkenntnis so erfreulich mit erzählerischen Qualitäten wie bei Bernhard Kegel.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

Seit der britische Anatom Richard Owen den Dinosauriern vor etwa 180 Jahren ihren Namen gab, sind sie Kult. Die aufregenden Fossilfunde der letzten Jahre und neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass wir unser Dinosaurierbild grundlegend revidieren müssen. Wie schon so oft, denn die Geschichte ihrer Entdeckung und Erforschung ist geprägt von den unterschiedlichsten Vorstellungen darüber, was ein Dinosaurier war. Unser Bild von ihnen durchlief zum Teil drastische Metamorphosen: von der kriechenden Rieseneidechse zum aufrecht stehenden Drachen, vom schwerfälligen Kaltblüter zum dynamischen und intelligenten Jäger und zuletzt von der beschuppten Echse zum gefiederten Riesenhuhn. Heute wissen wir, dass Dinosaurier keineswegs ausgestorben sind, sondern in Gestalt einer der erfolgreichsten Tiergruppen unserer Erde weiterleben: Vögel sind allesamt direkte Nachfahren der Dinosaurier.

Bernhard Kegels Entdeckungsreise in die Welt der Paläontologie und in die Wissenschafts-, Kultur- und Filmgeschichte ist ebenso interessant wie spannend.

 
autor

Credit: © Franziska Hauser

BERNHARD KEGEL,

geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 veröffentlichte er mehrere Romane und Sachbücher. Bei DuMont erschienen die Sachbücher ›Epigenetik‹ (2009), ›Tiere in der Stadt‹ (2013), ›Die Herrscher der Welt‹ (2015) und ›Die Gesundmacher‹ (2017). Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Der Autor lebt in Berlin.

Bernhard Kegel

Ausgestorben,
um zu bleiben

Dinosaurier und ihre Nachfahren

 

 

Für Konrad, auch wenn er kein Paläontologe werden sollte

 

So landeten … die Dinosaurier, die in Die verlorene Welt, jenem allberühmten Film aus dem Jahre 1925, von der Klippe stürzten, geradewegs auf mir, genau wie es King Kong tat, als ich zwölf war.

Ganz wundervoll plattgedrückt, atemlos vor Liebe, taumelte ich zu meiner Spielzeugschreibmaschine und verbrachte den Rest meines Lebens damit, an dieser unerwiderten Liebe zu sterben.

RAY BRADBURY

Einleitung

Sie beherrschten die Kontinente über 170 Millionen Jahre, tausendmal länger, als es Menschen gibt, und sie brachten die gewaltigsten Kreaturen hervor, die je über irdischen Boden wandelten. Ist es zu glauben, dass über diese Tiere ganze Bibliotheken für Kinder und Jugendliche existieren, aber kein einziges einigermaßen aktuelles Buch in deutscher Sprache, das sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richtet? Natürlich wünschen wir uns für unsere Kleinen nur das Beste, die Echsen der Urzeit sind aber in jeder Beziehung zu groß, um sie allein den Kindern zu überlassen.

Dieser Mangel ist umso erstaunlicher, als es viel zu erzählen gibt. Das Bild, das die Wissenschaftler von den Vorzeitechsen zeichnen, hat sich stark verändert. 85 Prozent aller heute bekannten Dinosaurierarten erhielten ihre Namen nach 1990, sind also relativ junge Entdeckungen.

Der Löwe ist Löwe und ist immer Löwe geblieben, und das Gleiche gilt für Elefanten, Nashörner, Mammuts, Höhlenbären, Säbelzahnkatzen und all die anderen Großtiere, die bis in unsere Zeit überlebt oder sie nur um ein paar Tausend Jahre verfehlt haben. Für Dinosaurier gilt es nicht. Seit der britische Anatom Richard Owen ihnen Mitte des 19. Jahrhunderts den Namen »Dinosauria« gab, haben sie sich (bzw. hat sich die Vorstellung, die wir uns von ihnen machen) immer wieder gewandelt. In Abhängigkeit von neuen Fossilfunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen durchliefen sie mehrere zum Teil drastische Metamorphosen, wurden von der kriechenden Rieseneidechse zum aufrecht stehenden Kängurudrachen, vom schwerfälligen Kaltblüter zum dynamischen und intelligenten Jäger und zuletzt – vielleicht die überraschendste aller Wendungen, die bislang erst von einer Minderheit der Menschen wahrgenommen wurde – von der beschuppten Echse zum gefiederten Riesentruthuhn. Fast hat es den Anschein, als ob jede Menschengeneration sich ihre eigenen Dinosaurier geschaffen hätte. Diesem Gestaltwandel und seinen Spiegelungen und Resonanzen im Geistes- und Kulturleben der jeweiligen Zeit spürt das Buch nach und bietet dabei auch, jenseits der Biologie, rein fiktiven Gestalten wie Drachen, Godzilla und King Kong Raum.

Tatsächlich muss es hier um beides gehen, um Naturwissenschaft und um Kultur, denn die Dinos waren nicht nur spektakuläre Lebewesen, von denen noch heute eine kaum zu überbietende Faszination ausgeht, sie waren und sind auch Teil der Populärkultur, ein Besuch in einem Spielzeugladen, einem Kino oder einer Videothek macht das überdeutlich. Von allen Tieren haben es, abgesehen vielleicht von den Mammuts, nur die Dinosaurier geschafft, in einen Status der Quasi-Unsterblichkeit einzutreten, obwohl es dafür unter den Urzeitwesen viele Kandidaten gegeben hätte, skurrile wie spektakuläre. Dinos sind Stars, Helden der Literatur und der Kinoleinwand, Fernsehberühmtheiten und Hauptdarsteller der Erdgeschichte. Und einer von ihnen ist der unbestrittene König, ein Megastar: T. rex.

Es geht aber nicht nur um ihre Kraft, um Tonnen von Muskelmasse, um Zähne wie Dolche, um keulenbewehrte Schwänze und mit Speeren gespickte Knochenkragen, um Kämpfe und Tänze, bei denen der Boden bebte. Dinosaurier sind nicht nur für Rekorde gut. Mehr als alle anderen verschwundenen Lebensformen erinnern sie uns daran, dass der Existenz selbst der gewaltigsten Wesen auf diesem Planeten zeitliche Grenzen gesetzt sind.

