Petra Ivanov

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Petra Ivanov

Thriller

Appenzeller Verlag

Für Aljoscha

9:25

Lily ist weg. Ich starre auf die leere Nische. Versuche zu kapieren, was ich sehe.

Nichts.

Das Nichts befindet sich zwischen der Batterie-Abgabestelle und den ineinander geschobenen Einkaufswagen neben dem Ladeneingang. Genau dort, wo Lilys Kinderwagen stehen sollte. Vor zehn Minuten habe ich ihn hier parkiert. Auf dem Kunststeinboden sehe ich die Spuren der nassen Räder. Neben mir schüttelt eine alte Frau ihren Schirm aus. Ein braunes Blatt klebt an ihrem Regenmantel. Ich weiss nicht, warum mir das auffällt.

«Ja mängisch hock i stundelang im dschungel», tönt es aus meinen Kopfhörern. Vermutlich dachte Phenomden an einen Supermarkt, als er den Song schrieb. In Scharen strömen die Leute durch die Drehtür, drängen sich vor, schneiden einander mit ihren Einkaufswagen den Weg ab. «Will i mängisch gar nüme checke, was all lüüt wänd, nei», singt Phenomden weiter. Volltreffer.

Normalerweise schlägt mein Herz im Reggaerhythmus. Doch als ich begreife, was das Nichts vor mir bedeutet, legt es ein gewaltiges Solo ein. Ich schiebe die Kopfhörer von den Ohren. Ein Gewirr von Stimmen umgibt mich. Der Lautsprecher verkündet, dass Bananen Aktion seien.

Lily mag Bananen. Sie schiebt alles in den Mund, was sie zwischen die Finger bekommt. Wenn es ihr schmeckt, macht sie ein schmatzendes Geräusch und beginnt zu schielen, als versuche sie, sich selbst in den Mund zu schauen. Einmal habe ich sie vor einen Spiegel gesetzt, damit sie den Brei sieht, der ihr aus dem Mund quillt. Aber sie hat nur mit der Hand gegen das Glas gepatscht.

Ich finde Babys nicht besonders toll. Sie können total laut sein und haben keine Stoptaste. Dass ich mit achtzehn eine kleine Schwester bekommen habe, hat mich ziemlich überrascht. Meinen Vater auch. Ich lebe seit zwei Jahren bei ihm. Aufgewachsen bin ich bei meiner Mutter. Ich war etwa sieben, als sich meine Eltern trennten. An die Zeit davor erinnere ich mich kaum. Ich weiss nur noch, dass dicke Luft herrschte. Ich meine, richtig dicke. Da war etwas. Es fühlte sich an wie das Gegenteil von dem Nichts, das ich jetzt anstarre.

Ich reibe mir die Augen. Es ist beschissen früh. Normalerweise schlafe ich um diese Zeit, zumindest wenn ich frei habe. Plötzlich geht mir ein Licht auf. Das muss ein Traum sein! Ich bin gar nicht mit Lily einkaufen gegangen – ich schlafe noch. Erleichtert greife ich nach den Kopfhörern. Mitten in der Bewegung halte ich inne. Das Nichts starrt mich vorwurfsvoll an.

Es ist kein Traum. Lily war hier.

Jetzt ist sie weg.

Als Adoda heute Morgen um halb acht Uhr gegen die Tür polterte, schlief ich tief. Adoda ist mein Vater. Eigentlich heisst er Bruno, aber niemand nennt ihn so. Adoda bedeutet Vater in der Sprache der Cherokee-Indianer. Wenn ich Kollegen erzähle, dass ich von Indianern abstamme, reissen sie Witze, fragen mich, wo meine Federn geblieben seien. Als würden die Cherokee in Federschmuck und Lendenschurz herumlaufen. Meine Grossmutter trägt ganz normale Kleider. Sie wohnt auch nicht in einem Tipi, sondern in einem Haus in den USA.

Erwachsene lassen meistens Bemerkungen über meine schwarzen Haare und dunklen Augen fallen. Sie erklären, dass sie mich für einen Asiaten hielten, trotz meiner 1.84 Meter. Auch Lily hat schwarze Haare. Sie stehen ihr vom Kopf ab wie Schnittlauch. Ihre Augen sind aber blau wie der Herbsthimmel, wenn ausnahmsweise mal kein Hochnebel über dem Mittelland liegt.

