Über das Buch

Nirgends ist man so isoliert wie weit draußen auf einer Ölplattform mitten im Meer. Der Bohrarbeiter Wenzel ist aus kleinen Verhältnissen aufgebrochen in die große Welt, er hat Jahre auf den Wassern gearbeitet. Wohin kann er noch zurück? Als sein Freund Matyás bei einem Unfall stirbt, begibt er sich widerwillig auf eine Reise, die ihn quer durch Europa führt.

Wenzel reist nach Ungarn, bringt die Sachen seines Freundes zur Familie. Und er beginnt sich zu erinnern: an die Enge, an die Zechensiedlung seiner Kindheit, an Milena, die er vor Jahren zurückgelassen hat. Und jetzt? Soll er einfach weiter auf die nächste Plattform? Vor der westafrikanischen Küste wirft er seine Arbeitskleider fort, bricht schließlich auf, mit einem alten Pick-up und einer Brieftaube, über die Alpen, von Italien in ein erloschenes Ruhrgebiet. Und je näher er seiner großen Liebe Milena kommt, desto offener scheint ihm, ob er noch einmal ankommen wird.

Anja Kampmanns überraschender Roman erzählt in dichter, poetischer Sprache die fesselnde Geschichte aus einer unbekannten Welt: Das faszinierende Debüt einer ungewöhnlichen neuen Stimme.

Anja Kampmann

Wie hoch die Wasser steigen

Carl Hanser Verlag

There’s a new continent at your doorstep, William.

Arthur Miller

Die Stürme dort draußen sind nicht für Menschen gemacht. Würde man aus großer Ferne herankommen, so wäre es lange Zeit dunkel, die Wellenberge schluckten den Regen, schluckten die Blitze, es würde riechen nach Metall und Salz, aber niemand ist da, der etwas riechen könnte. Ein Auge gibt es nicht. Nur die See türmte sich auf und auf. Es gäbe weder Süd noch Nord. Das Wasser schluckte selbst das Schreien des Sturms, das kein Ohr treffen würde. Ein Dunkel, Flächen die sich aufbauen, Wellen, die im völligen Dunkel brechen, und etwas weiter, weiter hinten, ist das ferne Licht nur ein Flackern, von Wellen geschluckt, ein Moment nur, ein Licht.

Cantarell

Sie waren den langen Linien auf dem Asphalt gefolgt, Mátyás ging voran, und der Wind der Rotorblätter presste ihnen die Kleidung an den Leib, als wäre da keine Müdigkeit und kein Zweifel, nur das Dröhnen der Maschine, und weit entfernt, hinter dem Landeplatz, sah er die weiße Spitze einer Mole, auf der die Wellen zerrissen und in ein großes, in der Ferne rauschendes Licht zerbrachen.

Die Wolken hatten sich am Morgen verdichtet, von den Färöern hielt ein Sturmtief über den Atlantik auf die marokkanische Küste zu, wo sich die Luft über Tage und Wochen erhitzt hatte, und sie lagen müde auf den langen Bänken im Heliport und hatten von all dem nichts gewusst, über dem Linoleum schimmerte das Licht der Cola-Automaten, und sie warteten lange auf den Helikopter.

Es war das erste Mal, dass er den Heliport von Sidi Ifni anders als in dem grauen Fünfuhrlicht sah, unter dem sie die letzten Male von hier aufgebrochen waren. Noch bevor es hell wurde, war die Wartehalle gefüllt mit Männern, die ihre Taschen vor sich her zu den Kontrollen schoben, der Geruch von Kaffee hing in der Luft und man sprach wenig, einige waren erst in der Nacht in Rabat gelandet und dann weiter nach Süden gefahren, und als sie eintrafen, war das Meer noch grau und weit und der Wind so stark, dass sie freiwillig in den kleinen Raum gingen, um zu rauchen, als wären sie schon an Deck in dem geschlossenen Container, wo Tisch und Bänke am Boden festgeschraubt waren.

Mátyás kniete neben Waclaw auf dem Boden und suchte noch etwas in seiner Tasche, als die erste Maschine endlich landete und immer mehr Männer durch die Glastür kamen, die sich lautlos öffnete und schloss, mit bläulich leuchtenden Rändern, wie von einer sehr präzisen Klinge.

Die Männer nahmen ihre Taschen auf die Schulter, einige trugen Sonnenbrillen, und ihre Schritte waren schwer und kalt im grellen Licht der Wartehalle. Waclaw kannte nur wenige von ihnen. Seit zwei Monaten waren die Bohrungen in Gang, tobte der Atlantik an ihnen vorbei auf den nordafrikanischen Kontinentalsockel zu, hatten sie Sandstein und Basalt durchbohrt, achtzig Meilen vor der Küste, für nichts als Schlamm und Steine. Das Öl würde, wenn überhaupt, sehr weit unten liegen, hatte man ihnen zu Beginn gesagt. Aber solange nicht wenigstens in einem dieser Dreckslöcher etwas gefunden wurde, blieb die Stimmung angespannt, die Abläufe schienen schwerfälliger, es war nicht wie in Mexiko, in der Bucht von Campeche, wo sie nur weitere Halme in die prall gefüllte Blase mit dem Öl stechen mussten, Cantarell, um sich für ein paar Jahre daran zu besaufen, wie Wespen an den letzten vergorenen Früchten des Herbstes.

Dies war nicht Mexiko, und die Männer waren müde und überreizt, wenn sie an Land kamen, ein Gepäckstück flog durch die Luft, eine Tasche, so groß wie ein Schweinswal oder ein ausgestopftes Wildschein, he Budapest, im letzten Moment konnte Mátyás die Arme hochreißen, und die Tasche krachte vor ihm auf den Boden, seine Locken wippten nach, für einen Moment sahen sie sich an, he Texas, bevor der massige Fleischberg auf ihn zukam und ihn umarmte.

Ist ein verdammter Jammer da draußen, sagte Trevor, Segeln willst du da jedenfalls nicht, die werden die Häfen sperren, wenn es so weitergeht.

Er kaute auf einem Stück Trockenfleisch, sein Englisch war holprig, als würde man eine Tonne Steine entladen.

Wie ist der Neue? fragte Mátyás, und Roy stellte sich dazu, auf einmal bildete sich ein Kreis aus denen, die ankamen, und denen, die abfuhren, und aus der Müdigkeit und dem Schweißgeruch und der Anspannung, die sie alle überkam, bevor es losging. Waclaw musste manchmal an die Starterboxen bei großen Rennen denken, das nervöse Zittern der Pferde, die von drei Betreuern angeführt wurden, während der Jockey nur gekrümmt obenauf saß, oder die Stahlstangen, hinter denen sich das Publikum in den Straßen verbarg, wenn die Stiere vorbeieilten, der Geruch von schwitzendem Vieh in der Luft.

