3Didier Fassin

Das Leben
Eine kritische Gebrauchsanweisung

Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2016

Übersetzt von Christine Pries

Suhrkamp

5      

Für Anne-Claire,

mit der ich

fürs Leben eine Gebrauchsanweisung

gefunden habe

9Dank

Die Ehre, die mir zuteilwurde, am Institut für Sozialforschung der Frankfurter Goethe-Universität die Adorno-Vorlesungen zu halten, ist die einzige Entschuldigung, die ich zur Rechtfertigung des ambitionierten Projekts vorbringen kann, das der Titel anzukündigen scheint. Offen gesagt, habe ich denjenigen, die mich in den Monaten vor diesen Vorträgen nach deren Thema fragten, nicht ohne eine gewisse Verlegenheit geantwortet, dass ich über »das Leben« sprechen würde. Die scheinbare Einfachheit eines Wortes mit drei, vier oder fünf Buchstaben — je nachdem, ob auf Französisch, auf Englisch oder auf Deutsch — vermittelte jedoch mit Sicherheit den falschen Eindruck, und das ungläubige Stutzen meiner Gesprächspartner, das auf diese ebenso verwegene wie rätselhafte Äußerung folgte, zwang mich, einige Erklärungen abzugeben. Ich führte also meine Absicht an, die in erster Linie ethnographischen Untersuchungen, die ich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte auf mehreren Kontinenten durchgeführt hatte, noch einmal zu überdenken und eine Reihe von philosophischen Begriffen auf den Prüfstand zu stellen, die mich während all dieser Jahre inspiriert, aber nicht zufriedengestellt hatten. Ich erinnerte daran, dass für meine verschiedenen Forschungsgebiete die Frage nach den Lebensweisen und den Umgangsweisen mit dem menschlichen Leben immer gegenwärtig gewesen sei. Ich erzählte von den Formen des Lebens, der Ethik des Le10bens und der Politik des Lebens. Damit meine doppelte — empirische und theoretische — Fragestellung Sinn ergab, versuchte ich letztendlich, meinen Gesprächspartnern eine Gebrauchsanweisung zu liefern.

Als eine Form der Hommage an Georges Perec, der gesagt hat, »Leben« heiße, »von einem Raum zum anderen zu gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stoßen«, ist die Verwendung dieses Ausdrucks im Titel des vorliegenden Buches auch eine Weise, dessen Projekt bescheidener zu machen, es verständlicher wirken zu lassen und ihm den Anstrich einer Art von Bricolage zu geben, die dazu anregt, es als Puzzle zu betrachten, dessen Teile der Leser entdecken und dabei neu zusammensetzen soll. Gleichwohl entspricht der Gegenstand dieses Textes seiner Ankündigung: Es geht darin um das Leben — und um die Leben. Die Annahme, dass darin der rote Faden einer Laufbahn liegt, die in der Medizin begann und dann auf die Anthropologie umschwenkte, ist naheliegend und teilweise sicherlich zutreffend. Vom Biologie-Unterricht wäre ich zum Sammeln von Biographien übergegangen: vom Leben der Organe zum Leben der Menschen. Doch das ist nicht alles. Denn der Blick, den ich anhand der Formen des Lebens, der Ethik des Lebens und der Politik des Lebens auf das Leben werfe, ist nicht neutral. Er ist vom Thema der Ungleichheit geprägt, das heißt von der Ungleichheit der Leben, die von meiner Kindheit in einer euphemistisch so genannten Sozialwohnung bis zu meiner Entdeckung der nichtwestlichen Gesellschaften durch das Elend, das mir in den indischen Städten begegnete, meine Weltsicht geformt hat. Insofern hätte dieses Buch vielleicht den unmissverständlicheren Titel »Über die Ungleichheit der Leben« tragen sollen. So wie das gesamte Werk des Autors von Das Leben. Gebrauchsanweisung 11von einer Abwesenheit heimgesucht wird — von der Abwesenheit seiner im Zweiten Weltkrieg getöteten Eltern —, glaube ich, dass meine gesamte Forschung von einem Bewusstsein für die Ungleichheit der Leben durchdrungen ist. Deshalb habe ich meine Gebrauchsanweisung für das Leben zur näheren Bestimmung mit dem Adjektiv »kritisch« versehen.

Bei der Überarbeitung dieser Vorträge für die Veröffentlichung habe ich nicht nur an ihrem Ablauf festgehalten — einem Triptychon, dessen einzelne Teile mit einem theoretischen Überblick beginnen, der in die empirische Untersuchung einführen und dabei einen neuen Synthesevorschlag machen soll —, sondern auch an ihrem Kontext: an der Bezugnahme auf Adorno zu Beginn des Buches und an der Erinnerung an die tragischen Momente der Zeit, als die Minima Moralia verfasst wurden, am Ende jedes Kapitels. Denn alles, was geschrieben wird, hat eine Geschichte, und ich wollte die Schreibweise dieser in Frankfurt in jener Institution gehaltenen Vorträge beibehalten, in der eine der bedeutendsten Formen der Gesellschaftskritik vor beinahe einem Jahrhundert das Licht der Welt erblickt hat, weiterverfolgt und erneuert wurde.

Dieses Stichwort möchte ich zum Anlass nehmen, dem Direktor des Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, meinen Dank dafür auszusprechen, dass er mich zu meiner großen Überraschung eingeladen hat, diese Vorträge zu halten, und mir dadurch Gelegenheit gab, die bis dahin verstreuten Puzzleteile des Lebens zusammenzutragen. Ich möchte auch all den Forscherinnen und Forschern und Professorinnen und Professoren danken, die als Mitglieder oder Gäste ständig oder zeitweilig am Institut tätig sind und deren Anmerkungen, Fragen und Kritikpunkte zur Präzisierung meines Den12kens beigetragen haben, vor allem José Brunner, Thomas Khurana, Thomas Lemke, Yves Sintomer, Sarah Speck, Felix Trautmann und Peter Wagner. Außerdem bin ich Sidonia Blättler dafür dankbar, dass mein Besuch in Deutschland so angenehm verlaufen ist, Eva Gilmer für das Angebot, meinen Text in ihrem renommierten Verlag zu veröffentlichen, und schließlich Christine Pries für ihr Talent, ihn sowohl aus dem Englischen als auch aus dem Französischen zu übersetzen. Insofern dieses Buch auf mehreren Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung und menschlicher Erfahrung beruht, ist es mir ohnehin nicht möglich, die Schuld zum Ausdruck zu bringen, in der ich bei so vielen Personen stehe, besonders bei den Studierenden und Kolleginnen und Kollegen an der École des hautes études en sciences sociales und am Institute for Advanced Study, aber auch bei all denjenigen, denen ich im Laufe meiner Feldforschungen vor allem in Südafrika und in Frankreich begegnet bin und die Bruchstücke ihres Lebens mit mir geteilt haben.

Princeton, 21. Dezember 2016