David Motadel

Für Prophet
und Führer

Die Islamische Welt und das Dritte Reich

Aus dem Englischen von
Susanne Held und Cathrine Hornung

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98105-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10978-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Mit einer Karte und 44 historischen Schwarz-Weiß-Fotografien

 

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»Islam and Nazi Germany’s War«

im Verlag The Belknap Press of Harvard University Press Cambridge (Massachusetts), London

© 2014, David Motadel

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Susanne Held (Teil I und II) und Cathrine Hornung (Teil III)

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Foto: Bundesarchiv Koblenz, Bild 146-1989-050-00, Fotograf SS-PK Mielke, November 1943; Bei den SS-Freiwilligen aus Bosnien und der Herzegowina. Die Stabskompanie der Division beim Präsentieren.

ISBN 978-3-608-98105-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Einleitung

I.  Muslime in der Kriegspolitik

1. Ursprünge

Die Islampolitik des Kaiserreichs

Mobilisierung der Muslime während des Ersten Weltkriegs

Die geopolitischen Islam-Debatten der Zwischenkriegsjahre

2. Achsen der NS-Islampolitik

Das Auswärtige Amt und die Entstehung der NS-Islampolitik

Die Ausweitung der deutschen Islampolitik

Ideologische Fragen

II.  Muslime in den Kriegsgebieten

3. Islam und der Krieg in Nordafrika und im Nahen Osten

Islam, Antikolonialismus und der Westfeldzug

Islam und Flugblatt-Propaganda im nordafrikanischen Kriegsgebiet

Islam und Rundfunkpropaganda in Nordafrika und im Nahen Osten

Muslimische Reaktionen

Antworten der Alliierten

Deutsche Soldaten und der Islam in den nordafrikanischen Kriegsgebieten

4. Deutsche Islampolitik an der Ostfront

Islam und Krieg im Kaukasus

Der Islam und die Besatzungspolitik auf der Krim

Der Islam im Reichskommissariat Ostland

Kriegsrealitäten und sowjetische Reaktionen

5. Muslime im Kampf um den Balkan

Die Balkanreise des Muftis

Islampropaganda auf dem Balkan

Islamische Führer und die deutsche Option

Enttäuschte Hoffnungen

III.  Muslime in der Armee

6. Mobilisierung von Muslimen

Muslime in der Wehrmacht

Muslime in der SS

7. Islam und Militärpolitik

Islam und Rekrutierung

Religiöse Riten und militärische Disziplin

Militärimame

Imamschulen

8. Islam und Militärpropaganda

Islampropaganda der politischen Schulungsoffiziere

Islam und Armeezeitungen

Diskriminierung und die Grenzen der Religiosität

Kriegsende

Epilog – Entwicklung im Kalten Krieg

Anhang

Danksagungen

Quellenhinweise

Bild- und Kartennachweis

Anmerkungen

Personenregister

Karte

Einleitung

Der Zweite Weltkrieg erfasste weite Teile der islamischen Welt. Rund 150 Millionen Muslime zwischen Nordafrika und Südostasien lebten unter britischer und französischer Herrschaft, und mehr als 20 Millionen wurden von Moskau beherrscht. Auf dem Höhepunkt des Krieges, in den Jahren 1941–1942 – als Japan in muslimische Gebiete Südostasiens eindrang und deutsche Truppen in muslimisch bevölkerte Territorien auf dem Balkan, in Nordafrika und auf der Krim einmarschierten und in Richtung Naher Osten und Zentralasien vordrangen –, begannen sowohl die Achsenmächte als auch die Alliierten den Islam als politisch bedeutsam wahrzunehmen.

Berlin unternahm nun zunehmend Anstrengungen, Muslime als Verbündete zu gewinnen und sie zum Kampf gegen angeblich gemeinsame Feinde aufzustacheln, allen voran das Britische Empire, die Sowjetunion und die Juden. In den muslimischen Kriegsgebieten, in Nordafrika und im Nahen Osten, auf der Krim, im Kaukasus und auf dem Balkan präsentierten sich die Deutschen als Freunde der Muslime und Verteidiger des Islam. Gleichzeitig wurden Zehntausende von Muslimen in die Wehrmacht und in die SS rekrutiert. Die meisten dieser Männer stammten aus der Sowjetunion. Viele kamen vom Balkan und einige – in geringerer Anzahl – aus dem Nahen Osten. Deutsche Behörden gründeten diverse muslimische Einrichtungen wie etwa das 1942 eröffnete Islamische Zentralinstitut in Berlin, und sie warben zur Unterstützung ihrer Bemühungen religiöse Führer aus der gesamten muslimischen Welt an. Zu den wichtigsten zählten der litauische Mufti Jakub Szynkiewicz(1) aus Wilna (Vilnius), der Hitlers(1) Neue Ordnung als Chance für eine islamische Wiederbelebung in den muslimischen Territorien Osteuropas und Zentralasiens propagierte; der bosnische islamische Geistliche Muhamed Pandža(1), führendes Mitglied der Ulama Sarajevos und Verbündeter der Deutschen auf dem Balkan; und der legendäre Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini(1), der die Gläubigen zwischen Marokko und der Malaiischen Halbinsel zum Heiligen Krieg gegen die Allierten aufrief. Diese Politik war ein bedeutender Versuch, den Islam zu politisieren und Muslime auf deutscher Seite in den Krieg mit einzubeziehen.

Für Berlin gewannen Muslime in zwei Kontexten Bedeutung, beide im Zusammenhang mit einer größeren, in den Jahren 1941–1942 sich vollziehenden Verschiebung im Verlauf des Zweiten Weltkriegs.

