Schiefe Häuser, kaputte Zäune, verwüstetes Land: Solomon Richter dämmert auf einer Eisenpritsche in einem Moskauer Vorstadtkrankenhaus dem Tod entgegen. Aus dem Fernseher tönen Berichte über die Kämpfe im Donbass. Ein wenig Zeit bleibt dem betagten Historiker noch, Zeit, um sich die eigene Geschichte und die eines ganzen Jahrhunderts ein letztes Mal vor Augen zu führen.

Am Beispiel von drei Generationen zeichnet der russische Künstler Maxim Kantor das exzessive Panorama einer aus den Fugen geratenen Zeit. Krieg und Frieden, Verbrechen und Strafe, Vergangenheit und Gegenwart prallen darin aufeinander. Eine zentrale Rolle spielt die Figur des Ernst Hanfstaengl, einer von Hitlers frühen Förderern, der als ein Mephisto über allen Zeiten und Geschehnissen steht. Ein gewaltiges Epos – und die Geschichte Russlands, ja Europas in den vergangenen hundert Jahren.

 

Zsolnay E-Book

Maxim Kantor

 

ROTES LICHT

 

Roman

 

Aus dem Russischen von Juri Elperin, Sebastian Gutnik, Olga und Claudia Korneev

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

INHALT

 

Erstes Kapitel: Brauner Frühling

 

Zweites Kapitel: Epos oder Kriminalgeschichte

 

Drittes Kapitel: Barbarossa erwacht

 

Viertes Kapitel: Europas letzte Anstrengung

 

Fünftes Kapitel: Das Gebot des Marodeursb

 

Sechstes Kapitel: Die Finger einer Hand

 

Siebentes Kapitel: Die Schiffsliste

 

Achtes Kapitel: Anstand mit Maß

 

Neuntes Kapitel: Rot und Braun

 

Zehntes Kapitel: Die Verschwörung der Staufer

 

Elftes Kapitel: Ontologie der Gleichheit

 

Zwölftes Kapitel: Leviathan auf Eis

 

Dreizehntes Kapitel: Den Wölfen zum Fraß

 

Vierzehntes Kapitel: Richter und Hanfstaengl

 

 

Erstes Kapitel

 

BRAUNER FRÜHLING

 

 

1.

 

Der Held dieses Buches, der Jude Solomon Richter, lag im Sterben, so wie Europa und die Demokratie. Mit der Demokratie war es schon mehrmals zu Ende gegangen: in Athen, Florenz, Weimar. Europa war ein Sterben und Wiederauferstehen – für einen Menschen aber, der nur ein Leben hat, wiegt der Tod schwer.

Solomon Richter war Historiker und Agnostiker, wie viele Wissenschaftler. An ein Leben im Jenseits glaubte er nicht. Hätte ein höherer Verstand ihm ewige Jugend angeboten, er hätte glatt abgelehnt. Seine Historikerneugier gewann stets die Oberhand: Jedes Stadium der beseelten Materie wollte durchschritten sein, bis zum Zerfall.

Solomon Richters letztes Gefühl war Verachtung für das Volk. Sein ganzes Leben hatte er für die Gleichheit gekämpft, eine Zeitlang sogar an den Kommunismus geglaubt, deshalb überraschte ihn dieses Gefühl. Aber nichts anderes war es, eine angewiderte Geringschätzung. Richter erklärte sich diese Verachtung so: Zum Mitgefühl mit dem einfachen Volk meint man sich verpflichtet, weil jedes Überlegenheitsgefühl sich verbietet. Das ist eine Frage des Charakters. Mit dem Primitiven sympathisiert man nicht wegen, sondern trotz seiner Vulgarität, aber nur so lange, bis dem vulgären Menschen dieses Mitgefühl zu Kopf steigt und er selbstgefällig wird. Empathie für die Bettelarmen ist angebracht, das Vieh aber dürfen wir nicht triumphieren lassen.

Anders als viele Juden wer der alte Richter hochgewachsen und breitschultrig. Das jahrelange Studieren am Schreibtisch hatte ihn allerdings bucklig werden lassen; jetzt, auf der Krankenhauspritsche, konnte er seinen Rücken in voller Länge strecken, die Schultern ausbreiten. Der nahende Tod hatte alles Überflüssige aus seinem Gesicht getilgt, sämtliche Falten glattgebügelt; die Haut umspannte den Schädel, seine Nase glich einem Falkenschnabel, die hohe Marmorstirn war ruhig. Der Stamm Israel hat Krieger hervorgebracht. Auch Solomon Richter war, bevor er zum Philosophiehistoriker wurde, Soldat gewesen. Nun, auf seiner Pritsche, musste er an das Lazarett bei Rschew denken, wo er siebzig Jahre zuvor ebenso bewegungsunfähig gelegen hatte. Wäre er damals gestorben, er hätte den dritten Akt der russischen Geschichte nicht miterlebt.

Erster Akt – die Revolution. Solomon wird 1922 in Buenos Aires geboren und hat die russische Revolution nicht erlebt. Seine jüdische Familie kehrt 1927 aus Argentinien nach Russland zurück, um anstelle des Zarenreichs ein beispielloses Land aufzubauen, eine Republik der Gleichen. Ihr Dampfschiff hat am selben Ankerplatz angelegt, von dem fünf Jahre zuvor der sogenannte Philosophendampfer abgefahren war. Damals hatte man die Intelligenzija verjagt; nun lud die Neue Ökonomische Politik die Wissenschaftler zur Rückkehr ein. Solomon erinnerte sich, wie sein Vater über die Laufplanken geschritten war. Moses Richter trug denselben blauen Wollanzug wie bei allen feierlichen Anlässen; und diesen Anzug würde er auch auf dem Weg ins Gefängnis tragen. Um am Ende darin begraben zu werden.

Den Prolog hatte die Familie 1905 erlebt. Nach der Revolution jenes Jahres wurde Moses Richter zum ersten Mal wegen Arbeiteragitation inhaftiert; er floh aus Russland, emigrierte nach Südamerika, wurde Mineraloge und kehrte zurück, um am Bau jenes exemplarischen Arbeiter-und-Bauern-Staates mitzuwirken. Seine vier Söhne waren mit ihm gekommen.

Zweiter Akt – der Weltkrieg. Krieg war für Solomon nichts Neues. Seine drei Brüder fielen, sein Vater kam ins Lager. Er überlebte als Einziger der ganzen Familie. Der Sozialismus hatte gesiegt, doch über diesen Sieg geriet der Sinn des Sozialismus in Vergessenheit.

Dritter Akt – die Überwindung des russischen Sozialismus, Hinwendung zur europäischen Demokratie – und dann die endgültige Abkehr von westlicher Demokratie und Sozialismus, um zu vorrevolutionären Zeiten, zum russischen Imperium zurückzukehren. Der Kreis hatte sich geschlossen, das Leben war gelebt. Der Vorhang fiel.

