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Band 164

 

Der Etrin-Report

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Prolog

2. Leibnitz

3. Miras Etrin

4. Leibnitz

5. Proht Meyhet

6. Leibnitz

7. Proht Meyhet

8. Leibnitz

9. Proht Meyhet

10. Leibnitz

11. Miras Etrin

12. Leibnitz

13. Miras Etrin

14. Miras Etrin/Dr. Brömmers

15. Leibnitz

16. Miras Etrin

17. Miras Etrin/Dr. Brömmers

18. Leibnitz

19. Miras Etrin

20. Miras Etrin/Dr. Brömmers

21. Leibnitz

22. Miras Etrin

23. Miras Etrin/Dr. Brömmers

24. Leibnitz

25. Proht Meyhet

26. Dr. Brömmers

27. Epilog

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.

Der Schlüssel zu diesen Ereignissen liegt in der Galaxis Andromeda. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf. Anfang 2055 gelangt die MAGELLAN am Ziel an. Rasch erfahren die Menschen mehr über die Situation. Insbesondere die Meister der Insel – auch Faktoren genannt – spielen eine zentrale Rolle.

Die Meister stehen in einer engen Beziehung zum heimatlichen Sonnensystem, es gibt zudem Verbindungen durch Raum und Zeit. Weitere Aufschlüsse zu vielen dieser Geheimnisse gibt DER ETRIN-REPORT ...

1.

Prolog

Aufgang

 

Ich sitze auf der schwarzen Klippe und sehe Andromeda aufgehen.

Andromeda. So nennen die Menschen unsere Galaxis Andrumida. Der Name klingt in mir nach. Die Welt schweigt zu dieser Stunde. Ich genieße die Stille, die mich umgibt. Unter mir spüre ich die Kühle des Obsidians; vulkanisches Glas, das sich aus der Tiefe in den Himmel reckt. Die schroffen, manchmal scharfkantigen Höhen ziehen sich nach beiden Seiten. Sie bilden ein wildes Panorama aus Finsternis, das sich im Weltraum über mir verliert. Alles konzentriert sich auf das gewaltige Rad der zweiten Galaxis.

Andromeda.

Sie schiebt sich über den Horizont und beginnt zu steigen. Ich vergesse die Zeit, bis die Sterneninsel wie ein Fanal am Himmel steht. Unsere neue Heimat. Wir kamen aus einer düsteren Vergangenheit, die Sicht getrübt von Gewalt. Unsere alte Heimat ging verloren, wie vieles mehr. In Andromeda sollte unser Stern von Neuem aufgehen. Das tat er; so strahlend, so hell, so grell, dass wir zu erblinden drohen.

Andromeda erleuchtet die Nacht, beinahe wie eine zusätzliche Sonne. Die Galaxis scheint unveränderlich, ja ewig.

Es ist eine Täuschung. Sie ist so unglaublich wie das Bild an sich. Andromeda nähert sich der Ersten Insel, der Milchstraße, mit einer Geschwindigkeit von über 400.000 Kilometern pro Stunde. 800 Milliarden Sonnenmassen rasen durch die unendliche Leere. Eine 140.000 Lichtjahre durchmessende Spiralgalaxis, unaufhaltsam auf dem Weg. Die Gravitation ist der Motor, der das unglaubliche Gebilde aus einer Billion Sterne antreibt. Beinahe erwarte ich, dass es größer wird, während ich zusehe.

Es ist ein Gefühl, als stünde ich einem schnellen, schweren Gefährt im Weg. Ich spüre geradezu die Bewegung der Masse. Die Vorstellung macht mir die Brust eng.

Ich sehe den strahlenden Kern, die Spiralarme, durchzogen von dunklem Staub, vor dem die Sterne aufzuglühen scheinen. In ferner Zukunft wird sie mit der Ersten Insel zusammenstoßen. Nicht in einem kurzen Aufprall, der alles zerstört. Die beiden Galaxien werden sich verwandeln. Spiralarme werden sich biegen, weit in den Raum hinausgreifen. Nicht einmal dort werden sie der Gravitation entkommen können. Der interstellare Wasserstoff wird da auseinandergerissen, dort zusammengepresst werden. Ganze Gaswolken werden kollabieren, aufglühen und neue Sterne gebären. Es wird eine Metamorphose sein. Der Tanz der Schwerkraft wird eine gewaltige, elliptische Galaxis hervorbringen, welche die Lokale Gruppe dominiert: ein Riese.

Das ist die Zukunft, die heraufdämmert. Sie ist beinahe so unabänderlich wie die Vergangenheit. Doch im Hier und Jetzt funkelt Andromeda wie eine Ansammlung von Diamanten auf schwarzem Samt.