Dinosaurier sind Kult und waren es von dem Moment an, da ihre versteinerten Knochen zum ersten Mal einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wurden. Schon immer wollten die Menschen sich ein Bild von diesen unglaublichen Kreaturen machen, und im 20. Jahrhundert erweckte der Film sie sogar zum Leben. Der Traum von Ray Bradbury, der zusammen mit seinem Freund, dem Hollywood-Trickspezialisten Ray Harryhausen, den ultimativen Monsterfilm schaffen wollte, ist längst Wirklichkeit geworden. Niemand staunt heute mehr, wenn Dinos lebensecht über die Leinwand galoppieren. Dank ausgefeilter Computeranimationen erscheinen uns Dinosaurier heute so real und präsent wie jede beliebige auf Erden lebende Tierart – mit dem Unterschied, dass viele Kinder zwar die komplizierten lateinischen Namen von mindestens einem halben Dutzend Dinos aufzählen können, aber keine einzige Vogel- oder Pflanzenart des nächstgelegenen Stadtparks.

Doch wie gut kennen wir die Riesenechsen und ihre Welt wirklich? Wie authentisch sind die Wesen, die heute durch die »Jurassic World« stapfen? Nicht nur der Konzeptkünstler Alexis Dworsky, dem wir eine wunderbare und kenntnisreiche Kulturgeschichte der Dinosaurier verdanken, warnt: »Unsere Vorstellung des Dinosauriers ist nicht nur von der Naturwissenschaft bestimmt, sondern auch von der Politik, der Wirtschaft, der Kunst und anderen Lebensbereichen. Die vermeintlich rein naturwissenschaftliche Erkenntnis ist also keineswegs frei von gesellschaftlichen Einflüssen.«

Zweifellos wissen wir heute ungleich mehr über die ausgestorbenen Reptilien als die Menschen im 19. Jahrhundert, vermutlich waren aber auch die Wissenschaftler vor 50 oder 100 Jahren überzeugt davon, »ihre« Dinosaurier zu kennen. In jedem Fall täten wir gut daran, gegenüber den computeranimierten Riesenechsen und ihrer scheinbaren Perfektion ein wenig Skepsis zu bewahren. Der Tyrannosaurus rex hat mittlerweile in vielen Filmen mitgewirkt, sah aber in jedem Streifen anders aus. Welcher ist der richtige, der wahre T. rex?

Erinnern Sie sich an die Szene mit dem Wasserglas? Bestimmt tun Sie das, denn natürlich haben Sie den Film gesehen, Jurassic Park war schließlich bis 1998 der erfolgreichste Blockbuster aller Zeiten (bevor James Cameron mit Titanic neue Maßstäbe setzte), und Sie hätten sonst nicht zu einem Buch über Dinosaurier gegriffen. Im Mittelpunkt dieser Szene stehen neben dem mit Wasser gefüllten Glas zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, die es fassungslos anstarren. Der Held ist aber ein anderer. Er ist nicht zu sehen, wohl aber zu hören und zu spüren. Er erzeugt die dumpfen stampfenden Laute, die seit einer Weile zu hören sind, erst leise, dann lauter, Erschütterungen, die im Wasserglas zu konzentrisch zulaufenden Wellen führen. Die Zuschauer wissen, wer der Verursacher dieser Minibeben ist, einer, auf den alle warten, der aber bisher nur schemenhaft zu sehen war – eine Gänsehautszene, die niemand vergisst, der sie gesehen hat. Weil sie so gut funktioniert, wird sie in diesem und folgenden Filmen in verschiedenen Variationen wiederholt.

Sicher, ein Kinosessel ist nicht der Ort für nüchterne Überlegungen. Versuchen wir es trotzdem. Die Tiere sind zweifellos riesig und wiegen viele Tonnen – müssen sie deshalb mit jedem Schritt ein kleines Beben auslösen? Keineswegs. Elefanten, die größten Landtiere der heutigen Zeit und etwa in der gleichen Gewichtsklasse wie ein Durchschnitts-T.-rex, können, wenn sie wollen, sehr behutsam auftreten.

Nehmen wir einmal an, Sie und ich wären Raubtiere, egal, wie groß, und darauf angewiesen, Beute zu machen, also andere Tiere zu überfallen und zu töten, Tiere, die sich diesem Schicksal in der Regel nicht freiwillig ergeben – würden wir dann bei jedem Schritt derart auf den Boden stampfen, dass man unsere Anwesenheit schon in etlichen Hundert Metern Entfernung spüren könnte, auch ohne Wasserglas? Potenzielle Beutetiere verfügen meist über scharfe Sinne. Rechtzeitige Flucht ist ihre wirksamste Überlebensstrategie. Ich fürchte daher, ein solches Raubtrampeltier hätte beim Beuteerwerb große Schwierigkeiten, im Erdmittelalter genauso wie heute. Oder es müsste von Aas leben, von fleischlicher Nahrung, die nicht mehr weglaufen kann. Dem T. rex, Verursacher der berühmten Turbulenzen im Wasserglas, wurde genau das wiederholt nachgesagt.

Betrachten wir noch eine Eigenschaft, die offenbar typisch für die Riesenechsen ist, denn sie darf in keiner anständigen Dinofilmszene fehlen. Dinosaurier – vor allem ihre fleischfressende Variante, die uns, wenn wir ehrlich sind, am meisten interessiert – können wahnsinnig toll brüllen. Um dem Hauptdarsteller von Jurassic Park eine unverwechselbare Stimme zu geben, haben die Sounddesigner ganze Arbeit geleistet und Lautäußerungen von Krokodilen, Löwen und anderen zusammengemischt. Wir erleben es immer wieder: Kaum ist der Tyrannosaurus oder irgendein anderer Raubdinosaurier erdbebengleich ins Kamerabild getrampelt, fixiert er uns Zuschauer und brüllt, dass einem die Ohren klingen. Alle, vor und auf der Leinwand, sind starr vor Schreck und machen sich auf das Schlimmste gefasst.