Solomon Richter starb während einer Zeit, als das russische Volk seine Befreiung von westlichen Idealen feierte. Fast hundert Jahre lang hatte das europäische Spektakel in Russland gedauert. Innerhalb dieses Zyklus hatte zwar auch das Stalin’sche Imperium Platz gefunden, doch diese Rückkehr zum Imperialen ging im Kriegslärm beim Kampf gegen ein anderes Reich unter. Man hätte denken können, wir kämpften für die Gleichheit. Insoweit die sozialistische Revolution das Erbe der Französischen antrat, markierte sie den Wendepunkt zu einer für Russland wesensfremden Volksherrschaft, die dem System der Leibeigenschaft widersprach. Die Volksherrschaft war europäisch, ja französisch beeinflusst; die Übergangsregierung hatte die Marseillaise als Nationalhymne etabliert, doch sie war schnell vergessen. Bereits Stalin lehnte die republikanische Regierungsform ab. Zielstrebig kehrte Russland zum Imperialen zurück, doch die endgültige Lossagung von jeglicher republikanischer Phraseologie erfolgte erst in unserer Zeit.

Heute bekennen russische Patrioten frank und frei: Ich bin Imperialist. Der durch lange Erniedrigung gekränkte Mob grölt auf den Plätzen. Erstes Opfer des neuen Imperiums wurde die Ukraine. Russen brüllten, sie würden die Chochols zur Buße für ihren Verrat an der »Russischen Welt« zwingen. Was diese »Russische Welt« sei, worin sie sich von einer »Ukrainischen« unterschied, das wusste niemand zu sagen. Russen und Ukrainer waren Nachbarn gewesen, hatten die gleichen Programme im Fernsehen gesehen, die gleichen Fußballspiele verfolgt, den gleichen Wodka getrunken. Nun wollte man ihnen einreden, es gebe eine spezifische »Russische Welt«. Und für den Sieg dieser Welt mussten die Nachbarn sterben. Es war sinnlos, die »Russische Welt« in faustische Worte zu kleiden. Absurd, eine Medizin einzunehmen, deren Etikett man nicht verstand.

Solomon Richter lag im Sterben und dachte an den dritten Akt.

 

 

2.

 

Vor Richters Krankenzimmer beschrieb ein Sanitäter die Kämpfe in der ukrainischen Stadt Donezk und behauptete, er sei an der Lieferung von Kriegsmaterial beteiligt gewesen. Die Lkws seien nachts ausgeladen worden. Die Soldaten, die diese mit dem roten Kreuz markierten Fahrzeuge begleiteten, hätten jedem Arbeiter 100.000 Rubel für die Nachtschicht gezahlt. Von einem Blick in die Ladung hatten sie abgeraten: Sie war schwer, zu schwer für Medikamente.

»Meinst du, Deschkow schießt mit Aspirin?«

Deschkow war Kommandeur jener Gruppen im Donbass, die einmal als Separatisten, dann als Terroristen bezeichnet wurden. Von Deschkow sprach man sogar in Moskau; sein Name stand für den Krieg mit der Ukraine. Aber gab es denn überhaupt einen Krieg? Gerüchten zufolge war Deschkow aus einem russischen Gefängnis in den Donbass gekommen. Weshalb er gesessen hatte, das war unklar.

»Aber es hieß doch, im Donbass gibt es keine russischen Soldaten!«

»Deschkow ist ja kein Berufssoldat!« Der Sanitäter breitete die Arme aus, um Europas Suche nach Beweisen auszudrücken. »Abrakadabra, simsalabim, ihr Kämpferlein, wo seid ihr hin?«

»Kein Berufssoldat, wenn er aus der 98. Fallschirmjägerdivision kommt?« Sogar die Divisionsnummern waren bekannt.

»Er ist mit seiner persönlichen Truppe hier. Mit ihm kämpfen Tschetschenen.«

»Was, diese Tiere?«

»Verbeug dich lieber tief vor den Bergmenschen, dafür, dass sie für Russland kämpfen.«

Nichts ließ sich verbergen: Die Wahrheit sickerte durch. Da bestellt man irgendeinen Volksseparatisten aus der Ukraine zum Fernsehinterview, und alles scheint nach Plan zu laufen, dann haut dieser Separatist auf einmal raus: Ohne russische Waffenlieferungen wären wir verloren! Und von irgendwoher wird die Nachricht über diese tschetschenischen Halsabschneider angeschwemmt.

Die ukrainische Armee wich zurück, und der Präsident Russlands heuchelte Mitleid mit den ukrainischen Soldaten: von Leuten geschlagen zu werden, die gestern noch in Bergwerken und auf dem Feld gearbeitet hatten! Minenarbeiter und Traktoristen überquerten die Grenzen bei Nacht, fuhren durch Felder und mieden die Hauptstraßen, wurden anfangs noch in Kompanien herangekarrt, später in Bataillonen. Schaut mal, die flüchtige Pfeilborte einer Gardedivision auf einem Foto … und hier, das ist doch General Lenzow, Vizekommandant des russischen Heeres, was hat der da zu suchen? Und hier: Der Präsident verleiht einen Orden an ein Fallschirmjägerregiment. Wofür dieser Orden?

»Die Separatisten haben ihre Panzer in Läden gekauft!«, behaupteten die Patrioten.

»Aber wenn sie Geld für Panzer haben, wozu brauchen sie dann Hilfskonvois mit Medikamenten?«

»Die Panzer haben sie der Kiewer Junta im Kampf abgenommen!«

Und was am schlimmsten war: Russische Soldaten sagten aus. Ein Fallschirmjäger erzählte einem Journalisten, seine Einheit sei aus Murmansk an die ukrainische Grenze geschickt worden. Ihr Kommandant hatte ihnen angeblich befohlen, für Russland in den Krieg zu ziehen: Wenn wir den Feind nicht aufhalten, dann würden diese Ukrainer bald vor Moskau stehen.

Darüber hinaus wurde erzählt, aus der Ukraine träfen Särge in Rostow ein – auf dem Rückweg in denselben Hilfskonvois, die Granaten dorthin gebracht hatten. Hin und wieder tauchten Deschkows knochiges Gesicht und sein regungsloser Mund im Fernsehen auf. Ein Mann an die sechzig, von sehniger, hagerer Art, jene, die lange fit bleibt. Er habe in Afghanistan gekämpft, hieß es, dann in Tschetschenien: Seine ganze Familie bestehe nur aus Militärs. In einem Arbeitslager sei er geboren, in welchem genau, wusste man nicht. Es gibt viele davon in Russland …

»Ich kenn Deschkow«, sagte der Sanitäter. »Ein alter Mann, aber stärker als ich. Übrigens hat sein Vater hundert Faschistenpanzer abgeschossen. Und Deschkow selbst, der hat das auch drauf.«

»Hast dus gesehen?«

»Na, ich stand doch daneben! Deschkow knallt mit der Bazooka – und aus die Maus! Die Ukrops bei lebendigem Leibe verbrannt! Die haben mir dann sogar das Bein von einem Ukrop-Panzerfahrer gebracht.«

Der Sanitäter fläzte sich behaglich in einen Sessel und ließ seine großen Hände durch die Luft segeln. In Donezk war er nie gewesen, bei keinem Gefecht, hatte keine Laster ausgeladen und den Kommandanten Deschkow nie gesehen. Die Geschichte über den Hilfskonvoi hatte er von einem Bekannten gehört, der diese Fahrzeuge angeblich ausgeladen hatte, wobei man dem Arbeiter nicht 100.000, sondern zehntausend Rubel zahlte.

