ANTHONY HOPE

 

DIE RÜCKKEHR NACH ZENDA

Die Abenteuer des Rudolf Rassendyll, Band 2

 

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE RÜCKKEHR NACH ZENDA 

1. Kapitel: Die KÖnigin nimmt Abschied 

2. Kapitel: Ein Bahnhof ohne DroschkeN 

3. Kapitel: Nach Zenda zurück 

4. Kapitel: Ein Strudel im Burggraben 

5. Kapitel: Eine Audienz beim König 

6. Kapitel: Der Auftrag der königlichen Bediensteten 

7. Kapitel: Die Botschaft des Jägers Simon 

8. Kapitel: Jagdhund Boris gerät in Wut 

9. Kapitel: Der König im Jagdhaus 

10. Kapitel: DER KÖNIG IN STRELSAU 

11. Kapitel: WAS DIE FRAU DES KANZLERS SAH 

12. Kapitel: VOR ALLEN ANDEREN! 

13. Kapitel: EINEN KÖNIG IM ÄRMEL 

14. Kapitel: Die Nachricht erreicht Strelsau 

15. Kapitel: Oberst Sapt schlägt die Zeit tot 

16. Kapitel: Die Menge in der KönigsstraSSe 

17. Kapitel: Rupert und der Schauspieler 

18. Kapitel: Der Triumph des Königs 

19. Kapitel: Um unserer Liebe und ihrer Ehre willen! 

20. Kapitel: Die Entscheidung des Himmels 

21. Kapitel: Der Traum wird wahr 

 

Das Buch

 

Nur mit größter Mühe ist der ebenso elegante wie abgefeimte Schurke Rupert von Hentzau der Rache seines edlen Gegenspielers Rudolf Rassendyll entgangen. Nun schlägt der Erzbösewicht erneut zu – ein Liebesbrief von Königin Flavia an Rassendyll ist in seine Hände gelangt und bietet ihm die Gelegenheit zur Erpressung...

Doch als Rassendyll, der dem regierenden König von Ruritanien wie ein Zwilling ähnelt, von der Intrige des stets lächelnden Teufels Rupert erfährt, eilt er sofort aus England herbei, um der Geliebten zur Seite zu stehen. Kann Rupert seiner gerechten Strafe auch diesmal wieder entgehen?

 

Sir Anthony Hope Hawkins, besser bekannt als Anthony Hope, war ein englischer Schriftsteller und Dramatiker. Obwohl er ein überaus produktiver Autor war, erinnert man sich heute hauptsächlich wegen der Romane Der Gefangene von Zenda (1894) und Die Rückkehr nach Zenda (1898) an ihn.

Beide Werke, die als kleine Klassiker der englischen Literatur gelten, spielen in dem fiktiven Staat Ruritanien und haben viele Epigonen inspiriert, vor allem in Hollywood.

Die Fortsetzung des mehrfach verfilmten Fantasy-Abenteuer-Klassikers Der Gefangene von Zenda! Ins Deutsche übersetzt von Ronald M. Hahn.

 

 

 

 

Der Autor

 

Anthony Hope.

(* 19. Februar 1863, † 8. Juli 1933).

 

 Anthony Hope war das Pseudonym von Sir Anthony Hope Hawkins, einem britischen Rechtsanwalt und Schriftsteller.

Hope war ein Sohn von Reverend Edward Connerford Hawkins, einem anglikanischen Geistlichen, und Jane Isabella Grahame. Er verließ die Universität Oxford 1885 mit einem first-class degree und wurde Anwalt in London. Er heiratete 1903, hatte zwei Söhne und eine Tochter. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er im Ministry of Information. 1918 wurde er für seine Verdienste während des Krieges zum Ritter geschlagen.

Sein erstes Buch war A Man of Mark (1890), später schrieb er The Dolly Dialogues (1894). Den größten Erfolg hatte er mit dem mehrfach verfilmten Werk The Prisoner Of Zenda (dt. Der Gefangene von Zenda). Anschließend verfasste er die Fortsetzung Rupert Of Henzau (1898) und zahlreiche weitere Bücher wie z.B. The King's Mirror (1899), The Great Miss Driver (1908) und Beaumaroy Home From The Wars (1919).

 

Der Apex-Verlag veröffentlicht Anthony Hopes Romane Der Gefangene von Zenda (Orig.: The Prisoner Of Zenda) und Die Rückkehr nach Zenda (Orig.: Rupert Of Henzau), die in Kenner-Kreisen der Fantasy-Literatur zugerechnet werden, als Übersetzungen des mehrfach preisgekrönten Ronald M. Hahn.

  DIE RÜCKKEHR NACH ZENDA

 

     

  1. Kapitel: Die KÖnigin nimmt Abschied

 

Ein Mensch, der in der Welt gelebt und sie durch seine Handlungen mitgeprägt, hat, auch wenn sie vielleicht gering und unbedeutend waren, kann die Ursache von Konsequenzen sein, die in aller Munde sind und Jahre und Jahrhunderte unvergessen bleiben. Doch niemand konnte sicher sein, dass mit dem Tode des Herzogs von Strelsau, der Genesung König Rudolfs und seiner Rückkehr in die Freiheit und auf den Thron, die Probleme, die aus der verwegenen Verschwörung des Schwarzen Michael erwachsen waren, für ewig und alle Zeiten ihr Ende gefunden hatten. Man hatte mit hohem Einsatz gespielt und hart um ihn gekämpft; die Schneide des Zorns war geschärft worden, und die Saat der Feindschaft gesät. Doch Michael, der nach der Krone gegriffen hatte, hatte für diesen Anschlag mit seinem Leben bezahlt: Hätte also nicht alles zu Ende sein müssen? Michael war tot, die Prinzessin war die Gattin ihres Vetters, die Geschichte abgeschlossen, und Mr. Rassendylls Gesicht wurde in Ruritanien nicht mehr gesehen. Musste damit nicht alles zu Ende sein? Diese Frage stellte ich meinen Freund, dem Burgvogt von Zenda, als wir uns am Bett von Marschall Strakencz unterhielten. Der alte Herr, vom Tod, der uns kurz darauf seines Rates und Beistandes beraubte, bereits gezeichnet, neigte zustimmend den Kopf: In den Alten und Kranken gebiert die Friedensliebe stets Hoffnung. Doch Oberst Sapt zwirbelte seinen grauen Schnauzbart, schob die schwarze Zigarre, die er zwischen den Zähnen hielt, in einen anderen Mundwinkel, und sagte: »Sie sind sehr optimistisch, Freund Fritz. Aber ist Rupert von Hentzau tot? Ich habe nichts davon gehört.«