Nun, Sie ahnen es schon, auch dieses den Dinosauriern von einfallsreichen Filmregisseuren angedichtete Verhalten ist Unsinn. Denn welches Raubtier verhält sich so? Träfe ein Saurier auf einen Rivalen, würde das Gebrüll vielleicht Sinn ergeben, aber sonst … In weitem Umkreis würden Beutetiere vertrieben und verschreckt werden. Alle wären gewarnt und würden das Weite suchen oder sich verstecken. Raubsaurier, die sich derart geräuschvoll verhielten, wären zum Verhungern verurteilt.

Das sind zwei Beispiele, die zeigen, wie sehr unsere Vorstellung von Hollywood geprägt wurde und nicht von seriöser Wissenschaft. Filmregisseure, die in ihren Werken Dinosaurier auftreten lassen, wollen in der Regel keine Tiere zeigen, sondern Monster und Bestien, für die ein Mensch nur ein kleiner Snack zwischendurch wäre. Um des Effektes willen scheuen sie sich nicht, Arten in einer Art virtuellem Gladiatorengemetzel aufeinandertreffen zu lassen, die in Wirklichkeit durch Jahrmillionen oder riesige Ozeane voneinander getrennt waren. Es herrschen die Gesetze des Kinos, nicht der Biologie. Den Filmproduzenten geht es um Show, nicht um Wahrheit, was, damit kein Missverständnis entsteht, ihr gutes Recht ist.

Auch den Weißen Haien ist es so ergangen (interessanterweise war mit Steven Spielberg in beiden Fällen der gleiche Regisseur verantwortlich), und anders als bei den Dinosauriern, denen eine verzerrte Darstellung nicht mehr schaden kann, hatte das Auftreten des Weißen Hais als Filmbösewicht verheerende Folgen für das Image dieser Tiere, möglicherweise sogar für ihr Überleben. Peter Benchley, der die literarische Vorlage für Der weiße Hai (Originaltitel Jaws) lieferte, war später entsetzt darüber, welches Bild damit in die Köpfe der Menschen gepflanzt wurde, und er versuchte das, was sein Buch und vor allem der Film angerichtet hatten, durch weitere Bücher, durch Vorträge und Fernsehfilme zu korrigieren – mit nur mäßigem Erfolg. Der Ruf des Weißen Hais war nachhaltig ruiniert. Würden wir die Dinos genauso lieben, wenn sie heute leben und gelegentlich einen Menschen verspeisen würden?

Wer als Tier und zu Lebzeiten seiner Spezies zum Teil der Popkultur wird, muss mit dramatischen Konsequenzen rechnen. Die Ninja-Turtles-Filme führten zu einer enormen Nachfrage nach kleinen paddelfüßigen Wasserschildkröten, die ihren jungen Besitzern bald langweilig wurden und nicht selten in freier Natur landeten, mit dem Ergebnis, dass amerikanische Rotwangenschmuckschildkröten und ihre bissige Verwandtschaft heute in großer Zahl europäische Gewässer bevölkern, um dort zu einem ökologischen Problem zu werden und sorglos badenden Kindern gelegentlich in Hände oder Füße zu beißen. Noch schlimmer ist es den Artgenossen des niedlichen Clownfischs ergangen, dem kleinen bunten Helden des Oskar-prämierten Findet Nemo. Man fing sie weg und entvölkerte die Korallenriffe, obwohl vielen Filmzuschauern nicht einmal klar war, dass man ein Meerwasseraquarium braucht, um sie zu halten.

Die Dinosaurier dagegen profitierten von ihren Leinwandauftritten und erlangten eine ungeahnte Popularität. Nie zuvor hat man sie uns so glaubwürdig und lebendig zeigen können wie heute. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Einerseits sollen die dargestellten Riesenreptilien dem Stand der Forschung entsprechen, vor allem – das sollten Dinofans nie vergessen – müssen sie aber dramaturgischen und kommerziellen Überlegungen folgen, und da macht es sich eben viel besser, wenn Tiere von solch gewaltiger Größe die Welt bei jedem Auftritt seismisch und akustisch zum Erzittern bringen.

Wie waren sie wirklich, unsere geliebten toten Riesen? Was wissen wir über sie und was nicht? Wie hat sich unser Bild der Riesenechsen gewandelt und warum? Was ist aus ihnen geworden? »Dinosaurier« und »Aussterben« – das ist ein Wortpaar, das immer zusammengedacht wird, auch wenn wir heute wissen, dass es nicht für alle Dinos zutrifft. Ein Teil, hervorgegangen aus einer Gruppe relativ kleiner Raubdinosaurier, lebt heute mitten unter uns und bildet mit zehntausend Arten eine der buntesten, vielgestaltigsten und lautstärksten Tiergruppen des Planeten. »Vögel sind Dinosaurier – nicht nur Verwandte oder Abkömmlinge«, betonen die Paläontologen Darren Naish und Paul Barrett. Und ihr New Yorker Kollege Mark Norell präzisiert: »Weil Vögel von Dinosauriern abstammen, sind sie Dinosaurier, genauso wie wir Menschen Säugetiere sind.« Wahrscheinlich brauchen wir einen neuen Blockbuster aus Hollywood, der diese Erkenntnis in spektakuläre Bilder und eine spannende Handlung umsetzt, um sie endlich zu glauben.

Als Anchorman für diese und viele andere Fragen soll uns das Monster schlechthin dienen, der berühmteste aller Dinosaurier, der Tyrannosaurus rex. Seit ein Prachtexemplar der Königsechse im Berliner Museum für Naturkunde Hof hält, haben sich die Besucherzahlen dort verdoppelt. Die Faszination der Dinos ist ungebrochen und der T. rex ist ihr King, auch wenn ihm sein Name in der Rückschau vielleicht etwas voreilig verliehen wurde. Mittlerweile kennen die Paläontologen andere Echsen, die ihm mindestens ebenbürtig waren.