Die Patienten im Krankenhausflur musterten den Sanitäter misstrauisch und zogen die Köpfe ein. Auf der Station wurde der Abendtee serviert. Den Bettlägerigen wurden die Tropfflaschen gewechselt; Krankenhausstille trat ein. Wer sich halbwegs bewegen konnte, der saß vor dem Fernseher und hörte, wie es um die Kriegsvorbereitungen stand; Außenminister Lawrow erklärte auf dem Bildschirm, warum das Budapester Memorandum, in dem Russland die Unversehrtheit der Ukraine garantiert hatte, hinfällig sei. Der Minister gefiel den Rekonvaleszenten. Einer von ihnen hatte sogar die Tür zum Krankenzimmer geöffnet, damit auch die Liegenden erfuhren, was sich an den Fronten tat.

»Ein Bein haben sie dir gebracht, sagst du?«, wurde nun der Sanitäter staunend gefragt.

»Ja, ein Bein.«

»Ein abgerissenes Bein? Und du hast es genommen?«

»Ja, warum denn nicht?«

»Du spinnst ja«, antwortete eine ältere Putzfrau.

»Ich schwör’s bei Gott«, sagte der Sanitäter leger. »Die haben dem Ukrop ein Bein abgerissen und es mir gegeben. Klar, ich hab erst mal das Gesicht verzogen. Deswegen bin ich ja zu den Krankenbrüdern, weil ich so was Abartiges nicht sehen kann. Das Bein lag dann drei Tage lang herum … hat sich zersetzt.«

Solomon Richter konnte das Gespräch des Krankenhauspersonals und die Rede des Außenministers mithören. Sein Bett stand an der Tür.

»Warum hast du dieses Bein nicht weggeworfen, Kleiner?«

»Na, eine Trophäe, dachte ich mir. Skalps nehm ich nicht, aber so ein Bein, das kann man trocknen lassen und sich auf die Kommode stellen!« Der Sanitäter lachte. »Ich mach doch Spaß. Habs nur so, aus Interesse behalten. Später dann weggeworfen, es hat zu doll gestunken.«

»Schade um die Menschen«, sagte die Putzfrau. Sie glättete die Kniefalten ihres Kittels und seufzte. »Niemand braucht diesen Krieg.«

»Babuschka, die Ukrops wollen uns Russen umbringen, wir müssen uns wehren.«

»Natürlich!« Die Putzfrau stimmte zu.

»Das sagt auch der Präsident. Oder sollen wir den Faschisten einfach unser Heimatland abtreten?«

»Haben uns die Ukrainer denn angegriffen?«, fragte einer vorsichtig.

Wäre die Ukraine 1941 unabhängig gewesen, hätte sie sich dann auf die Seite Deutschlands geschlagen, wie Bulgarien, Rumänien und Finnland? Solomon Mosesowitsch dachte nach. Wann hatte der Zerfall des Imperiums begonnen? 1917? 1914? Heute krümmte sich das Imperium in Krämpfen, es richtete sich selbst, fraß seinen eigenen Schwanz. Der Sterbende hörte Minister Lawrow, wie er dem Budapester Friedensvertrag eloquent den Garaus machte.

»Wenn wir auch Abkommen mit der damaligen ukrainischen Regierung unterzeichnet haben, so haben wir doch keinerlei Verpflichtungen gegenüber der Junta, die die Macht in der Ukraine in einem bewaffneten Umsturz an sich gerissen hat.«

Wie oft hatte der Minister in diesem einen Satz gelogen, fragte sich Solomon Mosesowitsch. Er kam auf dreimal: Verpflichtungen gelten nicht in Bezug auf Regierungen, sondern auf Länder; einen bewaffneten Umsturz hatte es in der Ukraine nicht gegeben, sondern eine städtische Revolte gegen einen Moskauer Strohmann; die Armee hatte die Kasernen nicht verlassen, also konnte von einer Junta keine Rede sein – alle Mitglieder der neuen ukrainischen Regierung waren Zivilpersonen. Aber irgendjemand wollte diesen Krieg unbedingt. Im Sterben hat man keine Angst mehr vor dem Krieg. Solomon blieb nicht mehr viel Zeit. Er spürte seine Beine nicht, so wie einst nach dem Bauchschuss, als das Leben stoßweise aus ihm entwich.

»Wenn die Amerikaner den Irak bombardieren dürfen«, fragte Minister Lawrow das Publikum weiter, »warum sollen dann die Russen nicht ihre Interessen in der Ukraine verteidigen?«

Solomon Richter wollte darum bitten, den Fernseher auszuschalten. Leise rief er nach der Schwester.

»Es ist Zeit, dass wir zurückschlagen!«, sagte der Sanitäter Walujew. »Lange haben wir’s ertragen. Jetzt warten wir nur darauf, dass Putin Fass! sagt.«

Die Geschichte hätte sich anders entwickeln können, dachte Richter. Immer sind wir davon ausgegangen, dass es der Kommunismus sei, der den Faschismus provoziert. Aber der Kommunismus ist tot, und dennoch ist der Faschismus aus dem Boden gekrochen, ohne jegliche kommunistische Provokation. Solomon Richter lag flach auf der harten Matratze, starrte an die Decke und malte sich einen Disput über den zeitgenössischen Faschismus aus. Das russische Imperium hätte, wie alle anderen europäischen Reiche, schon nach dem Ersten Weltkrieg untergehen sollen, doch der Bolschewismus hatte dieses Sterben auf Eis gelegt. Der Zerfall konnte siebzig Jahre lang hinausgezögert werden; erst als man das Produkt wieder aufzutauen begann, setzte der Zersetzungsprozess ein. Der Untergang eines Imperiums muss nicht zwangsläufig Faschismus provozieren: Frankreich hatte sich mit dem Verlust Algeriens abgefunden. Das Genie eines de Gaulle war erforderlich, um der imperialen Idee zu entsagen. Er dachte Zug um Zug, erst mit Schwarz, dann mit Weiß, wie einsame Menschen mit sich selbst Schach spielen. Rot und Braun, berichtigte er sich. Vielleicht gar keine schlechte Idee, ein rot-braunes Schachspiel auf den Markt zu bringen.

Die Idee eines Sozialismus in Russland war gescheitert, das imperiale Modell war stärker gewesen als die sozialistische Utopie … Es war ihm klar, dass er diesen Diskurs nicht zu Ende führen würde: Die Operation war zwar erfolgreich verlaufen, hatte die Ärztin versichert, doch Richter wusste, dass er das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde.

Immer war ihm klar gewesen, dass der Tod ihn in einem staatlichen Gebäude ereilen würde, in einem Zimmer mit niedriger Decke. Es würde nicht in Buenos Aires sein, der hellblauen Stadt, in der er einst in der Avenida Corrientes geboren worden war. Es würde keine Möwen geben, die ihre Kreise im Abendhimmel über der Lagune ziehen, nicht den endlosen Park, keine fröhlichen, bunten Häuser. Der Tod würde in einem stickigen Zimmer kommen, dessen Wände schludrig gestrichen sind, der Boden wird mit graubraunem, an den Ecken eingerissenem Linoleum ausgelegt und die Tür um eine Armbreite verzogen sein. Es wird auch nicht in Moskau sein, sondern an die vierzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, auf den Punkt genau dort, wo man die Panzer Guderians aufgehalten hatte und die Spuren des Großen Krieges immer noch nicht beseitigt waren. Schiefe Häuser. Schiefe Zäune. Wüstes Land. Man würde ihn, dachte er sich schon lange, an irgendeinen dieser Orte mit klebrigen Namen verfrachten, in irgendein Fefelowo oder Prilepino, und auf dem kahlen Land wird ein staatliches Gebäude stehen, Krankenhaus oder Gefängnis, und eisig kalt wird es sein; der Frost wird durch die Fenster dringen, der Wind durch die rissige Tür stoßen, und seine Bettdecke wird aus lumpigem Flausch sein, wie überall in den Kasernen und Provinzkrankenhäusern Russlands. Du fragst, ob man dich wärmer zudecken könnte, doch sie erwidern nur: Du frierst, Nichtrusse? Da beugt sich eine Amme zu dir, die Augen durchsichtig, der Blick ganz nett, und sie sagt: Allen anderen ist hier warm, warum ist dir, Jude, kalt?