Es ist ein Geschenk, sie auf diese Weise sehen zu können. Mein Refugium befindet sich am äußersten Rand der Satellitengalaxis Goron. Thomarian ist eine alte Welt. Die Plattentektonik ist zwar nicht völlig zum Erliegen gekommen, aber die wilden Zeiten des Vulkanismus sind vorbei. Der Obsidianfels ist hart. Trotzdem wird die Zeit daran nagen, ihn abschleifen wie alles andere. Nur nicht uns; wir haben uns aus ihrem Blickfeld geschlichen.

Aber dieser Vorgang relativiert alles. Es wird lange dauern, sogar für unsere Maßstäbe: Milliarden von Jahre. Nichts wird mehr an uns erinnern. Es wird so sein, als habe es uns nie gegeben.

Wie sonderbar, aber diese Vorstellung fühlt sich gut ... fühlt sich richtig an.

Ich atme die kühle Luft, starre in die Finsternis über mir, die diesen Namen momentan nicht verdient. Andromeda überstrahlt alles.

Andromeda!

Unsere Sehnsucht. Unsere Rettung. Unsere Hoffnung. Einst war das für uns der klangvolle Name einer offenen Zukunft.

Was ist davon geblieben? Nur ein monströses Heerlager, zusammengezogen für einen Krieg, von dessen Notwendigkeit nur die überzeugt sind, denen man ein Leben lang nichts anderes erzählt hat. Das trifft leider sogar für etliche von uns zu, so deprimierend diese Einsicht ist.

Eine Sternschnuppe zieht über den Himmel. Scheinbar pflügt sie durch das Sternenmeer Andromedas, in Wirklichkeit ist sie so unbedeutend wie ich selbst. Sie ist so schnell, so blendend hell. Aber im Gefüge der Spiralarme hinterlässt sie nicht die geringste Spur. Es ist eine Frage der Perspektive. Was näher bei uns ist, erscheint uns wichtig.

Bereits Goron, die kleine Satellitengalaxis, in der ich mich aufhalte, ist unwichtig. Sie wird im einsetzenden Mahlstrom, der die beiden Sternenspiralen zusammenschmelzen wird, nicht einmal ein Anhang sein. Wenn der Tanz der beiden Galaxien beginnt, wird sie längst zu einem Teil Andromedas geworden sein.

Die Menschen nennen diese unscheinbare Sterneninsel IC 10. Mein Interesse an ihnen nimmt immer weiter zu. Es gibt Ähnlichkeiten zur Sprache der Ahnen, wenn auch nicht in jedem ihrer Idiome. Sogar ihr Name für Andrumida ist fast identisch: Andromeda. Sie sind außerordentlich vielfältig; nicht nur sprachlich. Sie sagen: »Einigkeit macht stark!« Nicht etwa »Gleichartigkeit«. Ein Konzept, das Konflikte befördert. Dass sie unter diesen Umständen hierhergelangt sind, ist bemerkenswert. Das sind sie: ein Initiationspotenzial von ungeahnter Stärke. Perry Rhodan und seine 8000 Menschen haben etwas in Bewegung gebracht, das längst erstarrt war. Ich bin verblüfft, welche Dynamik sich aus der Ankunft eines einzigen Raumschiffs entwickelt. Ein einzelner, kleiner Stein, den man ins Wasser wirft ... oder der eine Lawine auslöst. Perry Rhodan ist ein erstaunlicher Mensch – wie viele andere, die ihn begleiten. Er hat Donit erreicht, Multidon, das Herz der Macht. Dort hat er Spuren hinterlassen, die ihr schwer zu schaffen machen.

Die Veränderungen, auf die ich warte, haben begonnen. Die Antworten, die wir erhalten, befriedigen unsere Neugier nicht länger. Es sind Sätze, die durch jahrtausendelanges Wiederholen ihren Sinn verloren haben, eine inhaltsleere Aneinanderreihung von Lauten oder Zeichen. Haben wir sie jemals geglaubt? Ich fürchte, das haben wir. Allzu lange, allzu bereitwillig.

Glaubt sie es ebenfalls?

Ich wünschte, ich wäre mir sicher. Sie ist klug und schlau. Allzu häufig benutzt man diese Worte, als besäßen sie dieselbe Bedeutung. Dass sie schlau ist, das sollte im eigenen Interesse niemand bezweifeln. Ob sie klug ist oder – wie vermessen das in diesem Zusammenhang klingt – wie weise sie ist, das wird sich bald zeigen. Sie versteht es, zu täuschen. Ganz bestimmt ist das, was sie offiziell proklamiert, nicht alles, was sie denkt. Eine derartige Offenheit widerspräche ihrem Wesen. Bei der Jahrzehntausende umfassenden Lebenserfahrung, die sie wie eine Last auf den Schultern trägt, ist das undenkbar.

