Brot riecht nach Heimkommen, nach Familie und Liebe. Brot stiftet Religionen und Revolutionen – und verursacht Zöliakiepanik und Weizenwampenangst. Brot ist Grundnahrungsmittel – und essbare Sehnsucht.

Was erzählt Brot über die Menschen, die es essen, und über die Verhältnisse, in denen es gebacken wird? Was findet man, wenn man dem Duft des Brotes folgt?

Walter Mayer schreibt über Gluten und Enzyme, über liebevoll gehegte Sauerteigkulturen und die wundersame Brotvermehrung im Neuen Testament. Er lässt sich von Sarah Wiener die Grundlagen des handwerklichen Backens erklären, stellt kritische Fragen an den Ernährungsminister Christian Schmidt und porträtiert den Milliardenbäcker Heiner Kamps. Er fährt zu Bäckerinnen und Bäckern in die Berge von Albanien, in die Medina von Marrakesch, in die moorige Landschaft um Edinburgh und in die österreichischen Alpen. Und am Ende führt ihn seine Entdeckungsreise in die Küche seiner Mutter, der Bäckerstochter – immer auf der Suche nach dem Duft des Lebens.

Dieses Buch ist eine fein abgewogene Mischung aus Reportage, Kulturgeschichte und Familienmemoir. Und eine Liebeserklärung an das Brot.

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INHALT

1. Intro
Was findet man, wenn man einen Geruch sucht?

2. Sorry, Sarah. Danke, Sarah
»Sie wollen über Brot schreiben?
Sie haben doch keine Ahnung!«

3. In Salzburg
Mein Großvater, der Bäcker ohne Beine

Mahlen nach Zahlen
Einige Fakten über Brot

4. In Schottland
Der Robin Hood des guten Brotes

Das Abc des Brotes
Von Aryzta bis Zöliakie. Ein (unvollständiges) Alphabet

5. In Albanien
Auf der Suche nach dem besten Börek

6. Die Memoiren des Brotes. Vegan seit 6000 Jahren
Kunst, Religion und Weltgeschichte aus der Perspektive des Backofens

7. In den Bergen
Die Eigenbrötlerin von der Kalchkendlalm

Eine kurze Geschichte des Backofens
Vom Ofen der Stier-Anbeter bis zur Backstraße, die 50 000 Brötchen in der Stunde schafft

8. Bei Heiner Kamps
Der Milliardenbäcker

9. Diese Tauers
Geschichte einer Bäckerfamilie

10. Interview
Herr Minister Schmidt, ist Industriebrot genauso gesund wie handwerklich gebackenes Brot?

Zehn Brotrekorde

11. Monika und die sechshundertjährige Mühle
Im Idyll der alten Getreidesorten

Säen, ernten, dreschen
Die mindestens zwölf Maßnahmen, die nötig sind, bevor man mit dem Backen beginnen kann

12. In Marokko
Gott, König und Brot

13. Back Home. Kreuzberg – Salzburg
Das Brot in meinem Kiez. Das Brot meiner Mutter. Der Duft des Lebens

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Eine OP und ihre heilsamen Folgen. Roggenbrot duftet stärker als Vorzimmerrosen und Hermès-Parfüm. Die Bibliothek aus Teig. Warum ich dieses Buch schreibe

Mein Interesse an Brot erwachte, als ich nach einer Nasenpolypenoperation die Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, wiedererlangte. Ich hatte jahrelang kaum riechen können. Der Grund war eine Histaminintoleranz, ein ziemlich exklusives Krankheitsbild, von dem etwa ein Prozent der europäischen Bevölkerung betroffen ist. In meinen Nasennebenhöhlen wucherten bis hinauf in die Stirnhöhlen Polypen und blockierten die Geruchsnerven.

Wenn ich histaminhaltige Lebensmittel, etwa Thunfisch, gut gereiften Käse, Erdbeeren oder dunkle Schokolade aß – oder Rotwein (ganz schlimm) beziehungsweise Champagner (noch schlimmer) trank –, bekamen die Polypen durch die nicht abgebauten Histamine einen Extrawachstumsschub, und ich war nur mehr am Schniefen. Ich roch dann überhaupt nichts mehr. Das hat gelegentlich Vorteile, etwa wenn man im Sommer in einer Berliner U-Bahn voller Billigbier trinkender easyJet-Touristen sitzt. Langfristig verliert man mit dem Geruchssinn aber den inneren Kompass für Mitmenschen und Situationen.