Alles kam so, wie Solomon Richter es sich ausgemalt hatte. Gestern hatten sie ihn von der Intensivstation in ein Krankenzimmer verlegt; Hoffnung auf Genesung gab es nicht. Die Sanitäter rollten sein eisernes Bett durch lange Flure, es rasselte und machte kleine Sprünge auf den Bodenfliesen. In dem Zimmer warfen sie den alten Professor dann von einem Bett auf ein anderes. Das war es. Er war an seinem letzten Wohnort angelangt. Solomon Mosesowitsch kannte das Geräusch solcher Räder, so hatte der Karren im Arbeitslager geknattert.

Er dachte an den Krieg in der Ukraine, und er erinnerte sich an Stationen seines Lebens: wie er seiner Frau Tanja begegnet war, als er das Arbeitslager verließ; welche Hemden sein Vater Moses getragen, was Marx im zweiten Buch des »Kapitals« geschrieben hatte. Solomon Mosesowitsch fürchtete sich davor, im Schlaf zu sterben, ohne sich dem Wichtigen noch einmal gestellt zu haben. Details kamen ihm in den Sinn; als der Ermittler beim Verhör sagte: Sie sind also Jude, Solomon Mosesowitsch? Nächstes Mal werden Sie sich schlauer anstellen. War es wirklich schlau gewesen, für die Gleichheit in Russland zu kämpfen? Hatten sich die Menschen dafür ihre alten Stiefel zertreten?

Der Schlaf kam unerwartet und blieb traumlos. Er erwachte, als die Sanitäterin an der Nadel in seiner Vene zog, um die Tropflösung zu wechseln. Ein wenig Zeit bleibt mir noch, sagte er zu sich, ich muss es schaffen, muss verstehen. Richter lächelte der Sanitäterin zu, als sie sich an seinem Bett zu schaffen machte; er war es gewohnt, mit Frauen zu schäkern.

»Was schauen Sie mich so an, Patient? Sie Schlingel! Ich werd mich beim Doktor beschweren.«

Sie hatten ihn genau an der Tür abgestellt. Wurde sie geöffnet, sah er den Bildschirm des Fernsehers im Vorraum. Der Apparat lief ohne Unterbrechung.

»Lang leben die russischen Waffen!«, riefen die Kranken zur Begrüßung und zum Abschied. Und aus dem Fernseher drang die Nachricht, Russlands Vizepremierminister habe ein Grußwort an die russischen Krieger der ukrainischen Front gesandt. »Wie gerne würde ich neben euch im Schützengraben stehen, Brüder!«, hieß es darin. »Neurussland – das ist unsere Hoffnung, das ist unser Frühling.«

Orthodoxe Priester segnen Fallschirmjäger, die zum Kampf nach Donezk aufbrechen. Der Schriftsteller Piskunow rezitiert russische Klassiker – auf den Triumph des russischen Imperiums! Wie? Leo Tolstoi ein Imperialist? Weder hat er Gewalt akzeptiert noch das Imperium bejubelt. Und der friedliebende Tschechow soll den Kampf zur Erweiterung russischer Grenzen gewollt haben? Piskunow bilanziert: »Die Welt wollte erniedrigte Russen, die für ihre stalinistische Vergangenheit büßen. Aber Russland hat sich erhoben. Es liegt nicht länger auf den Knien.«

Und die Patienten und Sanitäter des 26. Städtischen Krankenhauses jubeln. »Zwanzig Jahre lang hat man uns Russen zur Buße gezwungen!«, fasst einer von ihnen zusammen. »Die Ausländer kamen, wir mussten auf die Schulbank. Der Stalinismus … Ja, verzeiht uns doch bitte unsere Schuld … Verzeiht uns Barbaren, wir neigen unser Haupt!« Er zieht Fratzen, mimt Verbeugungen, fasst die Putzfrau an der Hand und übersät sie mit Küssen. »Gulags haben wir eingerichtet, müssen Sie wissen … Ach, pardon! In die Lager haben wir welche geschickt … Ach, verzeiht, seid barmherzig! Und Finnland haben wir angegriffen … Ach je, wie ungeschickt … Und die Chochols zu Tode hungern lassen … Ajajaj! Und Iwan schlägt die Stirn auf den Boden: Verzeiht uns, dass wir euch befreit haben! Dass wir Hitler Einhalt geboten haben – unsere Schuld! Dass die meisten von uns im Krieg verreckt sind! Verzeiht uns! Pfui Teufel!« Müde vom Küssen stößt der Sanitäter die Hand der Putzfrau von sich, erhebt sich und spricht in den Krankenhausvorraum: »Genug gebüßt! Wir haben die Reue satt!«

»Die Ausländer sollten erst mal selber Buße tun«, sagt die bedächtige Putzfrau. »Und uns Russen in Ruhe lassen.«

Das Gesicht des russischen Präsidenten, eines älteren, sportlich wirkenden Mannes mit Sonnenbrille, war auf dem Bildschirm erschienen.

»Toller Typ«, sagt die Putzfrau.

Zur gleichen Zeit sitzt ein kleiner blasser Mann im Kreml. Sein aufgedunsenes bartloses Gesicht verrät inmitten vom Prunk des Saals seine niedere Herkunft. Aus der düsteren Plattenbausiedlung Tuschino scheint er in die Königsgemächer eingedrungen zu sein. Er hat den Thron usurpiert und ist mächtig stolz darauf. Dieser kleine Mann hat die Welt in Aufruhr versetzt, und die Welt schaut ihm wie gelähmt zu.

 

 

3.

 

Die Interbrigade – so bezeichnete sich die Kampftruppe – betritt das Gebäude des 20. Städtischen Krankenhauses von Donezk. Drei »Deutsche« (Russen, die in den Neunzigern nach Deutschland ausgewandert waren); Kosaken aus dem Kuban-Gebiet und russische Soldaten. Ein sogenannter Separatist aus der Lokalbevölkerung, Spitzname Kurok – Abzug –, und Achmed aus Tschetschenien tragen eine Bahre mit einem verwundeten Ukrainer. Neben der Bahre schreitet Brigadekommandeur Jakow Deschkow.

Sie haben den Soldaten der föderalen ukrainischen Armee gefangen genommen. Vor dem Verhör soll er medizinisch behandelt werden, zum Sprechen ist er nicht in der Lage.

»Wohin mit ihm?«, fragt Achmed, der glaubt, der Verletzte simuliere seine Schmerzen.