Gut gesagt – und typisch Sapt! Dennoch ist der Mensch wenig ohne die Gelegenheit, und Rupert persönlich konnte unsere Gemütsruhe kaum in Schwierigkeiten bringen. Von seiner eigenen Schuld behindert, wagte er es nicht, einen Fuß in das Königreich zu setzen, aus dem er mit seltenem Glück entwischt war. Er trieb sich nun irgendwo in Europa herum, verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Hilfe seines klugen Kopfes und, wie wir gehört hatten, mit Mitteln der Galanterie, für die er keine substantielle Entschädigung ablehnte, die er seinen Ressourcen hinzufügen konnte. Doch bewegte er sich stets im Blickfeld unserer Augen und hörte nie auf, Pläne zu schmieden, wie er vielleicht die Erlaubnis zur Rückkehr bekommen und sich der Ländereien erfreuen konnte, die ihm das Ableben seines Onkels hinterlassen hatte. Sein Hauptkurier, durch den er die Unverschämtheit hatte, den König anzusprechen, war einer seiner Verwandten, der Graf von Luzau-Rischenheim, ein junger Mann von hohem Stand und großem Reichtum, der ihm treu ergeben war. Der Graf erfüllte seine Mission bestens: Obwohl er Ruperts beachtliche Schandtaten kannte, führte er zu seinen Gunsten dessen Jugend und den beherrschenden Einfluss ins Spiel, den Herzog Michael über seinen Gefolgsmann ausgeübt hatte, und versprach mit Worten, die äußerst eindeutig Ruperts persönliche Handschrift trugen, zukünftige Treue, die sowohl taktvoll als auch herzlich sein werde. »Gebt mir meinen Preis, dann halte ich den Mund«, schien Rupert durch den ihn verteidigenden Mund seines Vetters zu sagen. Doch wie man sich gewiss vorstellen kann, wussten der König und jene, die ihn in dieser Angelegenheit berieten, nur zu gut, welche Art Mensch der Graf von Hentzau war – sie waren nicht bereit, den frommen Sprüchen seines Botschafters das Ohr zu leihen. Wir behielten seine Steuern offiziell ein und beobachteten seine Schritte so gut wie möglich, denn wir waren einstimmig der Ansicht, dass er nie wieder nach Ruritanien zurückkehren durfte. Vielleicht hätten wir seine Auslieferung verlangen und ihn aufgrund seiner zahlreichen Verbrechen hängen sollen; doch damals stand jedem Strauchdieb, der nichts anderes als verdient hatte, als am nächsten Baum aufgeknüpft zu werden, das zu, was man eine faire Gerichtsverhandlung nennt, und wir fürchteten, dass das Geheimnis, das wir so emsig hüteten, zum Stadtgespräch – vielleicht sogar in ganz Europa – geworden wäre, hätten wir Rupert der Polizei ausgeliefert und in Strelsau vor Gericht gebracht. So blieb er, abgesehen von der Verbannung und Beschlagnahme seiner Abgaben, unbestraft.

Doch was Rupert anbetraf, war Sapt im Recht. Wenn er auch hilflos erschien, er ließ den Wettstreit nicht einen Augenblick links liegen. Er lebte in dem Glauben, dass seine Chance kommen würde, und dass dies jeden Tag der Fall sein konnte. Er intrigierte gegen uns, wie wir gegen ihn intrigierten, um uns vor ihm zu schützen, und wenn wir ihn beobachteten, ließ er uns ebenfalls nicht aus den Augen. Sein Einfluss auf Luzau-Rischenheim wurde nach einem Besuch, den sein Vetter ihm in Paris abstattete, merklich größer. Von nun an versorgte ihn der junge Graf mit Geldmitteln. So gewappnet, versammelte er willfährige Werkzeuge um sich und organisierte ein Spitzelsystem, das ihn über all unsere Aktionen und sämtliche Hofaffären informierte. Er wusste weit besser als jeder andere, der nicht dem königlichen Kreis angehörte, welche Schritte die Regierung hinsichtlich unseres Landes unternahm und welche Sachzwänge die Politik des Königs diktierten. Mehr noch – er war im Besitz jeglicher Einzelheiten über den Gesundheitszustand des Königs, obwohl gerade in dieser Hinsicht größte Diskretion gepflegt wurde. Hätten seine Entdeckungen hier geendet, wären sie zwar verdrießlich und beunruhigend gewesen, doch nicht unbedingt ernsthaft gefährdend. Aber sie gingen weiter. Aufgrund seiner Kenntnis dessen, was während der Thronübernahme durch Mr. Rassendyll geschehen war, auf die richtige Fährte gelangt, durchdrang er das Geheimnis, das wir bisher sogar selbst vor dem König bewahrt hatten. In seinem Wissen sah er die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte; und indem er sie wahrnahm, nutzte er sie. Ich kann nicht sagen, ob er mehr von dem Verlangen beeinflusst wurde, seine Position im Reich wieder zu festigen, oder von dem Groll, den er gegen Mr. Rassendyll hegte. Er liebte Geld und Macht; doch gewiss sehnte er sich auch nach Rache. Zweifellos passten seine Motive zusammen, und so war er erfreut, als er erkannte, dass die Waffe, die er in der Hand hielt, zweischneidig war; mit der einen hoffte er, sich den Weg freizumachen, mit der anderen wollte er den Mann durch die ihn liebende Frau verwunden. Kurz gesagt, der Graf von Hentzau erkannte scharfsinnig die Verbindung, die zwischen der Königin und Rudolf Rassendyll existierte. Er sandte seine Spione aus und wurde mit der Entdeckung der Ursache meiner jährlichen Zusammentreffen mit Mr. Rassendyll belohnt. Zumindest vermutete er die Natur meiner Botengänge: und dies reichte ihm. Kopf und Hand waren schon bald damit beschäftigt, sein Wissen in etwas Einträgliches umzuwandeln; Skrupel hatten Ruperts Herz noch nie im Wege gestanden.