Sie hat niemals vergessen, was damals geschah. Vor der Flucht vor dem Fluch, der die Ahnen heimsuchte. Wir waren Entwurzelte. Nur ein kompletter Narr kann behaupten, ein Leben ohne Wurzeln sei möglich oder gar erstrebenswert. Die wunderbarste Blüte ist ohne Wurzeln ein Nichts; im wahrsten Sinne des Wortes: nichts!

Nicht existent.

Wir alle hatten geglaubt, in der neuen Sterneninsel neue Wurzeln schlagen zu können.

Andromeda! Unsere Verheißung, unser gelobtes Land!

Wir haben neue Wurzeln geschlagen, ohne Zweifel. Dennoch bedroht uns der Schrecken der Vergangenheit erneut. All die Jahrtausende, sie haben uns nicht weitergebracht. Es ist das gleiche alte Spiel. Sosehr wir die Spieler sein möchten, sind wir doch nur Figuren, die etwas oder jemand umherschiebt. Ob sie sich dessen bewusst ist, Faktor I?

Wir neigen dazu, uns in der Vergangenheit zu verlieren. Vielleicht ist das so, wenn man derart alt geworden ist. Unsterblich. Relativ unsterblich.

Ich lehne mich zurück. Gedankenverloren betrachte ich die riesige Galaxis, die dort, in genügend großer Entfernung, am Himmel steht wie ein feuriger Strudel. Ein gewaltiger Wirbel aus Sternen. Jeder davon könnte Leben hervorgebracht haben. Es zu schützen, sind wir einst angetreten, das war der eigentliche Hintergrund. Mittlerweile ist davon zwar immer noch die Rede, aber es sind lediglich Phrasen. Wenn der Krieg über uns kommt, wird er alle verbrennen, ohne dass es eine Wahl gibt.

Die Aussicht darauf macht das Warten zur Qual. Miras Etrin sollte längst zurückgekehrt sein. Die Anmessung eines extrauniversellen Manifestationsphänomens in der Ersten Insel ist beunruhigend! Ein Zeichen, dass es so weit ist? Zwei Universen berühren sich. Das unsere und ein anderes, sehr, sehr fremdes.

Die Membran, die sie trennt, ist dünn geworden. Dinge von drüben drängen zu uns. Die Große Ruptur, welche die zwei Sonnenchasmen verbindet, könnte aufreißen. Es ist durchaus möglich. Das zu leugnen, wäre fahrlässig. Aber dass dies in der Milchstraße beginnt, hatte niemand erwartet. Etrin wird zumindest diese Frage beantworten können ... wenn er zurückkehrt.

Ich hole tief Luft. Die nächtlichen Böen tragen Düfte aus den tieferen Ebenen bis auf die Klippen empor. Sie sind schwach im Vergleich zu denen des Tages. Aber sie verschaffen mir Erleichterung; die Spannung nimmt ab. Nach einer Zeit, die beinahe zu lange ist, um sich zu erinnern, kann Leben leicht zur Last werden. Wie die anderen nehme ich jede Gelegenheit wahr, sie zu lindern.

Ich ziehe die Luft durch die Nase ein: Warmes Kolomomm und ein Hauch Egossa! Ich lächle. In meinem Refugium wachsen diese Pflanzen wild. Andernorts würde man sie bedenkenlos ausrotten. Unkraut, nicht mehr. Aber der Duft geht dadurch verloren. Die Welt ist ärmer ohne ihn.

Ein Impuls erreicht mich. Er ist zurück! Ich fühle gleichzeitig Angst und tiefe Erleichterung. Ich muss sofort mit ihm sprechen. Er wird in Eile sein. Dass er mir die Informationen vor ihr liefert, ist ein Risiko.

Ich stehe auf. Über mir hängt Andromeda in all ihrer wunderbaren Pracht. Ich löse einen Ruf aus. Kurz darauf senkt sich neben mir ein kleines, halbkugelförmiges Transmitterschiff zu Boden. Ich habe es eilig, deshalb betrete ich den Transmissionskreis, ohne die Standardmeldungen abzuwarten. Die Moriah bestätigt. Das feine Summen intensiviert sich. Ich lasse die Klippen hinter mir zurück in der Stille, in der langsam wiederkehrenden Dunkelheit.

Ich bin Proht Meyhet. Ich bin ein Meister der Insel.

 

Persönliche Aufzeichnung, Fraktalkode-Schlüssel. Geschützt.

