Über das Buch

Vor dem Amsterdamer Hauptbahnhof klafft eine tiefe Baugrube. Auf dem schmalen Steg davor begegnen sich zwei Frauen. Schreiend beginnt die jüngere auf die ältere einzuschlagen, bis diese in die Grube stürzt und den Tod findet. Seit ihrer Kindheit hat Marie Lina den Gedanken an Rache im Herzen getragen, an diesem Tag bricht er sich Bahn. Marie Linas Mann ist Vogelvertreiber am Flughafen Schiphol, sie führen eine gute Ehe. Doch die alte Wut seiner Frau konnte er nicht vertreiben. Warum hat Marie Linas Mutter damals einen Mord gestanden, den sie nicht begangen hat? Warum handeln wir so, wie wir handeln? Von Vögeln und Menschen zeigt Margriet de Moor auf dem Höhepunkt ihrer psychologischen und erzählerischen Meisterschaft.

Margriet de Moor

Von Vögeln
und Menschen

Roman

Aus dem Niederländischen von
Helga van Beuningen

Carl Hanser Verlag

Wer Jahre gesessen hat, kann nicht
mehr rehabilitiert werden.

Mário de Sá-Carneiro

Im Traum jedoch erheben sich
Adler allerorten
Und fliegen hin zu dir

Gerrit Achterberg

Inhalt

I

Junimorgen

Doch mal eben reden

Glück, das gibt es (1)

Glück, das gibt es (2)

Und dann auch noch an so einem lieben Mann

Louise bei Bruno. Was wollen die Herren darüber wissen?

Louise singt

Ja sicher, und sie wusste es noch

Der erste Keim

In seinem Wolseley 16/60

Die Ohnmacht meiner Mutter bin ich

Reise eines Schreis

Gib acht, hör zu

Rastplatz (keine Endstation)

II

Ich wusste es

Meine liebe, innig geliebte Mutter!

Ich habe kurz mal Pause gemacht mit meinem Brief

Postscriptum

Klazien Wroude

Die Sehnsucht tritt an die Stelle des Ersehnten

Aber sie macht es weiter

Sie niederzuschlagen war wunderbar

Es war die Nacht. Die Nacht?

Ja, die Nacht brachte mich ganz durcheinander

Sie hätten mich küssen mögen. Sie hätten mich umbringen mögen

III

Ich habe die Tat begangen

Mein Liebling, meine Tochter

Unschuld

Was mussten Sie auch plötzlich auftauchen, Mijnheer?

Zartes Abendlicht. Schein aus violettrosa Wolken, sanft ausgeleuchtet vom Mond

Krieg und Frieden

Wer fällt, lebt am heftigsten, heißt es

Pietà

IV

BOA

Wie

Ein Vögelchen …

Selbst Frauen müssen glauben dürfen, dass ein Ausbruch möglich ist

Smaragdblaues Tier

»Gute Nacht«

Von alten Frauen, jungen Frauen und Kaiseradlern

Briefwechsel

An diesem Sonntag warten sie alle

I

Junimorgen

Eines frühen Junimorgens kommt er nach Hause. Er biegt in seine Straße. Friedliche Stille, wenn auch trügerisch. Die Autos parken noch immer unter dem Weißdorn an der Bordsteinkante. Die jungen Bäume blühen. Weißrosa Blüten. Es ist kurz nach sechs. In dieser Straße, der Mozartstraat in Schalkwijk, wird das Alltagsleben frühestens in einer halben Stunde beginnen. Schalkwijk ist ein zwischen Wiesen und Wasser gelegenes Dorf, es hat eine bis ins Mittelalter zurückgehende Vergangenheit, ist heute aber ein Teil der Gemeinde Haarlem.

Als er aussteigt, fällt ihm das unbändige Geschrei der Vögel in den Weißdornbäumen nicht besonders auf. Dieser Jubel ist ihm vertraut. Rinus Caspers, von Haus aus Gärtner, arbeitet als Vogelvertreiber am Flughafen, ungefähr zehn Kilometer von hier. Ein unerschütterlicher, freundlicher Mann. Gewohnt, allein zu arbeiten, und nie abgeneigt, einen Nachtdienst für einen Kollegen zu übernehmen. Allein zu sein, nachts unter dem Sternenhimmel oder unter einer dicken Regenwolkendecke, er wüsste nicht, was das mit Einsamkeit zu tun haben soll.

Er überquert die Straße zu dem Neubau, einem der mittleren Häuser in einer Viererreihe, in dem er mit seiner Frau und seinem Sohn wohnt. Ein Mann und eine Frau, beide neutral gekleidet, auf den Vordersitzen eines Volkswagens, fallen ihm genauso wenig auf wie das Vogelgezwitscher. Die beiden haben Dienst. Gleich werden sie so korrekt wie möglich eine Verhaftung vornehmen, an sich nichts Besonderes, die zu Verhaftende ist eine Frau. Auch das nicht wirklich außergewöhnlich in ihrem Beruf.

Er schließt die Haustür hinter sich. Der Hund, ein Bordercollie, beschnüffelt bereits intensiv seine Stiefel und die Hose. Das Tier, das diesmal nicht zu den Flugzeugen mitgedurft hat, will genau Bescheid wissen. Die aufgehende Sonne scheint durch das seitliche Erkerfenster ins Wohnzimmer und in den kleinen Flur. Rinus hängt seine Joppe an die Garderobe zwischen die Jacken und Schals seiner Frau Marie Lina und seines Sohnes Olivier. Er geht davon aus, dass die beiden noch behaglich ein Stündchen liegen bleiben dürfen, warm eingehüllt in ihren Schlafgeruch, nichts ahnend.