Die Hochzeit, die ganz Ruritanien mit Freude erfüllt und in den Augen des Volkes den sichtbaren Triumph über den Schwarzen Michael und seine Mitverschwörer bedeutet hatte, lag nun drei Jahre zurück. Seit drei Jahren war Prinzessin Flavia nun Königin. Ich war inzwischen in einem Alter, in dem man das Leben mit Augen sehen sollte, die nicht vom Nebel der Leidenschaft getrübt sind. Die Zeiten der Schürzenjägerei sind vorüber, es gibt nichts, wofür ich dem allmächtigen Gott dankbarer bin, als das Geschenk der Liebe meiner Frau. In stürmischen Zeiten war sie mein Anker, und an hellen Tagen mein Leitstern. Doch wir gewöhnlichen Menschen sind frei, unseren Herzen zu folgen; bin ich ein alter Narr, wenn ich sage, dass der ein Tölpel ist, der allem anderen folgt? Unsere Freiheit ist nicht für Prinzen. Wir brauchen nicht auf eine zukünftige Welt zu warten, um das Glück der Menschheit ins Gleichgewicht zu bringen. Selbst hier gibt es ein Gegengewicht. Jene, die hoch stehen, zahlen einen Preis für ihren Rang, ihren Wohlstand und ihre Ehren, der so hoch ist, wie sie groß; den Armen, die für uns niedrig und ohne Vergnügen sind, erscheinen sie vielleicht geschmückt in Roben wonnigen Vergnügens. Nun, wenn es nicht so wäre, wer könnte nachts schlafen? Ich kannte die Bürde Königin Flavias so gut, wie man sie nur kennen kann. Ich glaube, es erfordert eine Frau, sie voll und ganz zu kennen; selbst jetzt noch füllen sich die Augen meiner Gattin mit Tränen, wenn wir darüber sprechen. Und doch ertrug sie diese Bürde, und wenn sie vielleicht auch in allem anderen versagte, mich wundert, dass es nur so wenig war. Denn sie hat den König nie geliebt, sondern liebte von ganzem Herzen einen anderen. Die Gesundheit des Königs, angeschlagen durch seine Gefangenschaft auf Burg Zenda, brach bald völlig zusammen. Natürlich lebte er; ja, er ging sogar auf die Jagd und betrieb die Regierungsgeschäfte. Doch vom Tage seiner Befreiung an war er ein reizbarer Invalide, der sich äußerlich völlig von dem fröhlichen und jovialen Prinzen unterschied, den Michaels Spießgesellen im Jagdhaus gefangengenommen hatten. Doch es gab Schlimmeres als dies. Im Laufe der Zeit, erstarb in ihm der Impuls der Dankbarkeit und Verehrung, den er Mr. Rassendyll anfangs entgegengebracht hatte. Er fing allmählich an, darüber nachzusinnen, was während seiner Gefangenschaft passiert war. Er war nicht nur besessen von der gespenstischen Bedrohung durch Rupert von Hentzau, unter dessen Händen er so schwer gelitten hatte, sondern auch von einer morbiden, halb tollwütigen Eifersucht auf Mr. Rassendyll. Als er hilflos gewesen war, hatte Rudolf den Helden dargestellt. Die Verdienste, aufgrund derer ihm das Volk in der Hauptstadt zujubelte, waren die eines anderen. Die Lorbeeren, die seine gerunzelte Stirn krönten, gehörten Rudolf. Er hatte zwar genug Würde, seine geborgte Anerkennung zu verabscheuen, doch nicht die Seelenstärke, sie wie ein Mann zu ertragen. Und dass man ihn mit Rudolf verglich, war ihm zutiefst verhasst. Sapt erzählte ihm ganz offen, dass Rudolf dieses und jenes getan, dies oder das verfügt und diese oder jene Politik verfolgt hatte, und dass der König nichts Besseres tun könne, als in seine Fußstapfen zu treten. Mr. Rassendylls Name kam nur selten über die Lippen seiner Gattin, doch wenn sie von ihm sprach, tat sie es auf eine Art, als ginge es um einen großen, verstorbenen Mann, dessen Schatten alle anderen neben ihm verblassen ließ. Ich glaube zwar nicht, dass der König die Wahrheit erkannte, die seine Gattin vor ihm verbarg, doch er fühlte sich unbehaglich, wenn Rudolfs Name erwähnt wurde; es sei denn Sapt oder ich erwähnten ihn, doch aus dem Mund der Königin konnte er ihn nicht ertragen. Ich habe gesehen, wie er in Raserei verfiel, wenn er nur seinen Namen hörte; er verlor die Kontrolle über sich, sobald er nur die geringste Provokation witterte.

Von dieser beunruhigenden Eifersucht getrieben, versucht er fortwährend, von der Königin Liebesbeweise zu erzwingen, die weit über das hinausgingen, mit dem normale Ehemänner prahlen können. Wie ich es in meiner nichtswürdigen Beurteilung sehe, bat er sie stets um das, wovon sein Herz befürchtete, sie könne es ihm nicht geben. Aus Mitgefühl und Pflichtbewusstsein gestand sie ihm viel zu, doch da sie selbst nur ein Mensch und eine Frau von großem Temperament war, versagte sie in manchen Augenblicken; dann wuchs die schroffe Abweisung oder unfreiwillighe Kälte durch die Phantasie eines kranken Mannes zu einer großen Kränkung oder zungenfertigen Beleidigung, und nichts von dem, was sie dann tat, konnte sie aus der Welt schaffen. Auf diese Weise entfernten sich die beiden, die einander nie nahegekommen waren, weiter voneinander. Er war allein mit seiner Krankheit und seinem Argwohn, und sie mit ihren Sorgen und Erinnerungen. Es gab kein Kind, das die Kluft zwischen ihnen hätte überbrücken können, und obwohl sie seine Königin und Gattin war, wurde sie ihm allmählich immer fremder. Er schien zu glauben, so müsse es sein.

Und so lebte sie drei Jahre lang wie eine Witwe, und einmal in jedem Jahr schickte sie dem Mann, den sie liebte, drei Worte, und bekam dafür von ihm drei Worte als Antwort. Dann ließ ihre Kraft nach. Es kam zu einer bedauerlichen Szene, als der König sie in einer Angelegenheit von geringer Wichtigkeit übellaunig ausschimpfte – der Grund fällt mir nicht mehr ein -, und vor anderen Dinge zu ihr sagte, die sie sich nicht einmal allein in Würde hätte anhören können. Sapt und ich waren dabei, und die kleinen Augen des Obersten funkelten vor Zorn. »Ich sollte ihm über’s Maul fahren«, hörte ich ihn murmeln, da die Unberechenbarkeit des Königs selbst seine Ergebenheit allmählich bröckeln ließ.

Die Sache, von der ich nicht mehr sagen will, passierte ein, zwei Tage vor meinem Aufbruch, um Mr. Rassendyll zu treffen. Diesmal sollte ich ihn in Wintenberg treffen, da man mich im Jahr zuvor in Dresden erkannt hatte. Wintenberg war nur ein kleiner Ort, und er erschien mir sicherer, da es unwahrscheinlich war, dass mir hier Bekannte über den Weg liefen. Ich weiß noch genau, wie die Königin dastand, als sie mich ein paar Stunden, nachdem sie den König verlassen hatte, in ihr Zimmer rief. Sie stand am Tisch; die Schachtel lag darauf, und ich wusste, dass sich die rote Rose und die Botschaft in ihr befanden. Doch heute ging es um mehr. Ohne Übergang brachte sie den Grund meines Botengangs sofort ins Gespräch.

»Ich musste ihm schreiben«, sagte sie. »Ich halte es nicht mehr aus. Fritz, mein lieber Freund, Sie werden den Brief sicher für mich überbringen, nicht wahr? Er muss mir auch schreiben. Und auch das werden sie mir überbringen, nicht wahr? Oh, Fritz, ich weiß, dass ich falsch handle, aber ich verhungere, verhungere, verhungere! Und es ist das letzte Mal. Denn ich weiß jetzt, wenn ich ihm irgendetwas schreibe, wird es so weitergehen. Also wird es jetzt das letzte Mal sein. Ich muss Lebewohl zu ihm sagen. Ich muss dieses Lebewohl haben, damit ich durchs Leben komme. Also tun Sie es für mich, Fritz.« 

Tränen liefen über ihre Wangen, die nicht wie sonst blass, sondern rot von stürmischem Blut waren; ihr Blick trotzte mir, wenn ihre Augen auch baten. Ich neigte den Kopf und küsste ihre Hand. 

»Mit Gottes Hilfe werde ich den Brief sicher überbringen und aushändigen, meine Königin«, sagte ich. 

»Und erzählen Sie mir, wie er aussieht. Sehen Sie ihn sich genau an, Fritz. Achten Sie darauf, ob es ihm gut geht und ob er stark ist. Oh, und sorgen Sie dafür, dass er fröhlich und glücklich ist. Sorgen Sie dafür, dass er lächelt, Fritz. Und wenn Sie von mir sprechen, achten Sie darauf, ob er... ob er immer noch so aussieht, als würde er mich lieben.« Dann brach sie ab und weinte: »Aber erzählen Sie ihm nicht, dass ich es gesagt habe! Er würde sich grämen, wenn er wüsste, dass ich seine Liebe anzweifle. Ich zweifle sie ja gar nicht an, wirklich nicht; aber sagen Sie mir trotzdem, wie er aussieht, wenn Sie von mir sprechen. Tun Sie das für mich, Fritz? Hier ist der Brief.« 

Sie nahm den Brief von ihrem Busen und küsste ihn, bevor sie ihn mir gab. Dann fügte sie noch tausend Warnungen hinzu – wie ich ihn tragen, wie ich abfahren und zurückkehren sollte, und dass ich mich vor Gefahren in acht nehmen müsse, da meine Gattin Helga mich ebenso liebe wie sie ihren Gatten geliebt hätte, wäre der Himmel freundlicher zu ihr gewesen. 

