Cover

Susy Utzinger Heimatlos | Aus dem Tagebuch einer Tierschützerin – Geschrieben von Franziska K. Müller – WÖRTERSEH

 

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© Wörterseh, Lachen

Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch
1., erweiterte Auflage 2022

Die Originalausgabe erschien 2017 als Klappenbroschur

Originalausgabe
Juristisches Lektorat: Dr. Georg Gremmelspacher, Rechtsanwalt
Lektorat: Lydia Zeller · Korrektorat: Brigitte Matern
Herstellerische Koordination und Gesamtverantwortung: Andrea Leuthold
Layout und Satz: Rolf Schöner, Buchherstellung
Erweiterte Taschenbuchausgabe
Lektorat: Brigitte Matern · Korrektorat: Andrea Leuthold
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Fotos Umschlag: Susy mit Grauwolf Wolfgang © Monty Sloan/Wolf Park, USA; Ausschnitt Originalausgabe © Vera Hartmann Photography
Fotos Bildteil: Susy Utzinger Stiftung
Bildbearbeitung: Michael C. Thumm
Satz: Beate Simson · Druck und Bindung: CPI Books GmbH

ISBN 978-3-03763-323-6 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-071-6 (Originalausgabe, vergriffen)
ISBN 978-3-03763-713-5 (E-Book)

www.woerterseh.ch

 

In inniger Dankbarkeit für Lars und für alle Menschen, die meine innere Heimat sind.
Und für alle, die anderen eine Heimat schenken, ob Menschen oder Tieren.

 

»Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige.«

Albert Schweitzer

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorinnen

Vorwort zur Neuauflage

Vorwort

10. Mai 2015

30. Juli 1973

14. Oktober 1974

18. Februar 1976

14. Juli 1981

30. Dezember 1983

3. März 1985

7. März 1988

29. Juni 1991

20. Februar 1992

4. März 1992

18. Januar 1993

22. März 1993

7. Juli 1993

2. Oktober 1993

12. Februar 1994

10. Dezember 1994

2. März 1995

17. April 1996

29. September 1996

27. Februar 1997

10. Februar 1998

26. März 1998

3. Mai 1998

20. Juni 1998

22. Juli 1998

29. März 1999

19. Oktober 1999

22. November 1999

27. Februar 2000

2. März 2000

22. August 2000

7. September 2000

1. Februar 2001

15. Februar 2001

9. März 2001

31. Mai 2001

14. Juli 2001

6. Januar 2002

22. Juni 2002

15. August 2002

21. Oktober 2002

2. November 2002

25. März 2003

30. April 2003

2. März 2004

5. Dezember 2005

20. Dezember 2006

18. Juli 2007

30. September 2007

11. Juni 2008

23. Juni 2008

31. Oktober 2008

10. Februar 2009

22. Mai 2009

25. August 2010

5. September 2010

10. Oktober 2010

4. Mai 2011

8. Juli 2011

10. Juli 2011

13. August 2011

22. September 2011

29. Oktober 2011

2. November 2011

6. Dezember 2011

9. Februar 2012

5. August 2012

21. Februar 2013

20. Mai 2013

10. Juni 2013

1. August 2013

4. September 2013

10. Juli 2014

25. Juli 2014

16. August 2014

27. August 2014

29. August 2014

4. September 2014

10. September 2014

7. Oktober 2014

12. Oktober 2014

1. Februar 2015

2. Mai 2015

17. August 2015

7. September 2015

1. Oktober 2015

5. Oktober 2015

28. November 2015

15. Dezember 2015

10. Januar 2016

27. Januar 2016

18. März 2016

16. April 2016

21. Juni 2016

31. Juli 2016

5. August 2016

6. August 2016

Bildteil

Nachtrag, Oktober 2021

Erkenntnis dank Froschschenkeln und Hühnereiern: Jean

Krümel, Thirty, Pferde: Rumänien

Standardsicherung und Know-how-Transfer: Schweiz

Fachwissen säen, Tierschutz ernten: SUST-Akademie international

Kleine Wunder: Ungarn

Den Schmerz aushalten lernen: Lars

Ein fulminanter Start: Ägypten

Flügel für den Tierschutz: Bulgarien

Gut zu wissen

SUST-Akademie

Tierschutz durch kostenlose Information

Auf Deutsch erschienene Broschüren

Poster und Postkarten, die Tieren helfen

Notfall- und Vorsorgeset für Tierhalter

Weitere Informationen

Dank

 

Über die Autorinnen

SUSY UTZINGER, geb. 1969, setzt sich seit Jahrzehnten aktiv für den Tierschutz, vor allem im Haus- und Heimtierbereich, ein. Während fünfzehn Jahren leitete sie gesamtschweizerische Tierrettungsorganisationen und deren Notfallzentralen, fuhr Tierrettungsfahrzeuge und baute zwei Schweizer Tierheime auf. Als freiberuflich tätige Journalistin und Tierfotografin publiziert sie in diversen Medien regelmäßig Arbeiten zu tierschutzrelevanten Themen und hält auch immer wieder Vorträge. 1993 erhielt die engagierte Tierschützerin den Schweizer Tierschutzpreis der Elisabeth-Rentschler-Stiftung, im Lauf der Jahre folgten international weitere Auszeichnungen.

