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Vorwort: Den Rücken stärken

Wenn der Rücken reden könnte ...

DER ANATOMIE AUF DER SPUR

Tatort Rücken

Körper und Seele: Wir haben „Rücken“

Unser Rücken: ein Wunderwerk

Hier spricht die Bandscheibe

Wie das Rückgrat im ganzen Körper wirkt

DAS KREUZ MIT DEM KREUZ

Ein Leiden, viele Ursachen

Das neue Volksleiden: Handynacken

Schmerz – ein Teufelskreis

Der Schmerzkreislauf

Der Umgang mit dem Schmerz

Mein Standpunkt: Stress – Fluch und Segen

Das Problem erkennen – die Diagnose

Röntgen oder Kernspin – wann ist was besser?

Mein Standpunkt: Niemand muss unter chronischen Schmerzen leiden

Der 5-Minuten-Test: Wie fit ist Ihr Rücken?

Das Problem angehen – die Behandlung

Mit minimalem Risiko

Von der klassischen Operation zur Mikrotherapie

Meist geht es ohne OP

Mehr Lebensqualität

7 überraschende Fakten über den Rücken

Beispiele aus meiner Praxis

Vielseitige Therapie

Sicher und verträglich

Im Team gegen den Schmerz

Die häufigsten Rückenbeschwerden

Beschwerden – und wie sie behandelt werden

SOS-Selbsthilfe bei akuten Schmerzen

Taping: bunte Streifen gegen den Schmerz

Eine kleine Massage

Triggerpunkte: Auslöser der Beschwerden

Triggerpunkt-Massage mit dem Tennisball

IHR TRAINING FÜR ZU HAUSE

So trainieren Sie richtig

Übungen zur Prävention

Einseitige Belastungen ausgleichen

Übungen zum Ausgleich

Übungen für Autofahrer

Yoga zum Entspannen

Faszientraining für den Rücken

DER RÜCKEN GANZHEITLICH GESEHEN

Gesundes Essen – gesunder Rücken

Die wichtigsten Bausteine der Nahrung

10 goldene Regeln für eine gesunde Ernährung

Im Bewusstsein, sich etwas Gutes zu tun

Zur Ruhe kommen: Entspannung

Achtsam durch den Tag

Ayurveda und Yoga

Mein Standpunkt: Ich bin ein Moor-Fan!

Immer in Bewegung bleiben

Oft ist weniger mehr

Welchen Nutzen, welche Risiken hat Ihre Lieblingssportart

Rücken im Fokus

Die richtige Technik

Ein gesunder Rücken von Kindesbeinen an

NEHMEN SIE HALTUNG EIN!

Die Grönemeyer-Wunderübungen für den Alltag

Die goldenen Regeln für den Rücken

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Vorwort

DEN RÜCKEN STÄRKEN

Wir schreiben das Jahr 2017. Eine Zeit, die in Science-Fiction-Romanen und Zukunftsfilmen des letzten Jahrhunderts nicht selten als eine des Wohlstands, der Sorglosigkeit, eines atemberaubenden technischen Fortschritts und einer totalen Gesundheit beschrieben wird. Raumschiffe, fliegende Autos, Frieden und Hightech-Medizin, die wie von Geisterhand Ganzkörperscans und -therapien ermöglicht. So viel zu Buch- und Filmideen. Doch wo stehen wir 2017 wirklich?

Computer- und Kernspintomografie, Schmerz- und Mikrotherapie: Wir haben enorme medizinische Fortschritte gemacht. Schaut man aber genauer hin, auch viele schmerzhafte Rückschritte. Weil wir vergessen haben, wo wir herkommen. Weil wir vergessen haben, dass der Mensch, dieses Wunderwerk, für sehr viel mehr Bewegung geschaffen ist. Weil wir in unserer Leistungsgesellschaft verdrängen, dass Leistung auch sprichwörtlich auf die Nerven und Knochen gehen kann. Dass wir mehr sind als nur Kopf-Menschen oder Körper-Maschinen, die wie am Fließband arbeiten. Wir Menschen sind mehrdimensional, keine Maschinen. Ärzte und Therapeuten sind Gehilfen, keine Monteure. Wir haben vergessen, an uns zu denken. An die Rücksicht auf uns selbst, wenn wir gesund und glücklich alt werden wollen. Stattdessen ist der Homo sapiens zum Gewohnheitstier geworden. Wir haben die Leiden unserer Zeit als unumstößlich akzeptiert: Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleibigkeit, Stress, Burn-out und nicht zu vergessen: Rückenleiden. Die Zahlen zum Thema Rücken erschrecken mich immer wieder: 9,1 Prozent der Krankheitstage in Deutschland (und damit trauriger Spitzenreiter) entstehen durch Rückenprobleme – Tendenz: steigend. So nachzulesen im Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2017.

In diesem Jahr feiert unser auf Rückenleiden spezialisiertes Institut in Bochum sein 20-jähriges Bestehen. Ein Grund zum Feiern, belegt es doch, dass mein Weg, den Rücken zu begreifen, hilft. Aber auch ein Grund zum Grübeln, weil die Nachfrage – trotz aller Appelle zur Vorbeugung – immer noch kontinuierlich wächst. Nach wie vor gibt es Millionen Betroffene in Deutschland. Nach wie vor sind die Wartezimmer und Operationssäle der Republik randvoll. Allein nach Bochum kommen jährlich Tausende Patienten in der Hoffnung auf Heilung. Und nach wie vor leiden der Einzelne und das gesamte Gesundheitssystem an „Rücken“. Weltweit!

Vorbeugung, Diagnostik, Selbst- und Akuthilfe sowie ein breites Therapiespektrum zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde, zwischen Hightech und Psychosomatik: Dieses Buch möchte Wege und Möglichkeiten aufzeigen, Bewusstsein schaffen und handfeste Tipps geben. Für Vorsorge genauso wie für Therapie und Nachsorge. Zivilisationskrankheiten sind kein Schicksal und Schmerzen keine Krankheit, sondern ein Alarmsignal des Körpers. Schmerzen, besonders Rückenschmerzen, können depressiv machen und das soziale Umfeld belasten. Die Kinder von heute sollten nicht die Patienten von morgen werden. Und die Patienten von heute sollten keine Schmerzen (mehr) haben müssen. Deshalb dieses Rückenbuch. Ein Buch, das mehr sein möchte als Zukunftsmusik. Ein praktisches Nachschlagewerk, das uns den Rücken stärkt. Heute. Morgen. Nach wie vor.