»In deinen Korb«, befiehlt er dem Collie leise.

Er zieht die Stiefel aus und bringt sie durch die Küche hinaus hinters Haus, um sie später mit dem Gartenschlauch abzuspritzen. Er ist in dieser Nacht im Bereich der Start- und Landebahnen ziemlich viel herumgestapft. Meldungen vom Tower zu einer über der Bahn fliegenden Eule. Danach war es eine Plastikeinkaufstüte, durchaus ernst zu nehmen, die mit dem Wind über die leicht abschüssige Bahn 18 R wirbelte, wo zwei riesige 747er und eine ranke VIP-Maschine auf die Starterlaubnis warteten. Die hing von der Einkaufstüte ab.

Jetzt liegt auch er im Halbdunkel, genauso behaglich wie Frau und Kind, aber noch ohne die dösige Ausdünstung von Atem und Blut. Er riecht nur ein bisschen nach Zahnpasta. Er mag kein lautes Geprassel der Dusche in aller Herrgottsfrühe. So wie er ist nach acht Stunden nächtlicher Arbeit hat er sich an sie geschmiegt. Marie Lina, seine nie schwitzende Frau. Immer etwas wärmer als er, weich, aber nie schwitzend. Er legt die Hand kurz auf ihren sich hebenden und senkenden Bauch. Schlaf nur weiter, auch wenn du merkst, dass ich da bin, und dich auch schon umgedreht hast. Schlaf nur weiter im festen Vertrauen darauf, dass du weißt, wer ich bin, und du weißt auch, dass ich bis auf den Grund deines Herzens weiß, wer du bist. Er lässt seinem Bewusstsein freien Lauf. Es schlüpft ihm zwischen den Fingern durch und schießt davon. Er sieht das ganze Zimmer um sich her, denkt an den halben freien Tag, der ihn morgen erwartet, denkt, weißt du was, ich werde die Lathyrus hochbinden, und sieht erneut das Schlafzimmer und an der Tür einen rotblumigen Morgenmantel.

In diesen roten Blumen ist Marie Lina gestern Abend, bevor sie ins Bett ging, noch schnell die Treppe hinaufgelaufen, um den Jungen zuzudecken. Olivier schläft in dem kleinen Raum unter der Dachschräge, mit der Matratze auf dem Dielenboden. So möchte er das gern. Er ist inzwischen elf und geht demnächst wahrscheinlich in die praxisorientierte Hauptschule. Letzten Sommer hat er für einige Aufregung gesorgt, man musste stundenlang nach ihm suchen. Oh Gott, nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Ein zehnjähriges Kind! Mach das nie mehr, flehten seine Eltern, als ein Polizist ihn lange nach Essenszeit in der Küche ablieferte, wo sie mit Kartoffeln, Fleisch und Gemüse auf ihn gewartet hatten.

Aber er hatte keinen Hunger.

»Ich habe einen Hamburger, Pommes und einen Eisbecher gegessen«, sagte er. »Drei Kugeln.«

Rinus und Marie Lina Caspers erfuhren, dass die Polizei ihren Sohn zusammen mit einer steinalten Frau im McDonald’s aufgetrieben hatte. Die Alte behauptete, der Junge habe ihr eine Tasse Kaffee spendiert. Darauf habe sie sich revanchiert.

Nachdem der Polizist gegangen war, hing ein Schweigen im Raum. Vater, Mutter und verlorener Sohn sahen einander an. Dann: »Darf Sjaak mit hinauf?«

Blick von Olivier zum Hund.

»Na gut.«

Als Marie Lina später nach oben ging, hatte der Junge tief geschlafen, aber der Hund (unter der Decke eng an sein Herrchen geschmiegt) hatte den Kopf vom Kissen gehoben.

Funkelnde Blicke im Dunkeln zu Marie Lina Caspers, geborene Marie Lina Bergman, von ihrem Mann noch oft, wie in ihrer Jugend, Lineke genannt.

Doch mal eben reden

Sie flüstert ihn zurück an die Oberfläche. Dies ist wieder mal so eine Zeit, in der sie fast keine Gelegenheit haben, miteinander zu reden. Durch ihre Nachtdienste und Arbeitspläne – Marie Lina ist Krankenschwester – sind sie beide lakonisch geworden, sowohl was das Reden angeht als auch den Wunsch, alles voneinander zu wissen, was es zu wissen gibt.

Sie erkundigt sich förmlich nach seiner Nacht.

»Wie war es?«

»Och … pfff …«

Er lässt sie noch einen Augenblick zwischen ihnen schweben, die Nacht, im Bewusstsein, dass die Vögel beim Flughafen sie genauso interessieren wie ihn: brennend. Das hat sie zufälligerweise mit ihm gemein. Auch die anderen Tiere interessieren sie, die Hasen, die Maulwürfe, die Hermeline, die Iltisse, die überall im Land sehr selten sind, hier aber nicht. Die Start- und Landebahnen des Flughafens Schiphol sowie die Grasflächen zwischen ihnen sind in der Sicht der Tiere eine Urlandschaft ohne Menschheit. Die Flugzeuge sind ihnen ziemlich egal.

Rinus erzählt seiner Frau, dass es während der Nacht ziemlich ruhig war, aber als er wegfuhr, hat er die Bussarde auf den Tafeln mit der Anflugbefeuerung warten sehen.

Worauf sie schmunzelt und die Situation vor sich sieht, als stünde sie davor. Marie Lina ist eine Leseratte, genau wie ihre verstorbene Mutter, und kann sich daher wie diese alles vorstellen, was sie nur will.