Ebenfalls 1993 absolvierte Susy Utzinger ein Ethologie-Praktikum im Wolf Park in Indiana (USA). Diverse andere Weiterbildungen folgten – so schloss sie unter anderem ein zweijähriges Studium als tierpsychologische Beraterin am I. E. T. in Hirzel ab. Sieben Jahre nach der Gründung der Organisation »TierRettungsDienst – Leben hat Vortritt« im Jahr 1993 rief die Zürcherin zudem die Susy Utzinger Stiftung für Tierschutz (SUST) ins Leben und setzt sich seither verstärkt für die Qualität von Tierschutzprojekten im In- und Ausland ein.

Franziska K. Müller
Foto: © Samuel Mizrachi

FRANZISKA K. MÜLLER ist Autorin und Ghostwriterin. Für Wörterseh hat sie bereits elf Bücher geschrieben, von denen »Wanna Waki«, »Leben!«, »Platzspitzbaby«, »Für immer« und »Mit Köpfchen durch die Wand« auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste standen. Auf die Idee, ein Buch über Susy Utzinger zu schreiben, kam sie, als sie die kleine Promenadenmischung Ellie adoptierte, die einst in einem ungarischen Tierheim lebte, das von Susy Utzinger unterstützt wird. Während der Recherche zum Buch erfuhr die Autorin, dass der seriöse Tierschutz anders funktioniert, als sich die meisten Laien das vorstellen, und nachhaltige Verbesserungen niemals nur mit Liebe und Mitleid erreicht werden können.
Für Menschen, die ihre Lebensgeschichten schriftlich festhalten oder ein erzählendes Sachbuch mit spezifischen Themenschwerpunkten realisieren möchten, hat Franziska K. Müller das Angebot privatbiografie.ch geschaffen. Sie lebt und arbeitet in Zürich und Wien.

 

Über das Buch

Im Buch »Heimatlos« erzählt Susy Utzinger von ihrer Faszination für Tiere, ihrem großen Engagement für den Tierschutz, aber auch von ihrer schwierigen Kindheit. In eindrücklichen Geschichten lässt sie die vergangenen zwanzig Jahre Revue passieren, gibt Einblick in ihre unermüdliche Pionierarbeit im In- und Ausland und erinnert sich an unzählige traurige, anrührende und glücklich verlaufene Geschichten mit ihren Schützlingen. Dabei vergisst sie nicht, auch kritisch hinter die Kulissen des heutigen Tierschutzes zu blicken; einer Thematik, die in den vergangenen Jahren einen grundlegenden Wandel erfuhr. Wenn Susy Utzinger nach ihren wichtigsten Erkenntnissen in Zusammenhang mit dem seriösen Tierschutz gefragt wird, antwortet sie: »Nachhaltiger Tierschutz ist mehr als eine Schale Wasser und genügend Futter; er bedeutet vor allem viel Arbeit, Disziplin und Durchhaltewillen.« Und so bildet die Gründerin der »Susy Utzinger Stiftung für Tierschutz« unermüdlich Fachkräfte aus, optimiert Tierheime und ist bei unzähligen Projekten – unter anderem in Rumänien und Ungarn – federführend engagiert. Von ihrer Mission ließ sich die Schweizerin nie abbringen. Weder durch berufliche Rückschritte noch durch private Schicksalsschläge. Das positive Resultat: Zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen und freiwilligen Helfern ermöglichte sie bereits Zehntausenden von Tieren ein artgerechtes und besseres Leben.

»Ebenso berührend wie Respekt gebietend wird hier – im Stil eines Tagebuchs – Susy Utzingers Leben und ihr Werk aufgezeichnet. Harte Kindheit, überschattete Jugendjahre, familiäre Konflikte – nichts konnte die Tierschützerin daran hindern, ihren schwierigen Weg zu gehen. ›Aufgeben ist in meiner Genetik nicht verankert‹, sagt sie – und tatsächlich: Mit Beharrlichkeit, Professionalität und in ihrer sentimentalitätsfreien Art verfolgte und verfolgt sie weiterhin ihre Ziele. Heimatlos ist nicht nur das Dokument eines bewundernswerten Tierschutz-Engagements, sondern vor allem auch eine ebenso packende wie berührende Biografie.«

Erich Gysling,
Journalist und Tierschützer

 

Vorwort zur Neuauflage

Die erste Auflage meines Buchs »Heimatlos« ist vergriffen, wie wunderbar! Dass es so fleißig gekauft und gelesen wurde, freut mich unglaublich. Es gibt mir die Gewissheit, dass es einen Sinn hatte, mein Leben und meine Erlebnisse in ein Buch packen zu lassen – nicht für mich, sondern für die vielen Leserinnen und Leser und natürlich für die Tiere, die von dem darin weitergegebenen Tierschutzwissen profitieren.

Auf das Buch habe ich unzählige schöne Reaktionen erhalten: Viele schrieben mir, dass sie seither mehr von Tierschutz verstehen und sich nun kompetenter und noch engagierter dafür einsetzen. Einige besuchen heute auch unsere Weiterbildungskurse und unterstützen die Stiftung finanziell. Das alles ist für mich und unsere Arbeit eine große Ermutigung.