Ihr

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WENN DER RÜCKEN REDEN KÖNNTE ...

… würde er viel verraten. Er braucht in der Regel weder dauerhaft Medikamente noch Operationen, sondern Achtsamkeit und Fürsorge. Bei der Schmerzbehandlung gehen wir heute neue Wege und geben die Verantwortung an die Betroffenen zurück. Sie haben es selbst in der Hand!

Könnte Ihr Rücken reden, würde er Ihnen so viel erzählen über das, was ihn bedrückt und was ihn erfreut. Die Wirbelsäule ist wie ein offenes Buch. Wir sollten genauer darin lesen, wenn etwas passiert, wenn Sie sich um Ihr Leben Sorgen machen, wenn Ihnen die Angst im Nacken sitzt, weil Sie vielleicht Ihren Arbeitsplatz verlieren, weil ein Mensch, dem Sie vertraut haben, Sie maßlos geärgert hat oder Ihnen sogar in den Rücken gefallen ist? Sorgen um die Karriere lassen möglicherweise Ihren Nacken steif werden. Wenn Sie versuchen, andere zu überzeugen, und Sie hilflos und frustriert werden, weil der Versuch ergebnislos endet, ja, dann kann auch der Rücken schmerzen.

Ständiges Sitzen, nonstop acht Stunden an einer Stelle im Büro, ohne zwischendurch zu entspannen, ohne sich zu bewegen, ohne bestimmte Übungen zu machen, ohne zu lachen oder mit anderen die Arbeit auch zu genießen, sich zu besprechen, verstanden zu werden, an der richtigen Stelle am Arbeitsplatz eingesetzt zu sein – all das kann Ihrem Rücken Schmerzen bereiten. Und das würde er Ihnen so gerne erzählen, deshalb meldet er sich ja auch zwischendurch immer wieder. Es zwickt und zwackt, es drückt, der Rücken sagt: Aufstehen, bewegen, lachen, springen, hüpfen, spazieren gehen – all das verrät er Ihnen. Sie müssten nur genau hinhören, in sich hineinhören, in das wunderbare Hörbuch Ihrer Wirbelsäule.

EIN EMPFINDSAMES PSYCHOSOMATISCHES ORGAN

Die Zeiten, in denen jemand mit „Rücken“ zum Arzt kam, nach einer schnellen Spritze verlangte, um sich erst einmal ein paar Wochen Bettruhe und schmerzstillende Medikamente verschreiben zu lassen, sind vorbei. Viele Operationen, die früher im blinden Glauben an die Möglichkeiten der modernen Medizin als Heilsbringer galten, erwiesen sich als wirkungslos oder sogar kontraproduktiv. Rückenschmerzen sind inzwischen keine Alterserscheinung mehr. Schon Kinder und Jugendliche leiden darunter. Jedes dritte Schulkind klagt bereits über Rückenschmerzen. Junge Erwachsene in der Mitte des Lebens sind am häufigsten betroffen, weil sie fast rund um die Uhr unter Druck stehen. Unser Rücken ist ein empfindsames psychosomatisches Organ, über das wir kaum etwas wissen.

DER WAHRE ARZT IST JEDER FÜR SICH SELBST

Wir verknacksen uns in der Regel nicht den Rücken, lassen uns nicht von einer „Hexe“ beschießen oder den Ischias einklemmen. Die meisten Rückenbeschwerden haben keine eindeutige Ursache. Heute weiß man, dass die Gründe sehr vielfältig sind. Im Beruf und in der Freizeit zwischen Computer und Smartphone, zwischen Kindern, Konsum und Karriere, ein Alltag in Eile, Multitasking auf der Überholspur. Statt mal zur Ruhe zu kommen, begeben wir uns auf Ärzte-Odyssee, wenn es wehtut, und hoffen auf Hightech. Dabei ist eigentlich etwas ganz anderes gefragt: Unser Rücken wünscht sich Aufmerksamkeit und Aufklärung. Er braucht oft ganz dringend Bewegung und wenig später vielleicht eine Pause. Er liebt Berührungen, Wärme, hin und wieder auch Kälte, Abwechslung, schützende Muskeln, gesundes Bindegewebe, gut versorgte Sehnen, Bänder und Faszien. Rund um die Wirbelsäule wirkt alles auf alles. Entsprechend viel kann jeder für sich tun, um sich langfristig selbst zu heilen. Der wahre Arzt, der kleine Medicus für sich selbst, sind Sie.

Rückenschmerzen sind nicht tödlich

Meine Grönemeyer-Anti-Schmerz-Methode stellt diese Erkenntnisse in den Mittelpunkt – nach dem Motto „Keine Angst, Rückenschmerzen sind nicht tödlich“. Es gibt zahlreiche Techniken, um akute und chronische Schmerzen zu beseitigen. Sie müssen sie nur kennenlernen und bereit sein, geduldig aus- zuprobieren, was Ihnen guttut. Im Mittelpunkt des Grönemeyer-Programms stehen 20 Punkte – von Bewegung und Muskelaufbau über Wärme, Massagen, Atmung, Medikamente und Ernährung bis zu Stressreduktion und Achtsamkeit. Sinnvolle Hilfe von Experten verschiedener Fachrichtungen (wie Hausärzte, Orthopäden, Neurologen, Neurochirurgen, Mikrotherapeuten, aber auch Physiotherapeuten und Psychologen) gehört ebenso dazu wie alternative Heilmethoden. Ich bin ein Fan von Therapien mit den Händen wie Massagen, Osteopathie oder Tuina. In nur drei bis fünf Prozent aller Fälle muss heute tatsächlich operiert werden. Alles andere lässt sich mit individuellen Maßnahmen lösen, die Ihren Rücken stärken. Dabei kommt es vor allem auf eins an: auf Ihre Haltung.

Ein neues Bewusstsein entwickeln

In diesem Buch erfahren Sie alles, was Sie wissen müssen, um ein neues Bewusstsein für Ihren Rücken zu entwickeln und ein möglichst schmerzfreies Leben zu führen. Sie werden staunen, wie alles funktioniert und zusammenhängt. Meine Erkenntnisse, Tipps und Übungen geben den neuesten Stand der Forschung wieder – von der Anatomie des Rückens über das Zusammenspiel von Nerven, Triggerpunkten, Rückgrat, Hüfte, Muskeln, Bandscheiben und Psyche bis zu praktischen Tipps, die Sie sofort umsetzen können. Denn es sind vor allem Sie selbst, die die Verantwortung für Ihre Gesundheit tragen. Hoffen Sie nicht auf eine Wunderheilung über Nacht, auf Blitzgenesung durch eine OP oder auf die Entwicklung immer neuer Medikamente, sondern setzen Sie auf sich selbst. Dieses Buch liefert Ihnen das nötige Wissen dazu. Denn: Rückenschmerzen sind wirklich kein Schicksal.