Mein Vater weckt mich nie. Meistens ist er weg, wenn ich aufstehe. Er ist Bulle. Ohne Tomahawk, dafür mit einer Heckler & Koch. Es dauerte einen Moment, bis mir heute Morgen klar wurde, was er um halb acht von mir wollte. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber seine Worte drangen nicht zu mir durch. Sie blieben mir in den Ohren stecken. Er riss mir die Decke weg, öffnete die Fenster und drückte mir etwas in die Arme. Es fühlte sich wie eine Bettflasche an, warm und weich, nur, dass es sich bewegte. Eine Hand schnellte hervor und landete auf meinem Gesicht. Sie gehörte Lily.

Dann war der Platz neben meinem Bett leer. Ich hörte Schritte in der Küche, mein Vater rief mir etwas zu, das ich nicht verstand. Ein vertrautes Klappern liess mich aufhorchen. Er befestigte seine Handschellen am Gürtel! Was das bedeutete, wusste ich ganz genau: Die Einsatzzentrale hatte angerufen und ihn aufgeboten. Ich stöhnte laut. Lily sah mich verwundert an und begann zu plappern. Rasch setzte ich mich auf. Lily rollte von meinem Bauch und landete auf der zerknüllten Decke. Ich liess sie dort liegen und sprang aus dem Bett. Mein rechter Fuss landete in einer leeren Pizzaschachtel. Ich kickte sie zur Seite und eilte aus dem Zimmer.

Zu spät. Mein Vater war weg. Auf dem Küchentisch fand ich eine Nachricht: «Bin in einigen Stunden zurück. Keine Windeln mehr.» Eine abgegriffene Zwanzigernote lag neben einer leeren Windelpackung. Ich starrte auf die Notiz, die mir mein erstes freies Wochenende seit Ewigkeiten versaute. Als Kochlehrling musste ich oft samstags und sonntags arbeiten. Dieses Wochenende hatte ich eine ganze Menge los.

Im Schlafzimmer heulte Lily. Ihre Stimme hatte auf mich dieselbe Wirkung wie Fingernägel auf einer Wandtafel. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es nützte nichts. Seufzend stand ich auf. Lily lag mit dem Gesicht nach unten und versuchte, sich zu drehen. Ich setzte sie auf und schob ihr ein Kissen in den Rücken. Sie kippte immer wieder zur Seite. Erst als ich aus meinen Schulbüchern und einem verstaubten Lautsprecher zwei Stützen gebaut hatte, blieb sie sitzen. Ich schloss die Fenster und löschte das Licht. Dann schaltete ich den Fernseher ein. Sofort wurde Lily still.

Ich kroch ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Endlich Ruhe. Aber schon nach wenigen Minuten begann Lily, komische Geräusche von sich zu geben. Sie klang wie ein ferngesteuertes Auto, dem die Batterie ausgeht. Sie heulte ein bisschen auf, wurde still, knatterte laut und verstummte endgültig. Da wehte ein furchtbarer Geruch zu mir herüber. Nicht einmal die Decke über dem Kopf schützte mich davor. Ich versuchte, mir einzureden, dass es nur Luft sei. Babys furzen doch auch, oder? Als sich der Gestank nicht verflüchtigte, öffnete ich vorsichtig die Windeln. Mir wurde beinahe übel. Lily sass voll in der Scheisse. Sie grinste wie für einen Werbespot und trommelte auf dem Lautsprecher herum. Staubflusen tanzten in der Luft. Plötzlich musste sie niesen. Eine weitere Duftwolke wehte in meine Richtung.

Ich hatte Lilys Windeln noch nie selber gewechselt, aber bei meinem Vater sah das ganz leicht aus. Er setzte Lily meistens in die Badewanne, zog ihr die Sachen aus und hielt sie unter den Wasserhahn. Mir kam in den Sinn, dass die Windeln ausgegangen waren. Ich könnte so tun, als wäre nichts. Ich würde erklären, ich hätte den Gestank nicht bemerkt. Aber dann müsste ich die nächsten Stunden neben Lily ausharren. Mir war jetzt schon ziemlich flau im Magen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als einkaufen zu gehen. Ächzend fischte ich ein Paar Jeans aus einem Kleiderhaufen am Boden, holte einen Energydrink aus dem Kühlschrank und schob mir die Zwanzigernote in die Hosentasche. Ich sah nicht ein, warum ich überhaupt auf Lily aufpassen sollte. Schliesslich habe ich sie nicht gemacht.

Kurz überlegte ich, alleine zum Supermarkt zu laufen. Lily mitzunehmen, war umständlich. Was aber, wenn mein Vater inzwischen zurückkehrte? Er wäre stinksauer. Ich spürte seine Wut, als stünde er direkt vor mir. Viele fürchten sich vor ihm. Er ist breit wie eine Tiefkühltruhe und manchmal genauso kalt. Aber das macht mir nichts aus. Es sind seine Augen, die mir Angst einjagen. Er braucht mich nur anzusehen, und schon fühle ich mich wie ein aufgespiesster Schmetterling.

