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Über dieses Buch:

Eine ungewöhnliche Freundschaft: Die Oma und der Punk haben schon viel miteinander erlebt, doch Emmas neue Mission gilt Jule selbst. Ihre junge Freundin soll sich endlich den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen. Nur widerwillig stimmt Jule der Reise in ihren Heimatort zu – und die erste Katastrophe lässt auch nicht lange auf sich warten, denn Jule besteht darauf, einen Tramper mitzunehmen, dessen Einstellung zu Körperhygiene ganz und gar nicht mit Emmas Vorstellungen übereinstimmt. Und doch hat der Fremde etwas an sich, das die Oma nicht loslässt. Während sie versucht, hinter sein Geheimnis zu kommen, läuft Jule vor dem Treffen mit ihren Eltern davon – und stolpert dabei über einen kauzigen Mönch, einen brutalen Leichenbestatter und gut gehütete Geheimnisse, die sie alle in tödliche Gefahr bringen. 

Flippig, rasant, spannend: Das coolste Krimi-Duo seit Langem!

Über die Autorin:

Simone Jöst lebt im Odenwald. Beflügelt von der Lust, sich ständig neue Geschichten auszudenken, entdeckte sie das Spannungsgenre für sich. Seitdem publizierte sie zahlreiche Krimi-Kurzgeschichten und arbeitete als freie Mitarbeiterin in einem kleinen Verlag. Sie ist Herausgeberin diverser Anthologien und liebt nichts mehr als schwarzen Humor und weiße Schokolade.

Simone Jöst veröffentlicht bei dotbooks auch:

»Die Oma und der Punk«

»Die Oma und der Punk – Gestorben wird später«

Die Website der Autorin: www.simonejoest.de

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Originalausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Vera Baschlakow

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Ruth Blake, Damian Palus

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-091-3

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Simone Jöst

Die Oma und der Punk. Gestorben wird später

Kriminalroman

dotbooks.

Danke Emma, Jule und Sandro

für die tolle Zeit, die wir miteinander hatten!

Prolog

Der dicke Mönch schlich mitten in der Nacht durch das Unterholz. Es war unsinnig, sich um diese Zeit vor Wanderern zu verstecken, aber er hatte seine Gewohnheiten, an denen er festhielt. Sie gaben ihm Sicherheit. Der Vollmond legte einen feinen Silberschleier über den Wald und erhellte ihn gerade so weit, dass Gabriel die Schemen der Bäume ausmachen konnte, ohne gegen ihre Stämme zu stolpern. Ein vertrockneter Fichtenzweig verfing sich im Gewebe seiner Kutte und zerrte an dem braunen Stück Stoff. Gabriel blieb stehen und jammerte, weil er fürchtete, ein Loch in sein Habit zu reißen. Wie ein Blinder tastend, befreite er sich und huschte weiter. Er musste sich beeilen.

Ein dünner Teppich aus Fichtennadeln überzog den Waldboden und dämpfte die Geräusche seiner Schritte. In seinen Sandalen sammelten sich einige der Nadeln, die in seine nackten Fußsohlen piksten. Doch das kümmerte Gabriel nicht. Jetzt war Laufzeit. Wenn er sein Ziel erreicht hatte, konnte er sich um seine Füße kümmern. Dann war Fußzeit. Er hasste es, wenn alles auf einmal geschah.

Der Mönch lief durch das Gebüsch und konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihm lag. Durch die Bäume entdeckte er von weitem schon den See mitten im Wald. Eine dunkle, glatte Fläche, auf der sich der Mond spiegelte. Gabriel blieb stehen, stützte sich am Stamm einer Fichte ab und verschnaufte. Er war zu schnell gelaufen, schwitzte und rieb mit dem Handrücken Schweißperlen von der Stirn. Die letzten Schritte bis zur Lichtung schlug er ein gemächlicheres Tempo ein. Als er zwischen den Bäumen hervortrat, blieb er stehen und lächelte. Darauf hatte er sich den ganzen Tag gefreut.

Vor ihm erstreckte sich ein fast kreisrunder See, gesäumt von Fichten und weichen Moospolstern am Ufer. Ein kleines Ruderboot, dessen roter Lack nur noch an manchen Stellen zu erkennen war, lag an einem wackeligen Steg angebunden. Gabriel stand am Rand der Lichtung, neben ihm eine kleine Waldhütte mit Holzveranda und Geländer, die genauso marode aussah wie der Steg. Der Besitzer war längst nicht mehr am Leben, und da niemand aus dem Dorf sich verantwortlich fühlte, die Hinterlassenschaften zu verwalten, verfiel das Gebäude. Jugendliche nutzten den Unterschlupf für konspirative Treffen, und manchmal lagen Liebespärchen in dem Boot und betrachteten den Nachthimmel. Das mochte Gabriel ganz und gar nicht. Der See und der Wald waren seine Freunde, weil sie ihn nicht verspotteten, wie es die Dorfbewohner taten. Hier fand er Zuflucht und erinnerte sich an die Zeit mit seiner Mutter.

Jedes Mal, wenn der Mond in voller Größe am Himmel stand und die Sterne funkelten, kam der kleine dicke Mönch hierher. Er setzte sich auf den großen Stein am Ufer, zog seine Sandalen aus und wischte Nadeln und kleine Ästchen fort, die sich in seinen Schuhen verfangen hatten. Dann stellte er seine nackten Füße auf dem weichen Moos ab und vergrub seine Zehen darin. Nach einer Weile zog er die Schuhe wieder an. Seraphina, seine Schwester, mochte es nicht, wenn er sogar im Herbst noch barfuß lief, dabei gab es für ihn kaum etwas Schöneres, als die Erde unter den nackten Fußsohlen zu spüren. Und er liebte den Mond und dessen Spiegelbild auf dem Wasser. Früher war er oft mit seiner Mutter am See gewesen. Seit ihrem Tod kam er allein. Die Leute im Dorf sagten, er habe einen an der ›Klatsche‹, sei nicht ganz dicht im Kopf, naiv und dumm, ein Einfaltspinsel, der Dorfdepp eben. Es gab viele Worte, die sie sich für ihn ausdachten. Mutter hatte ihm erklärt, dass die Menschen nicht begriffen, wie besonders er war, und sie es nicht verdienten, dass er sich mit ihnen abgab. Gabriel war oft mit ihr im Wald spazieren gegangen, oder sie hatten einträchtig schweigend hier am Wasser gesessen. Sie brachte ihm das Lesen bei, weil die Lehrer sagten, er müsse auf eine spezielle Schule, doch davon wollte sie nichts hören! Sie unterrichtete ihn selbst und weckte seine Freude an Büchern.