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DER ANATOMIE AUF DER SPUR

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Paradox, aber wahr: Es war der evolutionäre Fortschritt, der uns auf seinem Weg den Schmerz bescherte. Wenn man so will: Mit dem aufrechten Gang fing alles an. Rückenschmerzen sind der Preis für die Fähigkeit des Menschen, sich auf zwei Beinen zu bewegen und die Last seines Körpers zu tragen – oder: tragen zu müssen. Im Kindesalter noch weich und flexibel, wird das Rückgrat mit zunehmenden Jahren hart und unelastisch, weil wir uns in den meisten Fällen nicht mehr genügend bewegen. Die Muskeln, die das Rückgrat stützen, verkümmern langsam. Die Bandscheiben trocknen aus und schrumpfen. Die Faszien, die die Muskeln zusammenhalten, werden unflexibler und starr, die Knorpel der Gelenke trocknen aus oder verkalken. Doch wenn wir den Rücken und seine Strukturen begreifen, haben wir die Chance, uns gesundheitsbewusst zu verhalten, um lange elastisch und beweglich zu bleiben!

TATORT RÜCKEN

Unsere Kräfte und Fähigkeiten verkümmern im Laufe der Jahre nicht von allein, sondern weil wir Aktivitäten aufgeben, in Verkrampfungen verharren und viel zu oft keine gesunde Balance zwischen Anspannung und Entspannung finden. Der Rücken spiegelt unsere Seele.

AM ANFANG: VERSUCH UND IRRTUM

„Ein jeder bewegt sich, empfindet, denkt, spricht auf die ganz ihm eigene Weise, dem Bild entsprechend, das er sich im Laufe seines Lebens von sich gebildet hat. Um die Art und Weise seines Tuns zu ändern, muss er das Bild von sich ändern, das er in sich trägt.“ Dies schrieb der Physiker Moshé Feldenkrais (1904–1984), der Begründer der nach ihm benannten Lernmethode. Feldenkrais stellte faszinierend wie kaum ein anderer dar, wie wichtig das Skelett und die Bewegungen des Körpers auch für die Seele sind.

Babys und Kleinkinder, so Feldenkrais, probieren ihren Körper noch aus. Durch Versuch und Irrtum lernen sie die Bewegungsabläufe. Erst mit zunehmendem Alter, oft auch durch soziale Zwänge, wird die gesamte Vielfalt an Bewegungen, die uns zur Verfügung steht, eingeschränkt. Im Laufe des Erwachsenwerdens gehen frühere Bewegungsmöglichkeiten wie etwa Hüpfen, Springen oder Klettern verloren. Und im Alter von 70 oder 80 Jahren sind viele Menschen sogar froh, wenn sie noch ohne Probleme aufstehen und laufen, Treppen steigen, sich hinsetzen und hinlegen können. Die ursprüngliche Vielfalt unseres Bewegungsrepertoires ist aus ihrem Leben verschwunden. Die Therapie, die Feldenkrais entwickelte, will automatisierte Bewegungsmuster auch in späteren Lebensjahren noch verändern – und Schmerzen dabei verschwinden lassen. Nicht umsonst bezeichnete Feldenkrais seine Methode als eine „Entdeckungsreise durch den Körper“. Er lässt die Behandelten auf spielerische Weise neue Bewegungen erlernen und macht sie zugleich auf Fehlhaltungen und Muskelverspannungen aufmerksam, die aus falschen Bewegungsabläufen resultieren. Dieser Prozess beginnt im Kopf, denn dort werden diese Abläufe programmiert und gespeichert.

DIE ACHSE DES GLEICHGEWICHTS

Millionen von Jahren vergingen, bis die Evolution die Voraussetzungen für den aufrechten Gang geschaffen hatte: Zum Beispiel wurden die Gelenke zwischen Kopf und Nacken so geformt, dass sie alle für das Gleichgewicht notwendigen Bewegungen, das Schauen, Riechen, Fühlen und Hören, zusammen mit allen anderen Bewegungen der Wirbelsäule koordinieren können. Betrachtet man den Schädel von oben, zeigt sich, dass Augen, Ohren und auch die Gleichgewichtsorgane im Inneren des Gehörgangs auf einer Achse liegen. Diese kreuzt sich vertikal mit der Sehachse, die genau zwischen den Augen verläuft. Genau unterhalb dieses Kreuzungspunkts liegt der Axis-Wirbel mit einer Art Zahn, um den sich unser Kopf dreht. Wie mit einem Kompass wird an dieser Schaltstelle das Gleichgewicht der Wirbelsäule reguliert. Jede einzelne Drehung ermöglicht so eine perfekte Kombination von Schauen, Hören und Bewegung.

Beste Grüße ans Gehirn

Der aufrechte Gang ist aber nicht nur eine mechanische Leistung des Skeletts, sondern auch ein Meisterstück des Gehirns und der Nerven: Ohne das ununterbrochene Rechnen und das ständige Feedback von Sinnesorganen und Körperreaktionen würden wir die Balance verlieren und umfallen. Das Gehirn wird also bei jeder Bewegung gefordert. Schon bald reichte unseren frühen Vorfahren die Energie von Blättern und Früchten nicht mehr aus, sie jagten nun Tiere. Erst die Fettsäuren aus Fleisch und Fisch waren es, die zu einer Umbildung des Gehirns führten und den Menschen zu dem machten, was wir heute den Homo sapiens sapiens nennen – ein wissender, reflektierender Mensch. Der Preis für diesen evolutionären Schub aber waren auch: Rückenschmerzen. Denn dort, wo sich der Affe aufrichtete, unmittelbar über dem Kreuzbein, biegt sich unsere Wirbelsäule nun vertikal ab – statt wie bei den Vierbeinern in der Horizontale zu bleiben. Dieser „Karriereknick der Menschheit“ wiegt in mehrfacher Hinsicht schwer: 100 Kilogramm lasten auf der Wirbelsäule im Übergang zum Becken, wenn wir stehen, 90 im Sitzen, 220 sogar, wenn wir uns bücken. Die Last drückt vor allem auf die Bandscheiben, jene gallertartigen Puffer zwischen unseren Wirbelknochen, die dafür nicht gerade konstruiert zu sein scheinen. Sie haben einen sehr mäßigen Stoffwechsel, der nur durch Bewegung aktiviert wird, und sind schnell abgenutzt.