2.

Leibnitz

Vergangenheit: Tod in Flammen

 

Leibnitz zuckte zusammen. Der Lärm der Detonation war gewaltig, die Druckwelle traf ihn unvorbereitet. Er prallte gegen ein Abschirmgitter. Mühsam rollte er sich zur Seite. In seinen Ohren klingelte es penetrant. Die Welle war bereits mehrfach gebrochen und deshalb abgeschwächt; zu seinem Glück.

Sonst hätte sie mich einfach plattgemacht, ging es ihm durch den Kopf. Metall knackte. Er bemerkte Risse in der transparenten Abdeckung eines Leuchtareals. Das Licht flackerte.

Das thetisische Wachgeschwader beschoss die KON-ILLIC. Die Reaktion auf das unautorisierte Auftauchen war kompromisslos, ja brutal. Ausgerechnet ins Donitsystem einzufliegen, war eine verrückte Idee gewesen. Dort schlug das Herz des Sternenreichs von Andrumidia. Mit Multidon war dieses Herz schwer gepanzert, bewaffnet bis an die metallischen Reißzähne. Die KON-ILLIC hatte die Spur der MAGELLAN nicht verlieren wollen. Das Raumschiff der Menschen war gleichbedeutend mit dem Weg zurück in die Heimat: die unendlich weit entfernte Milchstraße. Die Sehnsucht nach zu Hause hatte die Besatzung des Mehandorschiffs unvorsichtig gemacht, sogar einen alten Subpatriarchen wie Emporr.

Monade schwebte unbeeindruckt in etwa drei Metern Entfernung, als ginge sie all das nichts an. Sie verhielt sich also wie immer. Sie schützte Leibnitz, wenn es notwendig war, aber sie war keine Glucke. Offenbar sah sie keine Gefahr für sein Leben.

Noch nicht!, dachte Leibnitz missmutig. Das kann sich schnell ändern.

Er rieb über eine schmerzende Stelle am Kinn. Das entstehende Hämatom würde beeindruckend sein. Ein dumpfes Pochen zog sich seine Wange empor. Er spürte sein Auge zucken. Die Berührung der groben Bartstoppeln brannte. Mühsam rappelte er sich auf.

Das Abschirmgitter war gerissen und hatte den Ärmel seiner Bordmontur und den Arm darunter aufgeschlitzt. Die Wunde tat weh, der Schnittrand verfärbte sich bereits rot. Leibnitz musste sich losreißen. Gewebefäden blieben an den feinen Gitterstäben hängen.

Er spürte eine Vibration, die immer stärker wurde. Sie stieg aus den Bodenplatten in seine Beine. Das war ernst. Leibnitz lebte seit vielen Jahren an Bord der KON-ILLIC. Er war zunächst nur ein besserer Sklave gewesen, nachdem man ihn aus dem Weltraum gefischt hatte. Damals hatte es an Bord nur Mitglieder der Empanasippe gegeben – bis auf Monade. Vor der Havarie im Leerraum, vor der Konfrontation mit den Bakmaátu, den Posbis, wie die Menschen die positronisch-biologischen Roboter nannten. Er kannte dieses Raumschiff, jedes Geräusch, das es erzeugte. Diese Vibration sagte nur eins: Ich sterbe!

»Was treibt er denn da?«, entfuhr es Leibnitz. Er war ganz in der Nähe der Zentrale. Dort lenkte Subpatriarch Emporr die KON-ILLIC. Leibnitz hielt sich mühsam an einer Verstrebung fest. Sie bebte heftig. Er fluchte. Von der Decke kam ihm ein wirres Kabelbündel entgegen. Eine lose Isolierung streifte seine Wange. Die Berührung war heiß; so heiß, dass er aufschrie. Funken stoben.

Ohne Vorwarnung fühlte er sich leicht. Dann verschwand das Gefühl.

Die künstliche Schwerkraft ... die Aggregate haben Aussetzer!, dachte er. Bei Trümmerflug wird das richtig eklig! Da wird Ausweichen zum Glücksspiel! Dabei war ihm klar, dass herumfliegende Trümmerteile meist ohnehin zu schnell waren, um ihnen ausweichen zu können.

Er hörte ein dumpfes Krachen: eine weitere Explosion. Das Metall von Wänden und Boden leitete den Schall. Der Rumpf winselte förmlich. Am liebsten hätte Leibnitz sich die Ohren zugehalten. Das Kreischen von Metallverbindungen, grelles Schrillen und ein dumpfes Dröhnen verwoben sich zu einer infernalischen Kakofonie.

Triebwerksektion! Ach du Scheiße!