Seit Tagen hoffte Gabriel auf einen wolkenlosen Himmel. Heute war es so weit – Vollmond. Er zog sechs flache Kieselsteine aus der Tasche seiner Mönchskutte und strich über ihre glatte Oberfläche. Er erhob sich, neigte den Kopf zur Seite, beugte sich ein wenig nach rechts und zielte. Mutter hatte ihm gezeigt, wie man die Steine über das Wasser springen ließ. Manchmal schaffte er es, dass der Kiesel bis zu fünf Mal aufhüpfte. Dann kräuselte sich das Wasser, und das Spiegelbild des Mondes tanzte nur für ihn. Gabriel klatschte dabei wie ein kleines Kind in die Hände und tanzte ebenfalls auf dem Moos. Wenn das Wasser sich wieder beruhigt hatte, begann das Spiel von vorne und endete erst dann, wenn er keine Steine mehr in seiner Tasche hatte.

Ein Kauz schrie durch die Nacht. Gabriel konzentrierte sich auf seinen ersten Wurf und jagte den Stein flach über den See, doch statt der erhofften Sprünge schlug er nur einmal mit einem klackenden Geräusch auf und blieb auf der Wasseroberfläche liegen. Gabriel erhob sich und kratzte seinen kahlen Hinterkopf. Er war verwirrt. Der Stein konnte nicht einfach liegen bleiben, sondern hätte untergehen müssen. Das hier war falsch. Hatte Gott ein Zeichen gesandt?

Er bekreuzigte sich, kaute auf der Lippe und lief auf und ab. Es machte ihn nervös, wenn Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten. Dann konnte er auch nicht sein, wie er sein sollte. Beim Gehen schaukelte er mit dem Oberkörper vor und zurück. Dabei sagte er fünfmal hintereinander ganz schnell den 23. Psalm auf und ließ den Kieselstein keine Sekunde aus den Augen.

»Der Herr ist mein Hirte …« Der monotone Klang seiner Stimme beruhigte ihn. »… und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.«

Der Stein lag noch immer auf dem Wasser, nicht weit vom Ufer entfernt. Gabriel hob einen Ast vom Boden auf und balancierte vorsichtig über den wackeligen Steg. Er lief einige Schritte, blieb stehen und stieß mit dem Zweig gegen den Kiesel. Dieser rollte zur Seite und verschwand mit einem leisen ›Blubb‹ im dunklen Wasser. Gabriels Stock verfing sich in etwas, das dicht unter der Oberfläche lag. Er riss beide Arme in die Höhe, ließ ihn fallen und schrie. »Der Herr ist mein Hirte …«

Er wiederholte die Worte so lange, bis er seine Arme nicht länger in die Höhe halten konnte und sie wieder sinken ließ. Das alles machte ihn nervös und störte ihn. Es war Mondtanzzeit und keine Angstzeit.

Plötzlich leuchteten zwei Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit. Sie schaukelten wegen der Schlaglöcher in dem ausgefahrenen Weg auf und ab und kamen langsam näher. Gabriel wimmerte. Sobald es dunkel wurde, war der Wald sein Reich. Niemand sollte jetzt hier sein. Das war falsch. Er wusste nicht, was zu tun war. Es war noch nie ein Auto in den Wald gekommen, zumindest nicht dann, wenn er hier war. Gabriel zögerte.

»Der Herr ist mein Hirte …«, murmelte er wieder und schaukelte vor und zurück. Der Wagen musste nur noch eine Kurve zurücklegen, und dann würde Gabriel direkt im Lichtkegel der Scheinwerfer stehen. Er raffte seine Kutte, sprang zurück ans Ufer und versteckte sich hinter der Hütte. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Holzwand und bekreuzigte sich. Sein Herz hämmerte. Heute war alles falsch.

Das Auto stoppte am See. Gabriel spähte vorsichtig um die Hausecke. Ein Mann stieg aus und lief zum Steg. Er fluchte. Gabriel hielt sich die Ohren zu. Fluchen war Unrecht, und das durfte nicht durch den Gehörgang in seinen Kopf gelangen. Der Mönch hatte die Stimme sofort erkannt und wollte fortlaufen, doch als er sah, dass der Mann genau an der Stelle verweilte, wo vorhin der Stein auf dem Wasser liegen geblieben war, wurde er neugierig. Der Mann griff nach dem Ast, den Gabriel hatte fallen lassen, und stocherte im Wasser herum. Er bückte sich und zerrte etwas Schweres in die Höhe. Gabriel schüttelte den Kopf.

»Fort, fort, ich will nichts sehen!«, flüsterte er, trippelte auf dem weichen Waldboden, während er seinen Blick nicht abwenden konnte. Der Mond tanzte wild auf der aufgewühlten Wasseroberfläche und beleuchtete einen schlaffen Körper, den der Mann triefend nass aus dem See zog und auf das Moos am Ufer legte. Er schleppte ihn bis zu seinem Wagen und hievte ihn in den Kofferraum. Gabriel hatte Angst. Das war falsch, das durfte nicht sein! Tote gehörten auf den Friedhof und nicht in den Waldsee.

»Du sollst nicht töten, du sollst nicht töten, du sollst nicht töten …«

Er konnte erst wieder aufhören, das Gebot ständig zu wiederholen, als der Mann den Kofferraumdeckel zuschlug und dieser wieder in die Höhe federte, weil die Hand des Toten dazwischen hing. Genau in diesem Moment schrie Gabriel laut auf. Der Mann wirbelte herum, zog eine Taschenlampe hervor und leuchtete dem Mönch ins Gesicht.

Mittwoch

Die Reise in Jules Vergangenheit zog sich wie Kaugummi. Emma saß vorne auf dem Beifahrersitz und las die Verkehrsschilder, die ihr Ziel in 30 Kilometer Entfernung ankündigten.

»Nach 250 Metern rechts abbiegen«, ertönte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher des Navigationsgerätes.

»Schalte die doofe Tussi aus. Die nervt!« Jule lümmelte sich auf der Rückbank, fuhr mit der Hand durch ihre Rastalocken und legte die Beine auf das Polster. Emma hasste es, wenn sie ihre schmutzigen Armeestiefel auf den hellen Bezug legte, entschied sich unter den außergewöhnlichen Umständen allerdings gegen eine Aufforderung, dies zu unterlassen.

»Mach ich sofort, Baby, wenn du ein wenig kooperativer bist und mir endlich den Weg in dein Dorf verrätst.« Sandro warf einen Blick in den Rückspiegel und setzte den Blinker.

»Das ist nicht mein verficktes Dorf.« Jule schnellte nach vorne, kniff die Augen zusammen und ließ sich wieder in ihren Gurt zurückfallen.

»Was sind wir heute wieder ausgeglichen!«, kommentierte Sandro gereizt und konzentrierte sich auf die Straße, die sich in sanften Kurven durch Maisfelder und Viehweiden schlängelte.

Emma klappte die Sonnenblende nach unten und tat, als ob sie ihr Make-up im Rückspiegel kontrollierte, während sie heimlich Jule beobachtete. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sie zu überzeugen, dass sie sich endlich mit ihren Eltern treffen und aussprechen sollte. So sauertöpfisch wie sie nun aus dem Fenster auf die Straße starrte und die vorbeifliegende Landschaft zu ignorieren versuchte, fragte sich Emma, ob es eine gute Idee gewesen war, sie zu dieser Reise zu überreden. Vielleicht brauchte Jule noch Zeit, ehe sie ihren Bruder kennenlernte, von dessen Existenz sie bis vor wenigen Wochen noch nichts geahnt hatte.