Ich klemmte mir Lily unter den Arm, packte mit der freien Hand den Kinderwagen und schleppte beide die Treppe hinunter. Mein Magen knurrte.

Draussen in der Kälte erholte sich meine Nase wieder. Nebel hüllte das Quartier ein, so dass die Umrisse der Gebäude verschwammen. Das gab mir ein gutes Gefühl, fast, als wäre ich auch in eine Decke eingehüllt. Ein Velofahrer tauchte aus dem Nebel auf und sauste an mir vorbei. Ich schaltete meine Musik ein und atmete tief durch. Mit Reggae in den Ohren waren verschissene Windeln nur noch halb so schlimm.

Das Nichts ist immer noch da. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier stehe und darauf starre. In einer Hand halte ich die Packung Windeln, die ich gekauft habe, mit der anderen streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. Egal, wie oft ich blinzle, Lily bleibt weg.

«Söll i ga, söll i bliibe, z zweite oder ällei?», singt Phenomden. Woher weiss er, was mir durch den Kopf geht? Wie kommen die Kopfhörer überhaupt wieder auf meine Ohren?

Ich versuche zu überlegen, doch mein Gehirn macht nicht mit. Ich schwebe zwischen Wirklichkeit und Traum. Ein Teil von mir will nicht begreifen, was meine Augen sehen. Vielleicht versteckt sich Lily irgendwo. Sie mag es, wenn Sachen verschwinden und wieder auftauchen. Manchmal verbirgt sich mein Vater hinter einer Zeitung. Dann reisst Lily die Augen auf, doch bevor sie losheulen kann, guckt er hervor und verzieht das Gesicht zu einer witzigen Grimasse. Lily ist jedesmal total überrascht. Ich auch. Nicht, weil er wieder da ist, sondern weil ich gar nicht gewusst habe, dass mein Vater den Clown spielen kann.

Ganz ist mein Gehirn wohl doch nicht ausgeschaltet, denn mir ist klar, dass Lily nicht alleine verschwunden ist. Sie kann nicht einmal gehen. Also hat sie jemand anderswo parkiert. Vielleicht hat sie zu sehr gestunken. Ich drehe mich im Kreis und suche den Laden mit den Augen ab. Es wimmelt von Menschen.

Lily ist nicht unter ihnen.

Meine Finger greifen nach dem Zigarettenpäckchen in meiner Gesässtasche. Bevor ich nach draussen gehe, schaue ich bei den Toiletten nach. Ausser einer Kopiermaschine ist dort nichts. Es hat zu regnen begonnen. Der Himmel sieht aus wie ein Betondach. Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen.

Kein einziger Kinderwagen steht unter dem Vordach. Rufen würde nichts nützen. Lily kann nicht antworten, sie begreift nicht einmal, dass sie Lily heisst. Lily June, genau genommen, aber niemand sagt ihr so. Mein Vater nennt sie Junebug, was auf Deutsch Junikäfer heisst. Ein Junikäfer ist eigentlich ein Schädling, der sich an Menschen festhakt, weil er sie für Bäume hält.

Ich nehme einen tiefen Zug von meiner Zigarette. Das Nikotin besänftigt meine flatternden Nerven. Doch dann meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich denke an amputierte Raucherbeine und zugeteerte Lungen. Kommt davon, wenn man eine Ärztin zur Mutter hat. Eigentlich ist sie Psychiaterin, aber vorher hat sie Medizin studiert. Mam erklärt mir immer wieder, dass Tabak nicht beruhigt. Er putsche sogar auf, sagt sie. Aber weil ein Raucher nikotinabhängig ist, reagiert er mit Entzugserscheinungen, wenn er zu lange nicht qualmt. Man wird zum Beispiel unruhig. Das Ganze ist eigentlich ziemlich schräg. Tabak bringt die Unruhe zum Verschwinden, die ohne Rauchen gar nicht erst da wäre. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das kapiert habe. Trotzdem schaffe ich es nicht aufzuhören.

Jetzt sind meine Nerven aber nicht nur wegen des Nikotinmangels ziemlich angespannt. Lilys Verschwinden macht mich viel nervöser. Wer klaut schon ein Baby? Noch dazu ein stinkendes?