Nur einen Sekundenbruchteil später ertönte das schreckliche Geräusch reißenden Metalls.

Das ist näher! Sehr viel näher.

In etwa zehn Metern Entfernung stand die Schleuse zur Zentrale offen. Sie würde sich nie wieder schließen, sie war auf der linken Seite deutlich verbogen. Ein Mehandor lag am Boden, die Bordkombination war verkohlt. Das geschwärzte Gesicht war verzerrt, Haar und Bart weggebrannt. Monade ignorierte den Toten. Sie schob sich näher an Leibnitz heran. Das war kein gutes Zeichen, wie er wusste. Er hangelte sich ein paar Meter den Gang entlang, über Trümmer, Scherben und zerstörte Geräte hinweg.

Er warf einen Blick in die Zentrale. Er sah pures Chaos. Weite Teile des Kontrollzentrums waren zerstört. Flackernde Holos tauchten alles in bizarre Lichtreflexe. Es stank nach Untergang, nach heißem Stahl, verschmorten Isolierungen, dazu nach Dingen, die sehr viel schrecklicher waren. Leibnitz keuchte entsetzt. Er hielt sich an der Schleusenfassung fest, so gut er konnte. Der Schnitt in seinem Arm war nicht tief, aber er schmerzte. Ein Schatten beugte sich über das, was von der Hauptkontrollkonsole noch übrig war. Das war Emporr, der Schiffsführer der KON-ILLIC. Neben ihm hing ein schlaffer Körper in einem teilweise zerfetzten pneumatischen Sitz. Leibnitz war froh, dass er kaum etwas erkennen konnte. Ihm schien, als fehle dem Leichnam ein Arm. Rechts von Emporr brannte es. Neben dem Prasseln der Flammen kam von dort auch ein grauenvolles Wimmern.

Ich muss raus hier!, dachte er. Nicht weit entfernt explodierte ein Wandelmodul der Hauptenergieversorgung. Grelles Licht flutete den Raum. Instinktiv schloss Leibnitz die Augen. Er schloss mit dem Leben ab.

Im selben Moment wurden die Geräusche übergangslos leise, gedämpft, wie durch eine dicke Decke, die über allem lag. Leibnitz blinzelte. Er nahm ein intensives Flimmern wahr. Monades Schutzschirm hielt die anbrandende Energie ab, ebenso die herumfliegenden Metallfetzen.

Zu sehen war kaum etwas. Fettiger, schwarzer Qualm zog in dicken Schwaden aus der Zentrale. Leibnitz empfand eine absurde Dankbarkeit. Er wollte die Toten nicht sehen. Es war seine Familie.

... gewesen!, korrigierte er sich. Es ist vorbei!

Monade summte laut. Die Kommunikation mit der Posbi war häufig unvorhersehbar. Sie war in der Lage, sich sprachlich zu äußern, tat dies aber nur, wenn sie es für geboten hielt. Ansonsten verstand Leibnitz keineswegs immer, was sie von ihm wollte. Ohnehin war er sich über die Art ihrer wechselseitigen Verbindung nicht im Klaren. Aber er brauchte Monade, zumindest das hatte er längst begriffen.

Eine raue Stimme klang auf. Sie brüllte ihre Wut in den wabernden Qualm ... und brach ab!

Emporr! Kälte stieg in Leibnitz empor.

Er hastete weg von der Zentrale. Der Subpatriarch war tot, daran zweifelte er keine Sekunde lang. Durch die Rauchschwaden sah Leibnitz, dass ein paar der Posbis, die im Bereich des Kontrollzentrums Dienst taten, versuchten, das Schiff zu stabilisieren. Nein, er ahnte es mehr. Die Mühe war vergeblich. Er blickte nicht zurück. Die Besatzung dort war verloren, die Roboter wahrscheinlich ebenso.

Der Gang schien sich vor ihm in die Länge zu ziehen. Leibnitz stolperte über Metallfetzen. Aus Kabeln, die von der Decke und den Wänden baumelten, zuckten kleine Lichtbögen. Die Luft roch nach Elektrizität. Zwei Rohre waren gebrochen. Wasser floss aus dem einen, giftig stinkende Hydraulikflüssigkeit aus dem anderen. Monade war direkt hinter ihm, schwebte unbeeindruckt über die Toten hinweg. Den Schirm hatte die Posbi wieder desaktiviert. Leibnitz hätte daraus gern die Hoffnung geschöpft, dass die Gefahr endgültig vorüber wäre. Sehr viel wahrscheinlicher indes war, dass Monade lediglich ihre Energiespeicher schonte.