Jule legte eine ihrer Rastalocken quer in den Mund und kaute darauf herum. Das tat sie jedes Mal, wenn sie nachdachte und versuchte, die Welt in den Griff zu bekommen. Emma hörte die Zahnräder in ihrem Kopf auf Hochtouren laufen. Sie knirschten und qualmten und würden trotz aller Bemühungen keine Lösung liefern, die Jule sich für ihre Probleme wünschte. Emma klappte den Spiegel wieder nach oben und starrte auf die Fahrbahn. Diese legte sich wie ein ausgerollter Teppich über Hügel und Talsenken und brachte sie ihrem Ziel stetig näher.

Auf den Wiesen grasten Kühe und Schafherden. Die vorbeiziehenden Laubwälder waren mit ersten gelben und braunen Blättern gespickt und leuchteten golden im Sonnenschein. Es hätte eine perfekte Kalenderblattidylle sein können, wäre da nicht ihre Mission, die mit jedem Kilometer, den sie fuhren, dunklere Schatten warf.

Die Stimmung im Wagen war angespannt. Sandro folgte den Anweisungen des Navigationsgerätes, und Emma saß schweigend neben ihm. Sie kannte Jule inzwischen gut genug, um zu wissen, wie es in ihr aussah. Ihre äußere Schale, die sie mit Totenköpfen auf ihren Pullovern, Löchern in den Jeans oder einem Piercing an der Augenbraue und einem derben Wortschatz aufbaute, war nur ein Schutzwall um ihre zutiefst verletzte Seele. Emma mochte das Mädchen und hatte es in den letzten Wochen in ihr Herz geschlossen.

»Stopp! Halt an!«, rief Jule plötzlich und beugte sich zwischen den Sitzen nach vorne.

Am Straßenrand stand ein Mann. Er war in Lumpen gekleidet, schulterte einen Rucksack und hielt den Daumen in die Höhe. Sandro drosselte die Geschwindigkeit, fuhr an ihm vorbei und blieb etwa 50 Meter weiter mitten auf der einsamen Landstraße stehen.

»Fahr zurück!« Jule drehte sich um, schaute zum Heckfenster hinaus und trommelte auf Sandros Schulter.

»Warum?«, fragte er und wartete.

»Weil wir den Mann mitnehmen!«, entschied Jule kategorisch.

»Das ist nicht dein Ernst.« Sandro warf ihr einen verärgerten Blick durch den Rückspiegel zu.

»Wass’n?«

Emma war schockiert. Sie beugte sich nach vorne, schaute in den Außenspiegel und malte sich aus, wie viele Krankheitserreger oder welches Ungeziefer dieser Mann in ihren Wagen schleppen würde.

»Jetzt fahr schon zurück«, schimpfte Jule.

»Kommt nicht in Frage!« Sandro blieb stur.

»Bist du bescheuert? Wir nehmen den Typ mit!«

Emma war überzeugt, dass Jule aus dem Wagen gesprungen wäre, wenn sie hinten im Fond eine Tür gehabt hätte.

»Jule, bitte«, versuchte sie einzulenken. »Du kennst den Mann doch gar nicht. Schau ihn dir an, er ist dreckig und könnte was weiß ich für unlautere Dinge im Sinn haben.« Aus dem Augenwinkel sah Emma, dass der Mann bereits zu ihnen aufgeschlossen hatte. Er deutete das Stoppen ihres Wagens als Aufforderung zum Mitfahren.

»Fahr weiter, Sandro, bitte«, flehte Emma.

»Ich will, dass wir ihn mitnehmen!« Jule benahm sich wie ein trotziges Kind. Sie packte Sandro an der Schulter und starrte ihn böse an. Funkenflug und Explosionsgefahr!

»Was habt ihr gegen Penner? Ich war auch mal obdachlos, schon vergessen? Ich weiß sehr wohl, was für Typen das sind, aber ich weiß auch, dass viele von ihnen einen guten Grund haben, auf der Straße zu leben, und jetzt mach endlich die Tür auf.«

Ein Schatten schob sich vor Emmas Fenster auf der Beifahrerseite. Sie erschrak und lehnte sich verängstigt zu Sandro hinüber. Der Anhalter war neben den Wagen getreten und starrte sie an. Er wartete.

»Mach endlich auf!« Jule wurde zornig.

Der Mann leckte die schmutzigen Fingerspitzen seiner beiden Hände ab, fuhr sich damit über seinen ergrauten Vollbart und richtete den Scheitel seiner zerzausten Haare, als ob das etwas an seinem zerlumpten Äußeren änderte.

»Ich fass es nicht, ihr Spießer. Scheinheilig seid ihr, und wenn’s drauf ankommt, kneift ihr die Schwänze ein.« Jule verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich trotzig und enttäuscht in das Polster fallen.

»Jetzt komm mal wieder runter«, zischte Sandro und wirbelte zu ihr herum. Seine Augen blitzten wütend, und die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich. »Die Aussprache mit deinen Eltern macht dich fertig, das verstehe ich, und ich werde dir helfen, wo ich kann, aber ich werde deine kindischen Trotzaktionen nicht mitmachen. E basta!«

»So?«, antwortete sie schnippisch.

Emma war die Situation unangenehm. Jule und Sandro hatten noch nie in diesem Tonfall miteinander gestritten, und wenn sie gekonnt hätte, wäre sie am liebsten aus dem Wagen geflohen, doch vor ihrer Tür stand der zerlumpte Anhalter und wartete noch immer geduldig, dass man ihn mitnahm.

»Fahr bitte weiter, Sandro«, flüsterte sie.

»Wag dich, du Wichser!«, fauchte Jule ihren Freund an.

»Jule!« Emma drehte sich verärgert um. Das ging nun wirklich zu weit. »Was soll das?«

Sandro sagte kein Wort, stieg aus, lief um den Wagen herum und riss die Beifahrertür auf. Er kochte vor Wut. Sein schönes Gesicht war rot angelaufen.

»Emma?« Er streckte ihr die Hand entgegen und forderte sie auf auszusteigen. Sie gehorchte widerwillig.

Der Fremde lächelte und deutete eine leichte Verbeugung an. Sandro klappte den Sitz nach vorne und schwieg.

»Danke«, sagte der Fremde. »Hoffentlich mache ich keine Umstände.«

Emma war die ganze Situation äußerst unangenehm. Es war nicht ihre Art, unhöflich zu sein, aber ihren Abscheu vor diesem verlausten Subjekt konnte sie nur schwer verbergen. Sie legte den Zeigefinger dezent unter ihre Nase, als ob sie damit den bestialischen Gestank seiner Körperausdünstungen aussperren könnte.