Ich beschliesse, eine Runde um das Gebäude zu drehen. Als mir der Regen in den Kragen tropft, kommt mir in den Sinn, dass ich Lily keine Mütze übergestülpt habe. Ich beschleunige meine Schritte, spähe hinter einen Container, zwischen zwei parkierte Autos, öffne die Tür eines Wareneingangs.

«Ha si gsuecht, und ich ha si nöd gfunde», singt Phenomden. Langsam wird mir der Typ unheimlich.

Als ich wieder beim Ladeneingang ankomme, gehe ich nochmals hinein. Irgendwie hoffe ich immer noch, dass ich Lily einfach übersehen habe. Aber das Nichts starrt mich genauso vorwurfsvoll an wie zuvor. Allmählich dämmert mir, dass ich nicht träume.

Lily ist verschwunden.

Meine Knie werden weich. Plötzlich stürzen Bilder auf mich ein: Schlagzeilen über vermisste Kinder; rot-weisses Absperrband, wenn eine Leiche gefunden wird. Fotos von verhafteten Kidnappern mit schwarzen Balken über den Augen. Alles um mich herum dreht sich. Ich lehne mich gegen die Wand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Jemand packt mich am Arm.

Es ist ein Security-Angestellter, der mich rausbefördert. Er hält mich für einen Junkie. Als er mich loslässt, stolpere ich und stosse mit dem Knie an einen Betonpfeiler. Der Schmerz jagt mir das Bein hoch. Humpelnd entferne ich mich vom Ladeneingang, unsicher, wo ich hin soll. Die Welt erscheint mir plötzlich riesig, Lily darin zu finden, unmöglich.

Die Kirchenuhr schlägt Viertel vor zehn. Sie hört nicht auf, als kündige sie den Weltuntergang an. Ich fühle mich wie in einem billigen Horrorstreifen, bis mir klar wird, dass es mein Handy ist, das läutet, nicht mehr die Kirchenglocken. Das Display zeigt einen unbekannten Teilnehmer an.

«Chris Cavalli?», fragt eine tiefe Stimme.

Ich murmle zustimmend.

«Ich habe deine Schwester!»

«Lily?», krächze ich, als hätte ich mehrere Schwestern.

«Wenn du sie lebend wieder haben willst, hör mir genau zu.»

9:48

Was er mir sagt, ist so ungeheuerlich, dass ich mich auf den Randstein setzen muss. Meine Hosen haben sich mit Wasser voll gesogen, sie kleben mir an der Haut.

Ich habe Mist gebaut.

Mir kommt eine Geschichte in den Sinn. Das passiert mir oft. Geschichten helfen mir, Dinge zu verstehen. Vielleicht habe ich das von meinen Vorfahren geerbt. Indianer verpacken alles in Geschichten. Mein Vater hat mir früher dauernd welche erzählt. Diese handelt von einem alten Cherokee, der an einem kalten Herbsttag einen Pass überquert. Als er die Passhöhe erreicht, sieht er eine Klapperschlange neben dem Weg liegen. Sie ist ganz starr vor Kälte. Der Alte hat Mitleid mit ihr und schiebt sie unter sein Hemd, um sie zu wärmen. Als er ins Tal hinuntersteigt, wacht sie auf. Statt sich zu bedanken, beisst sie ihn. Der Alte zieht sie hervor und fragt, warum sie das getan habe. Schliesslich habe er ihr das Leben gerettet. Da sagt die Schlange: «Du wusstest, dass ich eine Klapperschlange bin, als du mich aufgehoben hast.»

Ich habe auch eine Klapperschlange aufgehoben. Ich habe mich mit einem Typen eingelassen, obwohl er gefährlich ist. Eine richtig üble Schlange. Und jetzt hat sie mich gebissen.

Der Einzige, den ich um Hilfe bitten kann, ist Leotrim. Er hat keine Angst vor Schlangen. Ich glaube, er hat vor überhaupt nichts Angst. «Trim» heisse auf Albanisch «mutig», hat er mir einmal erzählt. In letzter Zeit habe ich Leo nicht viel gesehen. Seit er mit Nicole zusammen ist, hat er keine Zeit mehr. Trotzdem weiss ich, dass er mir helfen wird. Leo lässt seine Freunde nicht hängen.

Mühsam stehe ich auf und gehe zur Bushaltestelle. Ich wohne am Arsch der Welt. Ich muss mit dem Bus zur Endhaltestelle fahren und dann mit dem Tram die ganze Stadt durchqueren. Leo wohnt in der Nähe des Hotels, in dem ich arbeite. Normalerweise ist mir der lange Weg egal. Wenn der Bus den Berg hinunterrollt, vibriert er sanft; da schlafe ich regelmässig ein. Aber jetzt bin ich zu nervös, um abzudriften. Nicht einmal der Reggae-Beat entspannt mich.