»Zumindest so, wie es nötig gewesen wäre, Fritz«, sagte sie zwischen Weinen und Lächeln. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau je so geliebt hatte wie sie. 

Ich verließ die Königin und traf die Vorbereitungen zu meiner Reise. Ich nahm stets nur einen Diener mit, und hatte jedes Jahr einen anderen ausgewählt. Keiner hatte je erfahren, dass ich mich mit Mr. Rassendyll traf; sie nahmen an, dass ich in jenen Privatgeschäften reiste, die ich vortäuschte, damit der König mir seine Erlaubnis erteilte. Diesmal hatte ich einen jungen Schweizer ausersehen, der erst vor wenigen Wochen in meine Dienste getreten war. Sein Name war Bauer; er erschien mir als unerschütterlicher, etwas dümmlicher Bursche, aber so ehrlich wie kein zweiter und sehr diensteifrig. Er war mit den besten Empfehlungen zu mir gekommen, und ich hatte nicht gezögert, ihn einzustellen. Diesmal wählte ich ihn zu meiner Begleitung, hauptsächlich deswegen, weil er Ausländer war und wahrscheinlich weniger mit den anderen Bediensteten tratschen würde, wenn wir zurückkehrten. Ich will nicht so tun, als sei ich besonders umsichtig gewesen, aber ich gestehe, dass es mich ärgert, wenn ich daran denke, wie dieser beleibte, harmlos aussehende Bursche mich zum Narren gehalten hat. Denn Rupert wusste, dass ich Mr. Rassendyll im Jahr zuvor in Dresden getroffen hatte! Rupert hielt ein wachsames Auge auf alles, was in Strelsau passierte. Er hatte diesem Burschen die besten Papiere ausgestellt und zu mir geschickt – in der Hoffnung, er könne irgendetwas Unvorteilhaftes über seinen Arbeitgeber herausfinden. Dass ich mich dazu entschloss, ihn mit nach Wintenberg zu nehmen, hat er vielleicht gehofft, doch er rechnen konnte er kaum damit; es war unverhofftes Glück, das den Plänen gerissener Intriganten nur allzu oft zunutze kommt. 

Als ich mich vom König verabschieden wollte, fand ich ihn vor dem Feuer hingekauert. Der Tag war nicht kalt, doch die feuchte Kälte der Gruft, in der man ihn gefangen gehalten hatte, schien bis ins Innerste seiner Knochen vorgedrungen zu sein. Mein Fortgehen missfiel ihm, und er befragte mich eingehend über die Natur meiner Reise. Ich parierte seine Neugier, so gut es ging, doch ich war nicht erfolgreich darin, seine Bosheit zu beschwichtigen. Halb beschämt über seinen kürzlichen Ausbruch, halb bestrebt, ihn vor sich selbst zu rechtfertigen, rief er verdrossen: »Geschäfte! Ja, Geschäfte sind eine ausreichende Entschuldigung, mich zu verlassen! Gütiger Gott, ich frage mich, ob es je einen König gegeben hat, dem man so schlecht diente wie mir! Warum haben Sie sich überhaupt die Mühe gemacht, mich aus Zenda zu befreien? Niemand will mich, keinen kümmert es, ob ich lebe oder sterbe!« 

Es war unmöglich, in dieser Stimmung vernünftig mit ihn zu reden. Ich konnte ihm nur versichern, dass ich meine Rückkehr so schnell wie möglich vorantreiben würde. 

»Ja, tun Sie das«, sagte er. »Ich möchte, dass sich jemand um mich kümmert. Wer weiß, was dieser Halunke Rupert wieder gegen mich ausheckt? Und ich kann mich ja schließlich nicht selbst verteidigen, oder? Ich bin ja schließlich nicht Rudolf Rassendyll, nicht wahr?« 

Er schaute mich mit einer Mischung aus Wehleidigkeit und Gehässigkeit finster an. Schließlich nahm ich Haltung an und wartete darauf, dass er sich die Ehre gab, mich zu entlassen. Jedenfalls war ich dankbar, da er, was meine Mission anging, keinerlei Misstrauen zeigte. Hätte ich Mr. Rassendylls Namen nur einmal erwähnt, hätte er mich nicht gehen lassen. Er wäre misstrauisch geworden, noch bevor er herausbekommen hätte, dass ich mit Rudolf in Verbindung stand. So vollkommen hatte die Missgunst die Großzügigkeit seines Herzens zerstört. Hätte er gewusst, was ich bei mir trug, ich glaube, er hätte seinen Beschützer nicht mehr hassen können. Wahrscheinlich waren solche Gefühle natürlich; doch war es nicht weniger schmerzhaft, sie wahrzunehmen. 

Als ich mich aus der Gegenwart des Königs zurückzog, suchte ich den Burgvogt von Zenda auf. Er kannte den Grund meiner Reise, und als ich neben ihm Platz nahm, erzählte ich ihm von dem Brief, den ich bei mir trug und arrangierte gewissenhaft und schnell über meinen Auftrag in Kenntnis. Er war an diesem Tag nicht gut aufgelegt: der König hatte auch ihn gerüffelt, und Oberst Sapt hatte keine großen Geduldsreserven.

»Falls wir uns bis dahin nicht gegenseitig die Kehle durchgeschnitten haben«, sagte er, »werden wir auf Burg Zenda sein, wenn Sie in Wintenberg eintreffen. Der Hof zieht morgen los, und ich werde ebenso lange dort sein wie der König.« 

Er hielt inne, dann sagte er: »Vernichten Sie den Brief, wenn Sie irgendeine Gefahr wittern.« 

Ich nickte.

»Und vernichten Sie auch sich, wenn es keine andere Möglichkeit gibt«, fuhr er mit einem säuerlichen Lächeln fort. »Der Himmel mag wissen, warum sie eine derart dumme Botschaft überhaupt abschicken muss, aber wenn es schon nicht anders geht, hätte sie mich am besten gleich mitgeschickt.« 

Ich wusste, dass Sapt in der Stimmung war, jede Gefühlsregung zu verhöhnen, also ignorierte ich alle Bemerkungen, die er über den Abschiedsbrief der Königin machte. Da beantwortete ich schon lieber das, was er als letztes gesagt hatte. 

»Nein, es ist besser, wenn Sie hierbleiben«, drängte ich. »Denn wenn ich den Brief verlieren sollte – wenn die Chancen auch sehr gering sind -, können Sie verhindern, dass er in die Hände des Königs fällt.« 

»Ich könnte es versuchen«, grinste er. »Aber mein Leben für einen Brief zu wagen! Ein Brief ist ein armseliges Ding; für so etwas sollte man den Frieden eines Reiches nicht aufs Spiel setzen.« 

»Leider«, sagte ich, »ist er das einzige, was ein Kurier leicht befördern kann.« 

»Dann raus mit Ihnen«, brummte der Oberst. »Richten Sie Rassendyll aus, dass er gut war. Aber richten Sie ihm auch aus, dass er noch etwas tun soll. Er soll sich von ihr verabschieden und alles vergessen. Guter Gott, er wird sein Leben doch wohl nicht damit vergeuden, an eine Frau zu denken, die er nie wiedersehen wird?« Sapts ganze Haltung strahlte Empörung aus. 