»Umstände? Wie kommen Sie bloß darauf?« Sandro katapultierte den Mann mit einem derben Stoß auf die Rückbank zu Jule. Dann lief er um den Wagen herum und kletterte wieder hinter das Steuer. Emma war für einen kurzen Moment versucht, die Tür zuzuschlagen und draußen stehen zu bleiben. Die letzten Kilometer zu Fuß zu laufen wäre bestimmt die bessere Option, statt Streit und Gestank inhalieren zu müssen. Sie atmete tief durch, als wolle sie unter Wasser tauchen, und stieg ein. Sie schlug die Tür hinter sich zu und besiegelte ihre Fahrgemeinschaft.

Emmas Befürchtungen wurden wahr. Der Mann stank entsetzlich nach wochenlangem Hygieneentzug. Sandro ließ die beiden vorderen Seitenfenster herunter. Der Fahrtwind und das Risiko, sich eine Bindehautentzündung einzufangen, waren auf alle Fälle besser als zu ersticken.

»Entschuldigen Sie bitte, ich weiß, mein Deo hat versagt«, versuchte der Fremde die Situation mit Humor zu entschärfen.

»Spar dir deinen Atem, die beiden sind es heute nicht wert.« Emma spürte, wie Jule von hinten in die Rückenlehnen ihrer Sitze boxte. »Wohin willste denn?«

»Eigentlich gar nicht weit …«

»Dann hätten Sie auch laufen können«, erwiderte Sandro gereizt.

»Das sollte ich in der Tat. Ich glaube, ich störe hier. Wenn Sie mich bitte wieder aussteigen lassen.«

»Quatsch keine Opern und fühl dich eingeladen.« Jules Tonfall war unbekümmert. Der Fremde lenkte sie von ihrer panischen Angst vor dem Wiedersehen mit ihren Eltern ab, doch das würde nicht lange funktionieren. Emma seufzte.

»Weißt du schon, wo du heute Nacht pennen wirst?«

»Keine Sorge, es wird sich etwas finden.« Der Mann lachte.

Emma vermied es, nach hinten zu schauen, frei nach dem Motto ›Wenn ich dich nicht sehe, bist du auch nicht da‹, doch ihre Nase konnte sie nicht belügen. Er war da!

Jule plapperte mit dem Mann, erzählte ihm, dass sie in der Stadt auch auf der Straße gelebt hatte. Sie tauschten Erfahrungen aus, lachten miteinander und verstanden sich offensichtlich prächtig. Sandro umklammerte das Lenkrad und kniff die Lippen aufeinander. Emma ahnte, wie es in ihm brodelte. Er war Italiener, bis über beide Ohren in Jule verliebt und jetzt wahrscheinlich rasend eifersüchtig. Es gab nichts, dass er nicht für seine Freundin tun würde, aber was sie hier abzog war für ihn ein Schlag ins Gesicht. 

Am Straßenrand tauchte ein Schild auf, das in drei Kilometern das Ziel ihrer Reise, Jules Heimatdorf, ankündigte. Sie rutschte tiefer in das Polster, zog wieder eine ihrer Rastalocken quer durch den Mund und schaute verängstigt nach draußen. Sie wurde immer stiller. Jeder Baum, jedes Haus mussten sie an ihre Kindheit und deren schreckliches Ende erinnern.

»Ich werde Sie am Ortsschild aussteigen lassen«, sagte Sandro unvermittelt zu dem Fremden.

Als ob Jule nur auf eine Ablenkung gewartet hätte, schoss sie in die Höhe und feuerte zurück. »Das wirst du nicht. Er ist mein Gast und kommt mit uns.«

Als Emma vor ihrer Reise im Internet nach einer Unterkunft im Dorf gesucht hatte, war ihr die ›Klosterpension‹ sofort ins Auge gefallen. Das Anwesen lag außerhalb des verschlafenen Örtchens, direkt am Waldrand, umgeben von Wiesen und Maisfeldern. Vor Jahrzehnten fungierte das Gebäude als Abtei, in der eine kleine Gruppe von Mönchen lebte. Eines Tages zogen die Geistlichen weiter, und das Kloster ging in Privatbesitz über. Fortan wurden dort eine Brauerei und eine Getreidemühle betrieben. Eine der letzten Besitzerinnen war eine couragierte Frau, die im Krieg Flüchtlingen und Reisenden eine karge Kammer und ein bescheidenes Mahl zur Verfügung gestellt hatte. Aus diesem Beispiel von Gastfreundschaft entsprang die Idee, das ehemalige Kloster in eine Pension umzubauen.

Emma hatte sich auf Anhieb in diesen Ort verliebt und vorgeschlagen, dort abzusteigen. Es war auf alle Fälle besser, als direkt bei Jules Eltern zu wohnen. Das Mädchen sollte sich langsam auf die Begegnung mit ihnen vorbereiten. Unter einem Dach, wo schon beim Öffnen der Haustür Tausende von Fragen oder Vorwürfe auf sie einprasseln würden, wäre dies nicht möglich. Sie brauchte Zeit, um mit ihren Erinnerungen Frieden schließen zu können. Jule musste das Tempo vorgeben, und Emma wollte sie dabei in jeder Hinsicht unterstützen.

»Links abbiegen und in 1,7 Kilometern Ankunft am Ziel auf der rechten Seite.« Das Navigationsgerät hatte die letzte Etappe ihrer Reise angekündigt.

Sandro setzte den Blinker und bog von der Landstraße ab. Er folgte einer großen Linkskurve durch ein kleines Waldstück. Emma war nervös und rieb die feuchten Handflächen an ihrer Leinenhose ab. Sie war neugierig auf das Dorf, die Pension, auf Jules Eltern, aber sie hatte auch Angst, wie Jule all das verkraften würde. Es würde nicht leicht werden, und Emma fühlte sich fast wie in Kriegszeiten ‒ Kugelsalven und Opfer waren vorprogrammiert.

Am rechten Straßenrand lichteten sich die Bäume, und eine große Wiese tat sich vor ihnen auf. Schafe standen, wie kleine weiße Wollbällchen, auf dem Gras verteilt. Am Ende der Weide erhob sich die Klosterpension vor der dunklen Kulisse eines Fichtenwaldes. Die weiß getünchte Fassade blendete in der Mittagssonne. Emma war überwältigt. Die Fotos im Internet entsprachen bei weitem nicht diesem atemberaubenden Anblick, der sich ihnen bot.

Das Anwesen bestand aus drei Gebäuden, die sich in Form eines nach hinten zum Wald hin offenen U formierten. Weinrote Holzläden schmückten die Sprossenfenster in den oberen Etagen. Am hinteren Ende des linken Gebäudeteils schloss sich ein runder Turm an. Auf seiner Dachspitze glänzte ein goldener Wetterhahn im Sonnenschein.

»Ist das nicht wunderschön?«, fragte Emma und vergaß dabei den Gestank im Wagen.

Der Fremde beugte sich zwischen den Sitzen nach vorne, um besser sehen zu können. Emma war seine Nähe unangenehm, und sie lehnte sich zum Fenster hinaus. Sie wollte sich die Schönheit des Augenblicks nicht von diesem Mann zunichtemachen lassen.