Ich sag mir, dass nichts schiefgehen kann. Leo muss mir nur etwas Kohle leihen, dann krieg ich Lily wieder. Das hat mir die Schlange vorhin am Telefon erklärt. Leo weiss, dass ich das Geld zurückzahle. In einer Stunde ist alles vorbei. Mein Vater wird nie etwas davon erfahren. Zum Glück kann Lily noch nicht reden.

Der Bus biegt in die Endhaltestelle ein. Das Tram wartet schon. Bevor ich einsteige, zünde ich mir noch eine Zigarette an. Es ist kein guter Zeitpunkt, um ans Aufhören zu denken. Ich kann nur eine Herausforderung aufs Mal bewältigen. Mein Magen knurrt erneut, doch nach Essen ist mir nicht.

Die Türen des Trams gehen zu. Das Licht hinter der Fahrerkabine beginnt zu blinken. Rasch lasse ich die Zigarette fallen und laufe los, doch es ist zu spät. Das Tram fährt mir direkt vor der Nase ab. Ich bücke mich, um die halbgerauchte Zigarette aufzuheben, doch sie ist in eine Pfütze gefallen und erloschen.

«Gsehne d lüüt, wie si ränned, trotzdem sind si z spat.» Ich schliesse die Augen und höre Phenomden zu. Seine Stimme trägt mich weit weg, irgendwann hört mein Herz auf, wie irre zu hämmern.

Mit einem Quietschen fährt das nächste Tram ein. Diesmal warte ich drinnen, bis es losfährt. Hinter mir hievt eine Frau einen Kinderwagen hinein. Sofort bricht mir der Schweiss aus. Ich schliesse wieder die Augen.

Leo schläft noch, als ich klingle. Das ist ungewöhnlich. Meistens muss er am Wochenende für seinen Vater Sachen ums Haus herum erledigen oder seine Schwester irgendwohin begleiten. Julie ist zwar schon 16, trotzdem darf sie nicht alleine weg. Sie öffnet mir die Tür und bittet mich herein. Sie sieht ein bisschen wie ein Kolibri aus, nicht nur wegen der pinkfarbenen Haarsträhne und dem gelben Pullover. Ihre Bewegungen sind ruckartig, und wenn sie spricht, beendet sie ihren Satz immer einige Töne höher, als sie ihn begonnen hat. Nur ihre Hände sind ruhig. Seit sie ins Gymnasium geht, kaut sie nicht mehr auf ihren Fingernägeln herum.

«Willst du etwas trinken?», zwitschert sie. «Leo wird gleich aufstehen. Wir wollten zusammen in die Stadt. Ich brauche Stoff für ein Kleid. Hat er es dir schon erzählt? Sag mal, was ist eigentlich mit dir passiert? Bist du in eine Pfütze gefallen?»

Ich brauche nicht zu antworten, sie wird auch so weiterreden. Ich folge ihr in die Küche, wo sie mir ein Glas Cola einschenkt.

«Er macht bei einem Tanzevent mit! Deshalb wurde es gestern so spät. Leo und Nic üben die ganze Zeit, es ist absolut wahnsinnig! Und ich nähe die Kleider, die sie tragen werden. Wenn du mir vor …»

Ich blende ihre Stimme aus. Draussen vor dem Küchenfenster strömt der Regen herunter, eine richtige Wasserfront. Nachdem ich das Glas Cola geleert habe, gehe ich zu Leos Zimmer. Ich stosse die Tür auf, ohne anzuklopfen. Hinter mir feuert Julie so viele Wörter aufs Mal ab, dass sie sich in meinen Gehirnwindungen verfangen.

Die Rollladen sind nicht ganz zu. Im schwachen Licht sehe ich Leo, der schläft wie ein Stein. Trotzdem bewegt er sich dauernd. Das liegt wohl in seiner Familie, wie Geschichten in meiner. Mein Blick fällt auf die XBox, die in einer Ecke steht. Früher haben wir ganze Nächte lang durchgezockt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jetzt lieber tanzt. Daran ist Nicole Schuld. Sie will Balletttänzerin werden, deshalb trainiert sie dauernd. Vermutlich muss Leo mittanzen, wenn er mit ihr zusammen sein will, für etwas anderes hat Nic keine Zeit. Ausser Leo kenne ich keinen einzigen Shipi, der tanzt. Ich meine, richtig tanzt, mit Schritten und so. Früher hat er Basketball gespielt.