Riechen ist das Tasten des Herzens. Und über längere Zeit nichts zu riechen, ist wie emotionaler Hausarrest. Weder der Duft einer blühenden Lavendelwiese in der Provence konnte damals meine Geruchsnerven aufwecken, noch die Haut einer Geliebten. Sie blieb ebenso duftlos wie der Stand mit den Gewürzen auf dem Markt. Beim Essen sah ich zwar die leuchtenden Farben, aber der Paprika schmeckte genauso fad wie Pfeffer oder Koriander.

Im Sommer 2013 hatte ich mich endlich zur Operation entschlossen, und einem Professor der Berliner Meoclinic war es gelungen, meine Nase weitgehend von den fiesen Polypen zu befreien. Nach zwei Wochen Rekonvaleszenz konnte ich wieder arbeiten. Das Schniefen war weg. Die Schwellung ging zurück. Aber riechen konnte ich immer noch nicht.

So saß ich in der Vorstandsetage im 18. Stock des Axel-Springer-Hochhauses und ertrug eine quälende Sitzung über Digitalisierung, Social Media und Paid Content. Es war ein unfassbar heißer Augusttag, die Jacketts hingen über den Stuhllehnen und der Vorstandsvorsitzende dominierte die Runde mit einer grellgrünen Krawatte, deren Versprechen von Freiheit und Wildnis in krassem Widerspruch zu den müden Konferenzkeksen auf dem Besprechungstisch standen.

Genau an diesem Ort und zu dieser Stunde erwachte mein Geruchssinn. Aber es war nicht das Bouquet aus Macht, Vorzimmerrosen und Hermès-Parfüm, das meine Nerven aufweckte. Es geschah, als Carsten, der kleine, pummelige Däne mit der charmanten S-Aussprache, der seit den Siebzigerjahren bei Springer arbeitete und dem legendären Verleger schon als Butler in dessen Residenz auf Patmos gedient hatte, mit einem gemütlich wackeligen Servierwagen den Raum betrat.

Meine rekonvaleszente Nase nahm aufs Intensivste einen ganz besonderen Duft wahr. Etwas kümmelig Feines, etwas Roggen-Kräftiges, etwas staubig Warmes und zugleich etwas umfassend Zufriedenstellendes. Ein Geruch setzt sich, wenn er die Nasenzellen schwingen lässt, ja aus mindestens 400 Komponenten zusammen.

Carsten hatte frisches Brot gebracht.

Der Duft der dunklen Roggenscheiben weckte ein Gefühl der Erinnerung an eine verschleierte Vergangenheit in mir. Der Geruch nahm mich schlagartig ein. Es öffnete sich, zögerlich, ein Vorhang.

Brot riecht nach Heimkommen, Erwartetwerden. Brot riecht nach Liebe und Familie. Dieser Geruch ging mir nicht mehr aus dem Sinn, seit er mir ausgerechnet in einer Konferenz mit abgehärteten Medienmanagern wieder in die Nase stieg und von dort direkt mein Herz flutete.

Deshalb machte ich mich auf, die Gefühle und die Geschichte hinter diesem Geruch zu finden.

Und das perfekte Brot.

Ich begann, die Welt aus der Perspektive des Backofens zu betrachten und versuchte, so viel verschiedene Brotsorten wie möglich zu probieren.

Roggenvollkorn. Mischbrot. Das kriegerische Kommissbrot. Friedliche Dinkelkrusties, herzhaftes Heidebrot. Die schwäbische Seele aus Weizensauerteig. Ich fragte mich, wie wohl Frankenlaib, Ritterbrot, Mangbrot und Schlüterbrot schmecken. Probierte wieder mal Pumpernickel und stellte nach Jahren erneut fest: nichts für mich. Bergsteigerbrot. Feierabendbrot. Malfa-Kraftma-Brot. Braumeisterbrot. Eifelähre. Dinkelvital. Hoflaiberl. Karottenbrot. Maronenbrot. Sonnenblumenbrot. Sommerkorn. Treberbrot. Walnussbrot. Zunftlaiberl. Hirtenlaib. Korntaler. Lupinenbrot. Pommersches. Und Pide.

Soeben habe ich 30 Brotsorten aufgezählt – und das ist lediglich ein knappes Prozent der bei Manuskriptschluss exakt 3188 vom Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks anerkannten Brotspezialitäten.

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So viele Rezepte, so viele Geschmacksvarianten, so viele Geschichten. Was werde ich finden, wenn ich den Geruch des perfekten Brotes suche? Oder werde ich mich in der Vielfalt verirren?