Das vordere Gebäude, das quer zu ihnen stand, war im Erdgeschoss mit großen Panoramafenstern ausgestattet. Davor standen rote Tische und Stühle in einem Garten voller Herbstblüten und kleiner Sträucher. Daneben, zwischen Schafweide und Maisfeld, befand sich eine winzige Kapelle. Sie war so klein, dass Emma sich kaum vorstellen konnte, dass darin Kirchenbänke Platz fanden. Das Gotteshaus hatte zwei bunte Fenster und eine goldene Glocke im Turm. Es war eine Szenerie wie auf einem Ölgemälde. Emma stellte sich vor, wie die Mönche damals in ihren Kutten mit gesenkten Häuptern und gefalteten Händen murmelnd zum Gottesdienst antraten.

Die Straße führte in eine Kurve und gab den Blick auf den linken Gebäudetrakt der Pension frei, in dem sich der Haupteingang befand. Auch hier waren rote Holzläden in den oberen Etagen an den Fenstern angebracht. Der runde Turm, den Emma schon von weitem gesehen hatte, bildete nach hinten hin den Abschluss zum Waldrand.

Sandro stoppte den Wagen auf dem Gästeparkplatz direkt neben dem Eingangsportal, einem wuchtigen Holztor mit schwarzen Eisenbeschlägen. Emma konnte es kaum erwarten, dem Gestank zu entfliehen. Sie riss die Wagentür auf und sprang ins Freie. Wie eine Ertrinkende atmete sie ein und stieß die verpestete Luft kräftig aus ihren Lungen wieder aus. Je länger Emma über die Ausdünstungen des Fremden nachdachte, desto hysterischer wurde sie. Hoffentlich hatte sie keine Krankheitserreger eingeatmet. Das war kindisch, aber die Sorge ließ sich nicht abschütteln.

Sandro öffnete seine Wagentür und klappte den Fahrersitz nach vorne. Jule kletterte heraus, rekelte sich im Sonnenschein und schaute sich um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ob sie als Kind manchmal hier draußen gespielt hatte, zusammen mit ihrem Bruder Daniel, der bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war? Emma hätte sie gerne gefragt, doch damit würde sie noch warten müssen, bis Jule bereit war, von sich aus zu reden.

Der Fremde stieg ebenfalls aus und setzte seinen Rucksack auf. Dabei schielte er, als ob er Angst vor etwas hatte, durch das geöffnete Portal in den mit Kopfstein gepflasterten Innenhof der Pension und strich sich mit der Hand über seinen verlausten Vollbart.

»Ich, ähm, werde mich jetzt auf die Socken machen«, sagte er zu Jule. »Danke fürs Mitnehmen, das war sehr freundlich.« Er wandte sich zu Sandro, der das Gepäck aus dem Kofferraum lud und keinerlei Notiz von ihm nahm.

»Tut mir leid, wenn ich Ihnen Ärger gemacht habe, das lag nicht in meiner Absicht.« Er reichte Sandro seine schmutzige Hand, doch der blickte nur flüchtig auf, streckte dann seinen Kopf noch tiefer in den Kofferraum und angelte die letzte Tasche daraus hervor. Der Fremde zog seine Hand zurück und drehte sich um. Sein Blick kreuzte Emmas, worüber sie sich ärgerte. Sie war eine wohlhabende Dame, lebte in einer Villa in der Stadt und hatte allen Luxus, den sie sich wünschte. Bis vor wenigen Sekunden hätte sie behauptet, dass sie sich für nichts schämen müsse. Kurt, ihr Mann, hatte mit harter und fleißiger Arbeit ihr Vermögen angehäuft, und sie hatten es beide genossen. Als sie nun jedoch in die Augen des Fremden schaute, fühlte sie sich schuldig, mehr zu besitzen als er.

Er strich seinen mit Flecken und Löchern übersäten Trenchcoat glatt. Dabei huschte ein Lächeln hinter seinem Vollbart über sein Gesicht.

»Danke«, sagte er und reichte Emma die Hand. Schwarze Ränder zeichneten sich unter seinen Fingernägeln und in den Nagelbetten ab. Emma wusste nicht, was sie tun sollte. Es ekelte sie, seine schmutzige Hand zu ergreifen, und zugleich schämte sie sich, dass sie diesen Mann ablehnte. Er benahm sich tadellos, und nur weil er nicht wie sie vom Schicksal verwöhnt worden war, verachtete sie ihn. Emma errötete und griff beherzt zu.

»Entschuldigen Sie bitte unsere Unhöflichkeit«, stammelte sie verlegen.

»Ist schon gut.«

»Nein, das ist es nicht.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber ihr fehlten die Worte.

»Also dann.« Er legte seinen Zeige- und Mittelfinger gegen seine Stirn und ahmte einen militärischen Gruß nach. Als er sich umdrehte, packte Jule ihn an seinem Ärmel.

»Stopp, was willste denn jetzt machen? Haste ’ne Bleibe für heute Nacht?«

Er lächelte sie an und schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Du kennst das doch.« Dabei zwinkerte er ihr verschwörerisch zu.

»Eben, und deswegen kommst du mit uns.«

Sandro ließ die Taschen fallen und starrte seine Freundin ungläubig an. Seine Wangenknochen mahlten, seine Mundwinkel zogen sich nach unten.

»Das ist keine gute Idee«, sagte der Fremde. Wenigstens besaß er genug Anstand, um die Brisanz der Situation zu erkennen. Das rechnete Emma ihm hoch an, denn die Nächte im September waren schon empfindlich kalt, und die Aussicht auf ein warmes Federbett und eine heiße Dusche waren für ihn bestimmt eine willkommene Einladung.

»Quatsch keine Opern«, sagte Jule kurz entschlossen und hakte ihn unter. »Du kommst mit, und ich bezahle dir höchstpersönlich eine Nacht in diesem Nobelschuppen.«

Sehnsüchtig schaute der Mann an der Fassade der Pension empor und lächelte. Dann schritt er mit Jule durch das große Eingangstor.

»Hast du das gehört?« Sandro kochte vor Zorn. »Was soll das? Sie weiß ganz genau, was ich davon halte. Und außerdem hätte sie ihren Seesack ruhig selbst tragen können. Bin ich ihr Lakai oder was?« Sandro trat mit dem Fuß gegen Jules Tasche.

Emma legte die Hand auf seine Schulter. Jule hatte ihn in seiner italienischen Mannesehre bis aufs Tiefste bloßgestellt, und er hatte aus Loyalität den Mund gehalten, was ihr Verhalten jedoch nicht rechtfertigte.