Eine Wand platzte auf, eine Wolke aus grellen Funken hüllte Leibnitz ein. Elektrostatisches Knacken zog durch die Luft. Er spürte punktförmige Hitze, als die Funken sich durch seine Montur brannten. Er schrie auf. Es roch nach Ozon, darüber legte sich der Gestank verbrannten Gewebes. Panisch klatschte Leibnitz auf einige kleine Glutnester auf seiner Kleidung. Seine Handflächen waren heiß, schmerzten, wenn er die Finger bewegte.

»Wir müssen zu den Hangars!«, schrie er. Monade antwortete nicht. Selbstverständlich wusste die Posbi, dass dies ihre einzige Chance war; eine kleine Chance, aber immerhin.

Leibnitz riss sich zusammen. Panik war das Letzte, was ihm in dieser Situation weiterhalf. Der Tod der KON-ILLIC war keine Frage der Zeit mehr. Das Raumschiff war bereits gestorben. Wie die letzten Nervenreflexe bei einem Tierkadaver Zuckungen auslösten, gab es an Bord Systeme, deren Zusammenbruch länger dauerte. Er stolperte weiter. Immer wieder stieß er auf tote Mehandor oder zerstörte Posbis. Er hatte offenbar extremes Glück gehabt.

Sei ehrlich, machte er sich bewusst. Ohne Monade wärst du ebenso tot wie die ganzen armen Schweine. Bilde dir bloß nichts drauf ein.

Er quälte sich durch ein halb offenes, verzogenes Schott. Der Gang führte direkt zum Hangar 3. Er kontrollierte den mehandorschen Zeitmesser, den er schon etliche Jahre benutzte. Seit der Detonation war keine Minute vergangen, obwohl es ihm wie Stunden vorkam. Dass ihm kaum Zeit blieb, war ihm klar.

»Dort ... Dort ist es!«, ächzte er. Mühsam versuchte er, eine scharfkantige, herabgefallene Deckenverkleidung zur Seite zu schieben. »Gut, dass ich keinen Raumanzug trage«, äußerte er sarkastisch. »Sonst müsste ich jetzt darauf achten, ihn nicht zu beschädigen. Scheiße, ist das Ding schwer!«

Monade unterstützte ihn. Das tat sie keineswegs immer. Ab und zu hatte Leibnitz das Gefühl, als wolle die Posbi verhindern, dass er sich allzu sehr auf ihre Hilfe verließ.

Ein intensiv leuchtendes Warnsignal bremste ihn.

Verriegelt, verdammt noch mal! Notfallprotokoll.

Das Schott war heiß. Er stand direkt davor, fühlte das Brennen auf der Haut seines Gesichts. Das war kein gutes Zeichen. Neben dem Schott gab es eine universelle Schnittstelle. Monade schwebte an ihm vorbei. Gleich darauf flackerte ein Beobachtungsholo auf, das den Hangar zeigte. Die Bildqualität war miserabel. Energieschwankungen ließen die Helligkeit flackern, die Auflösung erreichte gerade mal das nötige Minimum.

Verzweifelt starrte Leibnitz auf das Chaos. Der Hangar war eine Trümmerwüste. Dunkle Rauchschwaden verdeckten immer wieder die Sicht. Die Lebenserhaltung arbeitete bestenfalls sporadisch, in diesen Phasen zogen die Ventilatoren den Qualm größtenteils ab. Obwohl die Tonübertragung nicht funktionierte, glaubte Leibnitz, das grelle Kreischen von sich verbiegendem Metall zu hören. Verstrebungen ragten in den Hangar hinein, die eher an verformte Knochen erinnerten, denn an harten, hochwertigen Stahl. Etwas im Hintergrund glühte in dunklem, bösem Rot.

Kleine Boote und ein paar Gleiter waren aus ihren Parkbuchten gerissen worden. Deformiert lagen sie über den Hangar verteilt. Einige davon waren kaum noch zu erkennen. Bei einem der Gleiter hatte etwas den Rumpf der Länge nach bis zur Steuerkanzel aufgerissen. Alles war geschwärzt, verbrannt, verkohlt; auch die beiden Piloten, die sich im Tode zusammengekrümmt hatten. Sie hingen in Embryonalhaltung in dem, was von ihren Sitzen übrig war.

»Da sind noch welche draußen!«, stellte Leibnitz überrascht fest. Vor seinen Augen rannten fünf Gestalten in Raumanzügen auf das nächstliegende Beiboot zu. Zwei flunderförmige Gleiter standen wartend in den Parkbuchten; die Versorgungsleitungen waren längst gekappt. Die zwei Einheiten waren startbereit. Die Schleuse des einen stand offen, bereit, um die Flüchtenden aufzunehmen. Die gespenstische Stille machte das Drama unerträglich.