Die Erstauflage endete im August 2016 mit den Worten: »Was die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht, und doch sind wir glücklich: in diesem Moment, der für die Ewigkeit ist.« Auch die Arbeit an dem Buch und die gute Zusammenarbeit mit der Autorin Franziska K. Müller hatte mich damals glücklich gemacht, obwohl ich dabei zu etwas gezwungen worden war, was ich nicht so gern tue: stehen bleiben und zurückblicken. Was ich bei dem Lebensrückblick damals gesehen hatte, machte mich jedoch stolz.

In den vergangenen fünf Jahren hat sich vieles gut ineinandergefügt: Unsere Projekte haben sich etabliert, neue kamen hinzu, auch das Bewusstsein für den Tierschutz in der Landwirtschaft beginnt sich langsam, aber sicher zu schärfen. Deshalb haben wir diese Neuauflage um einen Nachtrag erweitert und aus meinem Wunsch heraus auch das Cover neu gestaltet. Mit dem Bild einer neuen alten Liebe aus dem Wolf Park in Battle Ground, USA, wo ich Anfang der Neunzigerjahre mein Ethologie-Praktikum absolvierte; mehr darüber ab Seite 42. Mein Lieblingswolf damals war Sokrates – wir hatten einen sehr besonderen Draht zueinander. Über fünfzehn Jahre später – Sokrates war mittlerweile gestorben – betrat ich den Wolf Park wieder, und einer der Wölfe kam auf mich zu, als würden wir uns schon lange kennen: Es war Sokrates’ Sohn Wolfgang, der Wolf auf diesem Bild. Auch mit ihm verbrachte ich wunderschöne Momente.

Den Nachtrag finden Sie ab Seite 205 und erfahren dort, was sich an Gutem und Schönem, aber auch an weniger Gutem und Tragischem ereignet hat. Und warum es wichtig und unabdingbar ist, Momente für die Ewigkeit festzuhalten.

Susy Utzinger, im Januar 2022

 

Vorwort

Als wir Ellie auf einer Fotografie zum ersten Mal sehen, blickt sie uns aus schwarzen Knopfaugen aufgeweckt entgegen. Nach längeren Gesprächen mit der zuständigen österreichischen Tierschutzorganisation erfahren wir, dass die rund vierjährige Mischlingshündin über eine sogenannte Tötungsstation in die Obhut eines Tierheims gelangte, das in der Nähe von Budapest liegt. Wir machen uns von Wien aus auf den Weg und halten bald ein federleichtes und sehr krankes Bündel in den Armen. Die ersten Interessenten lehnten Ellie aufgrund ihres Zustandes ab, den zweiten war die Reise nach Ungarn zu weit. Unser Glück, denn nun gehört sie zu uns.

In den nächsten Monaten erholt sie sich gesundheitlich nur langsam, und das Vertrauen muss ebenfalls in kleinen Schritten erarbeitet werden. Manche Angewohnheiten bleiben lange Zeit bestehen: Ist man spätnachts mit Ellie unterwegs, kontrolliert sie jeden Geschäftseingang. Mit manchen Autos will sie unbedingt mitfahren, egal, ob sie den Lenker kennt oder nicht. Junge Männer in Sportkleidung, die das Eau de Toilette »Roma« verwenden, schaut sie mit herzerweichendem Blick an. Den Wald kennt sie nicht, zu spielen und zu schnüffeln, das muss sie erst lernen und auch, dass sie sich auf Menschen verlassen kann.

Wenn ich Ellie heute sehe, schwarz gelockt und ein ganzes Kilogramm schwerer, wie sie immer selbstbewusster auf uns zuspringt und ihren Kopf minutenlang in Samuels oder meine Hände legt, wie sie zaghaft wedelnd auf fremde Menschen zugeht und die Welt entdeckt, bin ich beeindruckt: von einem Lebewesen, das trotz schlechten Erfahrungen hoffnungsvoll geblieben ist. Dass es solche Geschichten tausendfach gibt, wusste ich damals noch nicht, doch als sich Monate später das Buchprojekt mit Susy Utzinger zu konkretisieren beginnt, setze ich mich vertieft mit den Themen des Tierschutzes auseinander. Was Tiere aus vielfältigen Gründen erleiden müssen, weiß ich heute und auch, dass der Tierschutz ein komplexes Fachgebiet ist, in dem sich viele Amateure und auch unseriöse Organisationen tummeln. Zudem: Auch als Tierfreund kann man viel falsch machen.

Die Gespräche mit Susy finden in Kollbrunn statt, dem Geschäftssitz der »Susy Utzinger Stiftung für Tierschutz«. Sekretariat, Schulungszentrum und ein riesiges Warenlager befinden sich im ehemaligen Gewerbekomplex. Von hier aus werden Einsätze in der Schweiz und in aller Welt organisiert: für Straßenhunde in Rumänien, Ungarn und Afrika. Für Kapuzineraffen und Wickelbären in Peru. Für Jagdhunde in Spanien. Für Esel, Pferde und Kamele in Ägypten. Zehntausende von Tieren hat die 48-Jährige in den vergangenen zwanzig Jahren gerettet, wohl Hunderttausende verdanken ihr und ihren Mitstreitern und Gönnern ein besseres Leben. Auch in der Schweiz.