»Du weißt, dass das nichts mit dir zu tun hat. Es ist ihre Art, mit ihrer Angst umzugehen.«

»Ich weiß, aber trotzdem fühlt es sich beschissen an.« Er drückte Emma einen liebevollen Kuss auf die Stirn. »Das wird noch ein hartes Stück Arbeit mit ihr geben. Wenn ich diese kleine Mistbiene nicht genau so lieben würde, wie sie ist, wäre jetzt der richtige Moment, sie auf den Mond zu schießen.«

Sein Kuss brannte lichterloh auf Emmas Haaransatz. Ihre Wangen glühten. Jede seiner Berührungen löste ein Feuerwerk in ihr aus, das sich für eine Dame ihres Alters nicht ziemte. Sie hätte seine Großmutter sein können, aber daran wollte sie nicht denken. Bevor ihre Gedanken wieder Kapriolen schlugen und sie sich ihrem Faible für knackige Südländer hingab, packte sie eine der Taschen und schritt über das Kopfsteinpflaster durch das Tor. Als sich das Gemäuer wie ein schützender Bogen über sie spannte und sie die verlassenen Schwalbennester am Gewölbe entdeckte, überfiel sie ein merkwürdiges Gefühl. Ihre Nackenhaare sträubten sich leicht. Dieser Ort barg etwas Magisches und Geheimnisvolles.

Jule und der Fremde standen im Innenhof und schauten sich schweigend um. Emma blieb an der Hauswand direkt neben dem Torbogen stehen und war überwältigt von dem Anblick, der sich ihnen bot. Der Hof ähnelte einer Kinderbuchidylle mit vielen liebevollen Details. Gegenüber dem Haupthaus, durch dessen Eingangsportal sie gekommen waren, befand sich eine Scheune mit kleinen Wohnfenstern im Geschoss darüber. Ein Weinstock mit prallen Früchten rankte an der Fassade entlang. Aus dem Stalltor flatterten drei Hühner gackernd ins Freie. Ein junges Mädchen eilte hinter ihnen her und trieb sie wieder zurück. Emma schaute nach links, zu dem Turm am Ende des Gebäudes, an dem blutrote Rosen in die Höhe wucherten und an Dornröschens verwunschenes Schloss erinnerten. Auf dem Dach quietschte der goldene Wetterhahn. Rechts neben Emma führte eine automatische Glasschiebetür zur Rezeption der Pension.

Das Haupthaus und der Stall waren durch ein Quergebäude miteinander verbunden, das die U-Form des Anwesens vervollständigte. Es besaß große Panoramafensterscheiben, durch die Emma Tische und Stühle erkennen konnte. Das musste der Speisesaal sein, den sie auf der Homepage der Pension bereits gesehen hatte.

Eine hohe Granitmauer schloss den Innenhof zu einem Rechteck ab und sperrte den angrenzenden Fichtenwald aus. In der Mitte des Hofes wuchs ein gigantischer Kastanienbaum, um dessen Stamm eine runde Holzbank angebracht war. Der Wind blies die ersten gelben Blätter über das Kopfsteinpflaster. Sie raschelten und verfingen sich zwischen den Tischen und Stühlen vor den Terrassentüren des Speisesaals. Emma atmete tief ein, schloss die Augen und hörte Wasser plätschern. Sie öffnete die Augen wieder und schaute sich um, woher das Geräusch kam. Neben der Scheune entdeckte sie einen Brunnen, einen umfunktionierten Sandsteintrog, in den ein dünnes Rinnsal aus einem alten Eisenrohr sprudelte.

»Ist das nicht atemberaubend schön hier?« Emma drehte sich im Kreis. Sandro knurrte mürrisch und marschierte mit dem Gepäck an ihr vorbei. Die Glastür zur Rezeption öffnete sich mit einem leisen Zischen, und er trat ein. Emma blickte zu Jule hinüber. Das Mädchen drehte sich nach allen Seiten und griff plötzlich nach der Hand des Fremden. Was mochte ihr durch den Kopf gehen? Erinnerungen an früher? Der Anhalter erwiderte Jules Händedruck, als ob er genau wie sie Halt suchte. Ihre Vertrautheit kam Emma befremdlich vor, und sie war froh, dass Sandro dies nicht mitbekam. Auf eine eigenartige Weise fühlte sie sich beschämt, Zeugin dieses innigen Moments geworden zu sein. Sie schüttelte den Kopf und folgte Sandro ins Foyer der Pension.

»Guten Tag, Frau von Stratnitz«, begrüßte sie eine grauhaarige Dame hinter dem Tresen. Am Revers ihres hellbraunen Wollkostüms steckte ein messingfarbenes Namensschild, auf dem ›S. Buchberg‹ stand. Sie war die Besitzerin der Pension. Ihre aufrechte Körperhaltung zeugte davon, dass sie ein strenges Regiment führte und den Gehorsam ihrer Angestellten gewohnt war. Sie reichte Emma die Hand und lächelte. Sandro füllte bereits den Anmeldebogen aus.

»Haben Sie nicht für drei Personen gebucht?«, fragte Frau Buchberg und schaute sich um. Ehe Emma antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Jule trat mit dem zerlumpten Anhalter ein.

»Nein, wir sind zu viert«, sagte sie und lehnte sich lässig gegen den Tresen. Auf ihrer Nase trug sie eine Sonnenbrille, um inkognito zu bleiben. Der Fremde folgte ihr zögernd und blieb auf dem Fußabtreter mit eingewebtem Pensionslogo an der Tür stehen.

»Zu viert?« Frau Buchbergs Lächeln, das sie gewiss jedem Gast schenkte, gefror. Sie bedachte Jule und ihren Begleiter durch ihre Brille mit einem ›Was-zum-Henker-seid-ihr-für-Kreaturen?‹-Blick. Ob sie Jule erkannte? Wahrscheinlich nicht. Als sie vor sechs Jahren aus dem Dorf geflohen war, trug sie weder Rastalocken noch zerrissene Jeans. Sie war 16 Jahre alt gewesen, und nach all dem, was sie in der Zwischenzeit auf der Straße erlebt hatte, hatte sie sich wahrscheinlich sehr verändert. Emma schmunzelte über die dunkle Sonnenbrille. Tarnung war etwas anderes.

Frau Buchberg atmete scharf ein. Sie zog eine Braue in die Höhe, schrieb etwas in ihre Unterlagen und schielte über den Rand ihrer Brille. Was auch immer sie notiert haben mochte, Emma kam es wie ein Eintrag ins Klassenbuch vor. Setzen, sechs!

»Wie meinen Sie das, bitte?«, fragte die Pensionswirtin kühl und reckte die Nase ein klein wenig höher in die Luft. Dabei blickte sie dem Fremden direkt in die Augen. Sie hatte die Situation bestens durchschaut und überlegte bestimmt, wie sie sich aus der Affäre ziehen konnte. »Es wurden zwei Zimmer für Sie reserviert. Ein Einzelzimmer für Frau von Stratnitz und ein Doppelzimmer für Herrn und Frau Pascello.« Sie schaute Jule in die verspiegelten Brillengläser. »Ich nehme an, das sind Sie?« Ihr Tonfall wurde eisig.

»Das ist vollkommen korrekt«, antwortete Emma rasch. Ihr war die ganze Situation furchtbar peinlich. Warum tat Jule das? Sie hatte darauf bestanden, dass sie nicht mit ihrem eigenen Namen angemeldet wurde, sondern als Frau Pascello, damit man sie vorerst noch nicht erkannte, und nun das. Auffälliger ging es wirklich nicht.