Ein Deckenbalken bog sich im Zeitlupentempo nach unten.

»Nein!«, schrie Leibnitz auf. Bei einer Temperatur von über 700 Grad Celsius wurde auch bester Garrom-Industriestahl weich wie Butter. Er musste mit ansehen, wie sich die Hauptverstrebung langsam verformte. Dann riss sie. Mit der ganzen Wucht des unter Spannung stehenden Metalls zerquetschte die einbrechende Deckensektion die beiden Rettungsboote ... und die Flüchtenden, die ihr Ziel beinahe erreicht hatten.

Leibnitz schluchzte. Er fühlte sich übergangslos völlig kraftlos. Niemand würde diesem Inferno entkommen. Dass er selbst sterben würde, machte ihm dagegen erstaunlich wenig aus. Die Sippe, seine Familie, die ihm ein neues Leben ermöglicht hatte, lebte nicht mehr. Die Posbis würden bis zuletzt versuchen, das Schiff zu retten, obwohl das nicht logisch war. Die biologischen Segmente trieben die Roboter an. Mit tränenverschleiertem Blick verfolgte Leibnitz, wie sich eins der Hangartore aus dem Qualm schälte. Ruckelnd öffnete es sich, dann blieb es in einer verzogenen Laufschiene hängen. Die Atmosphäre entwich sofort. Die Sicht klärte sich. Qualm und Rauch wurden ins Vakuum gedrückt. Leibnitz bemerkte ein ausgeschleustes Beiboot, dessen gedrungener, flunderähnlicher Leib rötlich beleuchtet wurde. Gleich darauf zerfetzte etwas das kleine Schiff.

Eine Plasmaladung!, dachte Leibnitz. Die Schweine schießen die Rettungsboote ab, sobald sie im freien Raum sind. Warum tun sie das, um Himmels willen?

Dann erreichte die Realität sein Bewusstsein. Da draußen im Hangar herrscht jetzt Vakuum. Die erreichbaren Beiboote sind zerstört. Das war's. Ich bin erledigt!

Im Hangar wurde es heller.

»Das ist kein Brand. Einer der Reaktoren geht durch«, murmelte Leibnitz. »Die isolierenden Flaschenfelder sind teilweise zusammengebrochen.«

Die Glut der Fusion wurde durch die frei werdende Stützmasse weiter befeuert. Die Kernschmelze fraß sich ins Freie. Grelle Plasmafackeln brachen aus dem näher liegenden, größtenteils durch Trümmerteile verdeckten Wrack.

Es krachte. Leibnitz fuhr herum. Schwarzer Rauch drang in den Gang, wahrscheinlich aus einem der beschädigten Energieverteiler oder verursacht von in Brand geratenen Isolierstoffen. Er rang nach Luft. Es wurde sehr schnell immer heißer. Eine Warnsirene wimmerte ein paar Sekunden lang auf, bevor sie den Geist aufgab. In Leibnitz machte sich ein furchtbares Gefühl des Déjà-vu breit.

Wahrscheinlich habe ich etwas Vergleichbares schon mal erlebt ...

Er hustete. Sein Hals brannte und kratzte. Welche chemischen Verbindungen bei diesen Bränden entstanden, wollte sich Leibnitz gar nicht erst vorstellen. Er durfte auf keinen Fall ohnmächtig werden. In diesem Fall wäre die kleinste Chance, die sich ihm zeigen mochte, vorüber. Er atmete so flach wie möglich. Seine Augen brannten nun ebenso wie die geplagten Bronchien.

Ein kurzer, harter Knall war zu hören. Für einen Sekundenbruchteil verschwand alles in blendendem Weiß, dann drückte die austretende Atmosphäre Leibnitz in den Weltraum hinaus. Er konnte nichts tun; sich festzuhalten, war unmöglich. Einen Augenblick lang begriff er nicht, was mit ihm vorging. Der geschundene Rumpf der KON-ILLIC entfernte sich langsam. Er trieb ab. Unter ihm war ein riesiges, gezacktes Leck. Dort hatte etwas den Rumpf großflächig aufgerissen. Vielleicht ein Trümmerteil, vielleicht ein weiterer Treffer; für Leibnitz spielte das keine Rolle.

Ein leichtes Flimmern um ihn herum zeigte, dass Monade ihn in einen Schutzschirm gehüllt hatte. Der schwarze, eiförmige Schatten der Posbi schwebte direkt neben ihm. Leibnitz fühlte Druck auf seinem Brustkorb. Einbildung! Der Schirm verhindert eine explosive Dekompression.