Ist ’ne Pussy, rief Roy jetzt, oder habt ihr da draußen schon mal jemanden mit Schlips gesehen? In dreißig Jahren nicht. Sieht aus, als müsste er mal – er zog die Brauen hoch und schnalzte ein paar Mal mit den Fingern. Die Männer lachten, und einige klatschten dazu, Schultern wurden geklopft, aber Roy blieb ernst. Ich mein’, was sollen wir mit dem, sagte er, wenn’s drauf ankommt, will er uns dann was vorrechnen? Zuletzt hatte er leise gesprochen, und sein Blick war zu Waclaw gewandert. Die sind doch noch jung, sagte er, die wissen nicht, was das heißt.

Sie standen noch einen Moment zusammen, dann schlossen sich die Glastüren hinter denen, die eben noch gewartet hatten.

1. Kapitel
Westwind

Die See bei Nacht ist das Dunkelste, was einem begegnen kann. Hinter schweren Gewitterwolken war der Mond unsichtbar und der Horizont kaum zu unterscheiden von dem Schwarz, in dem die Wellenberge sich türmten, um wieder und wieder Atem zu holen, während der Wind, was an Gischt und Schaum zu holen war, über die Wellenkämme peitschte. Weit unten schwankte die Plattform an ihren langen Stahltampen, zerrte an den meterdicken Stiften, tief im Meeresgrund verankert, gab ihr helles Licht in einigem Umkreis an das wogende Braun.

Es war die achte Stunde der Schicht, auf dem schmalen Trittbrett stemmte er sich in den Gurt, hielt sich mit beiden Armen am Gestänge des Bohrturms. Die salzige Nässe umgab ihn wie ein umfassender schwerer Sog, und schon seit einer Weile wartete er auf ein Signal, das die Arbeit beenden würde. Längst hätte Pippo sie reingeholt, aber dem neuen Rig-Manager schien es egal, lieber hätte er sie absaufen lassen, als die Bohrungen zu unterbrechen. Waclaw konnte die Schläge der Wellen gegen die Inselbeine spüren, sie würden die Plattform evakuieren, dachte er, aber jetzt nicht mehr, jetzt hieß es abwarten, während der Regen fast waagerecht vor den Scheinwerfern entlangtrieb, da war das Zerren an den Schweißnähten, die See, die gegen die Plattform anpreschte wie eine verrückte Herde, die Wellen flohen vor dem Sturm, alles kam auf sie zu.

Weit unten am Drehtisch sah er die Männer, die etwas riefen, er sah, wie ihre Münder sich bewegten, aber das einzige Rufen war der Sturm, war die Gischt, war das vergebliche Flattern einer Möwe, ein paar Mal die hell aufblitzenden Unterseiten ihrer Flügel.

Fast eine halbe Stunde dauerte es, bis das Signal ertönte und die Arbeit abgebrochen wurde. Er hatte nur noch ausgehalten, sich gegen den schmalen Tritt gestemmt und gewartet. Die anderen Bohrarbeiter zogen sich zurück, jemand öffnete die schwere Tür zu den Kabinen, er sah den Lichtspalt, die Ersten gingen hinein. Da war nur die Kälte in allen Gliedern, und er setzte die Schritte einzeln und steif, seine Beine kannten die Abstände hinunter, jede einzelne nasse Sprosse. Längst war Wasser unter das Ölzeug gekrochen, und Waclaw war ausgekühlt und hielt sich noch weiter fest, als er auf dem Plattformboden zu stehen kam.

Im Inneren schien das Licht grell, die Wärme freundlich, sogar in dem kleinen Raum, wo sie ihre Stiefel auf die Gestelle gaben, die Overalls zum Trocknen aufhängten. Er war fast etwas vergnügt, nun zwischen den anderen ins Warme zu kommen. Es war ein neues Team, und nur einige, wie Albert, der unten am Drehtisch das Sagen hatte, kannte er seit langem. Der Sturm hatte seine Laune noch verschlechtert. Waclaw steckte seine Füße wortlos in die Badeschlappen und lief den engen Gang entlang zu ihrer Kabine. Das Licht brannte, aber das Bett von Mátyás war leer. Ihre Decken lagen auf dem unteren Bett, und für einen Moment dachte er, Mátyás wäre darunter, aber da war niemand. Die Kopfhörer hingen auf den Boden herab, der Walkman lag neben dem Kissen. Er drehte das Kabel um seine Hand. Mátyás? sagte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür zum Bad. Es war vier Uhr morgens. Er drehte das heiße Wasser auf.

Barfuß und noch ganz nass stand er vor ihren Pritschen. Zog sich beide Decken über, seine Haut war noch feucht, und der Sturm schien mit einem Mal weit entfernt. Er wartete. Die Wärme machte ihn müde, und seit dem Abend hatte er nichts gegessen. Auch das war neu, der Bohrmeister hatte sie für verschiedene Schichten eingeteilt.

Wie immer wirkte die Haut auf dem Gang dann seltsam blass, unter dem Aneinander der Neonröhren. Als er in die Messe trat, verstummten die Männer um den Tisch, die gleich vor der Theke saßen. Hinter den verklebten Plastikflaschen für die Saucen spürte er ihre Blicke, die seine Bewegungen abschatteten, als er sich umsah. Daneben, weiter am Rand, saß Francis, bleich und etwas abwesend. Ein kranker Seevogel, der das Gefieder plustert für ein paar letzte Tage. Er hielt sich aufrecht zu jedem Scherz des Kranführers, der wie ein fettes Schwein vom Nebentisch herüberbrüllte. Vor den Neuen spielte Shane sich auf, brachte die Floorhands in bellendem Ton dazu, mehr Chemikalien in die Spülung zu kippen, ihm Wasser zu bringen oder wieder und wieder das Deck abzuspritzen. Erst, wenn sie übermüdet und kraftlos neben ihm saßen und seine derben Witze ertrugen, bekam sein Blick einen abwesenden Ausdruck, der bei ihm Zufriedenheit bedeutete. Er konnte dann dasitzen, als wären seine Augen aus Glas. Aber mit dem Schwingen der Tür hatte sich sein Gesicht belebt, und Waclaw hörte ein lockendes, höhnisches Pfeifen. Ai Ai, äffte Shane, wen suchen wir denn. Seine Stimme klang dumpf und tief, wie von einem sehr fetten Mann, aber er war hager und trug eine Habichtsnase im Gesicht, mit der er, seit sie ihm vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet waren, jedem ihrer Schritte folgte. Seine Arme, alles an ihm war noch immer von einem schmierigen Film überzogen. Draußen an Deck trug er gelbe Arbeitshandschuhe, die seine Hände wie Krallen aussehen ließen. Es waren die üblichen Reden. Waclaw achtete nie darauf, wenn jemand ihnen hinterhersah.

Francis saß daneben, wortlos trank er zwei Gläser in ihrem Lärm. Es ärgerte Waclaw, dass Mátyás nicht da war. Er lud sich zwei Kellen aus dem Warmhaltetopf, stippte einen beinah durchsichtigen Toast hinein und aß. Auch hier war das Licht zu grell. Die Suppe zu braun, die Haut zu blass. Allmählich füllte sich die Messe. Nachdem die Arbeit abgebrochen war, kamen sie entweder zum Essen oder lagen in ihren Kabinen, um zu schlafen.