»Holt den Chefarzt«, sagt Deschkow zu einem Sanitäter. Der springt auf und eilt davon. Jakow Deschkow hat graues Haar und ist nicht mehr der Jüngste, er spricht leise, ist bekannt und auch gefürchtet. Das Krankenhaus im zwanzigsten Kiewer Viertel von Donezk ähnelt dem Krankenhaus außerhalb Moskaus, in dem Solomon Richter im Sterben liegt. Beide Häuser waren im selben Jahr gebaut worden, im Stil der damaligen Sowjetunion. Selbst die welkenden Fliederbüsche vor der Notaufnahme an der Artemstraße waren so wie die an der Taganskaja-Straße. Nur die Fassaden unterschieden sich. Bei dem Gebäude in Donezk war das Vordach über der Eingangstür abgesunken, und in den Fenstern der zweiten Etage fehlten die Scheiben. Ein Geschoss war in die Ophthalmologische Abteilung in der zweiten Etage eingeschlagen und hatte Risse an der gesamten Fassade verursacht.

»Seht, hier sind Ziegel runtergefallen, und die Wand da hats ganz schön aufgerissen! Auf Krankenhäuser schießen! So etwas! Wir haben zum Glück fast keine Opfer … sieben Splitterverletzungen bei den Patienten … Und hier, die Frau am Eingang, die ist getötet worden, aber das ist keine Patientin, wir zählen sie nicht«, sagt der Chefarzt, als er die Gruppe von Jakow Deschkow empfängt. Der Chefarzt ist ein adretter, molliger Herr, der unter seinem Kittel eine selbstgenähte Daunenjacke trägt und eine gemütliche Stimmung verbreitet.

»Die Pritschen sind alle belegt. Die Krankenzimmer sind überfüllt. Aber wir lassen uns was einfallen für Ihren Kameraden.«

»Ist kein Kamerad«, sagte Dodonow, einer derjenigen, die aus Berlin gekommen waren, um gegen die Ukraine zu kämpfen. Zwanzig Jahre Deutschland hatten ihn verdeutscht, aber gleichzeitig eine Abscheu gegen alles Deutsche in ihm geweckt. Nach Russland wollte er nicht, dort gibt es keine staatliche Arbeitslosenunterstützung. »Das ist ein Ukrop aus den Strafkommandos. Wir werden ihn gleich verhören.«

»Leisten Sie Erste Hilfe«, sagte Deschkow. »Wird wohl eine OP nötig sein.«

»Warum schießt ihr auch auf Krankenhäuser«, sagte der Chefarzt zum Verletzten und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Hier sind doch Kranke …«

»Und wir? Wir verarzten die noch.« Dodonow reagierte voller Abscheu.

»Geduld. Es wird nicht lange dauern«, sagte Achmed, der Tschetschene. »Die Schlange wird für alles büßen.«

Gestern hatte Achmed gefangene ukrainische Soldaten vor sich knien lassen, sie ins Gesicht geschlagen und dann erschossen. Was hatten sie getan? Den Flughafen von Donezk verteidigt. Erst jagte man ihnen mehrmals Todesangst ein, dann wurden sie mit Genickschuss niedergestreckt. Dies taten russische Soldaten, Brüderchen, nette Jungs mit Kartoffelnasen, denen man sagte, in der Ukraine wären jetzt die Faschisten, und man müsste die Ukraine von sich selbst befreien. Achmed glaubte tatsächlich, dass Donezk seine Stadt sei, und er, der Tschetschene, wäre hier in seinem Land am Werk. Er empfand ein Gefühl von Gerechtigkeit, zog den aus dem Kaukasus mitgebrachten Säbel und hielt dem Gefangenen den Stahl unter die Nase.

»Hast du Angst?«, schrie Achmed den knienden Männern ins Gesicht und konnte sie an ihren verschwitzten Gesichtern erkennen. »Willst nicht sterben, was? Aber auf unsere russischen Frauen und Kinder schießen, das kannst du?« Wenn er so schrie, kochte der Zorn in ihm auf und machte ihn unerbittlich. »Wer hat dich hierher bestellt?«

Der Ukrainer stand mit den gefesselten Händen am Rücken da und schwieg.

»Was suchst du hier, Abschaum?«, schrie Achmed wieder und schlug ihm ins Gesicht. »Was? Was? Was?«

»Ich bin Soldat und verteidige mein Land. Ihr seid es, die hierhergekommen sind.«

»Okkupanten sind wir? Nimm das! Das! Das ist unser Land!« Achmed riss eine Epaulette von der Schulter des Soldaten und steckte sie ihm in den Mund. »Friss, Bastard! Friss dein chocholsches Abzeichen! Vor meinen Augen! Erstick dran, Schlampe!«

Und der Ukrainer aß seine Epauletten, kniend im Schnee. Er ahnte, man würde ihn so oder so umbringen, aber solange er kaute, war er am Leben. Neben Achmed stand ein junger Journalist vom Ersten Kanal des Moskauer Fernsehens und filmte, wie der »Strafkommandofaschist« die eigenen Epauletten aufisst. Man bezeichnete sie jetzt als »Strafkommandos«, so wie einst die Okkupanten im Zweiten Weltkrieg, die 1941 in die Ukraine eingefallen waren. Der Mann mit der Kamera spürte, dass hier historische Aufnahmen entstanden. So hatte man einst gefangene deutsche Faschisten durch die Moskauer Straßen geführt.

»Hat dir deine Nato geholfen, du Bastard?«, schrie Achmed und schlug dem Soldaten wieder ins Gesicht. Er winkte ein paar alte Mütterchen zu sich: »Hier ist sie, diese Ausgeburt, die eure russischen Kinder umbringt, hier ist er, der Unmensch!« Dann schoss er ihm in den Hinterkopf.

Jakow Deschkow hatte dieser Exekution nicht beigewohnt. Er war an die Front nach Debalzewo gefahren, wo bald ein großes Gefecht beginnen sollte. Als Deschkow zurückkehrte, sagte man ihm, der Gefangene hätte zu fliehen versucht.

»Mit gefesselten Händen?«, fragte Deschkow.

»Tut es dir leid um ihn, Kommandant? Um Faschisten?«

Den letzten am Leben gebliebenen Gefangenen ließ er vor dem Verhör in ein Krankenhaus bringen. Die Soldaten der Brigade bezogen im Erdgeschoss des Krankenhauses Quartier. Übermorgen sollten sie nach Debalzewo aufbrechen.

»Schon wach, Faschist?«, fragte Dodonow.

»Leb noch ein bisschen«, sagte Achmed. »Hab noch ein wenig Freude.«

Der Ukrainer vermied es, Achmed direkt anzuschauen. Er blickte in das weiche, runde Gesicht von Dodonow. Als Achmed zum Schlag ausholen wollte, hielt ihn Kommandant Deschkow zurück. Er sprach leise, aber deutlich.

»Du arbeitest gerne in Krankenhäusern, Achmed?«, fragte ihn Jakow Deschkow.

»Nein, Kommandant. Früher haben wir uns eher in Fabriken verschanzt, aber im Krankenhaus ist es auch gut. Gibt Essen. Solltest mal was essen.« Und Achmed reichte Jakow Deschkow Brot und eine Zwiebel. »Gesund, Kommandant.«

So brutal Achmed im Kampf war, im Alltag war er höflich, ja feinfühlig.