Indem der europäische Krieg sich zunehmend zu einem Weltkrieg ausweitete, wurden muslimisch bevölkerte Regionen zu Kriegsgebieten. 1942 standen deutsche Soldaten von den Kanalinseln im Westen bis zu den Gebirgszügen des Kaukasus im Osten, und von Skandinavien im Norden bis in die Sahara im Süden. Plötzlich sahen sich die Deutschen mit umfangreichen muslimischen Bevölkerungsgruppen im Kaukasus, auf der Krim, im Maghreb und auf dem Balkan konfrontiert. In den von Hitler(2) überfallenen Territorien standen zahllose Minarette. Deutschland kontrollierte muslimische Metropolen wie Tunis, Sarajevo und Bachtschyssaraj. Nahezu sämtliche Gebiete in den wenigen nicht-europäischen Territorien, die die Deutschen besetzt hielten, waren von Muslimen bevölkert, und auch innerhalb von Europa, auf dem Balkan, festigte Berlin zunehmend seine Kontrolle über muslimisch besiedelte Gebiete. Eine wohl nicht minder bedeutsame Rolle spielte, dass die NS-Führung davon ausging, dass noch weitaus mehr Muslime unter deutsche Herrschaft geraten würden, wenn erst der islamische Gürtel zwischen den asiatischen und den europäischen Kriegsschauplätzen erobert war. Die Aussicht, in diesen Regionen Unterstützung durch die Muslime zu erhalten, wurde um so wichtiger, als für einen kurzen Zeitraum alles darauf hinzudeuten schien, dass dieser Gürtel zum entscheidenden Kriegsgebiet werden würde.

Aus strategischer Sicht waren Berlins Versuche, Muslime als Verbündete zu gewinnen, keinesfalls Teil längerfristiger Planungen, sondern waren vielmehr die Konsequenz des für die Achsenmächte zunehmend ungünstigen Kriegsverlaufs. Vereinfacht betrachtet können diese Bemühungen als Teil eines allgemeinen Umschwungs hin zu einer pragmatischeren Politik gesehen werden.1 Bis weit in das Jahr 1941 hinein ging man in Berlin davon aus, dass der Endsieg unmittelbar bevorstand. Die deutsche Politik war von langfristigen Zielen geleitet. Dies änderte sich jedoch nach dem Scheitern des Blitzkrieges im Osten, verdeutlicht durch die Niederlage von Moskau, und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten Ende 1941. In Berlin erkannte man nun, dass der Krieg nicht mehr rasch gewonnen werden konnte. Ende des folgenden Jahres führten dann die katastrophalen Niederlagen von Stalingrad und El-Alamein sowie der sich zuspitzende Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten zu einem Umschwung der deutschen Politik. Aus kurzfristigem militärischem Kalkül heraus bemühte sich das NS-Regime nun zunehmend, neue Verbündete zu gewinnen, wobei mit erstaunlichem Pragmatismus auch rassistische Bedenken beiseite geschoben wurden. Als die deutschen Verluste zunahmen und sich ein massiver Mangel an Soldaten abzeichnete, begannen sowohl die Wehrmacht als auch die SS, aus allen Teilen der besetzten Gebiete Freiwillige anzuwerben. Berlin begann eine europäischen Allianz gegen den Bolschewismus zu propagieren. Selbst in den Ländern, die am meisten unter den Deutschen gelitten hatten, wie etwa Polen oder die Sowjetunion, versuchten NS-Stellen nun Unterstützung für die Idee eines europäischen Kampfes gegen den Bolschewismus zu gewinnen. Eine weitere Facette dieser neuen Linie war Berlins Anti-Imperialismus-Politik. Das NS-Regime förderte nun zunehmend antikolonialistisch-nationalistische Führer und Bewegungen – etwa in Indien, im Irak und in Palästina. All diese Entwicklungen wurden von der sich verschlechternden Kriegslage bestimmt, waren also nicht primär von ideologischen Überlegungen geleitet. Berlins Bestrebungen, Muslime als Verbündete zu gewinnen, können als ein wichtiger Aspekt dieses neuen politischen Kurses verstanden werden.

Deutschlands Islampolitik zielte nicht nur darauf ab, muslimisch bevölkerte Frontgebiete zu kontrollieren, sondern auch darauf, hinter den feindlichen Linien für Unruhe zu sorgen. Dies galt vor allem für die südlichen Grenzregionen der Sowjetunion sowie für die Kolonialgebiete der Briten (und später des Freien Frankreich) in Afrika, dem Nahen Osten und in Asien.

Um Muslime für die deutsche Seite zu gewinnen, unternahm Berlin große Anstrengungen, den Islam zu instrumentalisieren. Durch eine umfangreiche Islampolitik und -propaganda sollten die muslimisch bevölkerten besetzten Gebiete kontrolliert, Muslime für die Wehrmacht und die SS angeworben und muslimische Gläubige in den Territorien und Armeen der Alliierten aufgewiegelt werden. Hierfür stellten die Deutschen islamische Institutionen und Führer in ihren Dienst. Berlins Propaganda nutzte religiöse Imperative, Rhetorik und Ikonographie, um einer Beteiligung der Muslime am Krieg religiöse Legitimität zu verleihen. Obwohl auch diese Politik wie viele andere Maßnahmen des NS-Regimes während der Kriegsjahre improvisiert und ad hoc waren, waren sie doch bemerkenswert kohärent.