Auf dem Gang schien der Sturm dann fast lautlos, das Schwanken, als würde alles in einiger Ferne liegen. Aus dem Kinoraum hörte er Stimmen, dazu seine eigenen Schritte, die eiliger wurden, Türen mit Aluklinken und hellem Plastikbezug. Er ging über den langen Gang bis zur letzten Tür, der Raum war dunkel bis auf eine kleine elektrische Kerze im Eck, die gleichmäßig flackerte bei jedem Wetter. Sie hatten sich hier manchmal getroffen, ein paar Teppiche, die nach Mekka ausgerichtet waren, zum Beten kam fast nie jemand. Mátyás? Hätte es ihn gewundert, wenn er mit leisem Lachen an der Wand gelehnt hätte? Mit der kippenden Tür fiel ein Lichtstrahl ins Dunkel. Der Raum schwieg. Nur eine unwirkliche Stille über den Teppichen. Er ging zurück zu ihrer Kabine. Durch einen Türspalt sah er Andrej auf seiner Pritsche liegen, das Handy an der Schulter wie einen kleinen Vogel – darunter guckten nur der dicke Wanst hervor und die helle, abgetragene Hose. Das Lied, das er hörte, klang wie re-schuschik-schurru, und er würde es die ganze Nacht lang wiederholen.

Der Geruch von Socken und verschwitzten Achselhemden, die dünnen Wände. Vielleicht halb fünf, nachts, noch knapp drei Stunden blieben ihm normalerweise im Eisengestänge des Bohrturms, und es wären die letzten Stunden Schlaf für Mátyás, bevor seine Schicht begann. Vielleicht war ihm übel geworden. Die Nacht war noch so finster, wie sie sein kann, kein Streifen Licht. Einmal hatte die Tür aufs Deck nicht richtig geschlossen und das Wasser lief bis vor ihre Kabinen. Das war lange, bevor er Mátyás kannte, bevor die Wochen hier draußen eine Temperatur bekommen hatten, etwas wie eine Farbe, die er wiedererkannte in der Art, wie ihre Sachen eine Unordnung bildeten, die ihm vertraut war.

Er stieg über ihre Taschen in sein Bett und streckte sich auf den Rücken. Er ließ die Lampe für ihn brennen und versuchte, die Augen zu schließen. Man konnte sich darauf verlassen, dass diese Plattform schwamm, dass sie hoch genug waren, zwölf Meter über dem Meeresspiegel, um nicht einfach überspült zu werden, aber auf was konnte man sich verlassen. Es war Stahl, was hier schwamm, die Ocean Monarch hatte über Jahre in der Nordsee gelegen, bevor man sie nach Süden schleppte, ein Halbschwimmer, ein Koloss, der in die Jahre gekommen war, über Waclaws Kopfende glänzte an der Wand der fettige Abdruck von anderen Arbeitern. Ungezählte Nächte, weit draußen. Mátyás analysierte das Bohrklein, er kannte sich aus mit den Splittern und Resten der Sedimentschichten, er wusste, welche Wälder vor Urzeiten auf dem Meeresgrund gewachsen waren. Nie hatte er jemanden so viel lachen sehen, eine fast kindliche Art, mit den Wochen auf See umzugehen. Vom ersten Tag an hatte sein Gesichtsausdruck Waclaw an alte Spielkarten erinnert, ein Harlekin im gelben Gewand. Während der Ausbilder in den großen Hallen, in denen man sie fortbildete, sein amerikanisches R wie den Fuß einer Insel unter jeden Satz legte, ihnen von der fast unbegrenzten Freiheit auf den Weltmeeren und ihren Fördergebieten erzählte, blickte Mátyás nur unter seinen Locken hindurch in die Ferne und verkniff sich jedes Wort. Sein Vater war Ungar, irgendein Aufstand hatte seine Familie aus dem Herzen Budapests hinausgebracht aufs Land, wo er in einem Agrarbetrieb Schmied lernen sollte, Hufe, Dampf, junge Stuten und Augenweiß, endlose Fahrten über Land und der Geruch im Wagen seines Onkels, von dem ihm übel wurde.

Seit sechs Jahren teilten sie sich die Kabine, seit einem Jahr lag der Golf von Mexiko hinter ihnen. Was draußen tobte und sich als aufbrausende Nacht gebärdete, war nichts anderes als der Atlantik, der hier, nahe des Schelfrands, vor der marokkanischen Küste, wütend und offen schien. Er griff in seine Tasche und zog einen Pullover heraus, plötzlich war ihm kalt. Er dachte an Pippo, ihren alten Ölbohrmeister, den bösartige Malariaschübe immer wieder für Wochen ans Bett fesselten. Einige sagten, er würde bald nicht mehr ganz normal sein. Es waren die Plattformen in Küstennähe, das Nigerdelta und Moskitos, die von den sumpfigen Ufern herüberkamen, wenig Wind und die Hitze, und dass niemand dauerhaft die Tabletten aushielt, die eine Infektion verhindern konnten. Wie lang schon war Pippo hier draußen? Er wusste, Mátyás mochte ihn. Doch als sie zurück auf die Plattform kamen, war nur Anderson auf seinem Posten, stellte sich nicht einmal vor, und das Leuchten der paar Tage, die sie an der Küste verbracht hatten, war wie fortgeblasen.

Er musste etwas geträumt haben, beim Schrillen des Alarms erinnerte er nicht mehr als Fetzen, Bäume in einer Landschaft, ein paar Hügel. Es war der Wecker von Mátyás, dem noch ein paar Minuten zum Beginn seiner Schicht blieben. Das Licht war noch eingeschaltet, die Luft stickig und feucht, er hatte vergessen, die Tür zum Bad zu schließen.

Mátyás war nicht da. Wind drückte gegen die Kabinenwand, auf dem Gang war es ruhig. Sie würden die Arbeit noch ein paar Stunden aussetzen lassen. Er drehte sich auf die Seite und starrte die Sachen an, alles lag unverändert, auch sein Bündel mit dem Speckstein, das er stets bei sich trug, es lag, wo es immer lag.

Waclaw zog die Decke enger um sich und meinte die Augen nur kurz geschlossen zu haben, als etwas ihn hochschrecken ließ, dumpf, sehr fern, nicht das Poltern der Schritte auf dem Gang, etwas anderes als das durchdringende Signal, das die Arbeit fortsetzen sollte. Die Unruhe war unerwartet und stark, sie schien von der hellen Wand zu rühren, wo das plötzliche Tageslicht eine klare Linie zeichnete. Auch sein warmes Fleece hing noch im Schrank.

Er brachte ihm also den Pullover. Der Morgen war aufgeklart, schwere Wolken zogen wie in Eile über das frühe Blau, in der Ferne hielt sich ein silbriges Schimmern. Er trug das Fleece für Mátyás, und er trug es wie eine Bitte, während ihm das Laufen der Maschinen mit einem Mal unwirklich erschien. Here we are, sagte Petrov, als er um den hellblauen Tank kam, hinter dem sie das Bohrklein entnahmen.