»Warum kämpfst du hier, Achmed?«

»Weil ich helfen will.«

»Wem?«

»Hier sind russische Brüder. Frauen und Kinder leiden«, antwortete Achmed. Er sprach sorgfältig, beinahe akzentfrei.

»Seit wann sind die Russen deine Brüder? Hast du 1994 nicht an Bassajews Seite gekämpft?«

»Wie kannst du das wissen, Kommandant?«

»Ich erinnere mich an dich«, sagte Deschkow auf gut Glück. »Und du erinnerst dich an mich.«

Achmeds Gesicht blieb unverändert, höflich und aufmerksam schaute er den Kommandanten an. Deschkow sagte: »Du hast das Krankenhaus in Budjonowka gestürmt, oder? Den Krankenhausausgang gedeckt, nicht wahr?«

»Nein, Kommandant. Das waren andere. Draufgänger. Die hätten das Krankenhaus nicht stürmen sollen, die Föderalen.«

»Stimmt. Hätten sie nicht. Das Krankenhaus ging in Flammen auf. Frauen sprangen aus den Fenstern. Und später hat man euch einen Korridor freigemacht, euch Transportmittel bereitgestellt. Ihr seid raus und habt die Geiseln mitgenommen. Nicht wahr?«

Achmed war überrascht.

»Was für Geiseln?«

»Dich hab ich damals nicht erwischt. Aber zwei von deinen Freunden hab ich umgelegt«, sagte Jakow Deschkow.

»Das war ich nicht, Kommandant«, sagte Achmed höflich, »damals war ich noch sehr jung. Habs nicht geschafft, mitzukämpfen.«

»Achtzehn warst du. Warst nicht du es, der eine Frau vor sich her gestoßen hat? Ich erinnere mich an dich.«

»Du irrst dich. Mein Cousin war bei Bassajew. Ich bin ein treuer Kadyrow-Mann. Glaubst du mir nicht?«

Dieser aufmerksame, höfliche Blick. Deschkow antwortete Achmed ebenso: »Ich glaube dir, Achmed«, sagte er, und ein ruhiges Lächeln, wie das seines Großvaters, des Kavallerieleutnants Deschkow, trat auf seine schmalen Lippen. »Aber töte keine Gefangenen mehr.«

»Natürlich, Kommandant. Wie kann man denn.«

»Solltest nicht so mit dem Achmed umgehen, Kommandant«, sagte Dodonow. »Die Tschetschenen sind unsere Brüder und die Ukrops Unmenschen. Debalzewo wird gerade evakuiert. Man will die zivile Bevölkerung wegbringen, aber die Ukrainer lassen sie nicht, sie feuern auf die Busse.«

»Tiere«, bestätigte der Tschetschene.

»Und dann regen die sich noch auf, dass unsere Jungs Mariupol beschießen«, sagte einer der Separatisten. »Das war noch zu wenig, wenn ihr mich fragt.«

Beim Sprechen standen sie über dem Verwundeten. Die Bahre hatten sie auf dem Boden abgesetzt. Der Gefangene lag vor ihren Füßen, und ein dünnes blutiges Rinnsal tropfte von der Bahre und durch einen Riss im Persenning auf den Boden.

»Lies mal, was die Iswestija schreibt, Genosse!« Dodonow sammelte Zeitungsausschnitte wie einst sein Großvater im Krieg von 1941. »Da steht, die Ukraine liegt im strategischen Interesse von Russland. Russland braucht den Lebensraum.«

Und der Separatist Kurok sagte: »Gut, dann sind wir eben Okkupanten. In Ordnung. Mein Leben lang hab ich gebaut, mich für andere abgerackert.«

»Was hast du gebaut?«, wollte Deschkow wissen.

»Als Elektriker. Auf Baustellen. Und bin dann 92 zu den Kosaken – da ging das Leben auch im Galopp voran: Abchasien, Tschetschenien …« Der Kosake schielte zu dem Tschetschenen. »Und jetzt Neurussland.«

»Wir sind keine Okkupanten«, sagte der Russendeutsche Dodonow. »Wir sind Kolonisten. Wir bringen die Zivilisation«, sagte er und blickte ebenfalls auf Achmeds dunkles Gesicht.

Der rauchte und blickte auf den verwundeten Ukrainer herab.

»Lass ihn«, sagte Deschkow.

»Gut, gut, dann verarzten wir das Strafkommando. Aber wer hält Wache?«, fragte Achmed.

»Jemand sollte ein Auge auf diesem Chochol behalten. Ich werde bei ihm bleiben.«

»Wir brauchen ihn lebend.«

 

 

4.

 

Solomon Richter lag im Sterben und hörte zu, wie die Kulturfunktionäre im Fernsehen den Anschluss der Krim feierten. Der patriotische Schriftsteller Piskunow sprach vom Bildschirm: »Lassen Sie mich den großen Waleri Brjussow zitieren! Als wäre es heute geschrieben. Ich bitte um Aufmerksamkeit.«

Die Kranken im Vorraum merkten auf.

»Fünfzig Jahre lang haben wir uns selbst gerügt; fünfzig Jahre lang haben wir uns selber versichert, dass wir zu nichts taugen, dass uns dazu die Veranlagung fehle. Kein Wunder also, dass wir am Ende selbst daran glaubten. Diese Selbsthypnose lässt sich nur durch den Kanonendonner der Schlacht beenden. Die Mystik dieses Krieges ist der Kampf Russlands gegen sich selbst, gegen den Fluch des eigenen Positivismus … Nach diesem Krieg sollte es weder Liberale noch Konservative geben, weder Dekadente noch irgendetwas. Nach diesem Krieg sollte es einen einzigen mächtigen russischen Imperialismus geben oder gar nichts.«

Die gebildeteren Kranken atmeten auf.

»Alles nur, weil die Liberalen Stalin in den Dreck ziehen. Das Land erniedrigen«, sagte der Sanitäter.

Eine adrette Frau mit Tuch, die nach dem Besuch bei ihrem Mann vor dem Fernseher sitzen geblieben war, sagte: »So viele Lügen über diese fürchterlichen Repressionen. Wenn da wirklich was passiert wäre, dann wüssten die Leute das. Jeder hat doch zahllose Bekannte, und wenn es niemanden in der Familie gibt, der irgendwelche Repressionen erlebt hat, wie kommt man dann auf so eine Zahl? Millionen! Woher diese Millionen?«

»Recht hat die Dame«, sagte der Sanitäter. »Gab es bei dir Repressionen?«, fragte er einen Patienten im blauen Unterhemd.

»Mein Großvater, der ist im Bürgerkrieg gestorben, aber das waren die Polen.«

»Seht ihr – die Polen! Nicht die Russen!«, klagte die Putzfrau.

»Wieso sollte ein Russe auch einen aus seinem eigenen Volk umbringen?«

Der Patient im blauen Unterhemd knabberte Kekse.

»Die werden noch dafür büßen, was sie über Stalin erzählen.«

»Die spinnen, die Liberalen«, sagte der Sanitäter. »Stalin hat niemanden umgebracht.«

»Feinde hat er umgebracht«, erklärte der Mann im Unterhemd. »Und das war richtig. Die fünfte Kolonne gehört ausgemerzt.«

Solomon Mosesowitsch wusste, dass zu der Zeit, als Brjussow sein imperiales Panegyrikon verfasste, gerade ein Aufstand in Zentralasien ausgebrochen war: Die Muslime weigerten sich, an die Front des Ersten Weltkriegs zu ziehen. In Chudschand, Samarkand, im Ferghanatal, im Siebenstromland widersetzten sich die Moslems der Einberufung; nicht nur bei den Kirgisen, sondern auch den Usbeken und Kasachen. Zuerst wurden die Usbeken an die Wand gestellt. Später entsandte man Strafkommandos. Ganze Dörfer, Aule, wurden niedergebrannt, Gefangene gabs keine.