Seine Haut brannte. Er blickte an sich hinab. Unzählige kleine, rot umfasste Schnitte klafften in seiner Bordkombination. Winzige Trümmerteile hatten ihn getroffen, bevor Monade den Schirm errichtet hatte. Er hob eine Hand vor die Augen. Sie war mit Brandblasen bedeckt. Die ersten platzten. Dazwischen bluteten die kleinen Wunden stark.

Die Schrapnells hätten mich ebenso gut in Stücke schneiden können, dachte er. Seine Sicht trübte sich.

Sauerstoffmangel? Nach lediglich ein paar Sekunden war das unwahrscheinlich. Dennoch: Die Luft würde ihm ausgehen, das war nur eine Frage der Zeit. Erfrieren würde er aber deutlich schneller. Der Schirm bremste den Temperaturverlust ein wenig. Aufhalten würde er ihn nicht. Die Kühle kroch unaufhaltsam in seinen Körper. Ob diese Empfindung objektiv oder eingebildet war, spielte keine wesentliche Rolle.

Verzweifelt stieß Leibnitz die Luft aus. Er wollte nicht sterben, genauso wenig wie die anderen das gewollt hatten. Er würde den Rest der Besatzung ein paar Minuten überleben, das war alles. Langsam sickerte Schmerz in sein Bewusstsein. Er kam von überall her. Die Nervenimpulse der Schmerzrezeptoren durchdrangen die Mauer aus Endorphinen und Adrenalin. Er schrie.

Leichter Schwindel gesellte sich hinzu. Erinnerungen zuckten durch seine Gedanken, verdrängten die Gegenwart. Ein Kugelschiff ging unter, wurde von unsichtbaren Kräften zusammengepresst. Dann zerbarst es in einer gewaltigen Trümmerwolke.

Mein Schiff? War das mein Schiff?

Wahrscheinlich war genau das der Fall. Er war in den Leerraum gelangt; dort musste etwas Furchtbares geschehen sein. Vermutlich hatten Posbis ihn aufgelesen, ihn als Versuchskaninchen benutzt. Bevor Monade sich seiner angenommen hatte ... unter welchen Umständen auch immer. Bevor sie beide von den Empana aufgenommen worden waren, vor der zweiten Havarie. Bevor es sie alle nach Andromeda verschlagen hatte. Die Erinnerung an drei flammend gelbe Sonnen kam auf, ohne dass er wusste, wo oder wann das gewesen war.

Leibnitz schluckte trocken. Die Gegenwart drängte die Vergangenheit zurück. Die KON-ILLIC brach auseinander. Funken flogen und erloschen schnell in der Kälte des Vakuums. Explosionen trieben Gasfahnen ins All. Manche davon brannten in leuchtenden Farben. Methan, Wasserstoff, Treibstoffaerosole. Ein Feuerwerk des Untergangs.

Leibnitz fühlte eine tiefe Traurigkeit. Ohne Zweifel war dies das Letzte, was er in seinem Leben sehen würde. Im Hintergrund registrierte er schwarze Flecken, dazwischen ein sanftes Flimmern, wie von schwach beleuchteten Seifenblasen: Die thetisischen Kampfschiffe waren ohne direkten Lichteinfall kaum zu sehen; nur dort, wo sie etwas verdeckten. Das Glimmen von Schutzschirmen war die Ausnahme.

Sie wissen, dass ihnen von der KON-ILLIC keine Gefahr droht, dachte er bitter. Keine Energieverschwendung; auf gar keinen Fall dürfen Ressourcen vergeudet werden. Ich verstehe nicht, warum sie in uns überhaupt einen Gegner gesehen haben. Er gab sich selbst die Antwort: Es ging ums Prinzip; ganz banal. Niemand fliegt ungestraft uneingeladen ins Donitsystem ein. Es ist keine Aversion ... Wahrscheinlich waren wir so unwichtig für sie, wie man sich das nur vorstellen kann. Kein Hass, keine Angst; nur stumpfsinnige Bürokratie!

Seine Sippe – seine Familie – war für die thetisische Systemverteidigung lediglich ein Verwaltungsvorgang. Vielleicht war das die entsetzlichste Erkenntnis überhaupt: dass der Tod der Seinen absolut unwichtig war.

Leibnitz atmete mühsam. Der Drang, seine Wut und seine Verzweiflung nach draußen zu schreien, war beinahe übermächtig. Aber der Raumfahrer in ihm wusste allzu gut, dass jede Aufregung, jede unnötige Anstrengung Energie und Sauerstoff verschwendete.

Als ob das noch eine Rolle spielen würde, dachte er. Die KON-ILLIC wird nie wieder jemanden auffischen. Die Leerfischer haben ihre Netze verloren ...