»Sie haben da zwischen den Taubenspikes gehockt und dich einfach angeschaut«, sagt sie.

Worauf er in der Dunkelheit nickt. Und sie ihren Gedanken weiterspinnt: »An der Polderbahn, auf ihrem üblichen Ausguck …«

»Ja.«

»Wo man damals auch den einen gefunden hat …«

Er nickt wieder. Mit diesem einen meint sie den Bussard, der im vorigen Jahr in Gestalt eines Eisklumpens im Fahrwerk einer KLM-Maschine aus Rio de Janeiro ankam. Das Fahrwerk ließ sich nicht mehr ausfahren. Das führte zu einer Bauchlandung neben der Bahn. Abgesehen vom Bussard hatten alle Insassen überlebt.

»Ja, genau da.«

Er zieht das Oberlaken halb über sein und vor allem ihr Gesicht, eine Angewohnheit, die sie ihm in zwölf Ehejahren nicht hat austreiben können.

Obwohl sie ihren Mann noch nie begleitet hat (Olivier hingegen durfte einmal mit, die Sicherheitsleute hatten ein Auge zugedrückt), sieht sie die weite Fläche ganz genau vor sich, gesäumt von alten nordholländischen Bauerngehöften im ersten Sonnenlicht des heutigen Tages. Stell dir vor, sagt ihr Blick, wie der Betrieb dort jetzt wieder beginnt, immer in der Stunde, die rasch zur verkehrsreichsten des ganzen Tages wird. Eine Maschine nach der anderen steigt in die Luft, vom Tower dirigiert. Sie fliegen brüllend über die Kühe hinweg, denen das schnurzegal ist, und kriechen in den Raum hinein, der sie wie ein Löschblatt aufsaugt …

Etwas anderes beschäftigt sie im Moment nicht.

Jetzt aber schlafen sie, der Vogelvertreiber und seine heitere Frau Marie Lina, die gestern, am frühen Nachmittag, mit einer anderen Frau in eine tätliche Auseinandersetzung geraten ist. Es war ein heftiger Kampf, ihrerseits in der klaren Absicht, Böses zu tun.

Und dann so friedlich schlafen in der darauffolgenden Nacht?

Wie ein Murmeltier, nein: wie ein Kind.

Der Vorfall ereignete sich inmitten des unglaublichen Chaos vor dem Hauptbahnhof, wo die Stadt Amsterdam mit dem Bau einer modernen U-Bahn begonnen hat. Genau gegenüber vom Haupteingang hat man bis zu einer Tiefe von zwölf Metern in den sumpfigen Boden gebohrt. Die Baugrube misst ungefähr achtzig mal achtzig Meter. Beugt man sich über den Zaun, den man leichtsinnigerweise niedrig gehalten hat, dann sieht man das freigelegte Grundwasser. Nach Phosphor stinkend steht es unter der Stadt bis maximal zwanzig oder dreißig Zentimeter unter dem Straßenniveau. Fußgänger dürfen sich dort im Prinzip nicht aufhalten, auf der gegenüberliegenden Seite hat man zwei bequeme Zebrastreifen angelegt, aber es gibt natürlich Leute, die das trotzdem tun. Kommt man von der Prins Hendrikkade, so ist es auch der logische Weg. Als Marie Lina auf der Ostseite des Bahnhofs ins Freie trat, ganz in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle der Linie 26, sah sie die andere Frau, man mag es einen Zufall nennen, und ging, ohne zu zögern, auf sie zu.

Marie Lina in Hose und T-Shirt.

Marie Lina, die bei diesem schönen Wetter ohne Mantel unterwegs war und als Gepäck lediglich eine leichte Umhängetasche diagonal vor der Brust trug.

Marie Lina und ihr Wille. Ein ruhiger, normaler Wille wie bei jedem Menschen und ein dunkler, rasender, ebenfalls wie bei jedem Menschen, den sie allerdings schon seit Jahren wie einen riesigen Seesack mit sich herumschleppte, an den sie sich gewöhnt hatte und den sie hegte und pflegte, wie man einen Körperteil hegt und pflegt, etwas, das man hinzunehmen und zu umsorgen und zu achten hat.

Jetzt ging sie mit großen Schritten an der Einzäunung entlang, die ihr entfernt die Bande einer Zirkusmanege ins Gedächtnis rief, deren sie sich von einer wunderbaren Vorstellung in ihrer Jugend her entsann. Die gerundete Form des Bauzauns glich ihr genau und kitzelte gewissermaßen ihre Erinnerung an Löwen und Tiger. Sie blieb stehen, noch erschreckend ruhig, versperrte der Frau den Weg und packte sie an den Oberarmen in der Absicht, ihr in die Augen zu blicken, sie durchzuschütteln und danach wieder so lange anzuschauen, bis die andere realisierte, wen sie hier vor sich hatte. Dann wollte sie ihr ein paar Fakten ins Gesicht schreien, ihr die Augen auskratzen und sich dem Rausch eines Moments hingeben, der vor vielen Jahren seinen Ursprung hatte.

Die Frau schien den Angriff erwartet zu haben. Sie setzte sich sofort zur Wehr. Obwohl nicht mehr die Jüngste, sah sie keineswegs wie ein bedauernswertes Muttchen aus, zu alt, um mit ihren Taten konfrontiert zu werden und ohne einen Funken Nachsicht nachträglich noch dafür zu büßen. Klazien Wroude, ein ganzes Stück größer als Marie Lina, versuchte sich loszureißen. Als ihr das nicht gelang, trat sie mit ihren orthopädischen Schuhen kräftig um sich.