Damals begann der Tschon Urkun, der Große Exodus, die Flucht der Kirgisen nach China nach der Niederschlagung des Aufstands. Als er von seinem Imperium sprach, hatte Brjussow vermutlich nicht diesen asiatischen Aufstand im Sinn.

Jetzt wäre es gut, die Meinung eines Profis zu hören, eines Profis wie Sergej Deschkow, ein Soldat aus Familientradition und ein Jugendfreund Solomon Richters. Er jagte dem Faschismus durch die halbe Welt hinterher, bekämpfte ihn an unzähligen Orten. Deschkow konnte man sich leicht als Imperialisten vorstellen: Er kämpfte, wohin er geschickt wurde. Den Krieg beendete er auf seine Weise.

Jetzt war die Tollwut in Russland wieder ausgebrochen, die Flamme des Patriotismus versengte das Bewusstsein der Menschen. In den Köpfen wurde es heiß und stickig: Die Menschen wollten auf einmal Krieg, so wie vor dem Ersten Weltkrieg. Auf einmal hassten sie ihre Nachbarn. Die hatten ihnen zwar nichts getan, hassenswert waren sie trotzdem. Die Leute in den Krankenhauskorridoren glaubten dem Präsidenten, der sie in einen Krieg gegen den Westen führte. Wer keinen Krieg wolle, war ein Verräter.

»Ihr wollt, dass unser Land versklavt wird!«, sagte der Mann im blauen Unterhemd zu seinen unsichtbaren Feinden. Auf dem Flur der Kardiologischen Abteilung wollte niemand versklavt werden.

»Europa hat keine Selbstachtung mehr! Es ist zum Fußabtreter Amerikas geworden!«, behaupteten eine Reihe von Patienten des 26. Städtischen Krankenhauses und schlugen ihre Blechtassen auf die Tische.

Was, fragte sich Solomon Richter, wenn jetzt ein Mephisto auftaucht und mir eine Jugend anträgt? Die Jugend würde ich ja sofort nehmen, aber einen anderen Lauf der Geschichte dazu fordern. Wie phantasielos wird doch an dem neuen Imperium gebaut, überlegte der Alte. Der jämmerliche Wille zur Macht zwingt zur Wiederholung, und immer ist es eine ungewöhnlich langweilige Kreatur, die die Fäden zieht. Nichts ist neu, das Alte scheint umso attraktiver! Links und Rechts waren in Europa durcheinandergeraten: Griechische Sozialisten koalieren mit griechischen Faschisten, die Rhetorik einer Sahra Wagenknecht läuft auf das Gleiche hinaus wie die einer Marine Le Pen. Piskunow, der Schriftsteller, behauptet salopp, der rechtschaffene Linke von heute müsse zwangsläufig »rechts und staatstreu« sein. »Wir sind keine Nazis«, sagte dieser Patriot, »wir sind Nationalisten. Unser Feind ist alles Unrussische!«

Die russischen Kämpfer im Donbass hatten sich das Wort »Republik« auf die Fahnen geschrieben und den doppelköpfigen russischen Kaiseradler dazu gemalt. Doch wie sollen Republik und Imperium miteinander harmonieren? Hauptfeind des russischen Imperiums ist die europäische Revolution, die Idee der Gleichheit. Wer diese Idee in Russland einschleust, der zersetzt diesen gewaltigen Körper. Hauptziel dieses Krieges ist daher auch nicht die Ukraine, sondern das demokratisch vereinte Europa. Deshalb ist der Krieg gegen die Ukraine nur ein Schritt zur Zersetzung Europas. Ich Narr! Warum habe ich das nicht früher erkannt. Richter runzelte die Stirn ob seiner Naivität. Immer übersehen wir das Epos hinter der Kriminalgeschichte.

Durch die Krankenzimmertür betrachtete er das bleiche Gesicht des Herrscher-Präsidenten. Gab es so etwas nicht schon einmal? Ach ja, Louis Napoléon, der Prince-Président. Manches hatte er also noch nicht vergessen. Der Herrscher-Präsident wusste Vertrauen zu wecken. Aber in seinem Appell hatte er sich derselben Argumente bedient wie Hitler in seiner Botschaft an Chamberlain. Solomon Richter erschrak, als er bemerkte, dass er diese Rede Putins auswendig kannte: Es war Hitlers Brief an Chamberlain vom 23. August 1939.

»Wir können die Erniedrigung der russischen Bevölkerung in Donezk nicht dulden«, sagte Putin im Fernsehen, und Richter führte die Rede zu Ende: »Deutschland war bereit, die Frage Danzig und die des Korridors durch einen wahrhaft einmalig großzügigen Vorschlag auf dem Wege von Verhandlungen zu lösen […] Die Deutsche Reichsregierung hat der Polnischen Regierung nun vor kurzem mitteilen lassen, dass sie nicht gewillt ist, diese Entwicklung stillschweigend hinzunehmen, dass sie nicht dulden wird, dass weitere ultimative Noten an Danzig gerichtet werden […] Sie teilen mir, Exzellenz, im Namen der Britischen Regierung mit, dass Sie in jedem solchen Fall des Einschreitens Deutschlands gezwungen sein werden, Polen Beistand zu leisten. […]

»»

»Wissen Sie«, sagte er zu der Ärztin, »ich war ja schon einmal weg, ja, ich bin gestorben … und zurückgekehrt.« Er lächelte. »Zurückgekehrt. Aus irgendeinem Grund. Sie wissen nicht zufällig, aus welchem?«

»»

»Wie sollen wir Diagnosen stellen, wenn wir kein Geld für einen Tomografen haben?«

»Alle gehen weg von hier. Haben Sie bemerkt, dass es keine Juden mehr gibt? Als sie die Ukraine angegriffen haben, sind die letzten ausgereist.« Sie schaute nach den Sanitätern. »Auf der Nachbarstation ist alles in Ordnung. Boris Jakowlewitsch hat ein gutes internationales Kollektiv, sogar einen Praktikanten aus Kanada hat er. Da darf man alles sagen. Hier besser nicht. Bei Ihnen bin ich mir sicher, Sie sind auf unserer Seite.«

»Volksfeinde

Glauben Sie an Gott?«, fragte Richter, ohne die Augen zu öffnen. Hält man die Augen geschlossen, flackert ein rotes Licht in der Dunkelheit des Bewusstseins. In seinem Auge brannte diese Abendröte mit gleichmäßigem, nie verlöschendem Feuer, wie damals bei Rschew. Auf der Intensivstation war Richter dreimal in eine Art Koma gefallen, dreimal zurückgekehrt, und jedes Mal schien es ihm, er kehre aus einem Feuer zurück. Glauben Sie an Gott?«

Ich glaub an keinen Gott. Gott würde so etwas nicht zulassen. Mein Bekannter wurde verhaftet, weil er auf einer Demonstration war. Gegen den Krieg. Was ist Schlimmes daran, gegen den Krieg zu sein?«

»Hab es meinem Mann noch ausgeredet, in den Neunzigern. Wir hatten schon die Papiere für Israel eingereicht, aber dann zurückgezogen. Blöd von mir!« Wieder schaute sie nach dem Sanitäter.