Die Arbeit hinter den Kulissen, das Wühlen in Dreck und Elend, die Auseinandersetzung mit Menschen, die Tiere quälen, missachten und misshandeln, die jahrelange Aufbauarbeit, die bisweilen nur winzige Verbesserungen bewirkt, die vielen Rückschläge, die hingenommen werden müssen, das alles bezeichnet Susy Utzinger als logische Konsequenz eines Engagements, das in den vergangenen Jahren zwar eine positive Akzeptanz erfahren, jedoch auch neue Probleme kreiert habe und in vielen Aspekten wie ein Perpetuum mobile funktioniere. Die Tierschutzpionierin, meist in Sportkleidung, die blonden Haare hochgesteckt, die Schuhe flach und bequem, ist immer auf dem Sprung, und genauso schnell, präzise und zielorientiert ist auch ihre Gedankenwelt. Ihre Ungeduld, die manchmal spürbar ist, weiß sie zu zügeln, sie bleibt freundlich, auch wenn sie Tempo machen möchte. Diverse Auslandeinsätze, Kastrationsaktionen und Tierheimoptimierungen in der Schweiz, der Ausbau des eigenen Tierheims, die Inbetriebnahme des Tierwaisen-Hospitals in Rumänien, Vorträge, Fachtagungen – dies sind nur einige Pendenzen, die im Jahr 2016 auf dem Programm standen. Zudem: ihre Hochzeit, die Begleitung von Lars während seiner Krankheit, das Buchprojekt.

Susy Utzinger sagt, die vielen Erfahrungen, die sie im Verlauf ihres langjährigen Engagements gemacht habe, würden Treibstoff liefern, sie heute aber auch fast jede Herausforderung annehmen lassen. Und anders, als man denken könnte, spielen nicht nur Tiere eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Auf die Frage, was der persönliche Gewinn ihrer Arbeit sei, antwortet sie: »Ich habe Vertrauen in die Menschen gewonnen.« Wäre Ellie dazu imstande, würde sie – vielleicht stellvertretend für andere Tiere und Menschen – den Hut vor Susy ziehen.

Franziska K. Müller, im Sommer 2017

 

10. Mai 2015

Es ist nach Mitternacht. Bläulich leuchtet der Bildschirm. Betreff: eine Frosch-Aktion im Kanton Zürich; die Rettung einer Kuh im Berner Oberland; Aufnahmen von Hunden, Katzen, Papageien, Meerschweinchen und Reptilien in unserem Tierheim. Auch Fragen und Reklamationen sind in meine Mailbox gelangt: Handelt es sich um Tierquälerei, wenn die Dame aus dem Villenquartier dem Pudel ein Halsband aus echten Diamanten umlegt? Ist es unter der Würde kleiner Hunde, bei einer Tanzeinlage im Fernsehen aufzutreten? Zweimal: nein. Vieles sehe ich pragmatisch. Die Vermenschlichung von Vierbeinern hat eigene Gründe und ist nur schlimm, wenn die Tiere in ihrem Wohlbefinden oder in ihrem arttypischen Verhalten beeinträchtigt werden. Andere Bitten – das Hunde-Elend in China zu beheben, den Papst in Tierschutzfragen auf einen andern Kurs zu bringen und in diesem Sinn auch im Koran Veränderungen vornehmen zu lassen – muss ich, wie ich den Schreibenden mitteile, auf später verschieben, da ich mich zurzeit auf kleinere, aber ebenfalls wichtige Probleme konzentriere. Wenn ich manche der geforderten Aktionen bleiben lasse, weil sie keinen Sinn machen, kann dies heftige Reaktionen hervorrufen. Ich muss damit leben, dass ich nicht von allen Menschen, die sich als Tierschützer bezeichnen, geliebt werde.

Soeben bin ich aus Rumänien zurückgekehrt. Reinigungsarbeiten, Parasitenbehandlungen, politische Gespräche, Umstrukturierungen im laufenden Betrieb und mehrere hundert Kastrationen standen auf dem Programm. Nach jahrelanger Arbeit, in die Dutzende von Menschen aus den verschiedensten Disziplinen eingebunden waren, kann ich in diesem Tierheim heute auswählen: aus Bildern von Hunden, die artgerecht gehalten werden, nicht mehr verhungern und verdursten, keine Qualen erleiden müssen. Ich versehe die Dokumentation des zurückliegenden Einsatzes mit Texten, poste sie auf Facebook und rekapituliere die menschliche Schadensbilanz der vergangenen Woche: Sonnenstich. Muskelzerrung. Dehydrierung. Katzen- und Hundebisse. Ein Weinkrampf. Obwohl wir Fachkräfte und freiwillige Helfer akribisch rekrutieren und auf die Arbeitseinsätze vorbereiten, bleiben seelische und körperliche Blessuren nicht aus. Schrammen, blaue Flecken und Dutzende von Flohbissen bedecken auch meinen Körper. Sie gehören einfach dazu. Anderes nicht: Technische Ungenauigkeit, Verspätung in den Arbeitsabläufen oder fehlende Bewilligungen führen in einem fremden Land schnell zum Verlust von wertvoller Zeit. Manche sagen, meine logistische Planung sei pingelig. Ich antworte: Sie ist genau, denn alles andere geht zulasten jener Lebewesen, die wir schützen wollen: der Tiere.