Er sah die bekannten Schüsseln mit dem Schlick, den Steinen und schlammigen Erden, sah alles, was ihm bekannt war, die Schüttelsiebe, die Monitore und Schläuche, sah Petrov mit seinem gutmütigen Lächeln, aber er sah Mátyás nicht. Wo ist dein Freund heute morgen? Petrov nahm die Schutzbrille ab und sah ihn an. Genau so, wie Waclaw ihn ansah.

Er hatte warten wollen, bis Mátyás von selbst kommen würde, die Arbeiten seien nach der Nacht nur langsam angelaufen. Er musste Petrov nicht erinnern an das Dunkel der See. Sie suchten. Erst viel später fiel es ihm auf, während sie jeden Raum durchsuchten, das gesamte Deck, jeden Winkel und jeden Tritt hinunter zu den Bootsanlegestellen, den Fitnessraum, mehrmals die Messe und mehrmals auch ihre eigenen Kabinen, während Durchsagen gemacht wurden, der Bohrmeister ein standardisiertes Verhör mit den Arbeitern führte und der Himmel aufriss zu einem fast strahlenden Mittag, während nichts von dem Tag und keiner der Seevögel über dem Wasser wahr sein konnte, Funksprüche rausgingen, man ihm ein heißes Getränk brachte und er jedes Inselbein mit den Augen absuchte, die Wasseroberfläche mit ihrem wahnsinnigen Schimmern, während sie versuchten ihn reinzuzerren und schließlich zwischen den Tanks sitzen ließen und eine gleichmäßig runde Sonne ins Wasser sank, da merkte er, dass er in seiner Hand noch immer etwas umschlossen hielt, was erst am Abend und vor dem gleichmäßigen Horizont zu etwas wurde, was einmal das Fleece von Mátyás gewesen war.

An diesem Abend schien der Mond nur wenig zu sein, wie er da lag auf dem Schwanken der See. Waclaw in seinem Bett hatte die Stiefel noch an, aus dem Kopfkissen quollen ein paar Federn. Ein riesiges Wesen hatte alles, was gestern gewesen war, fortgerissen. Er stand in der Kabine und bereute es, seine Kopfhörer aufgewickelt zu haben. Darüber dachte er nach, dass er sie fortgenommen hatte, dass er nichts von alldem anhalten konnte, dass es nun Abend war, und der Sturm war vorüber und es war dunkel geworden, wie sonst auch. Auf dem Gang hörte er Schritte, die Männer schlenderten in ihren verschwitzten T-Shirts in die Messe, sie waren hungrig, das Essen roch, er konnte in der Kabine nicht bleiben. Er ging hinaus. Die See lag beinah ruhig. Ab und zu schickten sie jemanden, der kam und nach ihm sah, einmal kam Petrov und bot ihm Zigaretten an, und Waclaw sah ihm zu, wie er neben ihm wortlos rauchte.

Die kann dich hier den Job kosten, sagte Waclaw, und Petrov lachte leise und zog noch einmal und sah geradeaus auf die See.

Dich werden sie auch noch fragen, sagte er.

Sie werden niemanden schicken, um ihn zu suchen, nicht wahr?

Nein, sagte Petrov. Das werden sie sicher nicht.

Sie schwiegen eine Weile. Immer noch wurde Gas abgefackelt, im Scheinwerferlicht flog eine Möwe vorbei, manchmal kamen sie von den Tankern herüber.

Was wirst du jetzt tun? fragte Petrov. Wohin wirst du gehen?

Sie sahen hinunter auf das Wasser, während es dämmerte und auf der Dünung ein leichter Glanz mitschwamm.

Zurück, sagte Waclaw.

Wo ist das?

In seinen Augen meinte er ein Lächeln zu sehen.

Was ist mir dir? fragte Waclaw schließlich.

Frau und Kind, sagte Petrov. Verdammt noch mal. Sie denken, es ist gut verdientes Geld hier draußen. Das denken sie alle.

Das letzte Licht kam von weit her und fiel auf die grauen Stoppeln seines Kinns.

Tropfen fielen, hallten hinter ihnen auf dem leeren Tank, der Wind frischte auf, rieb sich an Gestängen und Trossen. Petrov zog sich die Kapuze über.

Ich kann dich hier jetzt nicht sitzen lassen, Wenzel. Komm mit rein.

Er legte einen Arm um Waclaw, es war ein Arm, der wusste, dass auch die nächsten Tage nach Regen schmecken würden, nach Regen und Wolken, ihrem Vorüberziehen. Er konnte nicht in die Kabine, er sagte Petrov dobranoc und ging in die Messe, hinter dem Tresen der dicke Lúkacs, der seine Kochhaube zwischen die Hände drückte, als er ihn sah, als ginge neben ihm ein Schatten. Und er hörte, wie sie leiser sprachen. Mikael und Ray und Steve, einer rückte einen Stuhl zurück.

Wenzel, willst du dich zu uns setzen?

Danke, ich bleib’ nicht lange.

Aber dann sitzt er doch da, der lange Strich, vor einem Instant-Zitronentee, lauwarm in seinem Becher. Ihre nackten Unterarme kleben vor lauter Schweigen an der Tischplatte. Hat jemand diese T-Shirts gesehen? Knallrot und grün, Ray trägt einen ausgewaschenen Sweater mit Aufdruck aus einem Manga-Film. Eine Prinzessin und ein Schwert. Seinen Tisch trennt ein knapper Meter Abstand von ihrem. Er merkt, wie sie ihn ansehen, ihre Augen wandern verstohlen zu ihm herüber, als wäre er schuld daran, dass die Spielkarten nicht herausgeholt werden und sie sich nicht quer durch die Messe mit Lúkacs unterhalten können, der wie abwesend am Glas herumwischt, als wäre ihm erst heute der dünne Fettfilm aufgefallen, hinter dem die kalten Buletten schimmern.

Er wusste nicht, ob es derselbe Raum war. Er sagte Lúkacs, dass er ihm ein paar Eier braten solle, und aß dazu kalte Pellkartoffeln. Auf einmal hatte er Hunger. Er vermied es, mit der Gabel über den Teller zu kratzen. Es war nicht mehr ihre Messe, es war derselbe Raum. Irgendwann war ein neues Jahrzehnt angebrochen, und mit all der Kraft der verloschenen Feuerwerkskörper hatten sie hier gesessen, gespielt, Mátyás, jung genug, quirlig, nie zuvor hatte Waclaw eine Nacht an diesen Tischen verbracht, nie hatte er die plötzliche Ferne ringsum mehr geliebt.

Der Geruch von Kraut und Frittierfett hing in der Luft.

Die Tür ging auf, und Eugen steckte seinen Kopf herein.

Waclaw, man sucht dich, sie werden dir einen Super-Puma schicken, gleich morgen früh, kommt vom Festland rüber. Nur für dich. Ein Puma!