Das oben erwähnte Malfa-Kraftma-Brot etwa, ein Produkt aus der ehemaligen DDR, entwickelt vom VEB Backwarenkombinat Berlin, ist ein Roggenmischbrot mit einem zehnprozentigen Anteil geröstetem Gerstenmalzmehl. Gab es in fast jedem Konsum, heute bekommt man es nur mehr in wenigen Bäckereien rund um Plauen. Es schmeckt würzig und malzig, hat eine dunkelblonde Farbe und eine weiche Kruste.

Bringt es was, das zu wissen?

Ich meine: Ja, denn dieses Malfa-Kraftma-Brot erzählt eine Geschichte von Mangelwirtschaft und Großproduktion. Und: Es berichtet davon, wie es den DDR-Planern gelang, die billige, seit Jahrzehnten nur mehr als Tierfutter verwendete Gerste ins Roggenmehl zu mischen und so wieder in die Brotregale zu schummeln.

Für manche Ostdeutsche ist das Malfa-Kraftma-Brot eine verlorene Köstlichkeit, bei anderen weckt es unangenehme Erinnerungen an FDJ-Lager und Schulspeisung.

Jedes Brot ist ein Geschichtsbuch aus Teig.

Brot zettelt Revolutionen an. Brot stiftet Religionen. Brot bereitet Kriege vor und beendet sie. Brot verursacht Zöliakiepanik und Weizenwampenangst. Und gleichzeitig wird handwerklich gebackenes Brot aus glücklichem Mehl zum neuen Statussymbol unserer essensneurotischen Zeit.

Ich beschloss: Um mich in der Bibliothek der abertausend Brotsorten nicht zu verlaufen, wäre es sinnvoll, erst einmal selbst Brot zu backen.

Also züchtete ich meinen eigenen Sauerteig und war stolz wie Frankenstein, als er am dritten Tag zu stinken begann.

Später knetete ich mit hoffnungslos verklebten Fingern den Teig für original russisches Borodinski-Brot und scheiterte daran, die sieben Zöpfe des jüdischen Challa-Brotes richtig zu flechten.

Über zwei Jahre dauerten die Recherchen für dieses Buch. Und auch das Schreiben zog sich wie ein Strudelteig.

Mein Zustand Backprodukten gegenüber veränderte sich in dieser Zeit grundlegend.

Bald meinte ich, den Unterschied zwischen handgemachtem und industriell gefertigtem Brot zu schmecken.

Früher war Brot für mich nicht mehr als eine Art essbarer Teller, auf dem Wurst oder Käse lockten. Nun empfand ich tiefe Zufriedenheit, wenn ich in ein nach allen Regeln der Kunst gebackenes Roggenmischbrot mit einer schönen Kruste beißen konnte. So ein Brot, mit Butter und Schnittlauch oder aufgeschnittenen Radieschen, war plötzlich eine vollständige, befriedigende Mahlzeit für mich.

Umgekehrt frustrierte es mich immer mehr, dass es so schwer geworden ist, zum Beispiel ordentliche Brezeln zu bekommen. Als ich in den frühen Neunzigerjahren in München lebte, waren frische Butterbrezeln meine Sehnsuchtsjause. Immer wenn ich später nach München kam, kaufte ich mir gleich am Bahnhof eine Brezel. Aber je genauer ich hinschmeckte, desto trauriger wurde ich über die Aufbackware in den Backshops. Der Terror der Teiglinge machte mich wütend.

Im Juli 2016 antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und teilte mit, dass sich die Anzahl der Bäckereien in Deutschland seit 1998 halbiert habe. Demnach gab es im Jahr 1998 noch 21 406 Bäckereibetriebe in Deutschland. Diese Zahl sank bis zum Jahr 2015 auf 12 155.

Die meisten Bäckereien gibt es noch in Bayern. Nämlich 2608, also eine Bäckerei für etwa 4900 Einwohner. Im Bundesschnitt versorgt eine Bäckerei 6700 potentielle Kunden. Auf Bayern folgen die Länder Baden-Württemberg (1864 Bäckereien) und Nordrhein-Westfalen (1826 Bäckereien).

Neugründungen von Betrieben erfolgen nach Angaben der Regierung nur noch selten. Grund seien die »immer komplexer werdenden Rahmenbedingungen für einen Unternehmer im Lebensmittelhandwerk« und der harte Wettbewerb auf dem Backwarenmarkt.

Ich musste also lernen, dass in Deutschland seit Jahren fast jeden Tag eine Bäckerei stirbt – und erkennen, welche gewaltigen Umwälzungen die Backbranche in den letzten Jahren erfahren hat.