»Was könnte er denn sonst noch tun?« fragte ich. »Hat er seine Arbeit nicht getan?« 

»Ja, sie ist getan. Vielleicht ist sie getan«, antwortete Sapt. »Zumindest hat er uns unseren guten König zurückgegeben!« 

Den König für das verantwortlich zu machen, was er war, wäre eine große Ungerechtigkeit gewesen. Sapt hatte sich dessen nicht schuldig gemacht, aber seine Enttäuschung war deswegen so groß, weil unsere ganzen Anstrengungen keinen besseren Herrscher für Ruritanien hervorgebracht hatten. Sapt konnte dienen, aber er wollte auch, dass sein Herr ein Mann war. 

»Ja, ich fürchte, die Arbeit dieses Burschen hier ist wirklich getan«, sagte er, als ich ihm die Hand schüttelte. Dann leuchteten seine Augen plötzlich auf. »Vielleicht aber auch nicht«, murmelte er. »Wer weiß?« 

Ich nehme an, man kann es einem Mann nicht übelnehmen, wenn er vor einer langen Reise noch ein stilles Abendessen mit seiner Gattin einnimmt. Dies war zumindest mein Plan, und so war ich verärgert, als ich entdeckte, dass Helgas Vetter, Anton von Strofzin, sich eingeladen hatte, um unser Mahl und unseren Abschied mitzuerleben. Er redete mit der ihm eigenen Leere über alle Themen, die Strelsau im Moment mit Tratsch versorgten. Es gab Gerüchte, dass der König krank sei, dass es der Königin nicht behagte, nach Zenda zu reisen, dass der Erzbischof demnächst gegen zu kurze Kleider wettern wolle, dass der Kanzler entlassen werden solle, dass seine Tochter heiraten würde, und so weiter. Ich lauschte ihm, ohne zuzuhören. Doch sein letzter Ausflug in den Tratsch erweckte meine Aufmerksamkeit. 

»Im Klub hat man gewettet«, sagte Anton, »dass Rupert von Hentzau rehabilitiert wird. Hast du irgendetwas davon gehört, Fritz?« 

Selbst wenn ich etwas davon gehört hätte – ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, dass ich es Anton gegenüber nicht eingestanden hätte. Doch der suggerierte Schritt war den Absichten des Königs dermaßen entgegengesetzt, dass es mir nicht schwerfiel, dieses Gerücht mit einer autoritären Gebärde zurückzuweisen. Anton hörte mir mit einem kritischen Runzeln seiner ansonsten glatten Stirn zu. 

»Das ist ja alles sehr schön«, sagte er, »aber ich wage zu behaupten, dass du diese Aussage machen musst. Ich weiß nur, dass Rischenheim Oberst Markel vor ein oder zwei Tagen diesen Tipp gegeben hat.« 

»Rischenheim glaubt seinen Hoffnungen«, sagte ich. 

»Und wohin ist er dann gegangen?« rief Anton triumphierend aus. »Warum hat er Strelsau so plötzlich verlassen? Ich sage dir, er ist abgereist, um Rupert zu treffen, und ich wette mit dir, um was du willst, dass er irgendein Angebot bei sich hat. Ach, du weißt auch nicht alles, Fritz, mein Junge!« 

Es stimmte tatsächlich, dass ich nicht alles wusste. Und ich beeilte mich, dies auch zuzugeben. 

»Ich wusste nicht einmal, dass der Graf abgereist ist, und noch weniger, warum«, sagte ich. 

»Na siehst du!« rief Anton. Und er fügte besserwisserisch hinzu: »Du solltest die Augen offenhalten, mein Junge; dann bist du vielleicht das wert, was der König dir zahlt.« 

»Aber auch nicht weniger, nehme ich an«, sagte ich, »denn er zahlt mir gar nichts.« Tatsächlich hatte ich damals außer der Ehrenposition des Kammerherrn seiner Majestät keine Stellung. Jeder Rat, den der König von mir brauchte, wurde inoffiziell erbeten und erteilt. 

Anton zog wieder los, überzeugt davon, dass er einen Punkt gegen mich gewonnen hatte, wenn ich auch nicht sehen konnte, wo. Es war möglich, dass der Graf von Luzau-Rischenheim abgereist war, um seinen Vetter zu besuchen, aber es war ebenso möglich, dass er dergleichen nicht vorhatte. Jedenfalls hatte ich mit der Sache nichts zu tun. Ich hatte eine dringendere Angelegenheit zu erledigen. Ich vergaß die ganze Sache und wies meinen Kammerdiener an, Bauer solle mein Gepäck hinaustragen und rechtzeitig die Kutsche vorfahren. Helga hatte sich nach dem Abschied unseres Gastes damit beschäftigt, kleine Häppchen für meine Reise vorzubereiten; jetzt kam sie, um sich von mir zu verabschieden. Obwohl sie es zu verbergen versuchte, erkannte ich an ihren Verhalten, dass sie sich unbehaglich fühlte. Sie mochte diese meine Botengänge nicht, weil sie sich die Gefahren und Risiken ausmalte, denen ich womöglich ausgeliefert war. Ich wollte mich nicht auf ihre Stimmung einlassen, und als ich sie küsste, bat ich sie, mich in ein paar Tagen zurückzuerwarten. Nicht einmal sie weihte ich in die neue, gefährliche Bürde ein, die ich zu tragen hatte, obwohl mir bewusst war, dass sie sich des Vertrauens der Königin voll und ganz erfreute. 

»Meine Liebe für König Rudolf, den echten«, sagte sie. »Auch wenn du etwas bei dir hast, das ihn von meiner Liebe niedrig denken lassen würde.« 

»Ich habe nicht das Verlangen, dass er sie im Übermaß schätzt, Liebling«, sagte ich. 

Sie nahm meine Hände und schaute zu mir auf.

»Was bist du für ein Freund, Fritz«, sagte sie. »Du betest Mr. Rassendyll an. Ich weiß, wenn es nach dir ginge, sollte ich ihn ebenfalls vergöttern, wenn er mich darum bäte. Aber ich will es nicht. Ich bin dumm genug, meinen eigenen Abgott zu haben.« 

Meine Bescheidenheit ließ mich nicht daran zweifeln, wer ihr Abgott war. Plötzlich schmiegte sie sich an mich und flüsterte mir etwas ins Ohr. Ich glaube, unser persönliches Glück ließ sie ihrer Herrin kühne Sympathie entgegenbringen.