GUT ZU WISSEN

Kostenfaktor Rückenschmerzen

An jedem Arbeitstag fehlen fast 70 000 Beschäftigte in Deutschlands Betrieben, so listet es die Techniker Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport 2017 auf. Bei den Hauptursachen von Krankschreibungen rangieren Rückenschmerzen demnach hinter Atemwegsinfektionen auf Platz zwei. Hochgerechnet auf die rund 31 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland, entfielen damit mehr als 25 Millionen Fehltage allein auf die Einzeldiagnose „Rückenschmerzen“.

Die Last auf den Schultern

Emotionen lassen uns oft erstarren. Um körperliche wie seelische Schmerzen zu vermeiden, ziehen wir Brustkorb und Bauch ein oder halten Kopf und Nacken gerade. Wir tragen, wie es auch sprichwörtlich heißt, eine „Last auf den Schultern“. Zunächst stellt sich bei dieser Haltung ein Gefühl größerer Sicherheit ein, aber man wird weniger flexibel. Kinder haben eigentlich einen natürlichen Bewegungsdrang, der aber geht ihnen zunehmend verloren. Schon in jungen Jahren sitzen oder „hängen“ sie viel vor einem Computer- oder Fernsehbildschirm. Wegen der damit verbundenen Konzentration der Augen und des Gehirns nimmt der Körper vor dem Bildschirm eine einseitige Haltung ein: Der Kopf ist wie bei einer Schildkröte nach vorn gestreckt. Schultern und Brustkorb bilden eine Art Block, der auch die Drehfähigkeit des Nackens einschränkt. Dessen wichtige Ausgleichsfunktionen werden deshalb lahmgelegt und das Gleichgewicht wird gestört. Nicht ohne Grund können viele Kinder heutzutage nicht mehr auf einem Bein hüpfen, geschweige denn, rückwärtslaufen.

Der Schutz, der keiner ist

Die Schaltzentrale im Kopf versucht, die Situation durch weitere Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit der Wirbelsäule zu entschärfen. Die Muskelketten des Rückens werden angeregt, mehr zu arbeiten. Der Atem wird flacher, Nacken-, Schulter- und Kreuzschmerzen stellen sich ein. Hochgezogene Schultern zum Beispiel, eine typische Abwehrhaltung bei Belastungen jeder Art, bremsen die Flexibilität des Brustkorbs. Auch die Arme lassen sich nicht mehr frei bewegen und die Drehbewegungen zwischen Hüfte und Schultern werden immer anstrengender. Oft führen auch Schutzhaltungen als Folge früherer Verletzungen dazu, dass die Beweglichkeit stark eingeschränkt ist und wirkliche Entspannung immer schwerer fällt. Das kann zu den unterschiedlichsten Symptomen führen, die nicht selten falsch diagnostiziert werden. Deshalb ist es wichtig, jeden Menschen und seine Geschichte als Ganzes zu betrachten.

Eine 72-jährige Patientin etwa, der ein arthrotischer Verschleiß ihrer Hüftgelenke attestiert wurde, leidet – wie sich herausstellte – in Wirklichkeit unter den Folgen einer jahrzehntelangen Fehlbelastung der Wirbelsäule. Die Muskeln, die an den Gelenken ziehen, üben Druck auf die Sehnen aus, bringen diese aus dem Gefüge und lassen sie schließlich verschleißen. Ihre leichte Schieflage und Verdrehung nimmt die Patientin selbst nicht mehr wahr, weil ihr Gleichgewichtssinn durch die Gewöhnung an diese einseitige Haltung bereits verzerrt ist. Sie leidet an einer „sensomotorischen Amnesie“, an einer Funktionsstörung des Nervensystems. Ihr körperliches Wohlbefinden gewinnen solche Patienten erst dann zurück, wenn sie wieder neu lernen, ihren Körper wahrzunehmen und ihre innere wie äußere Balance zu finden.

Viele körperliche Symptome, die dem Alter zugeschrieben werden, wie etwa ein Verschleiß der kleinen Wirbelgelenke, sind im Wesentlichen eine Folge falschen Lernverhaltens: Nicht unsere Kräfte und Fähigkeiten verkümmern, sondern wir geben im Laufe der Jahre immer mehr Aktivitäten auf. Vor allem vernachlässigen wir zunehmend den notwendigen Ausgleich zwischen Ent- und Anspannung: Wir verharren immer mehr in unserer individuellen „Verkrampfung“. Nicht nur die Überbeanspruchung, sondern das Nichtnutzen führt zum Verschleiß der Gelenke und zur Arthrose. Der Gedanke „Ich muss mich schonen, ich habe ja Schmerzen“ ist in den meisten Fällen falsch. Viel wirkungsvoller ist es, sich rechtzeitig um seinen Rücken zu kümmern.

AUF DIE HALTUNG KOMMT ES AN

Langfristige Schmerzen und Schäden können entstehen, wenn wir uns nicht genügend um unseren Rücken kümmern, um dieses Wunderwerk, das uns aufrichtet und Haltung gibt. Ja, auch innere Haltung und Halt. Denn die äußere Haltung stärkt auch unsere Haltung zum Leben! Der Rücken spiegelt unsere Seele. Chronische Schmerzen durch Haltungsschäden des Rückens vernebeln den Kopf, lassen uns nicht mehr wirklich Ich sein. Und umgekehrt. Ein starker Rücken kann entzücken! Uns selbst auch. Diese Freude strahlt auf alles aus, was wir tun! Diese gefühlte und sichtbare Rückenkraft macht einfach stark.

Sitzen ist das neue Rauchen

„Was genutzt wird, bleibt. Was ungenutzt bleibt, verkümmert.“ Wer diese einprägsame Formel befolgt, hat die besten Voraussetzungen, seinen Rücken fit zu halten. Andernfalls verkümmern Knochen, Muskulatur, Gelenke, Sehnen, Bänder oder Faszien und bauen ab, was sich in Fehlhaltungen und Schmerzen äußern kann.