Tristan Otto, so der profane Name des Berliner Exemplars, ist eines der vollständigsten Skelette, die je gefunden wurden, und (fast) das einzige in ganz Europa. Besonders der Schädel ist nahezu komplett. Was kann uns ein solches Fundstück heute erzählen? Wie entlocken die Wissenschaftler Tristan Otto die Antworten auf ihre Fragen? Und – Gott bewahre – trug etwa auch T. rex Federn? Krähte er, statt zu brüllen?

1England – Wie alles begann

Joe legte einen Finger auf eine größere Wölbung direkt oberhalb des Kieferscharniers. Sie schien kreisrund zu sein, auch wenn ein Teil von ihr unterm Fels lag, und sah aus wie ein Brötchen auf einem Unterteller. Die runde Form erinnerte an einen Ammo, doch es gab keine durch Rippen unterteilte Spirale, es konnte eher ein Ring von Knochenplatten um eine große leere Augenhöhle sein. Ich starrte auf diese Augenhöhle und hatte das Gefühl, dass sie zurückstarrte.

»Meinst du, das ist das Auge?«, fragte ich.

»Ich glaub schon.«

Ich erschauderte.

TRACY CHEVALIER

Ob es sich genau so zugetragen hat, wie die US-amerikanische Romanschriftstellerin Tracy Chevalier es beschreibt, wissen wir nicht. Es könnte aber so gewesen sein. Der Beginn der historisch verbürgten dramatischen Geschichte, die von Menschen und urzeitlichen Riesenechsen handelt, spielte jedenfalls nicht an einem weit entfernten exotischen Ort, sondern in Europa, im England des frühen 19. Jahrhunderts, und die Hauptperson war ein zwölfjähriges Mädchen namens Mary Anning, die herbeigerufene Ich-Erzählerin in dem zitierten Romanausschnitt. Sie und der Finder, ihr Bruder Joe, knieten in diesem erregenden Moment des Jahres 1811 neben einem noch zur Hälfte im Gestein steckenden riesigen Schädel.

Was war das für eine gewaltige Kreatur? 120 Zentimeter maß allein ihr Kopf. Ein Krokodil? Hatte sich auch der Rest des Skeletts erhalten? Wenn ja, dann lag es neben den beiden Kindern im blau-grauen Lias-Gestein verborgen, und bald darauf begruben es Tonnen von Schlamm und Geröll, denn nach der Bergung des Schädels ging ein Erdrutsch ab und verschüttete die Fundstelle. Wenn es hier noch mehr gab, war es wohl für immer unerreichbar.

Natürlich muss diesem historischen Moment ein langer Prolog vorausgegangen sein, eine Vorgeschichte, deren Anfänge sich im Nebel der Urzeit verlieren. Denn die zu Stein gewordenen Zeugnisse vergangener Erdzeitalter existierten ja auch schon in den Jahrhunderten und Jahrtausenden, bevor Joe und Mary Anning mit ihrem Fund das Tor zu einer bislang unbekannten Welt öffneten. Die Erosion, die die im Fels eingeschlossenen Fossilien freilegte, wirkte schon immer, und sicher gab es auch Menschen, die sie fanden – nur machten die sich, wenn überhaupt, einen ganz anderen Reim darauf. In der mongolischen Wüste Gobi fanden Archäologen flache, von Menschen der Altsteinzeit bearbeitete Steine, die wie Scherben aussahen. Wahrscheinlich hatten die Finder Gefallen daran gefunden, sie durchbohrt und als Halsschmuck getragen, aber machten sie sich Gedanken über deren Herkunft? Es handelte sich um Bruchstücke von Dinosauriereischalen.

In Laos glaubten die Einheimischen, die gelegentlich in der Gegend auftauchenden Schwanzwirbel von Dinosauriern stammten von Wasserbüffeln, ein schönes Beispiel dafür, wie Fundstücke dieser Art jeweils vor dem Hintergrund der vorhandenen Naturkenntnisse interpretiert werden. Wasserbüffel waren die größten Säugetiere, die diese Menschen kannten, also konnten die großen Knochen nur von einem gewaltigen mythischen Ochsen stammen. Als der französische Paläontologe Philippe Taquet vom Pariser Muséum national d’histoire naturelle in den 1940er-Jahren in Laos nach diesen Knochen zu graben begann, sandte der Himmel Blitz und Donner und kündigte ein schweres Gewitter an, in den Augen der Einheimischen eine unmissverständliche Warnung. Taquet musste ein vom lokalen Priester gekauftes Schwein opfern, bevor man ihn weiter graben ließ.

In China galten große fossile Knochen als Überreste von Drachen, die in der chinesischen Sagenwelt schon seit vorgeschichtlicher Zeit eine wichtige Rolle spielen. Lieferten die Fossilien den Faden, aus dem die Fantasie der Menschen den Stoff der Drachenlegenden webte? Es klingt plausibel, aber beweisen lässt sich diese Aussage nicht. Sind die vielen verschiedenen chinesischen Drachentypen mit ihren europäischen Pendants vergleichbar? Und ist das Wort »Drache« überhaupt eine adäquate Übersetzung? Als Vorbilder des bekanntesten und mächtigsten Drachen Long gelten die in China lebenden Krokodile, keine Dinosaurier.

Der Existenz der Riesenknochen war man sich jedoch sehr wohl bewusst. In manchen Gegenden Chinas wurden sie zermahlen und als Heilmittel verwendet. Einen nordchinesischen Kanal taufte man im zweiten vorchristlichen Jahrhundert auf den Namen »Drachenkopf-Wasserweg«, nachdem bei den Bauarbeiten spektakuläre Versteinerungen aufgetaucht waren.

Große fossile Knochen wurden auch in vielen europäischen Ländern gefunden und häufig in Tempeln und Kirchen aufbewahrt. Und wie andernorts auch sah man in ihnen die Überreste von Riesen oder mythischen Wesen, die unter verschiedenen Namen durch die Sagenwelten der Völker geisterten. Doch ob in China oder anderswo, die wenigsten dieser Knochen stammten von Dinosauriern. Auch viele ausgestorbene Säugetiere, etwa die Vorfahren der heutigen Elefanten, erreichten imposante Größen.