Zwei Zeitungen werden heute den Vorfall erwähnen. Unglücklicher Sturz, wird die eine titeln und berichten, dass am Vortag, nachmittags, bei einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Frauen die eine im Wasser der Baugrube vor dem Hauptbahnhof landete. Das Opfer habe nicht überlebt. Das, wird die Zeitung schreiben, habe die Polizei des Reviers Amsterdam-Mitte bekanntgegeben. Der Anlass zu dem Streit sei nicht bekannt. Die zweite Zeitung wird in der Rubrik Lokalnachrichten dieselben Fakten bringen und darüber hinaus berichten, dass zwei Fahrer der Städtischen Verkehrsbetriebe das Opfer noch herausgezogen hatten, was ein gewaltiges und mutiges Unterfangen gewesen sei, da die Baugrube nahezu senkrecht abfiel und das Grundwasser fast bis zum Rand stand. Danach habe der Städtische Gesundheitsdienst, der sehr schnell vor Ort war, sich des nicht mehr zu rettenden Opfers angenommen. Nach der anderen Frau werde gesucht.

Es bleiben noch zehn Minuten. Zehn Minuten, dick wie Mauern, rings um das Haus in der Mozartstraat in Schalkwijk, wo der Zeitungsjunge gerade eine der besagten Tageszeitungen durch die Briefkastenklappe geschoben hat. Die gesuchte Frau liegt oben und schläft. Gestern Nachmittag war sie noch kurz zwischen den herbeigeströmten Reisenden stehen geblieben, Augenzeugin des Geschehens, und dann nach Hause gegangen.

Neben ihr ihr Mann. Bis zum heutigen Tag glücklich mit ihr.

Glück, das gibt es (1)

Es war einmal ein Vater, der zu seinem Kummer keine Tochter hatte, dafür aber drei Söhne. Eines Tages brachte der jüngste, Rinus, ein Mädchen nach Hause, bei dessen Anblick er sofort dachte: Komm rein, mein Kind, komm rein, komm rein, du ahnst ja nicht, wie willkommen du bist!

Rinus, damals achtzehneinhalb, war der schüchternste und stoffeligste junge Mann, dem der Vater je begegnet war. Der Bursche war groß von Statur, muskulös, trug das bierfarbene kurze Haar über der Stirn gerade abgeschnitten und ließ die Schultern für gewöhnlich leicht nach vorn sinken, was einerseits den Eindruck unerschütterlicher Sturheit vermittelte und andererseits an ein Schneckenhaus denken ließ. Der Junge war einer von der schweigsamen Art. Ob es ihm widerstrebte, Worte in den Mund zu nehmen, oder ob er sie einfach lieber für sich behielt, war nicht zu ergründen. Für den Vater nicht, die beiden Brüder nicht und auch nicht für die Schulkameraden, die Rinus bei der Examensfeier des Leidener Realgymnasiums mit dem hübschesten Mädchen der Schule aufkreuzen sahen und stocksauer waren. Hortense war eine aus Curaçao stammende Schönheit, ein herzliches fremdländisches Mädchen, von kerzengerader Gestalt, mit bläulich-schwarzem Haar, das ihr bis weit hinunter auf den Rücken fiel.

Das Realgymnasium in Leiden wurde in jener Zeit von wesentlich mehr Jungen als Mädchen besucht, das Verhältnis lag bei ungefähr vier zu eins. Hortenses Schönheit lähmte die Jungs, außer in ihren Träumen, wenn sie genau wussten, was sie zu tun hatten, und es auch taten. Aber siehe da: Hortenses Herzlichkeit hatte offenbar selbst den Abstand zu diesem unglaublich hölzernen Jungen zu überbrücken vermocht. Das Fest war bereits im Gang. Rinus brachte es fertig, mit einer Miene, als wäre es das Normalste der Welt, zusammen mit Hortense zwischen den Säulen der Aula stehen zu bleiben, wo die Band wild drauflos spielte und das Bier fast nichts kostete. Ein intimes Paar, man sah es sofort. Das es garantiert schon gemacht hatte. Die beiden schienen sich zu überlegen, ob sie bleiben oder lieber irgendwo anders hingehen sollten, wo sie mehr für sich sein konnten.

Nur eine knappe Woche später setzte Rinus sich bereits in den Kopf, Hortense offiziell mit nach Hause zu bringen und sie als seine Freundin vorzustellen. Typisch Rinus. Dinge sofort und für immer zu wissen und sich dann auch, egal wem gegenüber, dazu zu bekennen. Die Familie wohnte in dem zwischen Wasser und Wiesen gelegenen Dorf Buitenkaag, ganz in der Nähe des Seengebiets Kagerplassen. Der Vater öffnete die Tür.

»Papa, das ist Hortense.«

Der Vater, ein ehemaliger Schiffsarzt, war schon ziemlich alt, fast sechzig. Er betrachtete das Mädchen mit unverhohlenem Entzücken und sprach es auch aus. »Von Herzen willkommen!« Es war schönes Wetter. Hortense trug keinen Mantel. Der Vater fasste sie beim Ellbogen und führte sie von der Diele durch den ziemlich langen Flur ins Haus. Der Sohn ein kleines Stück hinter ihnen.