Er hörte, wie sich die Stimmen vermengten, und wusste, sie würden nun über Hubschrauber reden, Vor- und Nachteile der einzelnen Modelle abwägen, unter denen der Puma hervorstach. Er saß da und hörte zu, Lúkacs schaufelte irgendetwas in sich hinein, dann fiel sein Blick auf die gelbe Uhr über der Tür, XI, was heißt das, elf Uhr abends heißt das, er sah das Zifferblatt an und merkte, wie etwas in ihm hochstieg, er hörte ihre Stimmen noch, schaffte es bis auf den Gang und in die Kabine, neben die metallene Kloschüssel, in die er sich erbrach, und es war Nacht, einfach Nacht, und er saß da und sah seine Hände zittern, als wären sie von jemand anderem, wie diese Nacht, in die er nicht gehörte.

Alles, was folgte, schien überklar und dennoch verwackelt, Bilder, ausgefranst, an den Rändern nicht fassbar. Der großzügige Rig-Manager Anderson hatte ihn nach einer Stunde Gespräch von den restlichen vier Tagen der Schicht befreit. Während er redete, dachte Waclaw an Vögel, die Regen imitieren, um Würmer aus dem Erdreich zu locken.

Er hatte nicht die Kraft, ihn zu fragen. Durch das Fenster von Andersons Büro sah Waclaw die Männer ihre Arbeit fortsetzen, sah den Drehtisch, die farbigen Arbeitsanzüge und Helme in grellem Weiß, das Wasser hatte sich beruhigt, lag da, flach, und es war niemand gekommen und hatte einen Kranz ins Wasser geworfen, eine Rede, irgendwas. In seinem Schädel gab es keinen Platz für einen Abschied ohne dunkle Wirtshäuser mit brauner Soße. Er dachte an die Stahlkochereien des Ruhrgebiets, Männer, von denen man ihm als Kind erzählt hatte, die mitten am Tag verschwanden, eine weißglühende Hitze nach Jahren zwischen Karneval und Doppelkorn, auf die elenden Kriegsjahre folgte das Schweigen der Eichenkonsolen, die Enge der Zechensiedlung, Biographien, die zu weniger als Asche wurden im kochenden Stahl der Hochöfen. Als Kind blieb ihm das Bild von Umkleidekabinen, von Straßenschuhen, die am Abend nicht mehr angezogen wurden. Er sah den Kirchenchor von St. Cyriakus, Witwen in schweren Kostümen, die sich in Reihe stellten. Ein Gemeindehaus voller Tortenböden, Früchte aus unendlichen Kleingärten, die schwarzen Schuhe glatt wie ausgewischte Teller. Kinder, die polnische und deutsche Lieder sangen, denen man die Kragen gesteift hatte. Die Wellen hatten sich gelegt. Nicht einmal die Farben stimmten: T-Shirts, bunte Helme, haarige Waden, ringsum lag hell die See.

Mehrmals fragte Anderson, ob er wünsche, nach Hause zu reisen. Mehrmals sagte er ihm, dass die Adresse, die das Unternehmen als Notfalladresse führe, schon lange nicht mehr existierte.

Anderson sagte, es wäre gut, wenn er bald an Land käme, und gab ohne Zögern die Meldung von dem Verlust an die Zentrale. Er hielt sich den Hörer ans Ohr. Er nannte Mátyás’ Namen inmitten von Sätzen, die klangen wie eine Liste von Dingen, die man nicht mehr benötigt. Vielleicht verstand er nicht, was er sagte, vielleicht versuchte er, sachlich zu sein. An der Wand schimmerte das Foto einer unbekannten Crew, mit Blitzlicht aufgenommen, auf den roten Overalls leuchteten die Reflektorstreifen an Oberarmen und Beinen deutlicher als jedes Gesicht. Waclaw versuchte zu schätzen, wie alt Anderson war, bestimmt fünfzehn Jahre jünger als er selbst, vielleicht Mitte dreißig. Andersons kariertes Hemd rutschte etwas zurück und zeigte eine helle, fast speckige Hand. Alles an ihm war blass und unbehaart, und seine Stimme hatte die Energie von einem Stock, mit dem man in einem lauwarmen Tümpel herumrührt.

Er kannte nicht die Tränen, die Alexej vergoss, der hier draußen die Geburt und das kurze Leben seines Sohnes versäumte, er wusste nichts von den Sprachen, in denen jeder für sich träumte. Er sprach gleichmäßig, nickte ein paar Mal, dann legte er auf. Er griff nach einem Etui aus gelbem Leder, zog einen Füllhalter hervor, notierte ein paar Worte, dann sah er zu Waclaw, als hätte er etwas Wichtiges vollbracht.

Er würde alles tun, ihn nach den Wochen an Land auf eine andere Plattform versetzen zu lassen, sagte Anderson.

Das wäre doch eine Erleichterung für Sie?

Sein Lächeln.

Was ist mit ihm? sagte Waclaw.

Anderson sah ihn erstaunt an.

Mit ihm?

Er schüttelte langsam den Kopf und deutete dann auf die Seekarte an der Wand.

Herr Groszak. Sie wissen doch, was diese Schatten bedeuten?

Für einen Moment starrten beide auf das Tiefenrelief, auf dem die Probebohrungen und die Plattform markiert waren.

Ja, sagte er dann, wie geistesabwesend.

Entweder der Seegang hat ihn gegen einen der Stahlpontons gedrückt, und er ballte die Finger seiner rechten Hand kurz zur Faust, oder die Unterströmung unter Deck hat ihn fortgerissen.

Anderson sah hinaus. Auch sein Mund war weich, und er wich Waclaws Blick aus. Waclaw vermisste Pippo. Er fragte sich, was er jetzt getan hätte. Pippo hatte haarige Hände, und sie konnten zusammen rauchen, wenn es Probleme gab. Pippo kannte seine Leute. Wenn die anderen lauthals lachten, zog sich nur ein feines Lächeln über sein Gesicht, aber dann konnte seine Stimme hart werden wie der Kamm von einem Barsch, man konnte sich an ihm verletzen. Nie hätte er wie ein Welpe mit dieser Sekretärin telefoniert.

Anderson wies mit dem Kopf zur Tür.

Die Männer sagen mir Bescheid, wenn sie da draußen etwas Ungewöhnliches sehen.

Er kippte zurück in seinen Sessel.

Wir melden uns. Gegen drei kommt ihr Shuttle.

Und es war nur diese plötzliche Wut, die ihn dazu brachte aufzustehen. Da war die Wölbung der Stuhllehne, in die sich seine Daumen bohrten, und dass Anderson plötzlich schwieg, als er ihn so stehen sah, ja, erschrocken, aber eher in der Art, wie man vor Ungeziefer erschrickt oder vor einem unbekannten Geräusch, so, als könne er plötzlich auf ihn zuspringen. Er stand einfach da und sah ihn an.

Don’t be stupid, sagte Anderson leise und biss sich auf die Lippen. Ich meine es ernst.

Auf dem Weg in die Kabine fühlte er sich plötzlich schwer, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen. Er riss ihre Schränke auf und klaubte die Sachen zusammen, stopfte sie in die Taschen, dann trug er sie hinaus, beide Taschen, an Deck, in die plötzliche Seeluft.