Die Politik des NS-Regimes gegenüber Muslimen wurde von einer ganzen Reihe von Annahmen und Vorstellungen über den Islam geleitet. Häufig wurden Muslime – ungeachtet ihrer jeweiligen Frömmigkeit und ihrer unterschiedlichen Auffassungen vom Islam – auf ihre Glaubenszugehörigkeit reduziert. Die Begriffe »Islam« (bzw. »Mohammedanertum«) und »Muslim« (»Moslem«, »Mohammedaner« oder »Muselmane«) wurden in offiziellen Dokumenten zu festen bürokratischen Kategorien. Obwohl man sich in Berlin der Heterogenität und Komplexität der muslimischen Welt bewusst war, ließ man sich in der Praxis häufig von einer essentialistischen Vorstellung des Islam als einem einheitlichen Gebilde leiten. Am bedeutendsten dabei war die Vorstellung des Islam als politischer Macht und die Idee einer globalen islamischen Einheit: Vertreter des NS-Staates gingen gemeinhin davon aus, dass Religion und Politik in der »muslimischen Welt« eng miteinander verknüpft seien. Der Islam wurde als politische und häufig auch als militante Kraft angesehen. Darüber hinaus beruhte Berlins Politik auf der Annahme, der Islam könne für die eigenen politischen und militärischen Ziele instrumentalisiert werden. Der Islam schien ein verständliches, kohärentes religiöses Instrumentarium bereitzustellen, welches genutzt und manipuliert werden könne. Islamische Gebote, denen Muslime blind zu folgten schienen, wurden als eine ideale Grundlage zur Legitimierung von Macht und Autorität angesehen. Eine gut organisierte Islampolitik und -propaganda erschien daher als nützliches Instrument, um Muslime zu kontrollieren und zu mobilisieren. Außerdem herrschte in Berlin die Vorstellung, dass die muslimische Welt – oft war von der »moslemischen Welt«, der »mohammedanischen Welt« oder gar dem »Weltmuselmanentum« die Rede – eine undifferenzierte territoriale und politische Einheit bilde, eine Vorstellung, die sich auch in der geographischen Reichweite der deutschen Politik widerspiegelte. Am deutlichsten drückte sich diese Vorstellung in den Begriffen des »Weltislam«, »Weltmuselmanentum« und »All-Islam« aus, auf die man sich auf deutscher Seite immer wieder bezog. Dass diese Vorstellungen des Islam wiederholt mit den Realitäten in den muslimischen Kriegsgebieten kollidierten, kann kaum überraschen.2

Das vorliegende Buch untersucht die Islampolitik, mit der der NS-Staat – vor allem die Wehrmacht und die SS, aber auch das Auswärtige Amt, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete – versuchte, Muslime in den besetzten Gebieten und weltweit als Verbündete zu gewinnen. Es soll der Frage nachgehen, wie sich Berlins Islampolitik während des Krieges gestaltete und entwickelte. Gleichzeitig wird es die Vorstellungen über den Islam beleuchten, von denen sich die deutschen Stellen in Berlin und an der Front leiten ließen.

Das Buch befasst sich mit verschiedenen Ländern des muslimischen Gürtels – gewissermaßen aus transregionaler Sicht – von der Sahara über die Balkan-Halbinsel bis zu den südlichen Grenzregionen der Sowjetunion. Selbstverständlich werden dabei die unterschiedlichen religiösen und politischen Gegebenheiten in diesen Gebieten berücksichtigt.3 Die Deutschen waren zweifelsohne mit recht unterschiedlichen Formen des Islam konfrontiert – von Sufibewegungen im Maghreb über orthodoxere Formen des Islam der städtischen Ulama auf dem Balkan bis hin zu heterodoxen Strömungen an den südlichen Rändern der Sowjetunion. In den muslimischen Frontgebieten waren die deutschen Militär- und Besatzungsbehörden häufig mit hoch komplexen religiösen Bevölkerungsstrukturen konfrontiert, die auch muslimische Roma, jüdische Konvertiten zum Islam und jüdische Bevölkerungsgruppen umfassten, die seit Jahrhunderten stark vom Islam beeinflusst waren.

Die Begriffe »muslimische Welt« oder »islamische Welt« werden daher im Folgenden nur unter Vorbehalt verwendet – sie beziehen sich auf Regionen, in denen entweder eine muslimische Mehrheit oder signifikante Minderheiten lebten, ohne jedoch Homogenität, Einheit oder allgemeine Charakteristika zu unterstellen.

Es sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass sich dieses Buch vor allem auf die deutsche Islampolitik während des Zweiten Weltkrieges konzentriert. Es ist weder eine Sozialgeschichte muslimischen Lebens in den Kriegsgebieten noch eine Darstellung muslimischer Reaktionen auf das NS-Regime. Berücksichtigt werden allerdings die Reaktionen von Muslimen, die unmittelbar in die deutsche Islampolitik eingebunden oder von ihr betroffen waren (und die häufig durchaus auch eigene Ziele verfolgten).

Eine umfassende Studie der deutschen Islampolitik während des Zweiten Weltkriegs liegt bislang noch nicht vor. Insgesamt haben sich Historiker, wenn sie die Beziehungen NS-Deutschlands zur muslimischen Welt analysierten, eher auf geographische, nationale und ethnische, nicht so sehr jedoch auf religiöse Kategorien konzentriert. So existieren zahlreiche Studien über die NS-Politik in Nordafrika, im Mittleren Osten, auf dem Balkan, der Krim und im Kaukasus.4 Wissenschaftliche Untersuchungen der deutschen Politik im Mittleren Osten umfassen darüber hinaus biographische Studien zum Mufti von Jerusalem.5 Einige dieser regionalen und biographischen Untersuchungen gehen auch auf die Rolle des Islam ein.6 Vor allem Arbeiten über die arabische Welt und al-Husseini(2) verweisen auf die Bedeutung von Religionspolitik und religiöse Propaganda. Dieses Buch stützt sich auf diese regionalen und biographischen Studien. Es konzentriert sich auf die Rolle der Religion in der deutschen Politik gegenüber der muslimischen Welt. Geographisch behandelt es ein Gebiet von Nordafrika bis zum Nahen und Mittleren Osten und vom Balkan bis zur südlichen Sowjetunion. Es bietet damit erstmals ein zusammenhängendes, vollständiges Bild der Islampolitik des NS-Regimes, ein Bild, das weder von einer regional oder national beschränkten Studie (wie beispielsweise der deutschen Politik im Mittleren Osten oder auf dem Balkan) noch von Biographien (wie beispielsweise über den Mufti von Jerusalem) dargestellt werden kann. Das Buch ist ein Versuch, den Islam auf der politischen und strategischen Landkarte des Zweiten Weltkriegs zu verorten.