Im Wohnzimmer wartete die deutlich jüngere Ehefrau. Auch sie war von Hortense sehr angetan. Sie bot ihr den Platz neben sich auf dem Sofa an, übernahm die Tee-Eingießerei und begann, mit einem fröhlichen Geplauder unter Frauen das Mädchen für sich einzunehmen und dafür zu sorgen, dass es sich wohlfühlte. Der Vater blickte fasziniert auf die beiden Frauen. Die Mutter seiner Söhne hatte eine Tochter dazubekommen. Am 15. Juli gegen drei Uhr nachmittags. Und was für ein Mädchen! Mit dem Namen Hortense. Sie war nicht verlegen, lachte schnell, aber auf feine, natürliche Art, und blickte ungeniert ein paarmal um sich, um zu wissen, wo sie war. Nun, dieses Haus hatte er im Hinblick auf das allgegenwärtige Licht inmitten des allgegenwärtigen Wassers entwerfen lassen. Er bot es ihr dar. Nimm es, liebes Mädchen. Geh die Treppe hinauf, nimm das Badezimmer in Beschlag, leg deine Sachen rein, bleib über Nacht. Mein Haus ist dein Haus. Noch nie in seinem Leben hatte der Vater so viel Achtung vor seinem jüngsten Sohn gehabt.

Der erhob sich nach dem Wein und den dazugehörigen Crackern, Oliven und gefüllten Datteln. Hortense folgte ihm sofort, in bestem Einvernehmen. Mit beiden Händen strich sie sich den weiten Rock ihres Kleids glatt. Beide Eltern begleiteten sie zur Haustür und verabredeten dort ein Essen mit der ganzen Familie, sobald die beiden Brüder aus dem Urlaub zurück wären.

Eddy, drei Jahre älter als Rinus. Er studierte Mathematik und Astronomie.

Und Willem, der schon fast fertiger Zahnarzt war.

Ein tiefrotes Kleid. In dem sie kurz darauf ein Bein über Rinus’ Bein legte, als ob sie als Karibin wüsste, dass dies ein sehr altes europäisches Motiv war, es fand sich von Tizian bis Rembrandt, mit dem eine Frau einem Mann zu verstehen gibt, dass sie will. Sie saßen auf einem kleinen Brettersteg am östlichen See. Das Holz war hart und etwas nass von dem Wasser, das jedes Mal, wenn ein Segelboot vorbeiglitt, zu schwappen begann. Durch eine Trauerweide wurde der Steg von der Welt abgeschirmt. Das Licht unter ihr war grün. Hortense wusste nichts von der alten europäischen Geste. Sie verspürte kein wildes Verlangen, auch keine süße Nachgiebigkeit (na ja, schon ein bisschen), ihr Bein hatte nur Lust auf eine weiche Unterlage. Die Arme nach hinten gestreckt, stützte sie sich auf ihre Hände und blickte unter den Zweigen hindurch auf den See, wobei sie en passant auch Rinus sah. Er hat liebe Augen, fand sie, und das fand sie eigentlich noch immer, als er sich zu ihr umdrehte, sie sich ein wenig aufrichtete, um mit ihren Fingern durch die kleine Bürste über seiner Stirn zu fahren, er leichenblass wurde, einen Moment lang totenstill sitzen blieb und plötzlich schaute, als wären seine Augen Steine, hart und rund, unfähig zu jeder Bewegung. Sie knallte mit den Schultern auf die Stegbretter.

Glück, das gibt es (2)

Beim nächsten Besuch war es August. Hochsommer. Schönes, schwüles Wetter. Die Mutter hatte im Garten gedeckt, die beiden älteren Söhne hatten schon ein Bier vor sich, der Vater fragte sich, wo verflixt noch mal die beiden blieben. Nervös schaute er den Kiesweg seitlich vom Haus entlang, als wüsste er, dass Rinus in dieser Nacht einen scheußlichen Traum gehabt hatte. Er ging mehrmals an die Straße.

Da kamen sie angeradelt. Sie in einem dünnen Baumwollkleid mit schmalen weißen und blauen Streifen.

Rinus sehr ernst. Einen scheußlichen Traum zu haben ist eine Sache, mitten in der Nacht aus tiefem Schlaf zu erwachen, sich im Bett aufzusetzen und eine Angst, eine Scheißangst wegen eines himmlischen Mädchens zu empfinden, das in dein Leben eingetreten ist, wieder eine andere. Seine Stimmung war den ganzen Tag davon überschattet. Aufs Schlimmste gefasst hatte er sie abgeholt, sie wohnte bei einer Tante in der Dorpsstraat in Warmond. Jetzt gingen sie den Gartenweg entlang zum weiß gedeckten Tisch auf dem Rasen, wo seine Brüder sich bereits erhoben. Gutherzige Jungs, voll brüderlicher Sympathie. Und sein Vater auch diesmal wieder der Inbegriff eines stolzen Vaters, ein Blickwechsel mit der Mutter genügte: Aber klar, jetzt den Champagner. Wir haben es doch gut mit unserer Familie, findest du nicht? Was für ein schöner Abend! Was für ein verdammt schöner Abend!

Rinus stellte das Mädchen vor. Das heißt, er blieb wie eine Salzsäule neben ihr stehen, als sie seinen Brüdern die Hand gab und »Hortense« sagte. Zweimal die kerzengerade Hortense, direkt neben ihm, zweimal ihr lachendes Gesicht, geschwungene Brauen, schrecklich schön, wirklich unfassbar schön. Lichtjahre von ihm entfernt. Sie setzten sich. Die Familie nahm ebenfalls Platz. Rinus neben dem Mädchen, das er hier abgeliefert hatte. Das er nicht zu einem Familienessen, sondern zu einem Opfermahl gebracht hatte. Jegliches Gefühl, mit ihr zusammen zu sein, fehlte.