Ich bin todmüde und kann mich doch kaum von der Tastatur trennen: Seit ich als Sechsjährige schreiben lernte, kritzelte ich unablässig in Hefte, und ab der dritten Klasse führte ich ein Tagebuch. Schon als Kind war es mir ein Bedürfnis, festzuhalten, was in meinem Leben und im Leben der Tiere geschah, für die ich früh Verantwortung übernommen hatte. Damals schrieb ich von Hand in linierte Notizbücher. Eines davon war mit glitzerndem, rotem Papier eingebunden. Zusammen mit dem Puppenwagen, in dem mein Plüschschimpanse Judy lag, und den Fotografien, die meine Eltern von mir gemacht hatten, verschwanden sämtliche Dokumente einer nicht eben glücklichen Kindheit vor vielen Jahren: vermutlich in einem großen Müllsack. Damals, als der Skandal ans Tageslicht befördert wurde. Als ich nicht bereit war, zu schweigen, untätig zu bleiben und zu decken, was in meiner Familie offenbar als verzeihbarer Fehler galt. Doch ich erinnere mich an vieles, erinnere mich auch an meine frühen Niederschriften über Erlebnisse mit Menschen und Tieren, die mit wechselnden Spielplätzen, Häusern, Wohnungen, Schulen verbunden waren. Darum kann ich sie hier nacherzählen und in meine Biografie integrieren.

 

30. Juli 1973

Ich sitze auf dem Boden, Mutter hat soeben den Telefonhörer aufgehängt. Sie sagt bloß drei Worte: »Opa ist tot.« Opa und Oma. Sie sind meine nächsten Bezugspersonen, ich lebe die meiste Zeit bei ihnen. Sie lieben mich, das haben sie oft genug gesagt. Meine Eltern sind mit sich selbst beschäftigt und mögen dieses Kind, das sich in ihrem Dasein eingenistet hat, nicht sonderlich. Opa. Wenn man auf einen Käfer tritt, ist er tot. So viel weiß ich als Vierjährige über das Sterben. Später zerstöre ich in einem Wutanfall mein Zimmer. Die Eltern stehen im Türrahmen und beobachten mich in einer Mischung aus Unverständnis und Gleichgültigkeit. Sie trösten mich nicht, sie analysieren lediglich mein Verhalten und überlassen mich meinem Schmerz. Auch in den folgenden Jahren unterhalten sie sich oft lautstark über mich. Vereint in Erstaunen darüber, was dieses Kind, das in ihrem Leben ein Fremdkörper bleibt, anstellt, sagt, will, fragt. Zuerst speisen mich die Erwachsenen mit Erklärungen zu Opas Tod ab, die mir nicht einleuchten. Seine Seele im Himmel. Engel, die ihn beschützen. Argwöhnisch blicke ich Vater an. Also erzählt er mir die Wahrheit, worauf ich ruhiger werde und das Unabänderliche zu akzeptieren scheine. Fortan besuche ich mit Oma den Friedhof, einen Ort des Friedens und der Schönheit. Sie pflegt das Grab, wischt im Herbst Blätter und im Winter Schnee von der Grabplatte, pflanzt im Frühjahr Primeln und Veilchen, und im Sommer sitzen wir im Schatten der Bäume und erinnern uns wortlos an einen Mann, den wir beide geliebt haben.

Nach Großvaters Tod lebe ich die meiste Zeit bei den Eltern in Dübendorf. Mutter zieht am Abend ein Cocktailkleid an und legt die Kette aus bunten Glassteinen um den Hals. Sie zündet eine Zigarette an, der hellrote Lippenstift haftet an den Kippen im Aschenbecher, die ich zähle, wenn die Eltern weg sind und mir langweilig ist. Tagsüber beobachte ich von meinem Fenster aus den Bau eines riesigen Einkaufszentrums. Der Aushub ist ein Ereignis, das Hochziehen der Mauern, die mit Armierungseisen verstärkt worden sind, der Betonmischer, der Bagger. Beim Einsetzen der verspiegelten Fensterscheiben freue ich mich. Dann malen die Bauarbeiter Streifen auf den Boden, Ampeln und Verkehrsschilder werden angebracht. Luftballone und Papiergirlanden wirbeln im Wind. Als ich andere Familien Hand in Hand zum Einweihungsfest gehen sehe, entdecke ich ein Hündchen; es ist angebunden, niemand schenkt ihm Beachtung. Es ist fast Winter. Ich laufe auf die Straße, der Welpe friert, er zittert am ganzen Körper. Ich ziehe ihm meinen Pullover über.

In Dübendorf wird meine Schwester geboren. »Ein Wunschkind«, sagt die Mutter. Es ist nicht seltsam. Nicht schweigsam. Nicht sperrig. Es ist anschmiegsam, erhält ein gerüschtes Kleid und wird mit Schokoladenmilch gefüttert.

 

14. Oktober 1974

Die Eltern entdecken eine neue Einnahmequelle. Sie nehmen Kinder aus schwierigen Verhältnissen auf. Vanessa mögen sie, doch ihre weniger reizende Schwester soll wieder fortgeschickt werden. Ich verbringe viel Zeit mit Hasso, einem Deutschen Schäferhund, den meine Eltern angeschafft haben, und bald bin ich mit ihm draußen unterwegs, wenn die Eltern außer Haus sind. Die Fünfjährige und der ausgewachsene Schäferhund sind ein ungleiches Paar. Ein Nachbar informiert Vater und Mutter. Ab sofort darf ich Hasso nicht mehr ausführen.