Das Hauptportal des Wiener Stephansdoms trägt noch heute den Namen »Riesentor«, wahrscheinlich weil darüber für lange Zeit ein Oberschenkelknochen von enormer Größe eingefügt war. Man hatte ihn 1443 bei Arbeiten am Fundament ausgegraben, und er stammte, wie wir heute wissen, genauso von einem Mammut wie das schon knapp 300 Jahre früher im englischen Essex aufgetauchte Exemplar, das einen Zisterzienserabt namens Radulph von Coggeshall in Erstaunen versetzt hatte. Der Knochen müsse einmal einem Mann gehört haben, der 50 Fuß groß gewesen sei, schätzte der Chronist. In der Tat, mehr als 15 Meter – das wäre sogar für Riesen eine überaus stattliche Größe.

In Nordamerika waren Bisons die größten Landtiere. Für die Peigan-Indianer im kanadischen Alberta und andere Stämme konnten große versteinerte Knochen deshalb nur vom »Großvater der Büffel« stammen. Vielen Indianern waren auch die Fußspuren von Dinosauriern aufgefallen. Sowohl in Brasilien als auch in Nordamerika wurden einige der Abdrücke mit Piktogrammen markiert, deren Alter nicht mehr zu ermitteln ist und deren Bedeutung heute niemand versteht. Die charakteristischen dreizehigen Abdrücke großer Fleischfresser finden sich als Verzierungen auf Kostümen der Hopi, gefertigt in einer Gegend, die für ihre Dinosaurierspuren bekannt ist. Derart verkleidet und mit einem Büffelkopf versehen, stellen die Tänzer den Geist Kachina dar, der für Regen sorgt. Auch die in Arizona lebenden Navajos kannten versteinerte Fußabdrücke, die sie »Vogelspuren« oder sogar »große Eidechsenspuren« nannten.

Als 1802 ein Farmerjunge namens Pliny Moody in Connecticut auf Dreizehenabdrücke stieß, hielt er den Verursacher für einen Vogel, und die Menschen der Gegend erzählten sich, dass es die Spur des Raben sei, der von Noah ausgesandt worden und nie zur Arche zurückgekehrt sei. Ein gewisser Reverend Edward Hitchcock kaufte die Abdrücke ein paar Jahre später und stellte sie zusammen mit vielen anderen, die er zusammengetragen hatte, in einem eigens im Ort Amherst in Massachusetts errichteten Museum aus. Auch Hitchcock glaubte, Vogelspuren gesammelt zu haben, hinterlassen von Riesenvögeln, die während der Sintflut ausgestorben seien. Was sonst konnte solche Abdrücke hinterlassen? Wahrscheinlich hatte der Reverend von den Entdeckungen im fernen Neuseeland gehört, wo noch vor vergleichsweise kurzer Zeit bis zu drei Meter große Laufvögel gelebt hatten, die Moas.

Einige der Fußabdrücke, die Reverend Edward Hitchcock gesammelt hatte und im Amherst College in einem eigenen Museum der Öffentlichkeit zeigte. Für ihn waren es Spuren ausgestorbener Riesenvögel, Opfer der Sintflut. [1]

Wie sollten die Menschen mit diesen rätselhaften Funden anders umgehen, als sie in ihr jeweiliges Weltbild zu integrieren? Die Tatsache, dass die Erde einst von fremdartigen und riesenhaften Tieren bewohnt gewesen sein könnte, die anders als alles waren, was heute noch auf der Erde lebt, lag weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Das galt auch noch für die Menschen im Europa des frühen 19. Jahrhunderts. Was Mary Anning und ihr Bruder in den Klippen von Lyme Regis gefunden hatten, konnte aufgrund der langen Schnauze eigentlich nur zu einem Krokodil gehören, was rätselhaft genug war, denn schließlich hatte es in England seit Menschengedenken keine Krokodile gegeben.

Eigentlich war die Sache klar. Die biblische Schöpfungsgeschichte berichtete ja, wie Gott die Erde und ihre Bewohner erschaffen hatte, und dank des Iren James Ussher, Erzbischof von Armagh und Autor der Annales veteris testamenti (1650), einer gelehrten Abhandlung, deren Berechnungen die Lebensspannen der Nachkommen Adams und andere biblische Schilderungen zugrunde lagen, wussten die Menschen seit fast 200 Jahren sehr genau, wann und wie das alles geschehen war. Begonnen hatte es in der Nacht auf Sonntag, den 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt. Die Welt war also nicht ganz 6000 Jahre alt.

Der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, ermittelte im 18. Jahrhundert ein weitaus höheres Alter. Seiner Meinung nach war die Erde fast 100 000 Jahre alt, genau 96 670 Jahre und 132 Tage. Ermittelt hatte er diesen Wert, indem er Metallkugeln erhitzte und maß, wie lange es dauerte, bis sie abgekühlt waren und einen »wirtlichen Wärmestande« erreichten. Das Ergebnis rechnete er dann auf die Masse der Erde hoch. Es war dies die erste bekannte Altersbestimmung der Erde, die sich nicht auf die Bibel stützte. Für irgendwelche riesigen Tiere, von denen nur noch steinerne Zeugnisse existierten, war aber auch in Buffons Kalender schlicht kein Platz.

Nein, alles war noch genau so, wie Gott es erschaffen hatte. Außerdem – wenn Versteinerungen einst tatsächlich lebende Körper gewesen waren, wie konnten diese Überreste dann mitten in das Gestein gelangen? Hatte Gott sie etwa dort deponiert, um die Glaubensfestigkeit der Menschen auf die Probe zu stellen? Oder hatte Robert Plot recht, Kurator des Ashmolean Museum in Oxford? Der vermutete im späten 17. Jahrhundert, diese Gesteine in Tierform hätten sich aufgrund außergewöhnlicher der Erde innewohnender Kräfte gebildet. Sie dienten dazu, sogar die geheimsten Orte des Planeten zu verzieren, so wie Blumen seine Oberfläche schmückten. Waren diese Gebilde vielleicht von Anfang an im Stein gewachsen? Die Lebenskeime, die Aristoteles postuliert hatte, konnten sich überall entwickeln.