Atmosphäre eines Sommerabends. Essen, einen Schwips bekommen, Scherze, Tischgespräche. Eddy erzählte von der Reise, die gerade hinter ihm lag, sehr ansteckend, das konnte er, die Tafelrunde sah die Sonne genau über seinem Kopf, obwohl doch laut seinem Bericht noch immer Schnee auf den Feldern lag.

»Na ja, dort oben sind es eher Felsen!«, sagte er, während er sich zu Hortense beugte, denn sie war es, die gefragt hatte: »Und die Berge?«

Hortense und Eddy saßen sich ungefähr gegenüber, allerdings nicht genau, der Tisch war rund. Von allen in der Runde war es der Vater, nicht Rinus, der bemerkte, wie ernst die beiden einander nahmen, wie sie einer die Blicke des anderen auffingen und das Entzücken einer Vertrautheit auf den ersten Blick ausstrahlten.

»Das Gebein der Erde!«, fuhr Eddy feurig fort, noch immer ausschließlich an Hortense gewandt. »Nackt, hart unter meinen eisenbeschlagenen Schuhen.«

Es wurde still im Garten.

»Aber warm von der Sonne«, sagte Hortense dann leise. Als ob sie darüber nachgedacht hätte.

Man konnte die Sonnenwenden riechen. Eine singende Lerche gab es auch.

Danach umfasste die Gesellschaft wieder alle sechs Personen. Locker, zuvorkommend und nett, alle sechs untereinander. Auch Rinus’ nicht ungewöhnliche Schweigsamkeit wirkte sympathisch. Gegen Mitternacht verabschiedete man sich, mit Küssen für die Mutter und für Hortense. Die beiden älteren Söhne fuhren in ihren Autos nach Leiden. Rinus, der noch zu Hause wohnte, radelte mit Hortense den Deich entlang nach Warmond. Der Mond schien. Die Nacht war klar. Sie sprachen beinahe kein Wort. Hielten das durch bis zur Eingangstür des Hauses, in dem sie mit ihrer Tante wohnte. Sie hatte ihn bisher nicht in ihr Zimmer gelassen. Sie hatte ihm auch ihren Körper noch nicht geschenkt.

Rasche Erkenntnis war wieder einmal die Folge von Angst. Angst die Folge von Erkenntnis. Hortense schloss die Tür auf. Rücken ihm zugewandt. Als sie sich umdrehte, wusste er, dass sie Mitleid mit ihm hatte. Sie drückte sich lieb an ihn. Wie zum Trost. Sie schickte ihre Finger wie kleine Schlangen durch sein borstiges Haar, das war eine Art Scherz, sie krabbelte kurz an seiner Kopfhaut und begann, sich mit einem warmen Kuss auf seinen Mund, einem der »Tschüs, es war schön, wir telefonieren«-Art, von ihm zu entfernen, den Abend und alles, was ihm vorangegangen war, von sich zu schieben, wobei sie allerdings einen Schritt in der halb offenen Tür zurücktreten musste, weil er seinen Fuß dazwischenstellte. Er packte sie an den Handgelenken. Menschenskind, hatte er eine Angst! Die Angst, die sich in der vergangenen Nacht bereits angemeldet hatte, raste jetzt ohne das geringste Hindernis durch seinen heißen Körper und schärfte seine Instinkte. Mitleid? Ihn trösten? Im Voraus etwas bei ihm gutmachen, sofern das möglich war? Er schob sie in die Diele. Schloss die Tür mit dem Fuß. Dann sollte sie es auch tun!

Sobald sie sich losgerissen hatte, drückte sie auf den Lichtschalter. Es war so ein Knopf, der das gesamte Treppenhaus auf einen Schlag in ein höllisch helles Licht tauchte, das von selbst wieder erlosch. Einen Moment lang sah er ihr Gesicht, einen schneeweißen Fleck, vermied es aber, sie richtig anzuschauen. Es interessierte ihn nicht.

»Ach, komm halt mit«, hörte er dann. Er sah, dass sie den Zeigefinger auf ihre gespitzten Lippen legte.

Er folgte ihr die erste Treppe hinauf. Geländerstäbe, geschlossene Türen, Wände, westindische Schmorfleischgerüche, er achtete auf nichts. Auch nicht auf sie. Seine Angst tobte unvermindert. Hauste fest in seinem Körper, allerdings mittlerweile in Form eines rasenden Hungers. Bereits vorhin, am Esstisch auf dem erst an diesem Morgen von seinem Vater gemähten Rasen, hatte er mit jedem Bissen, jedem Schluck gespürt, wie dieser Hunger bis ins Unerträgliche wuchs. Jetzt gingen sie zu ihrem Zimmer. Er mit dem mühsamen Gang eines Betrunkenen am Rande der Selbstbeherrschung. Sein Körper wusste, er würde diesen Hunger stillen oder explodieren.

Vor der zweiten Treppe blickte sie kurz zurück. »Noch eine«, flüsterte sie fast lautlos.

Genau in dem Moment, als sie im Dachgeschoss angekommen waren, erlosch das Licht. Auf einen Schlag war es stockfinster. »Bisschen bücken«, ertönte es leise. Sie nahm seine Hand auf eine Weise, die sich wie hilfsbereit anfühlte, was ihn wütend machte. Ihr Kind wollte er nicht sein. Er riss sich los. Wankend betrat er ihr Zimmer. Besser gesagt ihr Kabuff. Ihre Tante musste sich ihren Lebensunterhalt mit der Vermietung der besten Zimmer im Haus verdienen. Rinus blieb stehen. Hortense schien verschwunden. Warum machte sie keine Lampe an? Völlig dunkel war es jedoch nicht. Rinus erspähte das Mädchenbett an der niedrigen Wand unter einer Dachschräge. Darauf eine weiße Tagesdecke. Daneben die vier kleinen Scheiben eines eisernen Kippfensters. Es wurde von einer Stange offen gehalten. Mondlicht warf ein glühendes Gitter daraus auf die Bettdecke.