Damit trägt es zur allgemeineren Geschichte der deutschen Religionspolitik im Zweiten Weltkrieg bei. Zahlreiche Studien haben sich mit dem Verhältnis des NS-Staates zu christlichen Gruppen – Katholiken, Protestanten oder den orthodoxen Bevölkerungsgruppen – auseinandergesetzt, und es existieren unzählige Untersuchungen zur mörderischen Politik gegenüber Juden während des Zweiten Weltkriegs. Muslime hingegen, eine der bedeutendsten religiösen Gruppen in einigen Kriegsgebieten, blieben bislang eher unbeachtet.

Deutschland war nicht die einzige Macht, die durch eine geschickte Islampolitik versuchte, in der muslimischen Welt um Unterstützung zu werben. Japan und Italien, die beiden Achsenpartner Hitlers(3), unternahmen ähnliche Versuche, und während des Krieges traten dann nicht nur die Engländer, sondern auch die Amerikaner und Sowjets mit ihnen in Konkurrenz: Sie alle versprachen, den Islam zu verteidigen und die Gläubigen zu schützen. Bereits 1937 stellte sich Mussolini(1) als Schutzherr der muslimischen Welt dar, indem er bei einer öffentlichen Zeremonie in Tripolis mit einem juwelengeschmückten (in Italien hergestellten) »Schwert des Islam« auftrat.7 Er erklärte, Italien werde die »Gebote des Propheten« respektieren. »Mussolini(2) macht eine Reise durch Afrika und huldigt dabei dem Islam. Sehr klug und geschickt. Gleich aber sind Paris und London argwöhnisch«, notierte Goebbels(1) in seinem Tagebuch.8 Italien dehnte diese Islampolitik schließlich während des Krieges weiter aus. Von Nordfrika bis in den Nahen Osten glorifizierten italienische Propagandisten Mussolini(3) als »Beschützer des Islam«.

Einen noch umfassenderen Versuch, den Islam zu instrumentalisieren, unternahm Japan. Tokyos Islampolitik hatte vor allem das Ziel, Muslime in Asien gegen Großbritannien, die Niederlande, China und die Sowjetunion zu mobilisieren.9 Zwar können wie im Falle Italiens die Ursprünge dieser Politik bis in die späten 1930er Jahre zurückverfolgt werden – sowohl die staatliche Islam-Organisation (Dai Nippon Kaikyo Kyokai) als auch die Moschee in Tokio wurden 1938 gegründet –, doch erst während des Überfalls auf Niederländisch-Indien im Frühjahr 1942 intensivierte Japan seine Islampolitik und -propaganda. Von Tokyo entsandte muslimische Emissäre überzeugten islamische Führer, den Einfall japanischer Truppen zu unterstützen. Und nach dem Fall Niederländisch-Indiens bemühten sich die Japaner, für ihre Besatzungsherrschaft den Islam zu instrumentalisieren. So versuchten sie, die Ulama, die sich von den Holländern unterdrückt gefühlt hatten, als Verbündete zu gewinnen. Die japanischen Besatzungsbehörden drängten Imame dazu, vorgefertigte Texte in ihre Freitagspredigten zu integrieren, und forderten die Gläubigen auf, für den japanischen Kaiser und einen Sieg Japans zu beten. Schließlich zwangen sie islamische Führer in eine gemeinsame Organisation, den »Konsultativrat der Muslime Indonesiens« (Majlis Sjuro Muslimin Indonesia beziehungsweise Masjumi). Eine ähnliche Politik verfolgten die Japaner auch im besetzten Britisch-Malaya. Anfang April 1943 wurden die Ulama und islamische Würdenträger aus Sumatra und von der Malaiischen Halbinsel zu einer Konferenz in Singapur einbestellt, auf der die Japaner den Muslimen Südostasiens erklärten, dass Tokio der wahre Verteidiger ihres Glaubens wäre. Am Ende des Treffens drückten die Ulama in einer amtlichen Erklärung ihre Zufriedenheit darüber aus, dass Japan sich dem Schutz des Islam verschrieben hatte, und sicherten ihre Unterstützung im Krieg gegen die Allierten zu. Eine zweite Konferenz islamischer religiöser Führer organisierten die Japaner im Dezember 1944 in Kuala Kangsar auf der Malaiischen Halbinsel. Aus der japanischen Hauptstadt predigte der tatarische Imam (1)Abdurreshid Ibrahim (auch ‘Abd al-Rashid Ibrahim), sogenannter »Patriarch der Tokioter Moschee« und »angesehener Patriarch der muslimischen Welt«, eine kriegerische Interpretation des Dschihad. Im Sommer 1942 verkündete er: »Japan kämpft für eine heilige Sache im Großen Ostasiatischen Krieg, die in ihrer Strenge vergleichbar ist mit dem Krieg, den der Prophet damals gegen die Ungläubigen führte.«10

Die Alliierten sahen im Islam nicht nur eine potentielle Bedrohung, sondern auch ein wirkmächtiges Werkzeug politischer Kriegsführung. Winston Churchill(1) hatte islamische Bewegungen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert als junger Offizier während des Krieges in der Nordwestlichen Grenzprovinz Indiens und während des Mahdi-Aufstands im Sudan kennengelernt, und er nahm den islamischen Anti-Imperialismus sehr ernst.11 Anfang 1942 betonte er, Großbritannien dürfe es sich »auf gar keinen Fall mit den Muslimen verderben«, die eine große Macht innerhalb des Empire darstellten und einen gewichtigen Anteil innerhalb des britischen Militärs, vor allem in der Britisch-Indischen Armee, bildeten.12 In britischen Ministerien und im Militär wurde die Meinung des Premierministers weitgehend geteilt.13 Nach Kriegsausbruch hatte London zur Stärkung der Beziehungen zwischen dem Empire und der Welt des Islam weitreichende Maßnahmen ergriffen. 1941 wurde die East London Mosque eröffnet, und Churchills(2) Kriegskabinett beschloss, im Regent’s Park die London Central Mosque zu bauen, um so seinen Respekt vor dem Islam zu bekunden.14

Auch in Washington wurde man sich der Bedeutung des Islam bewusst. Bereits im November 1940 stellte eine große amerikanische Tageszeitung die bange Frage: »Wen werden die Muslime im europäischen Krieg unterstützen?«15 Als dann US-Truppen in muslimisch bevölkerten Gebieten landeten, bezog man in politische und propagandistische Überlegungen immer wieder den Islam mit ein. 1943 verteilte das US Office of Strategic Services (der Auslandsgeheimdienst) religiöse Flugblätter, die zum Dschihad gegen Rommels(1) Truppen in Nordafrika aufriefen.16 Das amerikanische Kriegsministerium unterwies seine Soldaten im korrekten Umgang mit Muslimen und verfasste Handbücher, in denen Grundlagenwissen über den Islam vermittelt wurde.