Er stieg hinauf zum Helideck, die Bohrungen gingen weiter, sie pumpten mehr Spülung in die Tiefe, um den Druck aufrechtzuerhalten, der Puma war noch nicht da, er trug schwer am Gepäck. Nur Petrov begleitete ihn hinauf zum Landedeck, stand krumm wie eine Eiche, und sprach wenig.

Waclaw lehnte an einer Wand, sah die anderen weiterarbeiten, der Kran schwenkte um, der Wind war noch kalt, sein Gesicht fühlte sich heiß an, die Augen verquollen. Hinter sich hörte er Tritte auf der Treppe, sah Francis, noch ganz verdreckt in seinem Overall.

Wenzel, sagte er und holte Luft. Was haben sie gesagt, wo gehst du jetzt hin?

Francis zog seine Handschuhe aus und ließ sie wie zwei tote Fische neben sich fallen. Waclaw konnte sehen, wie sich der Rand der Stiefel unter den Hosenbeinen abzeichnete. Alles schien ihm zu groß, die Kleidung, der Helm, Francis erinnerte an ein Tier, dessen Fell nass geworden war, das plötzlich nur noch erbärmlich und krank aussah.

Was machen die jetzt? fragte er. Was machen die jetzt mit –er stockte, als wagte er nicht weiterzusprechen.

Mit Mátyás, das ist immer noch sein Name, sagte Waclaw leise.

Es fühlte sich falsch an, diese Rolle zu spielen. Als er weiterredete, hörte er fast neugierig auf seine eigene Stimme, die ungewöhnlich fest klang.

Sie werden nichts tun.

Er konnte sehen, wie Francis seine Lippen zusammenpresste, seine Haut glänzte fettig, als hätte er sich seit Tagen nicht gewaschen. Erinnerst du dieses Boot vor ein paar Jahren? Vor Mehdia? Die waren schon fast an Land. Drei von denen haben sie nie gefunden. Und Taucher –

Waclaw winkte ab.

Kommst du wieder? fragte Francis eilig.

Er war nervös. Die Schicht würde gleich weitergehen und er musste zurück. Obwohl so viel Zeit vergangen war, hatte er noch immer das Gefühl, sich vor den anderen nichts leisten zu können.

Sicher. Waclaw klopfte ihm auf die Schulter. Sure.

Dann sah er ihn das Deck heruntersteigen und über die Brücke zum Drillfloor gehen. Es gab ihm einen Stich, ihn so zu erblicken, gleich schnell zwischen den anderen.

Der Puma kam nicht, bis es Abend geworden war.

Das ist nicht Mexiko.

Mehrmals schoss ihm dieser Satz durch den Kopf, aber er konnte nichts damit anfangen. Dies war nicht Mexiko, und das Meer hatte sich beruhigt, aber Mátyás war nicht da.

Was an diesem Abend von der Plattform blieb, war das kleine Licht auf den Wassern, ein dunkler Horizont, der sich weitete. Er lehnte mit doppeltem Gehörschutz an der Scheibe, ein verschwitzter Überlebensanzug, der Motor, der über ihm vibrierte, er sah den hellen Flecken, die Gasfackeln und erleuchteten Aufbauten, die weit unten immer unschärfer wurden.

Und während er diesen hellen Flecken betrachtete, musste er an seinen Vater denken, an die Dachkammer und das ovale Fenster. Das Beben seiner staubzerfressenen Lunge, als Waclaw bei ihm saß, in seinen Augen eine Angst, die nicht passen wollte zu seiner Hand, die beruhigend über seinen Arm strich. Er bat Waclaw, ihm ein anderes Meer zu beschreiben, eines, das der Ostsee nicht gleichen würde, mit ihren schummrigen Kuttern und Kajüten. Er ließ sich von dem Sand erzählen, den die Saharawinde über das Wasser trugen, der ihnen an den Tagen zwischen den Zähnen knirschte, und Waclaw nannte ihm Küstenlinien, Dünen aus feinstem Sand, die direkt an das Meer grenzten. Sie sprachen von Reisen, die man unternehmen würde, an Orte, zu denen niemand ihnen folgen würde. Iść tam, dokąd nikt nie idzie za tobą, flüsterte sein Vater, und Waclaw nickte. Gehen, wohin niemand dir folgt. Er versuchte stark zu sein, wie er all die Zeit stark gewesen war, und dann saßen sie lange im Dämmerlicht der Kammer, die so klein war, dass er vom Bett aus die gegenüberliegende Wand mit der Hand berühren konnte. Einige Male fiel sein Vater in leichten Schlaf, dann öffnete er die Augen und nannte Waclaws Namen.

Der Helikopter schlingerte durch diesen Himmel, der Helikopter würde eine Küste finden und landen, wo ein Boot ihn mit in den nächtlichen Hafen von Tanger nehmen sollte.

Das geduckte Laufen unter den Rotorblättern, mit zwei Seesäcken. Sie lagen nebeneinander auf der Rückbank des Taxis, als sie in Richtung des Kutters aufbrachen. Ein leichter Regen lief in roten Schlieren durch den Staub auf der Windschutzscheibe. Sie fuhren. Niedrige Baracken mit Drahtzäunen, ab und zu sah er die vergitterten Fenster von Werkstätten, dahinter Hebebühnen in einem nächtlich kalten Licht, einige gut gesicherte Lagerhallen. Es war eines jener Industriegebiete in Küstennähe, die aussehen, als würden sie nur für Schrott und Autohandel gebraucht. Er war müde. Neben ihm der Fahrer kaute auf etwas herum, und er hörte das Geräusch der Scheibenwischer. Sie zogen Streifen über das Glas. Und da waren Tropfen, die aufleuchteten in diesen fremden Straßen, man wischte sie fort, und niemand bemerkte etwas davon. Es würden neue kommen.

2. Kapitel
Tanger

Das Meer roch salzig und ölig, der wenige Regen hatte die Gerüche noch verstärkt. Zwischen den Blechhütten lagen Motoren und Außenborder, hinter einem hohen Zaun hörte er das Winseln von zwei Hunden, die in der Nacht das Gelände bewachen sollten. Von hier aus würden sie in wenigen Stunden den Hafen von Tanger erreichen, Waclaw kannte die Strecke. Es war ein kleines Kajütboot und der Fahrer beachtete ihn nicht weiter. Da war sein Rücken wieder, und er versuchte, nicht daran zu denken. Die Schnallen seiner Tasche waren abgenutzt und stumpf.

Das Boot steuerte durch die Bucht in den gelblich erleuchteten Fischerhafen. Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit, und während sie mit einem leisen Tuckern an den anderen Booten vorbeizogen, sah Waclaw all die Fliegen, Motten und Falter, die als weiße Schatten um die Scheinwerfer im Hafen tanzten, ein durchsichtig helles Schwärmen, irritierend schön vor dem Dunkel der Nacht. Darin all das Flirrende vieler Jahre, die sich zu nichts verbanden, die ungeordnet auftauchten im begrenzenden Kegel Licht.