War seine Hitze, oder was es auch sein mochte, auf sie übergesprungen?

Die schöne Hortense schien mit einem Mal völlig versessen auf ihren Liebsten zu sein. Bislang hatte ihr Körper Rinus alles Mögliche verheißen, das Versprechen aber nicht eingelöst. Nein, nein, jetzt nicht, später, oder so ähnlich. Jetzt hielt er Wort. Ehrliche, geile Erwiderung der Küsse, mit denen er ihre Lippen fest an ihre Zähne presste. Geile Schuld und geile Wohltätigkeit. Und währenddessen seine Hände nehmen und auf ihren Körper legen. Und währenddessen ihre eigene Hand auf seinen Körper legen, unter seinen Gürtel wandern lassen, auf der Suche nach dem, was er da noch vor ihr verbarg. Das Licht hatte während dieser paar Minuten in dem kleinen Raum Fuß gefasst. Hortense konnte sehen, wie sich seine Gesichtszüge veränderten (keine Angst mehr, nur sexuelle Erregung). Sie hob die Arme, Ellbogen wie spitze Werkzeuge nach vorn, Finger am Reißverschluss fummelnd, der unter dem Nacken begann. Das Kleid rauschte herab und bauschte sich wie ein Fallschirm um ihre Füße. Wirf mich auf das glühende Gitter.

Vor allem der Vater war untröstlich. Er suchte ein Gespräch von Mann zu Mann mit seinem Jüngsten, doch der hatte nichts anderes zu berichten, als dass es aus war.

»Aus! Was meinst du damit?«

»Aus.«

Und schon bald verließ auch dieser Sohn das Haus, um zu studieren. Rinus hatte sich an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Wageningen eingeschrieben. Der Spätsommer ging vorüber. Im Herbst fielen dem Vater, wenn Eddy, sein offenherzigster Sohn, sich mal wieder zu Hause zeigte, bestimmte Anzeichen auf. Konnte Verliebtheit sein. Konnte ebenso gut das Vorbereitungsfieber vor einer sehr speziellen winterlichen Bergbesteigung sein. Beides traf zu, wie sich zeigte. Um Weihnachten herum erhielten die Eltern eine hübsche Karte aus den Karpaten. Schneesturm, vermeldeten die Krakelbuchstaben, und auch: Wir haben einen Schwarzbär gesehen. Grüße von Hortense (ordentliche Großbuchstaben) und Eddy.

Die beiden hatten es eilig. Wollten schon im Januar heiraten und taten es auch. Warum nicht? Übereilt, hoffte vor allem die Mutter. Aber nein, es war kein Kind unterwegs. Es kam überhaupt kein Kind, wie sich in den darauffolgenden Jahren zeigen sollte. Hortense würde keinem einzigen Mann einen Nachkommen schenken. Und trotzdem wurde Eddy in seinem dritten Ehejahr Vater. Die Mutter des kleinen Jungen akzeptierte die gegebene Dreieckssituation, aber letzten Endes lief es doch auf eine Scheidung hinaus. Sonniger Nachmittag im Mai: Die flamboyante Schwiegertochter fährt mit dem Rad zu den Schwiegereltern, um ihnen zu sagen, sie habe Verständnis für Eddys Entscheidung, und um zu hören, dass sie für immer ihre liebe Schwiegertochter bleiben werde. Der alte Vater weint. Ruft als Ersten, noch am selben Abend, seinen Jüngsten an. Rinus arbeitete damals bereits als Gärtner auf dem Landgut Seewout bei Haarlem. Er hatte eine Freundin. An der Familiennachricht zeigte er wenig Interesse.

Übrig blieb das Mauerblümchen, prächtig blühend. Die ihrem Schwiegervater zugetane junge Frau. Bereit, mit dem alten Herrn essen zu gehen und, ermutigt durch ihr Verlassensein und mehrere Gläser Rotwein, ihm zuzuhören. In der gegebenen Situation durchaus geneigt, sich auf gewisse Gedanken einzustimmen. Sich verheiraten zu lassen konnte man es nicht direkt nennen. Der älteste Sohn des Hauses, ein wenig scheu, als Kieferorthopäde in Leiden praktizierend, war mit neunundzwanzig nach wie vor ungebunden. Dass er sie immer nett gefunden hatte, war ihr im Übrigen durchaus bewusst.

Eines kühlen Septemberabends konnte der Vater erneut diesen gewissen Blick mit seiner Frau wechseln. Der Tisch war diesmal im Wintergarten gedeckt. Seine drei Söhne und drei Schwiegertöchter, die mit einem Drink am Kamin gesessen hatten, setzten sich, in bereits angeregter Stimmung, zu Tisch. Im Obergeschoss das schlafende Enkelkind. Die Familie erhob die Gläser und lächelte, wie es nun mal üblich ist, bedeutungsvoll. Der stille, aber immer noch blühende Garten hinter den Fensterscheiben bildete einen stilvollen Hintergrund, ebenso wie der daraus aufsteigende Nebel, der mangels Wind nur ein wenig umhertrieb. Die neueste Schwiegertochter, Rinus’ Zukünftige, hieß Marie Lina Bergman. Dass sie ein ebenso aufrechtes Mädchen war wie ihre Vorgängerin und zufällig das gleiche lockige Haar hatte, nur in Blond, fiel keinem auf. Dafür wussten sie natürlich alle, wessen Tochter sie war. Wer ihre verstorbene Mutter gewesen war.