»Bringe ihn dazu, ihr einen Liebesbrief zu schreiben, Fritz«, flüsterte sie. »Etwas, das sie beruhigt. Ihr Abgott kann nicht bei ihr sein, so wie der meine bei mir ist.« 

»Ja, er wird ihr etwas schreiben, das sie beruhigt«, antwortete ich. »Und Gott schütze dich, meine Liebe.« 

Er würde gewiss eine Antwort auf den Brief schreiben, den ich bei mir hatte, und ich war eingeschworen, diesen Brief sicher zu ihr zu bringen. So machte ich mich guten Mutes auf den Weg, in der Manteltasche die kleine Schachtel und den Abschiedsbrief der Königin. Und wie Oberst Sapt es gesagt hatte, ich würde beides vernichten, wenn die Lage es erforderte. Und auch mich selbst. Man dient Königin Flavia nicht mit halbem Bewusstsein. 

  2. Kapitel: Ein Bahnhof ohne DroschkeN

 

Die Vorbereitungen meines Treffens mit Mr. Rassendyll waren sorgfältig per Korrespondenz arrangiert worden, bevor er England verließ. Er wollte am 15. Oktober um elf Uhr abends im Hotel Goldener Löwe sein. Ich rechnete damit, am gleichen Abend zwischen acht und neun in der Stadt einzutreffen: Dort wollte ich in ein anderes Hotel gehen, unter dem Vorwand, einen Spaziergang zu machen, hinausschlüpfen, und ihn zur abgemachten Stunde aufsuchen. Ich würde meine Mission erfüllen, seine Antwort entgegennehmen und die Freuden eines langen Gesprächs mit ihm genießen. Am nächsten Morgen würde er Wintenberg früh verlassen, und ich würde auf dem Rückweg nach Strelsau sein. Ich wusste, dass er unsere Verabredung nicht versäumen würde, und ich war mir hundertprozentig der Tatsache bewusst, dass ich das gesamte Programm pünktlich erledigen konnte. Ich hatte allerdings in weiser Voraussicht dafür gesorgt, dass ich auch eine ganze Woche abwesend sein konnte, sollte irgendein unvorhergesehener Zwischenfall meine Rückkehr verschieben. Eingedenk der Tatsache, dass ich alles getan hatte, was man tun konnte, um sich gegen Misshelligkeiten oder Pannen zu wappnen, betrat ich mit ruhigem Gewissen den Zug. Die Schachtel war in meiner Innentasche, der Brief in meiner Brieftasche. Ich konnte beides mit der Hand ertasten. Ich trug zwar keine Uniform, aber meinen Revolver hatte ich mitgenommen. Obwohl ich keinen Grund hatte, irgendwelche Schwierigkeiten vorauszusehen, dachte ich stets daran, dass ich das, was ich bei mir trug, unter allen Umständen und um jeden Preis beschützen musste.

Die langweilige Nachtfahrt verging von allein. Am Morgen kam Bauer zu mir, vollführte ein paar kleine Dienste, packte meinen Handkoffer um, brachte mir den Kaffee und ging wieder. Es war ungefähr acht Uhr; wir hatten einen Bahnhof von ziemlicher Wichtigkeit erreicht und sollten erst gegen Mittag wieder halten. Ich sah, wie Bauer das Zweiter Klasse- Abteil betrat, in dem er reiste, und nahm in meinem eigenen Coupé Platz. Ich glaube, in diesem Augenblick, kam mir wieder der Gedanke an Rischenheim, und ich fand mich bei der Frage wieder, wieso er an der hoffnungslosen Vorstellung von Ruperts Rückkehr festhielt und welche Geschäfte ihn wohl aus Strelsau fortgelockt hatten. Doch ich dachte nicht sehrlange darüber nach, und duselte – noch schläfrig wegen einer Unterbrechung meiner Nachtruhe – bald wieder ein. Ich war allein in meinem Wagen und konnte ohne Angst oder Gefahr schlafen. An unserem mittäglichen Haltepunkt wachte ich wieder auf. Hier sah ich Bauer erneut. Nachdem ich einen Teller Suppe zu mir genommen hatte, ging ich zum Telegraphenbüro und schickte meiner Gattin eine Nachricht: Sobald sie sie empfing, würde sie nicht nur beruhigen, sondern auch die Königin vom Fortschritt meiner Reise in Kenntnis setzen. Als ich das Büro betrat, sah ich Bauer, der es gerade verließ. Unsere Begegnung schien ihn zwar ziemlich zu überraschen, doch er erzählte mir bereitwillig, er habe wegen unserer Zimmer nach Wintenberg telegraphiert, eine äußerst sinnlose Vorsichtsmaßnahme, da keineswegs die Gefahr bestand, dass das Hotel ausgebucht war. Ich  war sogar verärgert über sein Verhalten, da ich darauf aus gewesen war, meinem Erscheinen in dieser Stadt keine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Nun war das Missgeschick jedoch geschehen. Hätte ich meinen Diener getadelt, hätte es vielleicht nur dazu geführt, dass er sich Gedanken über die Motive meiner Geheimnistuerei gemacht hätte. Also sagte ich nichts, und ging mit einem Nicken an ihm vorbei. Als dann sämtliche Umstände ans Licht kamen, hatte ich Grund zu der Annahme, dass er neben der Botschaft an den Hotelier noch eine an jemanden geschickt hatte, an den ich nicht dachte.

Bevor wir Wintenberg erreichten, hielten wir noch einmal an. Ich schob den Kopf aus dem Fenster, um mich umzusehen und entdeckte Bauer in der Nähe des Gepäckwagens. Er rannte eilig auf mich zu und fragte, ob ich irgendetwas benötigte. Ich verneinte, doch statt wieder zu gehen, unterhielt er sich mit mir. Als ich seiner müde wurde, kehrte ich zu meinem Sitz zurück und wartete ungeduldig darauf, dass der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Es gab noch eine Verzögerung von fünf Minuten, dann fuhren wir weiter.

»Endlich!« rief ich aus und lehnte mich bequem in den Sitz zurück, um eine Zigarre aus meiner Tasche zu nehmen.

Doch kurz darauf rollte sie zu Boden, und ich sprang hastig auf und eilte zum Fenster. Just als wir den Bahnhof verließen, sah ich nämlich auf den Schultern eines Gepäckträgers eine große Reisetasche, die am Waggon vorbeigetragen wurde und der meinen äußerst ähnlich sah. Bauer war für mein Gepäck verantwortlich gewesen, unter seiner Anleitung war es im Gepäckwagen verstaut worden. Es erschien mir zwar unwahrscheinlich, dass die Tasche irrtümlich ausgeladen worden war, doch die, die ich erblickt hatte, sah der meinen wirklich sehr ähnlich. Ich war mir jedoch nicht sicher – und selbst wenn es gewesen wäre, hätte ich auch nichts tun können. Vor Wintenberg würden wir nicht mehr anhalten, und außerdem musste ich die Stadt an diesem Abend erreichen, mit Gepäck oder ohne.