Dass diese Fossilien existierten, daran konnte jedenfalls kein Zweifel bestehen. Immer mehr wurden gefunden, und die Ähnlichkeiten und Bezüge vieler dieser Versteinerungen zu heute lebenden Tiergruppen ließen sich einfach nicht mehr von der Hand weisen. Also gab es nur eine mögliche Erklärung: Ein zorniger Gott hatte mit der Sintflut für eine dramatische Zäsur gesorgt und all die Lebensformen von der Erde getilgt, die vor seinen kritischen Augen nicht mehr bestehen konnten. Schon das war schwer genug zu verstehen, denn es würde ja bedeuten, dass Gott Lebewesen erschaffen hatte, nur um sie dann mit Stumpf und Stiel wieder auszurotten. Warum? Etwa weil sie misslungen waren – ihm, dem Allmächtigen?

Es dauerte nur wenige Jahrzehnte, bis dieses statische Weltbild in sich zusammenfiel, natürlich gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen. Wie sollte man die Tatsache erklären, dass sich marine Ablagerungen mit Muschelschalen und Fischskeletten unter Felsschichten mit Landpflanzen und -tieren und diese wiederum unter einer weiteren Schicht mit Meereslebewesen befanden, ohne dabei dramatischste Umwälzungen und Veränderungen der Erdoberfläche in Erwägung zu ziehen, ein periodisches Kommen und Gehen des Wassers, mit anderen Worten: ein kaum für möglich gehaltenes Drunter und Drüber in Gottes schöner Schöpfung? Der beginnenden Wissenschaft der Geologie eröffnete sich Schicht um Schicht ein neues, anderes Bild der Welt, und die Forscher zogen sich schließlich aus der Affäre, indem sie erklärten, dass mit den Tagen der Schöpfungsgeschichte in Wirklichkeit wesentlich längere Perioden gemeint seien, Zeiträume, in denen Landschaften entstehen und wieder vergehen könnten mitsamt ihrer Tier- und Pflanzenwelt.

Mary Anning, eine der beiden weiblichen Hauptpersonen in Tracy Chevaliers 2009 erschienenem historischen Roman Remarkable Creatures, lebte mit ihrer Familie im südenglischen Lyme Regis. Der Küstenstreifen, an dem diese Kleinstadt liegt, wird heute wegen seines Fossilienreichtums »Jurassic Coast« genannt und gehört seit 2001 zum UNESCO-Weltnaturerbe. Zu Marys Zeiten kannte man diesen Namen noch nicht, die Fossilien selbst aber sehr wohl: Donnerkeile, Muscheln, Knochen und Zähne, besonders die Ammoniten, »Cornemonius« oder »Schlangensteine« genannt. Diese und andere Kuriositäten waren schon seit ihrer Kindheit Marys große Leidenschaft gewesen. Sie hatte ihren Vater Richard oft auf seinen Expeditionen an den Strand und die nahe gelegenen Klippen begleitet. Mit dem Sammeln und Verkauf von Fossilien besserte er sein geringes Einkommen als Tischler auf. Für Mary wurde daraus eine lebenslange Obsession.

Richard Anning und seine Frau Molly hatten zusammen insgesamt zehn Kinder, doch nur die 1799 geborene Mary und ihr Bruder Joe erreichten das Erwachsenenalter. Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen, kannte Hunger, Krankheit und Tod. Trotz dieser Widrigkeiten wuchs Mary zu einer der bemerkenswertesten Fossiliensammlerinnen aller Zeiten heran. Mehr als 150 Jahre nach ihrem Tod nahm die berühmte Royal Society sie sogar in die Liste der zehn britischen Frauen auf, die den größten Einfluss auf die Geschichte der Wissenschaft hatten.

Als der Vater eines Nachts auf dem Heimweg von einer Klippe stürzte und in der Folge an Tuberkulose erkrankte und verstarb, war es vor allem Mary, die die Familie mit ihrem unfehlbaren Riecher für Fossilien über Wasser hielt. Was sie fand, wurde vor dem Haus an Reisende verkauft. Später, als sie sich auch an größere Stücke wagte und lernte, sie fachkundig zu präparieren, verwandelte sich die Werkstatt in einen Knochenkeller. Aber bis es so weit war, und immer wenn Mary das »Jagdglück« verließ, ging es der Familie schlecht. Der Vater hatte 120 Pfund Schulden hinterlassen, damals eine erhebliche Summe. Molly Anning und ihren beiden Kindern drohte die Unterbringung in einem Armenhaus. Glücklicherweise kümmerte sich die Kirchengemeinde um sie.

Dann, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, fand ihr Bruder den Schädel mit den großen Augenhöhlen, und Mary wurde den Gedanken nicht los, dass an dieser Stelle noch mehr zu finden sein könnte, trotz Erdrutsch. Sie kehrte deshalb immer wieder an diesen Ort zurück, um nachzusehen, ob das Meer den Schlamm endlich von der Fundstelle gespült und weitere Teile des Skeletts zutage befördert hatte. Wenn sie den richtigen Moment verpasste, konnte alles verloren sein.

Es dauerte annähernd ein Jahr, bis das Wasser die alte Fundstelle freigelegt hatte und Mary endlich zu graben begann. Und tatsächlich, in 60 Zentimeter Tiefe entdeckte sie einige Wirbelknochen, fast acht Zentimeter breit, eine Kette, die immer länger wurde. Sie rief einige Männer aus dem Ort herbei, und zusammen gelang es ihnen, das gesamte Rückgrat freizulegen, zum Teil mit den dazugehörigen Rippenknochen. Es war atemberaubend. Über die Jahre waren immer mal wieder einzelne Knochen, Wirbel, die sogenannten Verteberries, oder Zähne eines unbekannten Tieres aufgetaucht, aber noch nie hatte jemand ein vollständiges Skelett geborgen. Jetzt konnte Mary endlich sehen, womit sie es hier zu tun hatten. Es übertraf alle Erwartungen: ein Ungeheuer, über fünf Meter lang. Es hatte die Gestalt eines Fisches und die Zähne eines Krokodils.