Selbst der Kreml, der in der Zwischenkriegszeit den Islam brutal unterdrückt hatte, änderte 1942 seine Politik und richtete vier sowjetische Muslim-Gremien ein.17 Neue Moscheen wurden gebaut, muslimische Kongresse organisiert, und Moskau begann, offiziell lang verbotene islamische Bräuche zu unterstützen; sogar die vor dem Krieg noch verbotene Hadsch nach Mekka wurde wieder erlaubt. Vom Zentrum des Zentralen Muslimischen Komitees in Ufa aus appellierte Stalins(1) »roter Mufti« Abdurrahman(1) Rasulaev(2) an die Muslime der Sowjetunion, sich gegen die nationalsozialistischen Feinde zur Wehr zu setzen und für den Sieg der Roten Armee zu beten. Dies war eine direkte Reaktion auf die deutschen Bemühungen, Muslime an den Südgrenzen der Sowjetunion gegen Moskau zu mobilisieren. Insgesamt bemühten sich die Alliierten in ihrer jeweiligen Islampolitik nicht nur darum, ein Gegengewicht zu den Versuchen der Achsenmächte herzustellen, in den eigenen von Muslimen besiedelten Gebieten und der weiteren islamischen Welt für Unruhe zu sorgen; sondern auch darum, die eigene muslimische Bevölkerung für den Krieg zu mobilisieren.

Die Geschichte der Islampolitik während des Zweiten Weltkriegs ist Teil der umfassenderen Geschichte von Versuchen westlicher Großmächte, den muslimischen Glauben für politische und militärische Zwecke zu instrumentalisieren. Im Zeitalter des Imperialismus versuchten die europäischen Großreiche immer wieder, die muslimischen Untertanen feindlicher Kolonialmächte aufzuwiegeln. Während des Krimkriegs versuchten etwa die Engländer, die Franzosen und die Osmanen, die Muslime auf der Krim und im Kaukasus aufzuhetzen.18 Einer der bedeutendsten Vorstöße in dieser Hinsicht waren jedoch die Versuche der Mittelmächte während des Ersten Weltkriegs, fromme Muslime zu mobilisieren.19 Im Herbst 1914 verkündete der Schaich al-Islam, oberste religiöse Autorität des Kalifats in Konstantinopel, im Auftrag der deutschen und osmanischen Machthaber einen pan-islamischen Dschihad gegen die Entente-Mächte. Der Aufruf wurde weltweit in osmanischem Türkisch, Arabisch, Persisch, Urdu und Tatarisch verbreitet. Während des Krieges unternahmen Berlin und Konstantinopel umfangreiche Anstrengungen, um, wie Wilhelm(1) II. es ausdrückte, »die ganze mohammedanische Welt … zum wilden Aufstande [zu] entflammen«.20 Deutsche und osmanische Propagandisten bedienten sich in Nordafrika, dem Mittleren Osten, Russland und Indien pan-islamischer Slogans und Netzwerke. Großbritannien, Frankreich und Russland reagierten mit je eigenen islampolitischen Strategien und Propagandavorstößen.21 Der Islam wurde als bedeutende politische Kraft wahrgenommen, die den Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen konnte.

Der amerikanische Wissenschaftler Dwight E. Lee schrieb im Jahr 1942: »Es hat tatsächlich ganz den Anschein, als habe es hinter oder neben dem Panislamismus immer das politische Kalkül einer europäischen Macht gegeben, deren Ziele und Interessen zum jeweiligen Zeitpunkt mit denjenigen des Islam oder eines bestimmten muslimischen Potentaten übereinzustimmen schienen.«22 Die Geschichte der Versuche, den Islam zu instrumentalisieren, mündete während des Kalten Kriegs in die Unterstützung islamischer antikommunistischer Bewegungen durch den Westen – eine Episode, die mit der Allianz mit den Mudschaheddin in Afghanistan endete, die von Washington nicht nur mit Stinger-Raketen, sondern auch mit Koranen beliefert wurden.23

Historiker haben ein zunehmendes Interesse an der Geschichte des Verhältnisses einzelner westlicher Großmächte zum Islam gezeigt. Der bei Weitem am besten erforschte Teil dieser Geschichte ist die deutsch-osmanische Dschihad-Politik während des Ersten Weltkriegs.24 Nicht nur Historiker des Ersten Weltkriegs stufen diese Kampagne als bedeutsam ein.25 Auch Islamwissenschaftler sehen in ihr eine entscheidende Phase der politischen Geschichte des Islam im zwanzigsten Jahrhundert.26 Im Unterschied dazu wurde der Zweite Weltkrieg vergleichsweise selten in den Blick genommen.27 Islam-Historiker, sofern sie sich der Frage überhaupt stellen, tendieren dazu, die Bedeutung der islamischen Welt während des Zweiten Weltkrieges herunterzuspielen. »Im Zweiten Weltkrieg spielte der Islam als solcher keine Rolle, obwohl muslimische Soldaten und Gruppen auf beiden Seiten kämpften«, so Jacob M. Landau in seinem Klassiker über die Geschichte des Pan-Islamismus.28 Die folgenden Kapitel zeigen, dass Berlins Islampolitik zwischen 1941 und 1945 mindestens ebenso umfassend und intensiv war wie zwischen 1914 und 1918. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg warben die Deutschen seit Ende 1941 sogar Tausende muslimische Soldaten an. Ingesamt stellt die Mobilisierung von Muslimen während der beiden Weltkriege ein bedeutendes Kapitel der politischen Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert dar.