Sogar die albanische Flagge in Leos Zimmer ist weg. Sie hing an der Wand, genau gegenüber dem Bett. Der doppelköpfige Adler hat mir immer gut gefallen. Für die Cherokee sind Adler auch wichtig. Federn stellen Dualität dar. Was das genau bedeutet, begreife ich nicht ganz. Es hat damit zu tun, dass das Leben aus Gegensätzen besteht. Wie Licht und Schatten. Eine Adlerfeder ist auf einer Seite hell und auf der anderen dunkel. Gegensätze gehören also zusammen. Daraus leiten die Cherokee Gesetze ab. Mein Vater könnte sie mir erklären, aber wenn ich sie nicht sofort kapiere, wird er sauer.

Leo dreht sich schon wieder. Ich trete an sein Bett und schüttle ihn. Er murmelt etwas und wendet sich ab.

«Wach auf, Shipi!»

«Chris?» Groggy öffnet er die Augen. «Was machst du hier?»

«Ich brauch deine Hilfe.»

«Geht’s auch etwas später?»

«Nein.»

«Scheisse, Mann.» Leo stemmt sich hoch, als wiege er eine Tonne. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Normalerweise hat er den Popcorn-Modus drauf. Er ist da, pop, und schon ist er woanders. Statt aufzustehen, rutscht er jetzt zur Bettkante und stützt die Ellenbogen auf die Oberschenkel. Mit den Handballen reibt er sich die Augen. Vielleicht ist er krank.

«Schiess los», brummt er.

«Ich brauche 960 Franken.»

Ich erzähle ihm von Lily.

Plötzlich sieht er nicht mehr müde aus. Ungläubig öffnet er den Mund. Kurz darauf geht er im Zimmer auf und ab. «Sie war einfach weg? Du meinst … so, als hätte jemand ‹Delete› gedrückt?»

Leo ist Informatiker. Er mag Computerbefehle. Eigentlich mag er alle Befehle. Hauptsache, er erteilt sie. «Dieser Wichser!», zischt er. «Das macht doch keiner! Mädchen sind tabu! Babys erst recht! Ich kenne niemanden, der so etwas machen würde!»

«Er ist keiner von uns», erkläre ich.

«Sondern?»

«Ein Russe. Aus Deutschland.» Mir bleibt fast der Atem weg, als ich an den Typ denke. «Eine Klapperschlange.»

Die ganze Sache begann harmlos. Fürs Reggae-Festival im «Gaskessel» sollte ich Gras besorgen, da ich die besten Kontakte habe. Zuerst waren wir nur zu viert, drei Kollegen von der Berufsschule und ich, die nach Bern fahren wollten. Als sich herumsprach, dass Jojo, ein Drittjahr-Kochlehrling, günstig Tickets besorgen konnte, waren wir plötzlich eine ganze Truppe. Alle mit Gras zu versorgen, war mir zu heiss. Ich bin kein Dealer. Wir beschlossen, dass Jojo die Hälfte übernehmen würde.

Dann erfuhr ich, dass er sich in Winterthur bei einem Typen eindecken wollte, den ich von früher kannte. Der Typ hatte mich vor zwei Jahren mit Outdoor-Gras verarscht, das er befeuchtet hatte, damit es schwerer wurde. Mein Dealer verkauft mir nur gute Qualität. Als ich erfuhr, dass Karim super Ware hatte, liess ich mich dazu überreden, alle zu versorgen. Ich holte das Gras letzte Woche ab und bezahlte meinen Anteil. Wir vereinbarten, dass mir meine Kollegen morgen Abend am Festival die Ware bezahlen würden. Für Karim war es in Ordnung, dass ich ihm das restliche Geld am Montag geben wollte.

Aber dann rief Karim vorgestern an. Er sagte, er brauche das Geld sofort. Irgendetwas sei schief gelaufen. Keine Ahnung, was. Als ich ihm erklärte, dass ich die acht Lappen nicht hätte, drohte er mir. Ich fürchtete, er könnte bei mir einbrechen, um sich das Gras zurückzuholen. Einem Bekannten wurde die ganze Wohnung ausgeräumt, weil er seine Schulden nicht bezahlt hatte. Mein Vater weiss nicht, dass ich kiffe. Ausserdem bin ich seit einer Einbruchstour auf Bewährung. Neuen Ärger kann ich mir nicht leisten. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

Hier kommt die Klapperschlange ins Spiel. Ich kannte den Russen nur vom Hörensagen. Er ist noch nicht lange in der Schweiz. Sein Vater hat irgendetwas mit Clubs zu tun. Der Russe geht noch in die Schule, trotzdem hat er immer Geld. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass er damit Geschäfte macht. Nicht nur das hat sich herumgesprochen. Man sagt auch, dass er ziemlich skrupellos sei.