Der örtliche Gutsherr, der über Geld, aber nur wenig Sachverstand verfügte, kaufte den Annings das Skelett ab, um damit in seinen Kreisen eine Weile anzugeben und es dann mit Gewinn an William Bullock weiterzuverkaufen. Dieser stellte es in London, in seinem Museum am Piccadilly Circus, aus. Fast zehn Jahre lang konnten es die Menschen dort bewundern, ohne dass irgendjemand eine akzeptable Erklärung für dieses seltsame Wesen liefern konnte.

Es war sicher kein Krokodil, jedenfalls keines der Arten, die heute noch leben. Seine Schnauze lief vorn spitz zu wie ein Schnabel, und es hatte viel mehr Zähne im Maul als die heutigen Echsen. Sir Everard Home, königlicher Leibarzt und führender Anatom des Landes, war hin- und hergerissen. Aufgrund der nachwachsenden Zähne, einem typischen Echsenmerkmal, identifizierte er Marys Fundstück zunächst korrekt als Reptil, bezeichnete es in späteren Arbeiten dann aber als riesigen Wasservogel, weil er Details des Zahnaufbaus falsch interpretierte. Die seltsamen paddelförmigen Extremitäten brachten ihn schließlich dazu, erneut seine Meinung zu ändern und das mysteriöse Geschöpf nun den Fischen zuzuordnen. Sicher war er sich allerdings nicht. »Ich betrachte es keineswegs völlig als Fisch«, schrieb er.

Erst Reptil, dann Vogel, dann Fisch – Sir Everards Unentschiedenheit sorgte dafür, dass er in Fachkreisen bald von niemandem mehr ernst genommen wurde. Seine Beiträge erregten den Unmut der damals größten lebenden Kapazität auf diesem Gebiet, des Franzosen Georges de Cuvier, aus dessen berühmtem Pariser Museum genervte Kommentare zu hören waren. Ein Mitarbeiter des großen Forschers bezeichnete Sir Everards Artikel als »lächerlich«, »abstrus, unverständlich und größtenteils uninteressant«. Mit diesem Unsinn »verstopfe« er die Philosophical Transactions, eine der ältesten und renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt, und nehme anderen, wertvolleren Arbeiten den Platz weg.

Schließlich wurde Marys Skelett von Charles Konig für das British Museum erworben. Der Kustos für Geologie und Mineralogie, der eigentlich Karl Dietrich Eberhard König hieß und in Braunschweig geboren worden war, gab dem steinernen Rätsel, halb Fisch, halb Reptil, endlich auch einen Namen, wobei er Sir Everard zuvorkam. Dieser hatte »Proteosaurus« vorgeschlagen. Konigs Name ist bis heute gültig: »Ichthyosaurus«, griechisch für »Fischechse«.

Von den 23 Pfund, die der Gutsherr für das Skelett bezahlt hatte, konnte die Familie Anning ein halbes Jahr lang leben, dann wurde das Geld wieder knapp. Fieberhaft suchte Mary nach weiteren Skeletten, ging bei jedem Wetter hinaus ans Meer, um ihr Glück zu versuchen, setzte sich dabei großen Gefahren aus, entkam nur knapp einem Erdrutsch … und wurde irgendwann tatsächlich wieder fündig. So zitterten sich Mary Anning und ihre Familie von Fundstück zu Fundstück.

1821, zehn Jahre nach der Bergung des Schädels, präsentierten Reverend Conybeare und Henry de la Bèche, zwei Geologen der 1807 gegründeten Geological Society of London, einen Bericht, der Marys Ichthyosaurier erstmals in allen Einzelheiten beschrieb und das Tier zweifelsfrei als Reptil identifizierte. Diese vom Antlitz der Erde verschwundene Riesenechse war zwar kein Krokodil, mit diesem aber näher verwandt als mit irgendwelchen anderen heute lebenden Tieren.

Gab es, wo ein unbekannter Saurier aufgetaucht war, vielleicht noch mehr? Manche der Knochen, die Mary und andere im Laufe der Jahre gesammelt hatten, passten nicht zum Ichthyosaurier. Conybeare und de la Bèche glaubten daher, es müsse in diesem Urmeer vor der Küste Südenglands noch eine zweite Echsenart gegeben haben, und natürlich war es wieder die unermüdliche Mary Anning, die sie fand. Von den erregten Debatten der gelehrten Herren hatte sie kaum etwas mitbekommen, von einigen seltenen Besuchern abgesehen, die sich nach ihrer Sammlung erkundigten und die Fundstellen sehen wollten. Sie schrieb die wissenschaftlichen Artikel, die über ihr Skelett veröffentlicht wurden, ab und versuchte zu verstehen, worum es darin ging. Die Welt der Wissenschaft blieb ihr aber verschlossen. In der Ichthyosaurus-Abhandlung wurde ihr Name nicht einmal erwähnt.

Am 10. Dezember 1823 war es dann so weit, ein überaus seltsames Geschöpf mit extrem langem Hals und vergleichsweise winzigem Kopf kam zum Vorschein, eine Mischung aus Schlange und Schildkröte. In eisiger Dezemberkälte legten Mary und ihre Helfer eine Kette von 90 Wirbeln frei. Das Tier maß drei Meter. Heute wissen wir, dass Plesiosaurier, so der Name, den Reverend Conybeare dem neuen Echsenwesen gab, bis zu 15 Meter lang und möglicherweise sogar noch größer werden konnten.

Die allgemeine Euphorie um diese Entdeckung bekam einen Dämpfer, als Baron de Cuvier das Fundstück als Fälschung bezeichnete. Zwar kannte der Franzose nur Zeichnungen des Objekts, aber 35 Halswirbel, das war unmöglich. Wozu sollte ein derart lächerlich langer Hals gut sein? Große Säugetiere besaßen sieben, Reptilien maximal acht, sogar langhalsige Vögel brachten es nur auf 23 Wirbelknochen. Annings Skelett war nahe der Halsbasis gebrochen. Hatte sie etwa Kopf und Hals einer Seeschlange mit einem anderen Tierkörper kombiniert? Gefälschte Fossilien tauchten immer wieder auf. Vorsicht war geboten.