»Wenn Sie entlassen werden, gehen Sie sofort zur israelischen Botschaft.« Richter antwortete nicht. Wohin er ging, gab es weder Russland noch Israel. Es gab kein russisches Paradies, es gab einen einzigen langen Weg, den man beschreitet bis in die Unendlichkeit.

Sie werden noch lange leben«, redete die Ärztin weiter. Sie sind ein Mann des Geistes. Ihr Intellekt lässt Sie nicht sterben, wissen Sie das?«

»

Ich bin Argentinier.«

Ach, die Argentinier, die habens nicht leicht«, seufzte jetzt Diana Borisowna. Und die Indianer, das sind gleichsam Aussätzige. Hab ich recht?«

»

Wie?«, wunderte sich Diana Borisowna. Das sind doch Antisemiten!«

Was macht das«, sagte Richter. Ein Leben lang tun wir nicht das, was wir wirklich wollen.« Die Ukrainer waren Antisemiten und wurden zu Juden. Er selbst hatte alle Bücher der Welt lesen wollen, doch dann begann der Große Krieg. Er dachte: Vielleicht lese ich nicht alle Bücher auf der Welt, aber dafür wird es keinen Faschismus mehr geben. Nach dem Krieg wurde er zum Philosophiehistoriker, aber alle Bücher hatte er doch nicht geschafft. Und der Faschismus war zurückgekehrt.

 

5.

 

Mein Täubchen! Sie hab ich gesucht!« Ein großgewachsener Mann war energischer als im Krankenhaus üblich durch den Korridor geeilt, hatte die Ärztin durch die Tür erspäht und betrat das Krankenzimmer.

Na so was, Solomon Richter zur Erholung hier!« Der Mann starrte in Richters Gesichtszüge und wurde traurig. Ach, mein Lieber, Sie sind ja ernsthaft krank? Ärzte, hütet mir diesen Kranken. Unser Land braucht Philosophen!«

»Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir«, sagte Piganow zu dem Sterbenden. »Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen sind das Unterpfand eines langen Lebens. Das Fahrwerk gehört geprüft! Die Ärzte hier bringen jeden Motor wieder in Schuss! Solange das Herz schlägt, ist man verwendungsfähig fürs Vaterland.«

Vergangene Woche war eine mollige Dame, eine gewisse Irina Kuljkowa, wegen eines Schwächeanfalls im Krankenhaus gewesen, der sie beim Anblick schief verlegter Marmorfliesen auf einer Datscha ereilt hatte. Vor ihrer Entlassung fand sie noch ein paar Worte für die Ärztin. »Ich begreife nicht, wie einem Russlands Schicksal gleichgültig sein kann«, verkündete die Patientin mit vibrierender Stimme. »Wie zynisch muss man sein, unseren Präsidenten nicht zu unterstützen.«

»

»

»Sie verstecken sich also im Krankenhaus«, witzelte der Liberale. »Keine gute Zeit zum Kranksein: Das Land braucht Menschen wie Sie. Sie sollten vor der Jugend auftreten. Sie sind erschöpft? Fühlen sich alt? Dann sollten Sie wissen: Adolf Hitlers ehemaliger Sekretär wird bald in Moskau eintreffen, mit einem einzigartigen Archiv im Gepäck. Ernst Hanfstaengl! Der Name sagt Ihnen nichts? Ein Zeitzeuge! Hochbetagt, Methusalem!«

»Hanfstaengl berät einige junge Politiker. Wir arbeiten an einem Konsens mit den Patrioten, schließlich lieben wir alle unser Vaterland. Morgen beginnt ein Kongress der neokonservativen Bewegungen. Spannende Perspektiven! Ich muss sagen, die politische Landschaft hat sich, im Vergleich zum letzten Jahr, doch verändert.«

»Ganz Europa versammelt sich! Eine waschechte Internationale wird das, aber nicht in Lenins Sinn!« Der Politiker ließ das unverwechselbare Lachen des in die Zukunft gewandten Menschen hören: »Front National in Paris, Lega Nord in Italien, Chrysi Avgi in Griechenland! Wie Sie sehen, Solomon Mosesowitsch, haben wir unsere Finger am Puls der Zeit«, sagte der Liberale. »Das vergangene Jahr hat die Schachfiguren in Stellung gebracht.«

»Von wegen isoliert in Europa. Glauben Sie das nicht. Engste Kontakte …« Und er fügte hinzu: »Die Konfrontation mit Europa existiert gar nicht. Alle in Europa unterstützen Putin. Linke wie Rechte. Heutzutage ist weniger Rot im Spiel: Das russische Imperium ist anders gefärbt. Wir verändern die Landkarte. Und das gefällt nicht allen. Aber ich hoffe doch, Sie, Solomon Mosesowitsch, Sie reden jetzt nicht auch von ›Diktatur‹? Mir persönlich ist eine solche primitive Einschätzung zuwider.«

»Ich kann ja verstehen«, fuhr der Liberale fort, Richters Schweigen als Widerspruch deutend, »dass Putin umstritten ist. Autoritär? Gewiss. Fordernd? Auch richtig. Doch manche sehen in ihm ja den Hitler von heute. Über solchen Schwachsinn kann man gar nicht ernsthaft diskutieren. Ja, die Krise in der Ukraine … Aber keine Verallgemeinerungen, bitte! Versuchen Sie sich einmal vorzustellen, wie schwer der Präsident es hat! Russland musste sich dieser Herausforderung stellen.«

»Jeder von uns«, erklärte der Liberale, als erriete er die Gedanken des Alten, »muss sich entscheiden. Unsere Proteste waren doch nur gesellschaftliche Kosmetik. Das Problem sitzt viel tiefer: Die russische Zivilisation selbst steht auf dem Spiel!«

Zivilisation?«, murmelte Richter.

Dieser Krieg hat alle zusammengebracht. Es gibt keine Patrioten und Liberalen mehr, keine Demokraten oder Staatstreue. Nur noch Russen!«

»

Ich bin Jude«, antwortete Richter.

Unfug! Was für einen Unterschied macht das! Tschetschene, Tatare, Jude, Russe. Wir dienen alle einem Staat!«

»

Wie bitte?«

Dem Staat, ich diene ihm nicht«, wiederholte Richter.

Solomon Mosesowitsch!« Der Politiker legte seine kräftige Handfläche auf das dürre Handgelenk des Alten und staunte über die Kälte der Haut. Solomon Mosesowitsch, wir kennen Sie besser, als Sie sich selbst. Sie haben für unseren Staat gekämpft! Gegen den Faschismus! In der Periode des Persönlichkeitskults ist Ihnen Leid widerfahren: Gewiss, es gibt dunkle Flecken in der Geschichte des Vaterlandes. Aber die Sache ist doch, dass Ihr Leben Russland geweiht ist! Sie sind ein wahrhaftig russischer Mensch!«

f»Porteño

Porteño

Ein Gefühl der Unruhe überkam ihn. Deschkow war zurück. Das konnte kein Zufall sein. Drei Generationen Deschkow, drei Generationen Richter.