Auf einer allgemeineren Ebene geht es in dieser Untersuchung auch um das Verhältnis zwischen Religion und Macht, genauer gesagt um die Rolle von Religionspolitik als Teil von Weltpolitik und militärischen Konflikten. Sie soll zeigen, wie Staaten zu politischen und militärischen Zwecken Religion instrumentalisierten. Versuche, religiöse Gruppen zu mobilisieren, gehörten während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts zu den gängigen politischen Strategien der Großmächte. Religiöse Gruppen – Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit definiert waren – wurden regelmäßig als politisch bedeutsam eingestuft. Großmächte präsentierten sich häufig als Schutzmacht bestimmter religiöser Gruppierungen, um weltweit politischen Einfluss zu gewinnen – um Territorien rivalisierender oder feindlicher Staaten zu destabilisieren und während militärischer Konflikte Territorien zu erobern und eroberte Gebiete zu kontrollieren. So positionierte sich etwa das zaristische Russland als Schutzpatron der orthodoxen Christen in Europa und im Mittleren Osten. Das imperialistische Frankreich erklärte sich zum Beschützer der Christen im Mittleren Osten. Das Osmanische Reich schwang sich zum globalen Verteidiger des Islam auf. Und verschiedene europäische Großmächte verkündeten regelmäßig, jüdische Minderheiten und islamische Bevölkerungsgruppen jenseits ihrer eigenen Grenzen zu verteidigen. Um die Unterstützung religiöser Gruppierungen zu gewinnen und sie für die eigenen politischen Ziele zu instrumentalisieren, nutzte man verschiedene Formen von Religionspolitik und -propaganda. Dieses Vorgehen basierte auf mehreren Grundannahmen. Religion wurde als Autoritätsquelle angesehen, mit der sich Großmachtpolitik legitimieren und sogar Gewalt rechtfertigen ließ. Menschengruppen wurden auf ihre Religionsangehörigkeit reduziert. Man ging davon aus, dass sie religiös waren und sich von einer klar definierten religiösen Lehre leiten ließen. Religiöse Gruppen wurden als geopolitische Objekte verstanden. Religionspolitik wurde so zu einem Teil der Großmachtpolitik.

Historiker haben diesem Phänomen bisher nur bedingt Aufmerksamkeit geschenkt. Während in der Forschung der Geschichte internationaler Beziehungen und Konflikte das Interesse an nichtstaatlichen Akteuren stark zugenommen hat, wuchs auch das Interesse an der Geschichte von Bevölkerungspolitik in Kriegen und Konflikten, also an politischen Maßnahmen, die auf ganze Bevölkerungsgruppen abzielten.29 Historiker haben sich dabei überwiegend auf Bevölkerungsgruppen konzentriert, die durch ethnische oder nationale Zugehörigkeit definiert waren.30 Sie haben gezeigt, dass ganze ethnische Gruppen – vor allem natürlich solche, deren Loyalität zum herrschende Regime als instabil galt – als politisch und strategisch bedeutsam eingestuft wurden; sie untersuchten die Methoden, mit denen Großmächte versuchten, diese Gruppen zu mobilisieren, und analysierten die Auswirkungen dieser Strategien, die sich häufig in ethnischen Spannungen niederschlugen. Weniger gut erforscht ist die Instrumentalisierung religiöser Bevölkerungsgruppen in Kriegen und Konflikten, mit Ausnahme des Dschihad des Ersten Weltkriegs.31 Wir wissen noch recht wenig über die konkrete Umsetzung von Religionspolitik und religiösen Propagandastrategien. Dabei eignet sich die Geschichte der islamischen Mobilisierungskampagnen, vor allem die Islampolitik Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs, ideal für das Studium religionspolitischer Strategien in Konflikt- und Kriegskontexten und kann ganz allgemein zu unserem Verständnis der Instrumentalisierung von Religion in weltpolitischen und militärischen Auseinandersetzungen beitragen.

Die folgenden Kapitel untersuchen, wie Vertreter des NS-Regimes Religion konzeptualisierten und für politische und strategische Ziele instrumentalisierten. Das Buch analysiert die deutsche Religionspolitik – also die Politik gegenüber religiösen Institutionen und religiösen Autoritäten – und Deutschlands Religionspropaganda – also die propagandistische Instrumentalisierung religiöser Themen, Sprache und Ikonographie. Der Frage nach der Rolle des Islam in NS-Politik und -Propaganda wird in drei Teilen nachgegangen: Allgemeine strategische und ideologische Debatten über den Islam in Berlin (Teil I); die deutsche Politik und Propaganda in muslimischen Gebieten, vor allem an der Ostfront, auf dem Balkan, in Nordafrika und im Mittleren Osten (Teil II); und die militärische Mobilisierung von Muslimen in den besetzten Gebieten durch Wehrmacht und SS (Teil III).

Der erste Teil befasst sich mit dem größeren Rahmen der deutschen Islampolitik während des Zweiten Weltkriegs. Er untersucht die Kontinuitäten zwischen der Islampolitik des NS-Staates und der des Kaiserreichs in den Kolonien vor 1914 sowie während des Dschihad im Ersten Weltkrieg. Er legt dar, wie der Islam in der Zwischenkriegszeit ein wichtiges Thema in den Debatten deutscher Außenpolitiker und Politikexperten blieb und wie er nach Kriegsausbruch 1939 zu einem zentralen Gegenstand außenpolitischer Strategieüberlegungen wurde. Das Kapitel untersucht allgemeine Grundsatzpapiere zur strategischen Rolle des Islam in der Weltpolitik sowie Diskussionen über die deutsche Islampolitik innerhalb des Auswärtigen Amtes, der Wehrmacht, der SS und des Ostministeriums. Oft waren diese strategischen Debatten eng mit ideologischen Vorstellungen vom Islam verknüpft, wie sie von NS-Ideologen und der NS-Führungsriege, darunter auch von Hitler(4) und Himmler(1), vertreten wurden.