Wir kamen pünktlich an. Ich blieb einen Moment im Abteil sitzen und wartete darauf, dass Bauer die Tür öffnete und sich meines Handgepäcks annahm. Er kam jedoch nicht, also ging ich hinaus. Es sah so aus, als hätte ich nur wenige Mitpassagiere, und selbige verschwanden schnell zu Fuß oder in den Kutschen und Karren, die vor dem Bahnhof warteten. Ich stand da und hielt nach meinen Bediensteten und meinem Gepäck Ausschau. Der Abend war mild; ich war mit einem kleinen Handkoffer und einem schweren Pelzmantel belastet. Dort wo ich stand, blieb ich fünf oder sechs Minuten lang. Der Zugschaffner war verschwunden, doch plötzlich entdeckte ich den Stationsvorsteher, der einen letzten Blick auf das Gelände zu werfen schien. Ich ging auf ihn zu und fragte ihn, ob er meinen Diener gesehen hätte, doch auch er konnte mir nichts sagen. Ich hatte zwar keinen Gepäckschein, denn den hatte Bauer an sich genommen, doch ich konnte ihn dazu bringen, mir einen Blick auf das angekommene Gepäck zu erlauben: Meins war nicht darunter. Ich glaube, dass der Stationsvorsteher ein wenig zu dem Glauben neigte, er müsse die Existenz meines Dieners und der Reisetasche anzweifeln. Sein einzige Erklärung bestand darin, dass Bauer möglicherweise aus Versehen zurückgelassen worden sei. Ich führte aus, dass er in diesem Fall wohl kaum die Reisetasche mitgenommen hätte und dass selbige sich dann im Zug befinden müsse. Der Stationsvorsteher sah ein, dass mein Argument stichhaltig war; er zuckte die Achseln und breitete die Arme aus; er wusste offenbar auch nicht mehr weiter.

Jetzt – und urplötzlich – kamen mir zum ersten Mal Zweifel an Bauers Vertrauenswürdigkeit. Mir fiel ein, wie wenig ich über den Burschen wusste und welch große Pflicht ich eingegangen war. Drei schnelle Handbewegungen überzeugten mich, dass der Brief, die Schachtel und der Revolver noch dort waren, wo ich sie erwartete. Wenn Bauer geglaubt hatte, er würde in der Reisetasche etwas finden, hatte er sich in den Finger geschnitten. Der Stationsvorsteher bemerkte nichts von alldem; er musterte die matte Gaslampe, die an der Decke hing. Ich wandte mich ihm zu.

»Wenn er kommt, sagen Sie ihm...« begann ich.

»Heute abend wird er nicht mehr kommen«, unterbrach mich der Stationsvorsteher ziemlich unfreundlich. »Heute abend kommt kein Zug mehr.«

»Dann sagen Sie ihm, wenn er kommt, er soll mir in den Wintenberger Hof folgen. Dorthin gehe ich jetzt.« Denn die Zeit drängte, und ich hatte nicht vor, Mr. Rassendyll warten zu lassen. Außerdem war ich in meiner neugeborenen Nervosität ängstlich darauf bedacht, meine Mission so schnell wie möglich zu erfüllen. Was war aus Bauer geworden? Der Gedanke kehrte zurück, und jetzt mit einem anderen, der sich auf irgendeine subtile Weise mit meiner derzeitigen Lage zu verbinden schien: Warum und mit welchem Ziel hatte der Graf von Luzau-Rischenheim Strelsau einen Tag vor meinem Aufbruch nach Wintenberg verlassen?

»Wenn er kommt, sage ich es ihm«, sagte der Stationsvorsteher und sah sich dabei auf dem Bahnhof um.

Es war nicht eine Droschke zu sehen! Ich wusste, dass der Bahnhof am äußersten Rande der Stadt lag, da ich vor drei Jahren während meiner Hochzeitsreise durch Wintenberg gekommen war. Dieses Problem bezog noch einen Fußmarsch und weitere Zeitverschwendung mit ein, und das setzte meiner Irritation die Krone auf.

»Warum haben Sie nicht genug Droschken?« fragte ich wütend.

»Normalerweise sind viele hier, mein Herr«, antwortete der Stationsvorsteher etwas freundlicher und in einem entschuldigenden Tonfall. »Heute Abend kann es nur Zufall sein.«

Schon wieder ein Zufall! Meine Expedition schien dazu verdammt zu sein, den Gesetzen des Zufalls zu unterliegen.

»Kurz bevor Ihr Zug ankam«, fuhr er fort, »hielt einer aus der näheren Umgebung hier an. In der Regel kommt es nicht vor, aber heute stiegen eine Menge Leute – so zwanzig bis fünfundzwanzig, schätze ich – hier aus. Ich habe ihre Fahrkarten selbst eingesammelt; sie kamen alle von der nächsten Station. Nun, es ist nicht ungewöhnlich, weil es dort einen schönen Biergarten gibt. Doch was schon komisch ist... Jeder einzelne nahm sich eine Droschke. Sie fuhren lachend los und riefen sich während der Fahrt allerhand zu. Deswegen waren nur noch ein oder zwei Droschken hier, als Ihr Zug einlief, und die waren natürlich sofort weg.«

Für sich allein bedeutete dieser Zwischenfall natürlich nichts; doch ich fragte mich allmählich, ob die Verschwörung, die mich meines Dieners beraubt hatte, auch für das Verschwinden der Droschken verantwortlich gewesen war.

»Was waren das für Leute?« fragte ich.

»Alle möglichen Leute, mein Herr«, erwiderte der Stationsvorsteher, »aber die meisten sahen ziemlich schäbig aus. Ich habe mich gefragt, woher manche das Fahrgeld hatten.«

Das vage Gefühl des Unbehagens, das mich inzwischen ergriffen hatte, wurde stärker. Obwohl ich dagegen ankämpfte und mich selbst ein altes Waschweib und einen Feigling schimpfte, muss ich zugeben, dass ich beinahe dem Impuls nachgegeben hätte, den Stationsvorsteher um seine Begleitung zu bitten. Doch ich wollte neben meiner Scham nicht auch noch grundlose Angst zeigen, und so zögerte ich, irgendwelche Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich hätte um keinen Preis zugegeben, dass ich etwas von Wert bei mir trug.

»Nun ja, da kann man nichts machen«, sagte ich. Ich knöpfte meinen schweren Mantel zum, nahm mein Köfferchen und den Stock in eine Hand und fragte ihn nach dem Weg zum Hotel. Mein Pech hatte die Gleichgültigkeit des Stationsvorstehers gebrochen, und er beschrieb mir in einem freundlicheren Tonfall den Weg.

»Einfach die Straße entlang, mein Herr«, sagte er, »etwa siebenhundert Meter an den Pappeln vorbei, dann kommen die ersten Häuser. Ihr Hotel liegt am ersten Platz rechts.«

Ich dankte ihm knapp (da ich ihm seine Unfreundlichkeit verziehen hatte) und nahm den Weg in Angriff. Der dicke Mantel und der Koffer zogen mich nach unten. Als ich den erleuchteten Bahnhofsvorplatz verließ, wurde mir klar, dass der Abend schon ziemlich fortgeschritten war, und die großen, schlanken Bäume verstärkten die Düsternis noch. Ich konnte die Hand kaum vor den Augen sehen, und ging furchtsam voran, wobei ich mehrmals über unebene Steine stolperte, die auf der Straße lagen. Die Lichter waren matt, nicht sehr zahlreich und lagen weit auseinander, und was Gesellschaft anbetraf, hätte ich ebenso tausend Kilometer vom nächsten bewohnten Haus entfernt sein können. Widerwillig, doch beharrlich, machte sich die Vorstellung einer Gefahr in mir breit. Ich rief mir sämtliche Umstände der Reise in Erinnerung zurück, brachte das Triviale in eine ominöse Form, vergrößerte die Signifikanz all dessen, was mir irgendwie seltsam erschienen war, und studierte im Licht meines neuen Wissens jeden Ausdruck auf Bauers Gesicht und jedes Wort, das über seine Lippen gekommen war. Ich konnte mich persönlich nicht in sicher fühlen. Ich hatte den Brief der Königin bei mir, und – tja, und ich hätte viel darum gegeben, jetzt den alten Sapt oder Rudolf Rassendyll an meiner Seite zu haben.