Wir trafen uns am Bahnhof. Als mir ein kleiner Typ mit Stupsnase auf die Schulter klopfte, begriff ich zuerst nicht, dass es der Russe war. Er sah etwa so gefährlich aus wie eine ungewaschene Socke. Das Geld hatte er dabei. Ich nahm es, weil mir nichts anderes übrigblieb. Ich redete mir ein, dass er harmlos sei. Dabei schlief die Schlange nur.

«Warum stresst er plötzlich so?», will Leo jetzt wissen. «Du kriegst dein Geld morgen am Festival!»

«Er hat gesagt, er wolle es innerhalb von 24 Stunden zurück. Mit zehn Prozent Zins. Das war gestern Abend.»

Leo tigert immer noch hin und her.

Ich merke, dass er nichts kapiert. «Ich dachte, das sei nur Gerede!», erkläre ich. «Dass Montag auch okay wäre.»

«Und dann?»

«Gestern Abend hat er angerufen. Da begriff ich, dass es ihm ernst war. Ausserdem waren es plötzlich nicht mehr 880 Franken, sondern 960. Er will zehn Prozent für jeden einzelnen Tag!»

«Mit Russen legt man sich nicht an!»

Ich denke an die Stupsnase.

Leo pfeift leise. «Okay, Indianer, ganz ruhig. Wir suchen jetzt deine Kollegen auf und holen uns die Kohle. Wann will dich der Russe treffen?»

«Das geht nicht!» Meine Stimme klingt fast wie die von Julie. «Es sind alles Köche! Die arbeiten heute. Vermutlich haben sie das Geld nicht mal dabei! Ich dachte … du könntest mir aus der Klemme helfen.»

Leo bleibt stehen. Plötzlich sieht er wieder so schwer aus. Als er den Kopf schüttelt, breitet sich ein komisches Gefühl in meinem Magen aus. So, als würden ein Dutzend Regenwürmer darin tanzen. Oder Junikäfer.

«Ich zahl’s dir zurück!»

«Ich bin pleite.»

Seit ich Leo kenne, träumt er von einem eigenen Auto. Er hat zwar noch keinen Führerschein, aber wenn es so weit ist, will er sich einen gebrauchten BMW kaufen. Im ersten Lehrjahr musste er seinem Vater den ganzen Lohn abliefern, aber seit er achtzehn ist, darf er einen Teil davon behalten. Er gibt keinen Rappen aus. Dass er die Wände nicht mit Bankauszügen vollpappt, grenzt an ein Wunder.

«Du musst zur Polizei», sagt er leise.

Die Regenwürmer in meinem Magen führen eine Stuntshow auf. Auch wenn mir die Sache mit der Bewährung egal wäre, kann ich nicht zur Polizei. Wenn mein Vater von der Geschichte erfährt, bin ich tot.

Plötzlich geht die Tür auf, und Julie streckt den Kopf rein.

«Schon mal was von klopfen gehört?», schnauzt Leo sie an.

Julie rollt die Augen. «Das geht schon zwei Wochen so», erklärt sie mir. «Seit er von New York erfahren hat.»

«New York?», wiederhole ich.

«Hast du’s noch nicht gehört? Wegen Nic?»

Ich schüttle den Kopf.

«Sie darf in New York vortanzen! An einer bekannten Schule!» Julie strahlt. «Ich weiss einfach, dass sie es diesmal schafft. Ihr Programm ist echt flippig! Eine Mischung aus Ballett und Hip-Hop, einfach super. Sie hat einen eigenen Style. Das hat sie dir zu verdanken, Leo. Sie hat es mir selbst gesagt. Ohne dich hätte sie nie Hip-Hop-Schritte eingebaut.»

Leo schlägt mit der Faust gegen die Wand. New York. Kein Wunder, will er morgens nicht mehr aufwachen. Vielleicht werden wir bald wieder zusammen zocken.

Julie reisst das Fenster auf. «Komm schon, mach dich bereit. Nic kommt jeden Moment.»

«Ich komm nicht mit», sagt Leo. «Ich hab zu tun.»

«Du musst! Wir brauchen dich!»

«Ihr könnt den Stoff ohne mich aussuchen. Mir ist es schnuppe, was ich anziehe.»