Doch leider vernachlässigen wir unseren Rücken im Tagtäglichen. Sitzen ist das neue Rauchen! Wir sitzen mehr als sechs Stunden, bewegen uns kaum noch viel mehr als fünf Minuten, um aus der Puste zu kommen. Wenn überhaupt! Bei Kindern sind es im Durchschnitt nur noch 15 Minuten täglich. Und wenn wir uns fit machen wollen, achten wir mehr auf Bauch, Brust und Po. Diese Teile von uns sind sicht- und auch fühlbarer als der Rücken und wirken auf Dritte wie Spoiler und Lack beim Auto.

Unser Rücken ist jedoch ein Sensibelchen: Schmerzen sind nur ein Hilferuf für Schwäche und Vernachlässigung durch Kraft- und Bewegungsmangel. Stressabbau, aktive Entspannung, Bewegungspausen für Schüler in der Schule oder Erwachsene bei der Arbeit können helfen. Achtsamkeit für dieses so wundervolle System ist täglich gefragt. Alles eine Frage der Haltung!

GUT ZU WISSEN

Der Preis des Fortschritts

Der griechische Gott Atlas musste – von der Last gebeugt – Erde und Himmel auf seinen Schultern tragen. Weil er eine ähnlich wichtige Funktion für unser körperliches Universum hat, wurde ein zentraler Knochen nach dem mythischen Hünen benannt: Der Rückenwirbel Atlas (in der medizinischen Terminologie nüchtern C 1 genannt, C steht für Cervix = Hals) verbindet den Schädel mit dem Rückgrat. Er und sein Nachbar Axis (C 2), die Achse, um die sich der Atlas dreht, heben sich aus der Reihe der Rückenwirbel durch ihre besondere Form heraus. Sie umschließen den auslaufenden Hirnstamm, in dem viele lebenswichtige Funktionen liegen. Verletzungen oder Verschiebungen an dieser Stelle können deshalb schlimme Folgen haben. Der Atlas ist also besonders gefährdet. Die Evolution hat diese beiden Knochen, die nicht wie alle anderen Wirbel durch eine Bandscheibe verbunden sind, besonders wendig gemacht. Wir können unseren Kopf weit drehen und ihn senken und anheben. Erst diese Beweglichkeit hat es ermöglicht, dass die Vorfahren des Menschen in grauer Vorzeit die Bäume verlassen und auf zwei Beinen durch die urzeitlichen Savannen streifen konnten.

KÖRPER UND SEELE: WIR HABEN „RÜCKEN“

Wenn wir Probleme haben, trägt der Rücken eine schwere Last. Angst, Stress und Enttäuschungen – Rückenschmerzen sind körperlich und seelisch bedingt.

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Das geht aufs Kreuz

Es gibt Berufe, die besonders auf den Rücken gehen. Dabei handelt es sich nicht nur um Jobs, in denen man körperlich schwer arbeitet – auch psychische Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Hier sind jährliche Fehltage pro 100 Versicherten aus verschiedenen Branchen aufgelistet. Der Grund: Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens bzw. Rückenschmerzen.*

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Der vernachlässigte Rücken

Mangelnde Bewegung schadet dem Rücken und Übergewicht bürdet der Wirbelsäule eine große Last auf. Außerdem führt seelische Anspannung dazu, dass die Rückenmuskeln verkrampfen. Von diesem „Trio infernale“ sind hierzulande viele betroffen:

Frauen sind häufiger betroffen

Laut Robert-Koch-Institut geben Frauen häufiger als Männer an, unter mindestens drei Monate anhaltenden Rückenschmerzen gelitten zu haben. Mögliche Ursachen hierfür können gynäkologische Erkrankungen oder auch Wechseljahresbeschwerden sein. Aber auch die steigende Mehrfachbelastung durch Beruf und Familie ist oft ein Auslöser.

Volksleiden Nummer 1:

26% ALLER DEUTSCHEN GEHEN JÄHRLICH WEGEN RÜCKENSCHMERZEN ZUM ARZT

Schmerz lass nach

6,6 Mio. Deutsche nehmen 1- bis 2-mal pro Woche Schmerzmittel wegen Rückenbeschwerden ein.

Die Deutschen sind OP-Weltmeister

60 000 Bandscheiben werden jährlich in Deutschland operiert. Die meisten Operationen sind jedoch völlig überflüssig.

*Quelle: Techniker Krankenkasse, Gesundheitsreport 2017

UNSER RÜCKEN: EIN WUNDERWERK

Wirbel, Bandscheiben, Bänder, Muskeln, Nerven und Co. müssen optimal zusammenspielen, damit der Rücken gesund bleibt. Im Mittelpunkt steht die Wirbelsäule. Sie ist ein Wunderwerk, trägt uns durchs Leben, schützt alle wichtigen Organe und unterstützt unsere Bewegungen.

DIE STÜTZE DES KÖRPERS

Sie ist die zentrale Stütze unseres Körpers und ein wahres Multitalent – die Wirbelsäule. Wie kaum einem anderen Körperteil gelingt es ihr, widersprüchlichen Anforderungen gerecht zu werden: Sie ist fest genug, um das Körpergewicht zu tragen, aber auch biegsam genug, um die damit verbundenen Gliedmaßen, die Arme und die Beine, bei all ihren Bewegungen zu unterstützen. Sie trägt den Kopf und schützt lebenswichtige Organe wie Herz, Lunge und Leber und das Innere des Bauchs.

Unser Rückgrat wird in unterschiedliche Regionen eingeteilt. Von oben nach unten betrachtet, sind es fünf einzelne Abschnitte, die sich jeweils aus einzelnen Wirbeln zusammensetzen. Dies sind:

die Halswirbelsäule (Pars cervicalis) mit sieben Wirbeln. Die sieben Wirbel nennt man zervikal (von den Ärzten abgekürzt als C bezeichnet),

die Brustwirbelsäule (Pars thoracica) mit zwölf Wirbeln, thorakal (von den Ärzten abgekürzt als Th bezeichnet),

die Lendenwirbelsäule (Pars lumbalis) mit fünf Wirbeln, lumbal (von den Ärzten abgekürzt als L bezeichnet).

Alle diese Wirbel sind beweglich. Das unterscheidet sie von den folgenden Partien. Am Ende des Rumpfes liegen fünf miteinander verwachsene Wirbel, sie bilden das Kreuzbein (Os sacrum). Auf beiden Seiten grenzt das Kreuzbein an je ein Darmbein und bildet gemeinsam mit diesem Paar das Becken. Am untersten Ende der Wirbelsäule sitzen meist vier, manchmal aber auch drei oder fünf Knochen, die das Steiß- oder Kuckucksbein (Os coccygis) bilden, den evolutionären Rest des Schwanzes, den unsere Vorfahren einst besaßen.