Schlimmer hätte es kaum kommen können, der Daumen des berühmtesten Anatomen der Welt zeigte nach unten. Marys Ruf wäre für immer ruiniert, wenn sich dieser Vorwurf herumspräche, und wovon sollten sie und ihre Mutter dann leben? Eine existenzbedrohende Katastrophe.

Erst als Charles Konig vom British Museum das Fossil untersuchte, beruhigten sich die Gemüter wieder. Auch ein Baron de Cuvier konnte sich irren, zumal bei einer solchen Ferndiagnose. Konig bestätigte, dass es sich »wirklich um ein außerordentlich seltsames Objekt« handele, es sei aber »zweifellos vollkommen echt«.

Das eingegipste und in einem hölzernen Kasten eingeschlossene Fossil wurde per Schiff nach London transportiert, damit Conybeare, der es eingehend untersucht hatte, seinen Vortrag vor den Mitgliedern und Gästen der Geological Society im Angesicht des sensationellen Fundes halten konnte.

Dann begannen die Probleme. Erst verzögerte sich die Ankunft des Schiffes, sodass die ganze Versammlung auf den 20. Februar 1824 verschoben werden musste. Dann traf das Fossil ein, es erwies sich aber als unmöglich, das sperrige Ding in den Versammlungsraum im ersten Stock zu tragen. Es musste demnach unten im Foyer bleiben und dort die Zuhörer empfangen. Der Andrang war groß. Als Conybeare seine Präsentation beendet hatte, war Mary Anning restlos rehabilitiert. Ihr Plesiosaurus war echt und wurde als ein weiteres Zeugnis einer rätselhaften fernen Vergangenheit akzeptiert. Der Ichthyosaurus hatte Gesellschaft bekommen.

Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass Mary Anning in den kommenden Jahren neben weiteren Ichthyo- und Plesiosauriern auch noch den ersten Flugsaurier auf britischem Boden entdeckte, gerade rechtzeitig, um die wieder fast leere Familienkasse aufzufüllen. Sie hatte damit Repräsentanten dreier wichtiger Sauriergruppen entdeckt (die von Laien fälschlicherweise mit T. rex und Co. in einen Topf geworfen werden) – eine unglaubliche Ausbeute ihrer lebenslangen Sammeltätigkeit. Niemand hat mehr dazu beigetragen, dass Wissenschaft und Öffentlichkeit sich der Existenz riesiger, heute ausgestorbener Echsen bewusst wurden, als die Tischlerstochter Mary Anning.

Eines konnte sie jedoch nie finden: Dinosaurier. Marys Sammelgebiet war die Küste von Dorset, und sie fand die Überreste von Kreaturen, die hier in einem Urmeer gelebt hatten. Dinosaurier aber waren Landtiere.

Das Kieferfragment aus dem Ashmolean Museum in Oxford, das William Bucklands erster Beschreibung eines Dinosauriers zugrunde lag. Dieser bekam den Namen »Megalosaurus«. Bis heute wurde kein vollständiges Skelett dieses Fleischfressers gefunden. [2]

Am gleichen Tag, als Reverend Conybeare seinen mit Spannung erwarteten Vortrag über Mary Annings Plesiosaurus hielt, stand in London noch ein weiterer Vortrag auf dem Programm der Geological Society, ein Redner, dessen Vorträge sich immer großer Beliebtheit erfreuten. Kein Geringerer als Professor William Buckland, der frischgebackene Präsident der Gesellschaft, würde über ein weiteres fossiles Reptil sprechen, den Megalosaurus, die »Große Echse«, einen neun Meter langen Fleischfresser, dessen Knochenfragmente und gebogene Zähne in einem englischen Steinbruch gefunden worden waren.

Buckland war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Heute würde man einem Kind wie ihm vielleicht frühzeitig eine ADHS-Diagnose verpassen und versuchen, es mit Tabletten und Therapien in die Spur zu bringen. William Buckland aber konnte sich Anfang des 19. Jahrhunderts noch ungehindert zu einem ruhelosen Exzentriker entwickeln, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, ein Mann, der trotz oder gerade wegen seiner zahlreichen Marotten berühmt wurde und bis heute unvergessen blieb, obwohl er nach einer Tuberkulose-Erkrankung in einem englischen Irrenhaus kein schönes Ende fand.

Freilandarbeit ist in der Geologie oder »Untergrundkunde«, wie Buckland seine noch junge Wissenschaft nannte, ein dreckiges Geschäft, doch ob in Staub oder Schlamm, William Buckland sah man immer im feinsten Zwirn, »ein englischer Gentleman durch und durch«. Das und der unvermeidliche blaue Beutel, in den er seine steinernen Fundstücke steckte und den er immer über der Schulter bei sich trug, waren noch die harmlosesten Spleens, die er sich leistete. Vorträge hielt er schon mal hoch zu Ross, wenn ihm danach war. Darüber hinaus hatte er sich vorgenommen, jede einzelne Tierart zu kosten, derer er habhaft werden konnte. Durch das ganze Tierreich wollte er sich essen, sogar vor Schmeißfliegen und gebratenem Maulwurf schreckte er nicht zurück. Sie schmeckten, wie sich herausstellte, ganz widerlich.

In sein Oxforder Domizil lud William Buckland »die führenden Wissenschaftler jener Tage« zu berühmt-berüchtigten Gelagen, bei denen er Igel-, Krokodil- und Pantherfleisch auftragen ließ. »Ich habe stets den Tag bedauert«, schrieb der Künstler und Philosoph John Ruskin, »an dem ich leider verhindert war und einen delikaten Mäusetoast verpasste.« Angeblich soll Buckland sogar das Herz eines französischen Königs verspeist haben, das man ihm unvorsichtigerweise gezeigt habe.