«Bitte, Leotrim!» Als er nicht einlenkt, fügt Julie hinzu: «Nic wird enttäuscht sein.»

Leo verzieht das Gesicht.

Eine Freundin zu haben, ist ziemlich anstrengend. Ich war mal einige Monate mit einem Mädchen aus der Parallelklasse zusammen. Plötzlich konnte ich nicht mehr tun und lassen, was ich wollte. Es war, als hätte ich mich in einen Anhänger verwandelt. Sie fuhr irgendwohin, und ich holperte hinterher.

«Chris kann ja mitkommen», schlägt Julie vor.

Bevor ich etwas sagen kann, klingelt es an der Haustür. Leo poppt aus dem Raum und verschwindet im Bad. Julie wirft mir einen flehenden Blick zu, aber ich tue so, als bemerke ich ihn nicht. Mit einem Seufzer verlässt sie das Zimmer. Kurz darauf höre ich Nicoles Stimme.

Auf einmal kommt mir eine Idee. Nic ist an der Goldküste aufgewachsen. Seit ihr Vater im Knast sitzt, wohnt Nic zwar mit ihrer Mutter in der Stadt, aber sie trifft sich immer noch mit reichen Tussis. Vielleicht kann sie das Geld auftreiben.

Ich schlendere aus dem Zimmer, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Nicole lächelt, als sie mich sieht. Ihre Zähne sind so gerade wie die Latten eines Gartenzauns. «Hey, Chris! Schon lange nicht mehr gesehen! Wie geht’s?»

«Okay.»

«Kommst du auch mit? Shoppen, meine ich?»

«Nö.»

«Schade. Wollen wir uns alle über Mittag im Mac treffen? Was meinst du?»

Wenn Nic etwas fragt, will sie eine Antwort. Ein Schulterzucken reicht nicht. Sie steht dann einfach da und wartet wie mein Vater, aber ohne den bohrenden Blick.

«Ich weiss nicht», sage ich.

«Leo will nicht mitkommen», platzt Julie heraus.

Nicole stemmt die Hände in die Seiten.

Leo kommt frisch geduscht auf uns zu. Sein Blick klebt an Nicole. Wenn sie in der Nähe ist, sieht er nichts anderes mehr. Sie küsst ihn. Ich schaue weg. Leo ist mir unheimlich. Er mutiert in Nics Gegenwart zu einem anderen Wesen.

«Stimmt das?», fragt Nic. «Du willst nicht mitkommen?»

Leo schiebt seine Finger in ihr Haar. «Mir ist etwas dazwischengekommen.»

«Julie braucht den Stoff heute, sonst wird sie nicht rechtzeitig fertig!» Nic macht einen Schritt zurück, so dass sich Leos Finger in der Luft bewegen.

Ich räuspere mich und versuche, etwas zu sagen, doch niemand beachtet mich.

Nic redet weiter, darüber, wie wichtig die Kleider seien, dass sie bei diesem Tanzevent gut aussehen müssten, dass sie lange dafür geübt hätten, es Ehrensache sei, man sich in der Szene kenne und überhaupt. Julie stimmt ein, und gemeinsam bombardieren sie Leo, der sein Gewicht von einem Fuss auf den anderen verlagert.

Es riecht nach Bratenjus, jemand kocht zu Mittag.

Auf einmal läutet mein Handy.

«Hast du die Kohle?», fragt der Russe.

Im Hintergrund höre ich Lily weinen. Ich bringe keinen Ton heraus.

«Verdammt, Mann, es ist mir ernst!»

«Ich weiss», stottere ich. «Bitte …»

«Deine Bitten kannst du dir sonst wohin stecken. Ich will die Kohle! Und zwar sofort! Sonst kannst du deine Schwester vergessen!»

Stille.

«Alli wänd es stuck vo eim», singt Phenomden. «Vom ganze chueche wänds ä kei.»

Ich registriere, dass die Kopfhörer um meinen Hals liegen, begreife nicht, warum ich Phenomden trotzdem hören kann. Der Reggaerhythmus hallt mir in den Ohren, jeder zweite Schlag ist laut: tic, bumm, tic, bumm. Ich wiege mich im Takt der Musik. Befinde mich auf einer Schaukel, die nicht anhalten will. Plötzlich packt jemand das Seil. Ich rutsche von der Sitzfläche. Falle hinunter. Reisse die Augen auf. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand, meine Knie zittern.

Julie hält mich am Arm fest. Ihre Augen sind rund. Nic kommt auf mich zu, die Hand ausgestreckt. Irgendetwas klappert. Es sind meine Zähne.