Die einzelnen Wirbel haben als Hauptstück elliptische bis runde Zylinder, den Wirbelkörper, der in Dornfortsätzen sowie Gelenkflächen ausfläuft. Dahinter spannt sich ein Wirbelbogen um ein Loch herum, den Wirbelkanal. Wenn alle Wirbel übereinanderliegen, bildet dieser den Raum für die zentralen Nervenleitungen des Körpers sowie für das Rückenmark.

Halswirbel

Die Halswirbelsäule (HWS) besteht bei beinahe allen Säugetieren aus sieben Halswirbeln – so auch bei Menschen. Sie bilden das kopfseitige Ende der Wirbelsäule und sind die besonders beweglichen Wirbel zwischen der Brustwirbelsäule und dem Kopf.

Die Halswirbel können sich nur drehen, wenn wir uns dabei etwas zur Seite wenden. Das wiederum wirkt sich auf die Bewegungen des Brustkorbs und des Schädels aus, die sich zum Ausgleich in die andere Richtung neigen. Dieses Prinzip stabilisiert uns: Es ermöglicht, dass wir nicht umkippen, sondern auch dann aufgerichtet bleiben, wenn wir uns umdrehen. Schon wenn das Baby im Kinderwagen seine ersten Rollbewegungen macht, werden diese Ausgleichsbewegungen zwischen Kopf, Nacken und Brustkorb geübt und schließlich perfektioniert.

Brustwirbel

Unter dem Hals folgen zwölf Brustwirbel. Jeder von ihnen ist mit einem Rippenpaar verbunden, das sich um den Brustkorb legt und die wichtigen Organe Herz und Lunge schützt. Diese Rippenbögen treten – bis auf die beiden untersten – über Knorpel mit dem Brustbein in Kontakt. Obwohl der Brustkorb auf diese Weise wie von einem Kasten umfasst wird, sind seine Wirbelkörper sehr beweglich. Sie drehen, beugen und strecken sich und lassen sich zu den verschiedensten Bewegungsmustern kombinieren. Die freie Beweglichkeit des Brustkorbs und der Brustwirbelsäule ist entscheidend für einen gesunden Rücken. Viele Rückenschmerzen rühren daher, dass Brustwirbel blockiert sind. Denn bei zu wenig Bewegung und mit zunehmendem Alter „versteifen“ sich die Gelenke des Brustkorbs und die ursprüngliche plastische Mobilität geht verloren. Das führt zu Fehlhaltungen und Verformungen und kann die Atmung und Herzfunktion negativ beeinflussen.

Lendenwirbel

Die Lendenwirbelsäule (LWS), die sich an die Brustwirbel anschließt, hat besonders große Wirbelkörper, weil sie den Großteil des Körpergewichts tragen muss. Diese sind so geformt, dass sie zwar bequem Beugungen, Streckungen und Neigungen zur Seite erlauben. Aber im Gegensatz zur Halswirbelsäule haben sie nur eine sehr eingeschränkte Drehfähigkeit. Wenn wir versuchen, die Lendenwirbel mit Anstrengung zu drehen, verletzen wir leicht die Bandscheiben. Von den Folgen einer falschen Bewegung sind vor allem Fußballer, aber auch Tennisspieler oder Golfer betroffen, die häufig abrupt im Laufen anhalten, sich dabei umschauen oder in einer Drehbewegung versuchen, den Ball zu erreichen. Das Hohlkreuz (Lordose), bei Erwachsenen oft zu stark ausgeprägt, spiegelt die verblüffende Fähigkeit der Lendenwirbel wider, sich nach vorn zu wölben. Dabei können sich Becken und Rippen frei drehen. Die Möglichkeit, ein Hohlkreuz zu bilden, ist für den Rücken wichtig, denn das Rückgrat wird so viel flexibler und auch Stöße und Lasten können besser abgefedert werden.

DAS BECKEN

Schließlich entscheiden auch noch die Hüftgelenke darüber, wie beweglich unser Rücken ist. Die beiden feststehenden Kugelgelenke erlauben dem Becken zu rotieren und sich in alle möglichen Richtungen zu bewegen. Denn ohne das Becken funktioniert auch das Rollen nicht – es ist deshalb ein Kraftzentrum des Körpers und an allen Drehbewegungen beteiligt. Zwischen Kopf und Becken kann sich der Mensch um etwa 90 Grad drehen und sogar hinter sich blicken. Diese Drehachse durch den Körper ist nicht starr, sondern sehr beweglich. Sie ändert sich mit jeder Bewegung, verläuft mal durch die rechte Hüfte und das rechte Bein, mal durch die linke Hüfte und das linke Bein, je nachdem, wie es der Körperschwerpunkt verlangt. Da alle unsere Bewegungen, vom Laufen bis zur Gestik und Mimik, den Zustand des Nervensystems spiegeln, sind sie für Moshé Feldenkrais die „Grundlage des Inneseins“, Ausdruck unserer Gefühle. Sie sind die Sprache unseres Körpers und machen uns Angst, Furcht oder Lachen erst bewusst, wenn wir die Fähigkeit zur Wahrnehmung haben.

FLEXIBLE STOSSDÄMPFER: DIE BANDSCHEIBEN

Jeder Wirbel wird von dem darüber- oder darunterliegenden Nachbarn durch einen elliptischen Puffer getrennt: die Bandscheibe. Wie ein Kugellager ermöglichen diese flexiblen Stoßdämpfer zwischen den Wirbeln, dass das Rückgrat sich sowohl drehen, beugen und neigen als auch Erschütterungen abfangen kann. Die Bandscheiben selbst bestehen aus Knorpel: Der äußere, faserhaltige Ring wird als „Anulus fibrosus“ bezeichnet und schließt sich an das Knorpelgewebe der Wirbelkörper an. Die gallertartige Masse (Nucleus pulposus) im Inneren ähnelt in ihrer Zusammensetzung der des Auges und enthält vor allem Wasser: 90 Prozent bei einem Baby und immer noch 70 Prozent bei einem 70-Jährigen. Das macht die Bandscheiben zu einer unverzichtbaren Federung.