Ich vermisse das Zuhause meiner Großeltern. Die hübschen Vorhänge, die jungen Katzen. Die Ruhe und das Gefühl, an nichts schuld zu sein. Andere Mütter erzählen ihren Kindern vor dem Zubettgehen Märchen von Feen und Zauberern. Meine Mutter erzählt mir auf dem Bettrand sitzend, wie meine Ankunft ihre Zukunft zerstört habe. Sie sagt: »Ohne dich wäre ich Fotomodell oder Ärztin geworden. Und was bin ich nun? Die Frau des Hauswarts.« Ich erfahre auch: Meine Ankunft hat verhindert, dass Mutter Geld verdienen und die Eltern sich eine Wohnung mit Heizung leisten konnten. In ihrem ersten Daheim fehlte sogar ein Tisch, sodass sie das Essen auf dem Fußboden sitzend einnehmen mussten. Meine Schuld an ihrer Armut und ihren unerfüllten Träumen wiegt für Mutter offenbar schwer, während Vater hochfliegende Pläne hegt, die jedoch alle unerfüllt bleiben.

 

18. Februar 1976

Als ich sechsjährig bin, ziehen wir erneut um – nach Greifensee. Die Eltern arbeiten nun beide, ihr Sozialleben findet im einzigen Restaurant der Umgebung statt. Wir leben in einer Göhner-Siedlung: Die riesige Landschaft aus vorfabrizierten Bauelementen im Stil von Plattenbausiedlungen gefällt mir sehr gut, das Optische deprimiert mich keineswegs. Ich sehe Grünflächen, Spielplätze, Sitzgelegenheiten, Kinder, junge und alte Menschen und blicke an manchen Tagen nun bis an den Rand des Horizontes. Ich besuche die Primarschule und bin eine gute Schülerin. Meine Eltern sind stolz, denn obwohl sie alle Studierten hassen, halten sie Bildung paradoxerweise für das höchste Gut der Menschheit. Freizeitaktivitäten hingegen und neue Erziehungsansätze, die es den Kindern erlauben, eine eigene Meinung oder Wünsche zu formulieren, titulieren sie als lächerliches Getue von pädagogischen Dummköpfen, die sie im linksradikalen Milieu orten.

Bestrafungen sind in unserer Familie häufig. Ein trotziger Blick, Widerworte, eine Träne, die zum falschen Zeitpunkt über die Wange kullert, führen zu Sanktionen. Hausarrest ist dabei kein Thema. »Verschwinde«, sagt Mutter, worauf ich sofort die gelben Gummistiefel anziehe. Ich verbringe Stunden und Tage im Freien. Bei Wind und Regen sitze ich in der Betonröhre, die zum Spielplatz gehört. Niemand sucht nach mir, niemand erlaubt die Rückkehr. Den Fragen fremder Erwachsener weiche ich aus, für mich ist diese Situation normal und kein Grund zur Aufregung. Bald weiß ich, wann der günstige Zeitpunkt gekommen ist, um ins Haus zu schleichen. Es liegt dann etwas in der Luft, eine Schwingung, ein Duft, ein Klang. Vielleicht weiß ich auch einfach nach Nachmittagen und Abenden, an denen nur vordergründig nichts geschieht, der Himmel seine Farbe verändert, Vögel zwitschern und verstummen, Ameisenstraßen eine nie enden wollende Unterhaltung bieten, die Katze vor dem Hund flüchtet, der Hund vor seinem Meister und mein Notizheft sich mit neuen Schilderungen füllt, dass ich zurückkann – und auch muss.

Stillschweigend und als wäre nichts gewesen, setze ich mich an den Tisch und warte darauf, dass mir Vater einen Stoß versetzt oder mich an den Haaren zupft. Abneigung zu äußern, fällt meinen Eltern nicht schwer, sie können auf eine breite Palette von Anschuldigungen und hässlichen Wörtern zurückgreifen. Was ich lange Zeit als normal betrachte, empfinde ich erst viel später als eigenartig: Wenn Vater seine Zuneigung oder Versöhnlichkeit kundtun will, rempelt er mich an, stellt mir ein Bein, zwickt mich heftig oder versetzt mir mit der Hand Schläge von unterschiedlicher Härte.

Gleichzeitig entwickeln sich meine Eltern zu Tierfreunden. Im Kinderzimmer pflege und füttere ich Streifenhörnchen, Reptilien und aus dem Nest gefallene Vögel. Mit ihnen lebe ich Fürsorglichkeit und andere positive Gefühle aus, vor allem aber ermöglichen mir die Tiere die Flucht in eine andere Welt. Vater, der gern Polizist geworden wäre, führt mit der neuen Schäferhündin Hilla ein diszipliniertes Arbeitstraining im Freien durch, zu dem er mich bald mitnimmt. Die Zuneigung der Eltern zu den Tieren empfinde ich als echt, wenn auch als dominant. Sie und leider viele Tierfreunde schieben anderen Menschen die ganze Schuld an ihren Enttäuschungen und Misserfolgen in die Schuhe, ohne ihre eigenen, meist mangelhaften Sozialkompetenzen zu hinterfragen. In den Tieren dagegen finden sie widerspruchslose Gefährten, die ihnen gehorchen und ihr Selbstwertgefühl steigern. Deren eigene Bedürfnisse stehen aber oft erst an zweiter oder dritter Stelle.

Für anderes bin ich den Eltern rückblickend dankbar: Von Gefühlsduselei im Umgang mit Hund, Katz und Maus halten sie nichts. Schauen wir uns zusammen einen Tierfilm an, darf ich das Zimmer nicht verlassen, wenn der Löwe die Babygazelle reißt. »Das ist Natur«, lautet das Argument meines Vaters, und Heulen ist auch nicht erlaubt.