Louise Bergman.

Unbegreiflich.

Wie kriegt man einen Menschen so weit? lautete die Frage, die dem einen oder anderen trotz aller Geselligkeit an jenem Abend gelegentlich bei Tisch durch den Kopf ging. Wie kriegt man einen Menschen um Gottes willen so weit, einen Mord zu bekennen, den er nicht begangen hat?

Und dann auch noch an so einem lieben Mann

Der neunzigjährige Bruno Mesdag hatte jenen Tag, seinen letzten in diesem Leben, wie immer mit einem kleinen Spaziergang begonnen. Einem nicht sehr ausgedehnten, leider, was seinem Alter geschuldet war. Verließ er die Seniorenwohnanlage, dann konnte er sich nach links oder nach rechts wenden, das stand ihm frei, doch die Strecke, die seinen Füßen zumutbar war, lag doch in etwa fest. Nicht einmal so schlechte Füße, solange sie fachkundig gepflegt wurden, Knie, die auch noch funktionierten, und Hüften, die zwar kurz vor dem Brechen standen, damit bislang aber noch gewartet hatten. Er wandte sich nach rechts. Zu seiner Linken lag der Rhein, auch er an seinem letzten Wegstück angelangt, zu seiner Rechten der Nordrand des Fischerdorfs Katwijk, in dem Bruno Mesdag vor Jahren mit seiner kränkelnden Frau eine Seniorenwohnung bezogen hatte. Nach ihrem Tod war er dort geblieben.

Die Leute in der Nachbarschaft mochten ihn. Wenn sie ihn grüßten, sahen sie ihn wirklich an und lächelten. Das ging ganz von selbst. Der alte Herr Mesdag hatte so ein freundliches Gesicht! Die blauen Augen erinnerten manchmal an die einer jungen Katze. Oh ja, das gibt es. Ein alter Mann mit dem Blick einer jungen Katze. Als hätte er noch alles Mögliche zu lernen.

Es war Anfang November und ziemlich kalt unter einem stählernen Himmel. Eine unangenehme Kälte für einen Katwijker, denn der Wind war ein Landwind, der keinen Fischgeruch mitbrachte, kein Salz und auch das Kreischen der Möwen auf Distanz hielt. Bruno Mesdag bog also, sobald es ging, in eine geschützte Straße ab, noch mal nach rechts, um in einem ein Stück weiter gelegenen Café Zeitung zu lesen. Wie jeder hochgewachsene Mann hatte er auch im Alter etwas Hochgewachsenes behalten. Den Oberkörper nicht gekrümmt, sondern nur etwas steif nach vorn geneigt, schritt er dahin, meist mitten auf dem Bürgersteig, in der Linken einen Stock mit schwarz angelaufenen Silberbeschlägen. An diesem Tag trug er einen Pullover und eine alte Moleskinhose, zusammengehalten von einem Gürtel, nach dem er in der Kommode ein Weilchen hatte suchen müssen.

»Macht dir wohl Spaß, was?«

Seine erste Bemerkung an diesem Morgen hatte der Gürtelschnalle gegolten, die doch recht schnell den Weg zum letzten Loch suchte und fand. »Ja, der Schwund! Knochen und Fleisch schrumpfen! Dachtest du, ich merke das nicht? Das geht ja schon seit Jahren so.«

Sein erstes Gespräch an diesem Tag.

Jetzt folgte das zweite.

»Guten Morgen, Mijnheer Mesdag!«

Die Wirtin eilte ihm von dem Tisch, den sie gerade abräumte, zur Tür entgegen, wo der alte Herr, grüner Lodenmantel über Pullover und Hose, beim Eintreten einen falschen Schritt machte und sich kurz an die Wand lehnen musste.

»Guten Morgen!«

Bereitwillig akzeptierte er die stützende Frauenhand auf dem Weg zu seiner Bank in der Ecke. Nicht wirklich nötig, aber lieb. Unter den Augenbrauen hervor sah er sich im Raum um, als erwarte er, dass jeden Moment etwas Bemerkenswertes geschehen könne. Drei oder vier Gäste tranken in aller Ruhe ihren Kaffee. »Was für ein Wind! Ja, was für ein Wind!«, hatten er und die Frau zueinander gesagt und auch noch kurz die Sonne erwähnt, die kaum mehr wärmte. Kühl!

Er saß. Die Bank stand in der Nische gegenüber einem Seitenfenster, durch das man auf die Straße schauen konnte. Sein Kaffee wurde ihm auf den Tisch gestellt, die Zeitung danebengelegt. Bruno Mesdag klappte die Bügel seiner Brille auseinander, schlug die Zeitung auf, rückte etwas näher an den Tisch und widmete sich den Nachrichten. Mal las er nur die Überschriften, mal blieb sein Blick an einem unbedeutenden kleinen Bericht hängen, der einen weisen, wiedererkennenden Ausdruck in seinen Augen aufglühen ließ, als läse er eine Fabel, eine Meditation über das menschliche Leben im Allgemeinen, in dem die Nachrichten aus seinem eigenen Leben selbstverständlich ihren Platz hatten. Vorbei, als alter Mann weiß man das.

Aber deshalb waren die Dinge ja nicht etwa nicht geschehen, sprich: gelöscht. Von wem schließlich auch?!