Weil dieser wichtige Teil der Wirbelsäule zu etwa 10 Prozent aus elastischen Fasern besteht, kann sie sich je nach Art der Belastung zusammenziehen oder ausdehnen. Sie ist äußerst belastbar und außerdem stärker und stabiler als die Wirbelknochen. Bei jungen Menschen hält sie 800 Kilo Druck aus, bei älteren immer noch mehr als die Hälfte: nämlich 450 Kilo. Last und Entlastung führen zu einem osmotischen Prozess (es wird regelrecht Wasser in die Bandscheibe gesaugt), der die Bandscheibe mit wertvollen Nährstoffen versorgt: Aminosäuren, Glukose und Sauerstoff. Regelmäßige und ausreichende Bewegung ist deshalb wichtig, vor allem mit zunehmendem Alter, wenn die für die Federung wichtige wässrige Substanz verloren geht. Die Bandscheibe baut dann stärker kollagenhaltiges Gewebe auf und lagert mehr Kalzium, Phosphat, Fluor und Magnesium ein. Das nimmt ihr die Elastizität. Noch schlimmer als eine Überbeanspruchung ist es deshalb für die Bandscheibe, wenn sie unterfordert wird – auch wenn es vor allem bei Schmerzen oder stärkeren Verspannungen schwerfällt, dagegen anzugehen.

Trotzdem braucht sie regelmäßige Ruhephasen, weil sich im Liegen ihr Wassergehalt wieder reguliert. Im Laufe des Tages schrumpft jede Bandscheibe durch den ständigen Druck und den damit verbundenen Flüssigkeitsverlust um etwa 10 Prozent. Deshalb ist man morgens etwas größer als abends. In der Nacht nimmt sie dann wieder Flüssigkeit und Nährstoffe auf und gleicht den Größenverlust aus. Bei orthopädischen Untersuchungen werden Höhe und Elastizität sowie das Ausmaß der Vorwölbung oft fehlinterpretiert, weil nicht auf den Wassergehalt geachtet wird. Diesen kann man jedoch mittels Kernspintomografie (MRT) genau bestimmen. Die Bandscheibe selbst besitzt keine Nerven und ist auch nicht durchblutet – deshalb tut sie nur selten weh. Wenn im Rückgrat starke Schmerzen auftreten, rühren sie auch daher, dass eine Bandscheibe so verformt ist, dass sie auf die Außenhülle des Rückenmarks oder den im Wirbelaustrittsloch (Foramen) austretenden Nerv drückt. Ein anderer Grund ist, dass der faserhaltige Ring gerissen ist. Dann drückt abgerissenes oder vorgewölbtes Bandscheibengewebe in die Zwischenräume der Wirbelsäule und reizt die Nerven oder den Nervensack (Dura).

GUT ZU WISSEN

Ein Gelenk als Kraftverteiler

Kaum jemand kennt seinen Namen. Es führt ein unauffälliges Dasein und macht sich nur bemerkbar, wenn etwas nicht mehr stimmt. Dann wollen meine Patienten wissen: Wo liegt denn dieses Iliosakralgelenk? Was macht es eigentlich? Ach, es gibt sogar zwei davon? Ja, so ist es, und die sind ganz wichtig. Würden die beiden Gelenke behaupten „Wir halten den ganzen Laden hier zusammen“, hätten sie recht. Sie verteilen alle Kräfte zwischen Beinen und Oberkörper und müssen viel Druck aushalten, wenn der Oberkörper sich bewegt. Sind die Iliosakralgelenke (kurz ISG) gesund, federn sie dies ab wie ein Stoßdämpfer im Auto. Unterstützt und gesichert werden sie dabei von einem Netz aus Bändern und Muskeln. Bei Frauen sind diese Gelenke etwas flexibler als bei Männern, was für die Geburt wichtig ist.

SORGT FÜR STABILITÄT: DAS ILIOSAKRALGELENK

Das Kreuzdarmbeingelenk (Iliosakralgelenk) verbindet die halbmondförmigen Rundungen des zusammengewachsenen Kreuzbeins mit den beiden Beckenschaufeln (Darmbeinen). Normalerweise sind diese spiegelsymmetrisch. An ihrer Außenseite sind die Hüftgelenke verankert, wo die Gelenkkugeln der Oberschenkelknochen Halt finden. Dieser Beckenring ist die Basis des gesamten Rumpfes und dient zugleich als Aufhängung für die Beine. Er ist zentral für die Stabilität des Körpers. Damit das Kreuzbein die Beckenschaufeln nicht durch das Gewicht des Körpers oder beim Tragen schwerer Lasten auseinanderdrückt, hat die Evolution sie mit besonders starken Bändern versehen. Das Heben eines Gewichts spannt diese Bänder bis zum Äußersten und führt dazu, dass die Gelenkflächen von Beckenschaufeln und Kreuzbein stark gegeneinandergepresst werden.

In der Kindheit ist das Iliosakralgelenk noch beweglich und flexibel, die Gelenkflächen sind glatt und gut geschmiert. Wenn eine Beckenschaufel durch eine heftige Bewegung wenige Millimeter verrutscht, springt sie nach einiger Zeit in die Normalstellung zurück. Während der Pubertät bilden sich jedoch in den Gelenkflächen immer mehr Rillen und Fugen. Bei Reibung blockieren sie öfter. Erschütterungen oder Verschleiß können auch dazu führen, dass sich die Gelenkflächen immer stärker zueinander verschieben. Solche Verkantungen machen sich nicht immer bemerkbar, können aber zu einem Beckenschiefstand oder einer Arthrose und so zu weiteren Problemen führen.

HIER SPRICHT DIE BANDSCHEIBE

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„Das hätten Sie wohl nicht gedacht: So viele Leute klagen über Probleme mit der Bandscheibe. Doch tatsächlich gehen 80 Prozent aller Rückenschmerzen auf das Konto der Muskeln. Ich arme kleine Bandscheibe nerve nur drei von 100 Menschen mit Rückenschmerzen. So! Mal ehrlich, wieso glauben eigentlich so viele, dass ausgerechnet ich ihnen das Leben zur Hölle mache? Meistens kann ich gar nichts dafür! Fragen Sie doch mal Ihre Muskeln. Die sollen sich nicht so aufpumpen, sondern sich lieber mal bewegen! Außerdem bin ich keine Alterserscheinung. Wahrscheinlich wussten Sie noch nicht, dass ich am ehesten jüngere Menschen mit Vorfällen quäle. Die jungen Hüpfer nämlich, die stehen noch voll im Saft – zumindest, was mich betrifft. Da gibt’s noch Gallertmasse satt, die dummerweise aus mir rausgedrückt wird, wenn der Faserring kaputt ist. Meist wird diese Masse dann in die Zwischenwirbellöcher und den Spinalkanal gepresst und reizt den Rücken bis aufs Blut. Bei älteren Menschen gilt: Ist die Bandscheibe erst mal trocken, kann die Masse den Vorfall schlechter rocken.