Jule schob Emma zur Seite und blickte über den Brillenrand die Wirtin an.

»Und jetzt brauchen wir eben noch ein Einzelzimmer für meinen Freund hier.« Dabei deutete sie auf den Fremden. Alle Blicke richteten sich auf ihn und seinen zerschlissenen Mantel. Er trat von einem Fuß auf den anderen, hob die Hand und wollte etwas sagen, doch Jule kam ihm zuvor. »Und? Was ist jetzt?«

Frau Buchberg hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und räusperte sich. »Tut mir leid, aber wir sind ausgebucht. Wir haben keine weiteren Zimmer mehr frei.«

»Klar, wäre er der Papst, dann würden Sie ihm sofort die Präsidentensuite anbieten.«

»Jule!« Emma glaubte, sich verhört zu haben.

Sandro knallte den Kugelschreiber auf die Theke und warf seiner Freundin einen bösen Blick zu. Es wurde totenstill. Nur das Geschirrgeklapper aus dem Speisesaal war zu hören. Highnoon an der Rezeption.

Frau Buchberg holte Luft und wollte etwas antworten, doch im selben Moment klingelte das Telefon. Sie nahm das Gespräch gewohnt freundlich entgegen und durchbohrte Jule dabei mit einem frostigen Blick.

»Das tut mir leid, Frau Wörmer«, sagte die Wirtin und wandte sich von Jule ab. »Nein, das ist auch so kurzfristig kein Problem. Dann finden wir einen neuen Termin für Sie, sobald Ihr Mann wieder reisefähig ist. Richten Sie ihm bitte meine besten Wünsche zur Genesung aus.«

Während Frau Buchberg die letzten Höflichkeiten mit ihrer Kundin wechselte, grinste Jule und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tresen.

»Das trifft sich ja wunderbar. Jetzt ist ein Zimmer für meinen Freund hier frei geworden.«

»Das war kein Einzelzimmer«, versuchte Frau Buchberg Jules Anliegen abzuschmettern.

Emma packte Jule am Ellenbogen. »Was soll das? Lass den Unsinn!«, zischte sie ihr ins Ohr.

»Wass’n?« Sie zog den Fremden zu sich heran. »Er braucht ein Zimmer, und hier ist eins frei geworden.«

»Das ist sehr freundlich, aber ich sollte besser …«, hob der Mann an.

Jule ließ ihn nicht ausreden. »Nein, ich werde das Doppelzimmer für dich bezahlen!«

Beschämt schaute er zu Boden und mied Frau Buchbergs Blick. Jule hingegen suchte ihn und hielt der offenen Konfrontation stand.

Sandro hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er verschränkte seine Arme vor der Brust. Emma hatte keine Ahnung, was sie zuerst tun sollte, Jule eine schallende Ohrfeige verpassen oder aus Scham im Boden versinken. Frau Buchberg wandte sich dem Schlüsselbrett hinter sich zu und nahm drei Zimmerschlüssel von ihren Haken.

»Aber nur für eine Nacht. Und der Herr«, dabei schaute sie den Fremden geringschätzig von oben bis unten an, »wird weder sein Zimmer verlassen, noch sich im Speisesaal blicken lassen.« Sie zögerte einen Moment. »Und dass Sie das Badezimmer aufsuchen, bevor Sie unsere Betten in Anspruch nehmen, versteht sich von selbst.«

Der Fremde nickte und nahm den Schlüssel mit seinen schmutzigen Händen entgegen. »Vielen Dank. Ich werde Ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Morgen bin ich wieder verschwunden.«

»Ich bitte darum.« Frau Buchberg nickte und sagte zu Sandro und Emma gewandt: »Unsere Hausordnung finden Sie auf Ihren Zimmern. Gefrühstückt wird morgens ab halb sieben bis halb zehn, und das Abendessen wird zwischen 18 und 21 Uhr serviert.«

Emma folgte dem Zimmermädchen im Laufschritt die Treppe nach oben. Sie wollte dieser unangenehmen Situation so schnell wie möglich entkommen und kümmerte sich nicht um das Gewicht ihrer Reisetasche. Mit jeder Stufe ließ ihre Kondition nach. Sie schnaufte wie eine alte Frau. Mit ihren 73 Jahren war sie tatsächlich nicht mehr taufrisch, doch seit Jule und ihr Freund bei ihr lebten, vergaß sie das nur zu gern. Mit den jungen Leuten an ihrer Seite wurde es keine Sekunde langweilig, aber so peinlich wie gerade eben war es noch nie gewesen.

Nach dem Tod ihres Mannes, als sie noch allein in ihrer Villa in der Stadt gewohnt hatte, war das Leben recht einsam geworden. Sie hatte aus Verzweiflung sogar dem Drängen ihres Sohnes nachgegeben und war in eine der nobelsten Seniorenresidenzen der Stadt gezogen. Dass er sie übers Ohr hauen und abschieben wollte, nur um sich ihre Villa unter den Nagel zu reißen, begriff Emma leider erst zu spät.

Sie schwor Rache und floh aus dem Altersheim. Auf ihrer Flucht traf sie Jule, eine Gelegenheitsdiebin mit großer Klappe und einem noch größeren Herzen am rechten Fleck. Sie hatte Emma bei Nacht und Nebel über den Gartenzaun der Residenz geholfen und ihr sogar Unterschlupf in ihrer WG angeboten. Emmas Plan, ihrem Sohn eine Lektion zu erteilen, fand Jule wunderbar und versprach, ihr zu helfen. Das vom Reichtum verwöhnte Leben der alten Dame veränderte sich seit jener Nacht von Grund auf. Sie wohnte für kurze Zeit bei den jungen Leuten in einer kleinen Wohnung mitten in der Stadt. Sie aß zum ersten Mal Pizza und teilte sich das Bett mit einer Fremden. Sie schmunzelte, als sie an ihre gemeinsamen Abenteuer dachte. Sie hatten sich mit Tierschmugglern, Dieben, Mafiosi und Erpressern angelegt, waren von einer Katastrophe in die nächste geschlittert, mussten sogar einen Mord in Kauf nehmen und den liebestollen Herbert Mahlinski in die Flucht schlagen. Trotzdem bereute Emma keine Sekunde, die sie mit Jule und ihrem Freund Sandro verbringen durfte. Die beiden rissen sie mit ihrer jugendlichen Leichtigkeit mit. Entgegen der Meinung ihres geldgierigen Sohnes Konstantin und seiner intriganten Frau Barbara gehörte Emma definitiv noch nicht in ein Altersheim!

»Das wäre dann die Unterkunft für den Herrn«, sagte das Zimmermädchen und schloss eine Tür im ersten Obergeschoss auf. Ihr Blick glitt von oben bis unten über den Fremden. Emma konnte es ihr nicht verübeln, dass sie unauffällig einen Schritt zurückwich. Der Mann stank bestialisch. Seine Haare starrten vor Dreck, sein Vollbart schien ein Heim für unzählige kleine Tierchen zu sein, seine Schuhe waren an den Absätzen schräg abgelaufen und an den Kuppen vorne mit schwarzem Isolierband geflickt. Sein Rucksack sah genauso mitgenommen aus wie er selbst und war an den Kanten abgescheuert und durchgestoßen.