Nun, wenn ein Mensch Gefahr wittert, soll er die Zeit nicht damit verbringen, sich zu fragen, ob er wirklich in Gefahr ist oder sich wegen seiner Ängstlichkeit schelten. Er soll sich vielmehr seiner Feigheit stellen und so handeln, als sei die Gefahr wirklich da. Wäre ich dieser Regel gefolgt – hätte ich die Augen offengehalten und den Straßenrand und den Boden vor meinen Füßen beobachtet, statt mich in einem Labyrinth von Spekulationen zu verlieren, hätte ich vielleicht Zeit gehabt, die Falle zu umgehen. Zumindest hätte ich den Revolver in die Hand bekommen und kämpfen – oder tatsächlich den letzten Schritt tun können: das zu vernichten, was ich bei mir trug, bevor es in die Hände eines anderen gelangte. Doch mein Verstand war mit anderen Dingen beschäftigt, und die ganze Sache schien in einem Sekundenbruchteil zu passieren. Im gleichen Moment, in dem mir die Nichtigkeit meiner Befürchtungen eingestand und beschloss, sie ganz resolut zu verbannen, vernahm ich Stimmen – ein leises, angespanntes Flüstern. Ich sah zwei oder drei Gestalten im Schatten der Pappeln am Wegesrand. Einen Augenblick später stürzten sie auf mich zu. Floh ich, dann konnte ich nicht kämpfen. Mit einem plötzlichen Satz nach vorn entging ich den Männern, die mich überfielen, und rannte auf die Lichter der Stadt und die Umrisse der Häuser zu, die nun in etwa vierhundert Meter Entfernung sichtbar wurden. Ich lief vielleicht zwanzig, vielleicht auch fünfzig Meter weit; ich weiß es nicht. Die Schritte, die ich hinter mir hörte, waren so schnell wie meine eigenen. Dann schlug ich der Länge nach hin – in die Falle gegangen, wurde mir klar. Sie hatten ein Seil über den Weg gespannt. Als ich fiel, tauchte an jeder Seite ein Mann auf, und ich stellte fest, dass das Seil unter mir lose war. Da lag ich nun auf dem Gesicht; ein Mann kniete auf mir, andere hielten meine Hände. Man drückte mein Gesicht in den Straßenschmutz, und mir war, als würde ich ersticken. Man entriss mir die Tasche, dann sagte eine Stimme: »Dreht ihn herum.«

Ich kannte die Stimme. Sie war die Bestätigung der Befürchtungen, die ich kurz zuvor noch zu vertreiben versucht hatte. Sie bestätigte die Vermutung Anton von Strofzins und erklärte den Tipp des Grafen von Luzau-Rischenheim. Denn es war Rischenheims Stimme. Sie packten mich und drehten mich auf den Rücken. Jetzt sah ich eine Chance, und mit einem starken Aufbäumen meines Körpers schüttelte ich sie ab. Einen kurzen Augenblick lang war ich frei, mein ungestümer Angriff schien den Feind verwirrt zu haben. Ich rappelte mich auf die Knie. Doch mein Vorteil sollte nicht lange währen. Ein anderer Mann, den ich nicht gesehen hatte, sprang plötzlich wie eine von einem Katapult abgeschossene Kugel auf mich zu. Sein brutaler Angriff warf mich um. Ich lag wieder rücklings auf dem Boden, und meine Kehle wurde von starken Fingern gewürgt. Gleichzeitig packte jemand meine Arme und hielt sie fest. Das Gesicht des Mannes, der auf meiner Brust hockte, beugte sich zu mir herunter, und in der Dunkelheit erkannte ich deutlich die Züge Rupert von Hentzaus. Die plötzliche Anstrengung und die große Kraft, mit der er mich festhielt, ließen ihn keuchen, doch er lächelte auch; und als er an meinem Blick sah, dass ich ihn erkannt hatte, lachte er in leisem Triumph.

Dann ertönte wieder Rischenheims Stimme.

»Wo ist die Tasche, die er bei sich hatte? Vielleicht ist es da drin.«

»Du Narr«, sagte Rupert wütend, »er wird es am Körper tragen. Haltet ihn fest, ich durchsuche ihn.«

Meine Hände wurden immer noch an beiden Seiten festgehalten. Ruperts Linke ließ meine Kehle nicht los, doch seine freie Rechte tastete mich geschickt ab. Ich lag ziemlich hilflos und in großer Bestürzung da. Rupert fand meinen Revolver, zog ihn mit einem Ruck hervor und händigte ihn Rischenheim aus, der neben ihm stand. Dann ertastete er die Schachtel und holte sie mit funkelnden Augen hervor. Er setzte das Knie so hart auf meine Brust, dass ich kaum atmen konnte; dann ließ er meine Kehle los und riss die begierig die Schachtel auf.

»Ich brauche Licht«, rief er. Ein anderer Wegelagerer kam mit einer trüben Laterne, deren Licht er auf die Schachtel richtete. Rupert öffnete sie, und als er sah, was sie enthielt, lachte er erneut und steckte sie in die Tasche.

»Schnell, schnell!« drängte Rischenheim. »Wir haben, was wir wollten! Hier kann jeden Moment jemand auftauchen!«

Kurze Hoffnung überfiel mich. Der Verlust der Schachtel war zwar eine Kalamität, doch ich wollte meinem Pech nicht böse sein, wenn der Brief ihrer Aufmerksamkeit entging. Rupert hatte vielleicht vermutet, dass ich ein Pfand wie den Inhalt dieser Schachtel bei mir hatte, doch von dem Brief konnte er nichts wissen. Würde er auf Rischenheim hören? Nein. Der Graf von Hentzau war ein gründlicher Mensch.

»Wir sollten ihn uns etwas genauer ansehen«, sagte er und nahm die Suche wieder auf. Meine Hoffnungen schwanden, denn jetzt musste er den Brief entdecken.

Einen Augenblick später hatte er ihn. Er nahm meine Brieftasche an sich und fing an, sie zu durchsuchen, wobei er den Mann mit der Laterne ungeduldig heranwinkte. Ich weiß noch genau, welcher Ausdruck auf seinem Gesicht war, als das grellweiße Licht es in seiner klaren Blässe, hochgezüchteten Anmut, den geschürzten Lippen und finsteren Augen vor der Dunkelheit abhob. Jetzt hatte er den Brief, und ein freudiges Leuchten tanzte in seinen Augen, als er ihn aufriss. Ein schneller Blick zeigte ihm, welchen Schatz er gehoben hatte; dann setzte er kühl und bewusst zum Lesen an, ohne Rischenheims aufgeregte Eile oder den verzweifelt wütenden Blick zu beachten, den ich zu ihm hinaufwarf. Er las in aller Entspanntheit, als säße er in seinem Haus in einem Schaukelstuhl; seine Lippen spitzten sich und lächelten, als er die letzten Worte las, die die Königin an ihren Geliebten geschrieben hatte. Er hatte tatsächlich mehr bekommen, als er erwartet hatte.

Rischenheim legte ihm die Hand auf die Schulter.