Dass unsere Schäferhündin verunfallte, ist der Auslöser für eine Geschäftsidee, von der sich mein Vater persönlichen Erfolg verspricht. Erst nach zwei Stunden und unzähligen verzweifelten Telefonaten fand sich ein Fahrer, der bereit war, das stark blutende und schwer verletzte Tier zu transportieren. Die berechtigte Annahme, dass es immer wieder zu solchen Situationen kommt, wenn Haustiere angefahren oder auf andere Art verletzt werden, lässt meine Eltern die »Veterinärambulanz« gründen, die sie später unter dem Namen »Tierambulanz« weiterführen.* Dieses unausgegorene Projekt gerät zur Obsession meines Vaters: Er will schweizweit flächendeckend die Bergung verunfallter und verletzter Tiere garantieren und daraus ein florierendes Business machen. Da er kein Geschäftsmann ist, von einer strukturierten Betriebsführung nicht nur keine Ahnung hat, sondern eine solche auch für überflüssig hält, wird dieses Ziel unerreichbar bleiben. Der Pikettdienst findet neben dem Telefon im Wohnzimmer statt, und anfänglich muss rund um die Uhr ein Mitglied der Familie auf nur sehr selten eingehende Meldungen warten. Bis die ersten Mobiltelefone auf den Markt kommen, dauert es noch Jahre, und erst viel später erleichtern Umschaltkasten und Pager diese Aufgabe.

Bald bin ich in die Arbeit eingebunden und übernehme den nächtlichen Telefondienst für unseren Kanton bis 23 Uhr und oft auch bis in die frühen Morgenstunden. Erhalte ich einen Anruf, benachrichtige ich die nun im Schichtbetrieb arbeitenden Eltern oder leite selbst das Nötige in die Wege, damit einer der freiwilligen Fahrer an die genannte Adresse ausrückt. Oft übernächtigt, besuche ich am nächsten Morgen den Schulunterricht. Trotzdem liebe ich meine Arbeit: Als kleines Mädchen bin ich zusammen mit meinem Vater an vielen Rettungen beteiligt. Wir begleiten leidende Tiere zum Arzt, und bald darf ich auch bei medizinischen Interventionen dabei sein. Wenn die schwere Entscheidung getroffen werden muss, ein Tier von seinen Qualen zu erlösen, begleite ich es in seinen letzten Minuten.

Die Aufgaben, die ich im Rahmen der Tierambulanz übernehme, aber auch der Umstand, dass man mir viel zumutet und zutraut, prägen mich für immer. Früh sehe und erlebe ich Dinge, die manche Menschen vielleicht als ungeeignet für Kinderaugen bezeichnen würden. Tatsächlich gelange ich so zu einem Verständnis von Empathie, das für mich bis heute Gültigkeit hat. Das eigene Leid, das man beim Anblick schwer verletzter, kranker, hungernder oder misshandelter Tiere empfindet, möchte man sofort ausschalten, indem man es nicht in die Seele dringen lässt, sich zurückzieht, wegschaut, wegläuft. Meine Kindheit lehrte mich – und dafür bin ich den Eltern ebenfalls dankbar –, dass echtes Mitgefühl mit dem Willen verbunden sein muss, die Probleme, die das Leid verursachen, an den Wurzeln zu packen, ungeachtet des eigenen Schmerzes. Zu meinem kindlichen Alltag gehört es, dass Lebewesen krank werden, verunfallen, sterben. Und früh weiß ich, dass nichts für die Ewigkeit ist. In Verbindung mit der wachsenden Angst, von jenen abhängig zu sein, die mich offensichtlich nicht lieben, wächst in diesen Jahren mein Bedürfnis nach Autonomie. Mich heimatlos zu fühlen, eröffnet mir dabei neue Chancen: Ich richte in meinem Herzen früh ein Zuhause ein, das weniger mit einem Land oder einer Familie zu tun hat als mit mir selbst, mit meinen Überzeugungen und Handlungen und später auch mit Menschen, die zu mir passen.

1999 wurde ein neuer Tierambulanz-Verein gegründet, der heute noch tätig ist, aber weder mit meinem Vater noch mit mir etwas zu tun hat.

 

14. Juli 1981

Zu Weihnachten habe ich einen Hamsterkäfig erhalten, der 99 Franken gekostet hat. Ich bin überglücklich, denn nun kann sich Poldi auf fünf verschiedenen Ebenen vergnügen. In Aussicht gestellte Familienausflüge scheitern jetzt meist mit dem Blick in ein Portemonnaie, das leer ist und auch leer bleiben wird, und unsere Mahlzeiten sind zunehmend einfach und billig. Doch das stört mich nicht, denn meinem Kleintierzoo, den ich im Kinderzimmer unterhalten darf, fehlt es an nichts. Die Affären meines Vaters hingegen und die immer heftiger werdenden Streitigkeiten der Eltern schockieren mich nachhaltig. Was enden müsste, kann nicht enden, denn im nächsten Augenblick versöhnen sich die beiden, vereint in der Abhängigkeit und in gemeinsamen Feindbildern. Jene Menschen, die Karriere machen, zufriedene Beziehungen unterhalten, fähig sind, persönliche Probleme zu analysieren, um mögliche Verbesserungen oder zumindest Entscheidungen herbeizuführen, verabscheuen sie ebenso wie jene, die über ein differenziertes Weltbild verfügen.