Jule schielte an ihm vorbei in sein Zimmer. Es war hell und freundlich eingerichtet.

»Cool, na dann lass es dir gut gehen. Ich bringe dir nachher etwas zu essen vorbei.«

Der Fremde drehte sich zu ihr um. Tränen glitzerten in seinen Augen. »Das hat in den letzten Jahren niemand für mich getan.« Er schluckte. »Danke.«

»Is schon gut, Mann.« Jule klopfte ihm auf die Schulter. Sie drehte sich um und lief den anderen hinterher, die so schnell wie möglich das Weite gesucht und sich auf den Weg in die nächste Etage gemacht hatten.

»Wie heißt du eigentlich?«, rief der Fremde.

»Jule. Und du?«

»Henry.«

»Bis nachher, Henry.«

Emma stapfte die Stufen nach oben ins zweite Geschoss. Warum konnte sie nicht wie Jule diesen Mann einfach als Mensch betrachten, statt ihn als zerlumpten Penner abzustempeln? Sie ärgerte sich über sich selbst und folgte wortlos dem Zimmermädchen den Flur entlang. Am hinteren Ende blieb die zierliche Frau stehen und öffnete die beiden letzten gegenüberliegenden Türen. Das Einzelzimmer für Emma hatte einen Ausblick auf den Gästeparkplatz und den angrenzenden Wald vor dem Haupthaus. Sandros und Jules Unterkunft lag zum Innenhof. Theresa, das Zimmermädchen, knickste. Sie trug eine kleine, weiße Schürze und einen Spitzenkragen auf ihrem schwarzen Kleid. Ein goldenes Kreuz baumelte an ihrer Halskette. Emma steckte ihr ein großzügiges Trinkgeld zu. Sie knickste noch einmal und verschwand über die Treppe nach unten. Emma schaute ihr nach. Sie war das genaue Gegenteil von Jule. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Jule war keine Spur bescheiden oder scheu. Sie sagte und tat, was ihr gerade in den Sinn kam. Nicht nur die gelungene Flucht aus der Seniorenresidenz hatte Emma ihr zu verdanken, sondern auch das Gefühl, endlich wieder aktiv am Leben teilnehmen zu dürfen. Früher trug Emma beige Kostüme und eierschalenfarbige Schuhe. Heute bevorzugte sie lässige Kleidung in kräftigen Farben, bunten Modeschmuck, und ihre kurzen Haare waren nicht mehr grau, sondern kastanienbraun gefärbt. Selbst Jules bildhübscher italienischer Freund hatte ganz neue Regungen in ihr geweckt. Die Schmetterlinge im Bauch, die sie nach dem Tod ihres Mannes mit ihm begraben hatte, flatterten wieder. Lächelnd schaute Emma Sandro hinterher, wie er mürrisch das Gepäck in ihr Zimmer hievte.

»Vergiss es, Emma. Das ist mein Freund«, frotzelte Jule, wie sie es gerne tat, und zog die Sonnenbrille bis auf ihre Nasenspitze herunter. »Du gehst schön brav in deine Stube und geißelst dich wegen deiner schmutzigen Gedanken.«

»Jule!« Emma errötete und blickte zu Boden. Normalerweise müsste sie über solchen Bemerkungen stehen und lachen, weil sie absurd waren, doch das konnte sie nicht, denn sie bargen einen gewissen Grad an Wahrheit in sich.

»Bingo, hab ich mal wieder ins Schwarze getroffen?« Jule lachte.

»Du bist unmöglich!«

»Ich? Wieso ich? Du glühst Sandro doch wie eine 60-Watt-Birne an.«

»Da werde ich wohl den Energiesparmodus einschalten müssen und mich zurückziehen«, scherzte Emma und marschierte in ihr Zimmer, bevor Jule das Thema wieder bis zur absoluten Peinlichkeit durchkaute. »Ich möchte mich nach dieser desaströsen Fahrt und dem Skandal an der Rezeption erst einmal ein wenig erholen und frisch machen.«

Jule grinste.

Emma trat einen Schritt in den Flur zurück und griff nach Jules Arm. »Ich kann mir denken, wie es in dir aussieht, aber glaub mir, das, was du hier abziehst, ist keine Lösung«, bemerkte sie.

Jule blickte zu Boden und zog ihre Sonnenbrille von der Nase.

»Ich weiß«, flüsterte sie beinahe tonlos.

»Was auch immer kommt, wir werden dir helfen, aber bitte treib es nicht auf die Spitze.« Emma umarmte Jule. »Du solltest dir lieber überlegen, wie du deinen Freund wieder besänftigen kannst. Du hast ihm ganz schön zugesetzt.«

Jule wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Mir wird etwas einfallen.« Sie drückte Emma einen Kuss auf die Wange. »Danke«, murmelte sie, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand.

Sandro wandte Jule den Rücken zu und starrte mit verschränkten Armen aus dem Fenster in den Hof. Seine Tasche hatte er achtlos auf den Boden fallen lassen. Jule kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er wütend war. Sie hatte ihn provoziert und bis an seine Grenzen getrieben. Das war blöd von ihr gewesen. Jule stand dicht hinter ihm. Seine wilden Locken kräuselten sich in seinem Nacken. Wie gerne würde sie ihn einfach umarmen, ihn bitten, sie festzuhalten und seine Nähe spüren. Sie hatte sich idiotisch verhalten, und nun musste sie damit rechnen, dass er ihr eine Szene machte und sie von sich stieß. Allein der Gedanke schmerzte entsetzlich. Sie hob die Hand, ließ sie über seinen Schulterblättern schweben und zögerte. Sie hatte ihn nicht vor den Kopf stoßen wollen, es war nur diese verdammte Angst, die ihr die Kehle zuschnürte. Jule konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und schniefte.

»Hey, komm mal her«, sagte Sandro plötzlich und drehte sich zu ihr um. Er schlang beide Arme um sie und zog sie an sich.

Das war zu viel. Jule konnte sich nicht länger beherrschen und schluchzte laut. Die Tränen tropften auf sein Hemd, bis es durchweicht war. Sie zitterte am ganzen Körper. Sandro hielt sie fest, sagte kein Wort und wiegte sie nur sanft hin und her.

»Ich bin ein Depp«, weinte Jule.

»Stimmt!« Sandro küsste ihre Nasenspitze und strich zärtlich über ihren Rücken, bis sie sich beruhigte.

Sie knöpfte sein Hemd auf und zog ihn mit sich zu dem großen Himmelbett in der Mitte des Zimmers. Die Matratze quietschte und federte unter ihrem Gewicht nach, als sie sich hineinfallen ließen. Die Bettwäsche roch nach Lavendel. Jule setzte sich auf, zog ihr T-Shirt aus und schleuderte es quer durch das Zimmer.