Es waren endlose Reihen von kleinen Fischerkähnen, die eng nebeneinander vertäut lagen. Der Fahrer ließ das Boot ausgleiten, bis es mit einem Ruck neben einem anderen zu liegen kam. Statt eine Leine zu werfen, hielt er sich mit beiden Armen an der gegenüberliegenden Bootswand fest und gab Waclaw einen Wink. Er beeilte sich, die beiden Seesäcke hinüberzuwuchten, um dann mit einem letzten langen Schritt selbst auf die andere Seite zu gelangen. Zwischen den Booten lag etwas Licht auf dem sonst öligschwarzen Wasser, Stimmen waren aus den Schatten unter den niedrigen Betongebäuden zu hören. Der Helm, der am Seesack hing, gab einen deutlich hohlen Klang, als er gegen die Bootswand schlug. Noch am Morgen hatte Waclaw alles nach dem großen Thunder-Horse-Aufkleber abgesucht, ein rotes Ross auf dem Plastik, aber er hatte Mátyás’ Helm nirgends gefunden. Nur sein Stirnband, das noch etwas feucht war, das er eilig zu den anderen Sachen getan hatte. Kaum war er auf der anderen Seite, hörte er den Motor starten, der Schatten des Bootsmanns war zurückgeglitten hinter das Steuerrad, Waclaw sah, wie er sich vorsichtig durch die Schiffsreihen hinausmanövrierte, bald war das Boot nicht mehr zu hören.

Im Fischerhafen war noch alles wie zu Beginn, die Lichter ähnelten kleinen Funzeln, als wäre man hier weit entfernt von dem Zollbereich, in dem das Kläffen der Hunde für immer in der Luft zu hängen schien. Die Stimmung hatte sich verändert, seit sie das Zimmer vor ein paar Jahren gemietet hatten. Auf den Straßen verkauften Händler billige Kunststoffdecken, die sich die Leute um die Schultern legten wie auf alten Abbildungen die Hirten. Sie hatten den Jahreswechsel hier verbracht, zwischen zu vielen Gesichtern, die nicht wussten, was Neujahr für sie bedeutete. Zwischen ihnen hatten sie auf den Felsen gestanden, um das entfernte Leuchten der Feuerwerkskörper auf der anderen Seite der Meerenge zu sehen.

Der Steg schwankte, und er vermied es, zu den Seiten in die dunklen Schatten unter den Vordächern zu blicken, bis er das Hafengelände hinter sich hatte. Der leichte Geruch von Tabak stieg ihm in die Nase, bald erreichte er die Straße und lief zum Klang seiner eigenen Schritte den Hügel hinauf bis zur Stadtmauer. Hier begannen die Gassen, die sich so lange öffneten und verzweigten, dass es schien, als würde all das Gefeilsche und die Lautstärke der Händler bloß ablenken, den Vorhang geben für ein Bild, dessen Tiefe man nur gelegentlich ahnte.

Die Straßen waren noch belebt, fensterlose kleine Läden, vor denen Händler saßen. Eine Frau schälte Erbsen in einem verdreckten Lagerraum, neben ihr auf einer Kiste schlief ein Junge. Waclaw brauchte den Weg nicht zu suchen. Es war ein Zimmer, das sie in einem alten Kolonialbau gemietet hatten, am Rande der Altstadt von Tanger. Es war eine der wenigen Stationen, die sie gemeinsam hatten, eher zufällig bestimmt durch die Nähe zum Flughafen und zum Wasser, und es war ihre erste Bleibe nach Mexiko, nach Katrina und den Stürmen, und eine Weile hielten sich die Gerüchte, auch vor dieser Küste müsse man, wie vor Brasilien, nur durch die Salzkruste bohren und käme sofort an ein riesiges Ölreservoir. Nur etwas Gas hatte man an Land gefunden. Sie hatten das Zimmer trotzdem behalten. Ein Anlaufpunkt, an dem sie zurücklassen konnten, was in den Spinden keinen Platz fand, was nicht passen wollte zum hellen Glanz der Wasser, wo man sie mit den anderen zusammenzwängte, für zwei, für drei Wochen, immer aufs Neue.

Haven nannte Mátyás das Zimmer, nach einem Tanker, der vor der ligurischen Küste gesunken war, und tatsächlich schien es ein Ort, der gelegentlich von der Brandung erfasst wurde, wenn sie nach Wochen wiederkamen, um ein paar Sachen zu wechseln, und dann lange hinter den verschlossenen Fensterläden lagen, um zu schlafen. Es war noch immer warm. Aus dem Café tönten ein paar letzte Spieler beim Parchís, er sah ihre Umrisse im bläulichen Schein der Neonröhren. Waclaw hörte die Würfel hart auf die Glasplatten schlagen, sonst war es beinahe still. Er ließ beide Taschen fallen, nur das Scharnier knarrte laut, als er sich gegen die Tür stemmte. Er nahm die Stufen eilig, ohne das Licht einzuschalten.

Zu dem Zimmer gehörte ein Bad draußen am Flur. Als er dort vorbeikam, meinte er, hinter der geriffelten gelblichen Scheibe eine nackte Schulter zu sehen, jemand zog sich um, aber es konnte nicht Mátyás sein.

Er schloss die Zimmertür auf. Etwas Laternenlicht fiel von der Straße herein, zeigte das niedrige, vor der Fassade liegende Gitter. Auf jeder Seite des Raumes stand ein großer Schrank, beide waren geschlossen, zuletzt hatten sie noch etwas Zeit gehabt, um aufzuräumen. Die Matratze lehnte neben dem Fenster, er zerrte sie weit in die gegenüberliegende Ecke, legte sich nah an die Wand.

Dann, etwas später, lief leise Musik auf der Straße, war das Dunkel noch immer gleich, war er keiner mehr, der zum linken Schrank gehörte oder zum rechten, er stand auf, ging zum Fenster, dann hinaus, und blieb stehen an einer Stelle, an der die Gasse steil abfiel, lange, suchend. Es würden bald nur noch Schränke sein. Hoch über den gekalkten Fassaden sah er in den Sternen den Großen Wagen, der weit auf die Vorderachse gekippt war, und er dachte darüber nach, warum die Menschen ausgerechnet einen Wagen in diesen Sternen sehen wollten, und warum dieser Wagen leer war.

Er hatte lange wachgelegen, als er nach der kleinen Stehlampe neben der Matratze griff. Er setzte sich auf. Die beiden Seesäcke lagen vor dem Schrank. Er dachte an Petrov, der ihm die zweite Tasche gehalten hatte, die dunklen Tabakränder an seinen Zähnen, der Reißverschluss seines Overalls, der nie ganz schloss, das ergrauende Brusthaar darunter. Die Kälte auf der Haut, die ihnen beiden sagte, sie waren noch da, während der Puma um die Plattform herumflog, etwas tiefer als sonst, für ein paar Minuten war der Suchscheinwerfer über das Wasser geglitten, wie das unruhige Gekritzel von einem Kind. Nur der Lärm, und dass Petrov bei ihm stand, der Puma kam auf seinen Kufen zu stehen, sie beide brüllten etwas, pressten den Gehörschutz auf die Ohren.