Der zweite Teil des Buches untersucht die deutsche Islampolitik und -propaganda in den muslimisch bevölkerten Kriegsregionen, sowohl in den besetzten Gebieten als auch hinter den Frontlinien, vor allem an der Ostfront, auf dem Balkan, in Nordafrika und im Mittleren Osten. In den Kriegsgebieten schrieben deutsche Behörden dem Islam häufig eine gewichtige politische Rolle zu. Deutsche Soldaten wurden angewiesen, die religiösen Sitten und Gebräuche von Muslimen, mit denen sie in Kontakt kamen, zu respektieren. An der Ostfront wurden sogar die Wiedereröffnung von Moscheen, Madrassen und islamischer Stiftungen (sing. waqf) sowie die Wiedereinführung religiöser Feiertage und Feste angeordnet, um so die Sowjetherrschaft zu schwächen. Die deutschen Stellen machten außerdem ausgiebige Versuche, mit der Ulama in den Ostgebieten, auf dem Balkan und in Nordafrika zu kooperieren. Der zweite Teil des Buches beleuchtet darüber hinaus, wie deutsche Propaganda-Stellen den Islam in muslimischen Kriegsgebieten instrumentalisierten, sowohl in den besetzten Frontgebieten als auch, wichtiger noch, in den von den Alliierten kontrollierten Gebieten.

Der dritte und letzte Teil des Buches befasst sich mit muslimischen Soldaten, die in der Wehrmacht und der Waffen-SS kämpften. Ab dem Jahr 1941 rekrutierten Wehrmacht und SS Zehntausende Muslime. Muslimische Soldaten wurden in Einheiten wie den muslimischen Ostlegionen der Wehrmacht, dem arabischen Kontingent der Wehrmacht, dem Ostmuselmanischen Waffenverband der SS und islamischen SS-Formationen auf dem Balkan organisiert. Der dritte Teil befasst sich vor allem mit der Rolle des Islam bei der Rekrutierung, der Betreuung und der propagandistischen Indoktrination dieser Soldaten. Er zeigt, dass die deutschen Stellen den Muslimen weitgehende religiöse Zugeständnisse machten: Religiöse Feiertage und Praktiken wie etwa das Gebet oder das Schächten wurden gestattet. Sowohl die Wehrmacht als auch die SS führten spezielle politisch-religiöse Erziehungsprogramme für muslimische Soldaten ein. Zur propagandistischen Beeinflussung der Soldaten wurden Flugblätter, Broschüren und Zeitungen eingesetzt. Eine besondere Rolle in den Einheiten spielten Militärimame, die nicht nur für die religiöse Betreuung der Rekruten, sondern auch für deren politische Indoktrination verantwortlich waren.

Das Buch basiert auf deutschen, englischen, französischen, bosnischen (serbo-kroatischen), albanischen, arabischen, persischen und tatarischen Quellen aus über dreißig Lokal- und National-Archiven in vierzehn Ländern, unter anderem aus Beständen in Berlin, Freiburg, Koblenz, Frankfurt, München, Stuttgart, Köln, Bonn, Leipzig, Wien, Washington, London, Paris, Moskau, Warschau, Prag, Riga, Simferopol, Zagreb, Sarajevo, Tirana und Teheran. Häufig war es recht mühsam, die Geschichte der deutschen Islampolitik zu rekonstruieren. Das liegt nicht nur daran, dass die entsprechenden Quellen über unterschiedliche Archive und Bibliotheken verteilt sind. In den relevanten Beständen gibt es gewöhnlich keine Akten zum Thema »Islam«. Unter beträchtlichem Zeitaufwand wurden daher zahllose allgemeine Akten durchgesehen, in denen einzelne Schriftstücke zur deutschen Islampolitik vermutet werden konnten. Häufig ergeben Hinweise auf den Islam in einzelnen Quellen aus diesen allgemeinen Akten allein wenig Sinn und werden erst im Zusammenhang verständlich. Nach und nach zeichnete sich so ein umfassendes Bild ab, welches zeigt, dass Berlin während des Zweiten Weltkriegs einen beachtlichen und häufig bemerkenswert koordinierten Versuch unternahm, Muslime als Verbündete zu gewinnen und den Islam zu instrumentalisieren.

I. Muslime in der Kriegspolitik

1. Ursprünge

Am 25. Juli 1940 schickte der pensionierte Diplomat Max von Oppenheim(1) ein siebenseitiges Memorandum über die Aufwiegelung der islamischen Bevölkerung in den feindlichen Territorien an das Auswärtige Amt.1 Es sei an der Zeit, so Oppenheim(2), eine groß angelegte Strategie zur Mobilisierung der islamischen Welt gegen das Britische Empire zu entwickeln. In Zusammenarbeit mit einflussreichen religiösen Würdenträgern wie dem pan-islamischen Führer Shakib Arslan(1) und dem Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini(3) sollte im gesamten muslimischen Korridor von Ägypten bis Indien Unruhe gestiftet werden. Der achtzigjährige Oppenheim(3) wusste, wovon er sprach. Wenige hatten die Islampolitik des späten Kaiserreichs so entscheidend geprägt wie er.

Oppenheim(4) war Jurist und beherrschte mehrere Sprachen des Mittleren Ostens fließend. Immer wieder war er durch Afrika und den Vorderen Orient gereist.2 1896 wurde er vom Auswärtigen Amt angeworben und arbeitete zwölf Jahre lang in Kairo, wo er die politischen Entwicklungen innerhalb der muslimischen Welt beobachtete. Der Mahdi-Aufstand im Sudan hatte ihn von der politischen Macht des Islam überzeugt. Oppenheim(5) hatte auch zahlreiche Kontakte zu islamischen Führern unterhalten. Er hatte mit dem jungen Shakib Arslan(2) und prominenten islamischen Reformern wie Muhammad ‘(1)Abduh politische und religiöse Fragen diskutiert. Selbst mit dem osmanischen Sultan Abdülhamid(1) II. hatte er sich über das Thema des Pan-Islamismus ausgetauscht, welchen die Hohe Pforte als Chance wahrnahm, um sich sowohl innerhalb als außerhalb des osmanischen Herrschaftsbereichs Unterstützung zu sichern. Wilhelm(2) II. las persönlich Oppenheims(6) politische Berichte über die muslimische Welt.