Offenbar stehen Mutter und Vater auch bei verschiedenen Gläubigern in der Kreide, was dazu führt, dass wir die Siedlung und jene Menschen, die zu verlässlichen Bezugspersonen geworden sind, nach sechs Jahren verlassen müssen. Diesmal muss der Wegzug geheim gehalten werden. Gegenüber meinen Freundinnen fühle ich mich wie eine Verräterin, aber ich halte dicht, aus Angst vor der angedrohten Strafe des Vaters. Dieser Neuanfang ist eine schmerzhafte Trennung von allem, was ich nicht verlassen will, und der Abschied ist schlimmer als die bisherigen.

Wir beziehen eine winzige Wohnung in Uster. Schulisch bin ich den Mitschülern weit voraus. Bei den seltenen Besuchen, zu denen mich meine Kameradinnen einladen, sehe ich, dass die anderen Mädchen zu Hause auch keine Prinzessinnen sind – aber auf ihre Gefühle und Bedürfnisse wird doch Rücksicht genommen. Meine Eltern sind mit sich selbst und ihrem Wunschkind beschäftigt. Aber die Nichtbeachtung, die Bedeutungslosigkeit meiner Person hat ebenfalls nicht nur negative Folgen. Schon früh weiß ich: Ziele können schneller und besser erreicht werden, wenn man sich den einzelnen Aufgaben ohne Ablenkung durch die eigenen Emotionen widmet. Als Kind nutze ich die bereits vorhandene Kraft, um in der Einsamkeit meiner Familie zu überleben.

 

30. Dezember 1983

Der Aufenthalt in Uster ist ebenfalls von kurzer Dauer. Zwei Jahre später landen wir in Zürich Affoltern. Die Wohnsituation wird von Umzug zu Umzug prekärer. Diesmal finden wir uns in einem baufälligen Häuschen ohne Bad und Dusche wieder. Die einzige Wärmequelle, ein alter Holzofen, befindet sich im Wohnzimmer. Aus Decken und Pullovern schaffe ich den Tieren wärmende Plätze. Ich selber schlafe in den Kleidern, die ich auch tagsüber trage, schlüpfe in meinen Schlafsack und ziehe mir die Decke über das Gesicht. Zu meinem Vater habe ich als junges Mädchen zeitweise ein gutes Verhältnis. Zusammen stellen wir Fallen auf, um verwilderte Katzen einzufangen und kastrieren zu lassen. Vater erklärt mir, dass weibliche Tiere ein besseres Leben verdienen, als jedes Jahr Nachwuchs produzieren zu müssen, der in den wilden Kolonien für Hungersnöte sorgt. Verbundenheit erfahre ich, wenn wir uns in moralischen Fragen einig sind, es als respektloses Verhalten empfinden, wenn ein schwer verletztes Tier von einer Veterinärmedizinerin in grober Art und Weise getötet wird. Tränen vergießen wir nicht, dafür erstatten wir Anzeige beim entsprechenden Amt. Meinen Vater sehe ich zu diesem Zeitpunkt als Pionier. Vor allem sein unermüdliches, wenn auch erfolgloses Engagement für die Tierambulanz führt dazu, dass er vorübergehend zu meinem Helden wird.

Die Eltern führen ihre Hassliebe fort. Es kommt zu unglaublichen Szenen. Was noch schlimmer ist: Ab dem frühen Teenageralter figuriere ich als Klagemauer meiner Mutter, die mich tagtäglich mit ihrer Bitterkeit und vielen Details zu den frivolen Aktivitäten meines Vaters bedrängt. Aus dieser neuen Rolle gibt es kein Entkommen, auch weil mir als Zuhörerin zum ersten Mal Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bewunderung und Zuneigung für meinen Vater gehen mit den Tiraden meiner Mutter verloren. Im Nachhinein sehe ich im plötzlichen mütterlichen Vertrauen eine bewusste Strategie, mich dem Vater zu entfremden.

Nachdem sie mir jahrelang vorgerechnet hat, welche horrenden finanziellen Kosten ich verursache, wie unerwünscht und mühsam meine Existenz sei, findet sich im Teenageralter ein neues Thema, das für persönliche Angriffe sorgt. Ob ich hübsch bin oder nicht, damit befasse ich mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Meine blühende Jugend provoziert jedoch meine auf Äußerlichkeiten geradezu fixierte Mutter. Ich weiß nicht, wie oft sie mich in den folgenden Jahren hässlich schimpft und in Gegenwart Fremder lachend zu Verschönerungsaktionen mittels Haarfärbemittel und Schminkkasten auffordert. Für mich ist es eine Tatsache, dass ich nie einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde, und verhalte mich auch lange Zeit entsprechend. Dass man sein Äußeres optimieren muss, wenn man damit Vorteile erreichen will, lerne ich erst viele Jahre später. Aber im Gegensatz zu meiner Mutter, die mit dem schönen Lippenschwung und attraktiven Körpermaßen Währungen wie Aufmerksamkeit und Bewunderung verbindet, interessiert mich etwas anderes. Heute sage ich nur halb im Scherz: »Meinen langen blonden Haaren verdanken Tausende von Tieren ein besseres Leben.«