Es war heiß. Er zog den zweiten Strumpf vom Fuß. Auf der Sohle war ein bräunlicher Abdruck aus ihrer Kabine zurückgeblieben. Staub und Schweiß.

Es war noch dunkel, als er die Tür zum Dach aufdrückte. Fern über der Bucht lag ein wattiger Nebel. Er war so müde und benommen, dass er die Augen kaum aufhalten konnte, er wollte nicht schlafen. Er wollte sich fern haben. Sich aussperren, wie man einen Hund aussperrt, der noch bettelt nach dem letzten Stückchen Fleisch. Das Dunkel des Zimmers war überdeutlich gewesen. Er spürte die Kühle der Luft, wo die Decke seine Arme und Knöchel nicht bedeckte, das Gestell des Drahtsessels drückte in seine Seiten. Ein paar Mal fiel ihm der Kopf auf die Brust.

Nur langsam klarte es auf, über ihm die eiligen Bäuche der Vögel, ihre hellen Linien, wenn sie sich abstießen von den steilen Mauern der portugiesischen Festung, über die Antennen und verschachtelten Dächer hinunterzogen zum Hafen. Das schmutzige Grauweiß der Klimaanlagen, die Kakteen in den Dachblumenkästen. Etwas Tau lag in kleinen Tropfen vor ihm auf dem gefliesten Tisch. Das Licht war noch nicht warm, die Luft in der Ferne weiß und neblig.

Es war beinah ein Ritual gewesen, jedes Mal wenn sie wiederkamen, trafen sie sich auf dem Dach, lagen lang ausgestreckt, hörten auf die gedämpften Geräusche der Straßen, Kinder in Sandalen und das Klappern von Handkarren, ohne irgendetwas unternehmen zu müssen. Sie hatten morgens hier gesessen, ohne viel zu reden, und gespürt, wie die Sonne auf der Haut allmählich wärmer wurde.

Jetzt schwankten die Palmen, und er wollte nichts damit zu tun haben. Er hörte Schritte auf den Stufen, jemand drückte die Tür von innen auf. Der Schatten folgte einem großen Korb, und er sah Darya, die sich die nasse Wäsche auf die Hüfte geklemmt hatte. Sie schleppte die Bettlaken hoch aufs Dach. Darya war klein und untersetzt, ihre dunklen Haare fielen aus dem Zopf, sodass man an einen kinnlangen Pagenschnitt denken konnte.

Sie trug das lange Hemd mit den Stickereien, das Waclaw schon kannte, Pailletten, die in der Sonne das Licht reflektierten. Sie lachte gern. Er konnte ihren Blick beinah spüren, der über ihn hinweg und dann weiter über das Dach glitt. Er schloss die Augen. Sie war die Schwester von Rasil und half, die Zimmer zu vermieten. Mit ihren zweiunddreißig war sie noch immer unverheiratet, und schon seit einer Weile schien sie auf ihre Rückkehr zu warten, stand sie nah bei Mátyás im Hof, wenn er auf einer der Bänke saß und rauchte. Sicher hatte sie den Schlüssel in der Nacht gehört.

Er konzentrierte sich auf das schilfartige Grün in der alten Mauer, auf den Feigenbaum, der sich zwischen den Felsblöcken festkrallte. Darya setzte den Korb ab und sah unter den Leinen hindurch zu ihm. Er zog die Decke fester um sich und schloss die Augen. Von irgendwo drang der Geruch von Feuer zu ihm herauf, in einer kleinen Werkstatt entzündet. Unter der Decke begann er zu schwitzen. Er hielt die Augen geschlossen, als wäre er nur müde nach einer sehr langen Schicht, als wäre alles wie immer. Im Augenwinkel konnte er sehen, wie Darya sich streckte, um die Klammern festzustecken. Noch eine Weile konnte er das gleichmäßige Klimpern und Aneinanderschlagen ihrer Armreifen hören. Er lag da, als würde er nur dösen unter einer Sonne, die noch kaum hoch genug stand, um ihn zu wärmen.

Da war niemand. In den weiß getünchten Gassen stand die Luft, der Raum lag im Halbdämmer hinter geschlossenen Fensterläden, draußen hörte er Menschen auf ihren Motorrollern, er roch die Abgaswolken, ein bläulicher Qualm, er rührte sich nicht. Da war die Senke unter dem Rippenbogen, auf dem seine Hand lag. Es war kein Hunger. Der Wasserkanister neben ihm war beinahe leer, die Blätter des Deckenventilators strichen gleichmäßig durch diesen Tag, als wäre er bloß ein Gedanke; da war nichts, was Widerstand bot.

Sie hatten sich weinen sehen, sie hatten all diese Länder gesehen, aber gemessen daran, was blieb, um Abschied zu nehmen? Der kurze Moment vor der Stiefelkammer, Schichtwechsel, Mátyás stieg aus seinem Ölzeug, grau wie eine Spinne, die Nacht hatte ihre Schatten noch auf seinem Gesicht. Da waren all die anderen um sie herum, der Geruch der Trockenräume, das klamme Ölzeug, und Mátyás, in seiner verschwitzten langen Unterwäsche, die Haut noch warm von der Arbeit, und wo war das, die Eile, er musste hinaus, sie umarmten sich kurz, sein Anzug war feucht und muffig. Es wird stärker, sagte Mátyás, sie umarmten sich kurz, dann legte Waclaw ihm die Hand auf seine warme, verschwitzte Schulter, alles schien zu dampfen.

Es war Nachmittag, als er das Zimmer verließ. Er spürte die langen ausgetretenen Leinenschuhe und den Stoff der Hose auf seiner Haut. Die Stände: schwarze Oliven und Pistaziengebäck, neben ihm ein Mann, der die Orangen mit dem Daumen prüfte. Waclaw nahm Geld aus der Hosentasche und kaufte ein wie sonst auch, er trug die Tüten an langen Armen und spürte ihr Gewicht, als er ging. In der Nacht hatte er an den Unfall des Finnen denken müssen, an die West Capricorn und die Nächte mit Sharam, und er hatte sich gefragt, was Sharam getan hätte, wenn er dabei gewesen wäre, und er war sich vorgekommen wie ein Dieb, der sich in den langen, abgedunkelten Gängen seines eigenen Lebens verirrt. Die Tage mit Sharam hatten vor ihm gelegen wie ein empfindliches Gemälde, das kein Tageslicht verträgt. Er hatte sein altes Telefon aus dem Schrank genommen und daran gedacht, was einige inzwischen über Sharam sagten, der Perser, er sei nicht mehr als ein trauriger Alkoholiker, so als wäre alles, was vor zwölf Jahren geschehen war, da alles gerade erst begann, ohne Bedeutung. Er wusste nicht einmal, zu welchem Land Sharams Vorwahl gehörte.

Taxi,