Die Islampolitik des Kaiserreichs

Deutsche Staatsorgane befassten sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend mit dem Islam. Das Kaiserreich herrschte in seinen Kolonien – in Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika – über beträchtliche muslimische Bevölkerungsgruppen. In diesen Territorien waren die deutschen Kolonialherren von Anfang an bestrebt, religiöse Strukturen zur Festigung ihrer Herrschaft zu nutzen.3 Man ließ lokale islamische Institutionen intakt, solange die muslimischen Führer den Kolonialstaat akzeptierten. Scharia-Gerichte, Waqf-Stiftungen und Koranschulen blieben unangetastet und islamische Feiertage wurden anerkannt. Deutsche Kolonialbeamte und -militärs herrschten mit Hilfe muslimischer Würdenträger und islamischer Geistlicher, die im Gegenzug der Kolonialherrschaft Legitimität verschafften. In den Augen deutscher Kolonialbeamter und -militärs, die sich häufig auf isolierten Posten befanden und vor allem bestrebt waren, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten und Aufstände zu verhindern, erwies sich diese Politik der indirekten Herrschaftsausübung als hoch effektiv. Erst nach der Jahrhundertwende griffen sie vermehrt in das soziale und politische Leben in den islamischen Gebieten ein und wandten sich nun mitunter auch gegen religiöse Führer, die nicht zur Kooperation bereit waren. Deutsche Truppen bekämpften Mahdi-Aufstände in Nord-Kamerun (1907) und Unruhen, die durch die sogenannten Mekka-Briefe in Togo (1906) und Deutsch-Ostafrika (1908) entfacht worden waren.4 Im Großen und Ganzen jedoch beeinflussten diese Konflikte die deutsche Kolonialpolitik kaum. Die deutschen Kolonialherren betrachteten den Islam auch weiterhin als ein effizientes Istrument sozialer und politischer Kontrolle (Abb. 1.1).

Abb. 1.1 Muslimische Polizisten mit Fez in der deutschen Kolonie Kamerun, 1891 (BPK).

Der zunehmende Kontakt zu muslimischen Bevölkerungsgruppen in den Kolonien führte dazu, dass Kolonialbeamte, -Militärs und -Experten den Islam mehr und mehr als politische Kategorie wahrnahmen und diskutierten.5 In Berlin wurden nun die Grundlinien deutscher Islampolitik besprochen. Auf den Tagesordnungen der großen Kolonialkongresse standen der Islam und die koloniale Muslimpolitik regelmäßig an oberster Stelle. Eine wichtige Rolle in diesen Diskussionen spielten auch Islamwissenschaftler. Hatten sie sich zuvor primär mit der Erforschung des klassischen Islam befasst, so begannen sie jetzt die zeitgenössische muslimische Welt zu studieren und sich in die Diskussionen um die Islampolitik des Kaiserreichs einzumischen. Orientalisten wie Carl Heinrich Becker(1), der am neu gegründeten Deutschen Kolonialinstitut in Hamburg unterrichtete, sowie Martin Hartmann(1) und Diedrich Westermann(1), beide Professoren in Berlin, stellten ihr Wissen in den Dienst der Politik. Kurz nach der Jahrhundertwende unterstützte das Reichskolonialamt mehrere große Forschungsprojekte zum Islam in den Kolonien. Sie sollten die Ausbreitung des Islam, seinen sozialen und politischen Einfluss, sein Bedrohungspotential für die deutsche Kolonialherrschaft und die Beziehungen der Muslime zur größeren islamischen Welt untersuchen. Die drei wichtigsten Studien wurden 1908 von Becker(2),6 1911 von Hartmann(2)7 und 1913 von Westermann(2)8 erstellt, wobei nur Westermann(3) seine Ergebnisse auch veröffentlichte. Ein bedeutendes Forum für Diskussionen zur kolonialen Islampolitik wurde die 1912 gegründete Deutsche Gesellschaft für Islamkunde und ihr Periodikum Die Welt des Islams. Zwei Jahre zuvor war die Fachzeitschrift Der Islam des Deutschen Kolonialinstituts ins Leben gerufen worden, welche eine weitere Plattform für Debatten zur deutschen Islampolitik bot.

Die meisten deutschen Orientalisten unterstützten die Ausnutzung islamischer Strukturen in den Kolonien. Im Unterschied zu afrikanischen animistischen Religionen, die als wild und barbarisch abgetan wurden, sah man im Islam einen zivilisierten Glauben, der klar durch ein System von Regeln strukturiert war, die studiert, verstanden und benutzt werden konnten. Der bekannteste Befürworter einer auf der aktiven Ausnutzung des Islam beruhenden Kolonialpolitik war Carl Heinrich Becker(3).9 Becker(4) sah im Islam weniger eine Bedrohung für den Kolonialstaat als ein Instrument, um in den deutschen Gebieten in Afrika Stabilität und Ordnung herzustellen. Becker(5) war überzeugt, dass durch eine kluge Kolonialpolitik die »Gefahr des Islam« völlig verschwinden würde. Religiöse Institutionen sowie religiöse Führer, Wanderprediger und Pilger müssten streng überwacht werden, doch das islamische Gesetz, die Madrassen und die frommen Stiftungen sollten formal anerkannt und in den Kolonialstaat eingebettet werden. Becker(6) hatte beachtlichen Einfluss auf die Politik Berlins. Seine Auffassungen wurden von anderen Wissenschaftlern, unter ihnen auch Diedrich Westermann(4), geteilt.10 Nur eine kleine Minderheit von Experten, allen voran Martin Hartmann(3), sprach sich gegen eine Instrumentalisierung des Islam in den Kolonien aus.11 Hartmann(4)12