Nur mal ganz am Rande: Als Bandscheibe bin ich ja kein Einzelkämpfer. Mein Zuhause, die Wirbelsäule, besteht aus 24 Wirbelkörpern. Diese bilden Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule. In der Lendenwirbelsäule ist die Knochensubstanz, aber auch die Belastung und Biegung am größten, schleppen Sie mal Woche für Woche Wasserkästen die Treppe hoch! Also, in der Lendenwirbelsäule gibt’s die meisten Schmerzen. Wer beispielsweise dauerhaft falsch hebt oder zu viel auf seinen vier Buchstaben sitzt, kann sich eine gesunde Lendenwirbelsäule schnell knicken.

Meine Bandscheiben-Kolleginnen und -Kollegen sind übrigens froh, dass sie bei ihrem harten Job noch jede Menge Unterstützung bekommen. Nur so können Sie aufrecht und erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Wussten Sie schon, dass fünf Bänder und Bandsysteme und mehr als 300 Muskeln das Rückgrat umgeben? Das nenne ich mal Teamwork, einfach nur stark!

Ehrlich gesagt, staune ich manchmal über mich selbst: Morgens bin ich voller Saft und Kraft, abends fühle ich mich bedrückt und ausgelaugt, selbst wenn gar nichts Besonderes vorgefallen ist. Aber kein Wunder: Im Laufe des Tages schrumpfe ich. Durch die Belastung beim Stehen und Gehen verliere ich nämlich zusehends Flüssigkeit und werde schmaler. Zum Glück erhole ich mich über Nacht, so wie der selig schlafende Mensch mit angenehmen Träumen. Wenn der Mensch liegt – Druck lass nach! –, komme ich langsam, aber sicher wieder in Form. So schön kann schlafen sein!

Dieser Dietrich Grönemeyer hat übrigens recht, wenn er Ihnen rät: bewegen, bewegen und noch mal bewegen – turne bis zur Urne! Denn nur, wenn sich der Mensch bewegt, habe ich als Bandscheibe eine Chance, Flüssigkeit aufzunehmen. Ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe nämlich keine Gefäße, die mich versorgen, nur die Bewegung ist mein „Wasserträger“. Da könnte ich auf die anderen Organe manchmal glatt neidisch werden. Eine schöne Getränke-Flat über die Leitung, und die müssen nicht mal einen Finger krümmen. Aber Neid beiseite, es könnte schlimmer kommen: Seien Sie froh, dass Sie als Mensch zu den Wirbeltieren gehören. 95 Prozent aller bekannten Tierarten haben nämlich keine Wirbelsäule. Schnecken, Quallen und Co. führen ohne Rückgrat ein ziemlich langweiliges Leben.

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SIE GEBEN HALT: DIE GELENKFORTSÄTZE

Auf der Seite des Wirbelkanals sitzen an jedem Wirbel Fortsätze. Sie treten in der Regel in Paaren auf, bis auf einen, den Dornfortsatz, der nach ganz hinten, zum Rücken weist. Dort kann man ihn als kleinen Höcker fühlen und sehen. Die oberen und unteren Fortsätze verbinden die einzelnen Wirbelkörper gelenkartig miteinander und geben dem Rückgrat Halt. Außerdem sorgen die Wirbelkörper für ein gewisses Maß an Beweglichkeit, weil die Querfortsätze wie auch der Dornfortsatz von den elastischen Rückenmuskeln über ihre Sehnen verbunden sind. Trotz dieser Gemeinsamkeiten unterscheidet sich jeder einzelne Wirbel mehr oder weniger von den anderen. So sind etwa die Dornfortsätze der Lendenwirbel wesentlich größer als die der Brustwirbel, und die Brustwirbel sind über zwei Gelenke mit den Rippen verbunden.

Die Wirbelkörper sind über die sogenannten Wirbelgelenke beiderseits miteinander verbunden. Sie sind ein Teil des „Kugellagers“ der Wirbelsäule: Die oberen Gelenkfortsätze klinken sich wie ein Scharnier in die unteren Gelenkfortsätze des darüberliegenden Wirbels ein. Diese haben flache, glatte Oberflächen und sind mit schützenden Knorpeln besetzt. Wegen ihrer glatten, klaren Form, die an die Facetten eines geschliffenen Diamanten erinnert, heißen diese Verbindungsbrücken Facettengelenke. Sie sind von Kapseln umgeben, die mit einer Schmierflüssigkeit (Synovia) gefüllt sind.

DIE STÜTZEN: BÄNDER, SEHNEN, MUSKELN

Die Wirbelgelenke werden von kräftigen Bändern und einer Kapsel gehalten, die sie stützen und mit den Knochen verbinden. Die Bänder enthalten viele Nervenenden. Eine Muskelgruppe um jedes Gelenk ist durch Sehnen mit den Wirbelkörpern verbunden. Kleinere Muskelgruppen, die Stabilisatoren, korrigieren die Haltung der Wirbelsäule. Die größeren Mobilisatoren steuern die Bewegungen des Körpers. Die Streckmuskeln, sogenannte Extensoren, pressen die Wirbelsäule in verschiedene Richtungen zusammen oder entlasten sie. Andere großflächige Muskeln tragen die Schultern oder den Beckengürtel. Die Bauchmuskeln mit geraden, schrägen und Quersträngen entlasten das Rückgrat. Werden die Muskeln zu lange angespannt, verkrampfen sie, erhalten nicht mehr genügend Nährstoffe und verkümmern schließlich.

SORGT FÜR DEN FLUSS: DER RÜCKENMARKSKANAL

Das Rückenmark, das durch den Wirbelkanal (Spinalkanal) verläuft, reicht vom Schädel bis zum dritten Lendenwirbel, füllt also die Wirbelsäule nicht über die ganze Länge aus. Das Mark wird von drei verschiedenen Schichten umhüllt: Die äußerste, in der Fachsprache als „Dura mater“ bezeichnet, erstreckt sich bis zum zweiten der fünf