Ich habe tatsächlich versucht, in einen Aldi-Backautomaten zu kriechen und ging dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft monatelang mit meinen Fragen an den Minister Christian Schmidt, der ja selbst ein Bäckersohn ist, auf die Nerven.

Aber ich sprach auch mit begeisterten Bäckern, die alte Rezepte ausgruben und neuen Wind in ihre Bäckereien brachten.

Ich traf einen Bäcker, der in seinem Beruf Milliarden machte und unfassbar reich wurde, und ich begegnete einem, dem nach einem langen Arbeitstag ein Gewinn von fünf Euro bleibt. Er will die Backstube, die sich seit knapp 500 Jahren im Familienbesitz befindet, so bald wie möglich schließen.

Im Autobahnniemandsland bei Magdeburg besuchte ich eine Fabrik von Harry-Brot, dem deutschen Marktführer im Backgewerbe. Dort sah ich, wie 75 Meter lange Backautomaten zehntausende Brötchen innerhalb einer Stunde herstellen und konnte erleben, wie industrielle Brotproduktion funktioniert, ohne dass der Teig von einer einzigen Bäckerhand berührt wird.

Ich besuchte Carsten-Peter Schwartz, der Deutschlands älteste Bäckerei, das »Freibackhaus« in Lübeck, gerettet hat, und ich sah mich in einer der wenigen neu gegründeten Bäckereien in Deutschland um – »The Bread Station«, die zwei Freunde aus Kopenhagen mit Crowdfunding-Geld am Neuköllner Maybachufer eröffnet haben.

Ich sah den Lichtkornroggen im oberbayerischen Rechtmehring blühen, und mir wurde bewusst, dass Mehl nicht gleich Mehl ist.

Ich ging dem Gerücht nach, dass der Stoff Cystein, den manche Backmischungen enthalten, um die Kruste knuspriger zu machen, aus asiatischem Frauenhaar beziehungsweise dem Schamhaar thailändischer Prostituierter gewonnen wird. Und natürlich verfolgte ich gebannt die Diskussion um Wiederzulassung oder endgültiges Verbot von Glyphosat.

Ich erfuhr, dass wir in Deutschland jedes Jahr etwa 500 000 Tonnen Brot wegwerfen und dass es Pläne gibt, Altbrot als Brennmittel (mit einem höheren Heizwert als Holzpellets) zuzulassen.

Ich lief über die Internationale Messe für Back-, Konditor- und Snack-Experten in den Münchner Messehallen und fühlte mich wie auf einer Waffenschau der Rüstungsindustrie.

Ich folgte dem Geruch des Brotes in die Medina von Marrakesch, in die moorige Landschaft vor Edinburgh, ins stalinistisch verwüstete Albanien und in die österreichischen Alpen.

Auf der Kalchkendlalm im Salzburger Raurisertal erfuhr ich, wie wichtig Wasser und Luft für das Gelingen eines guten Bauernbrotes sind.

Ich habe mit polyphon singenden albanischen Ziegenhirten auf der Weide gebacken, mit Fatima Zohra, einer marokkanischen Berberfrau und mit Andrew, dem BBC-Korrespondenten, der in seinen Socken Sauerteig aus der ehemaligen Sowjetunion nach England schmuggelte und diesem Sauerteig sein zweites Leben verdankt.

Mit jedem Brot, das ich kostete, und mit jedem Interview, das ich führte, wurde mir bewusster, wie stark unsere Geschichte und unsere Gegenwart von Brot geprägt sind.

Aus meinem plötzlich erwachten Interesse, aus der Sehnsucht nach dem Duft von würzigem Brot, wurde Bissen für Bissen ein bisschen Wissen.

Bei all meinen Recherchen, auf allen Reisen – immer war die Grundfrage: Was erzählt mir das Brot? Über die Menschen, die es essen. Über die Verhältnisse, in denen es gebacken wird. Über die Kultur, aus der es kommt. Über den Zeitgeist, der die Zungen beherrscht.

Brot ist ein Spiegel der Welt. Brot ist ein Spiegel der Zeit.

Brotgeschichten gibt es wie Mehl im Sack. Ich habe versucht, die Körner zusammenzufügen.

Und endlich habe ich dann auch mit meiner Mutter gebacken beziehungsweise ihr zugesehen, wie sich Arme und Hände vom Körper der 86-Jährigen abkoppeln, wieder jung und beweglich werden und wie automatisch die nötigen Arbeitsschritte erledigen.

Wir stehen in ihrer engen Küche. Sie knetet, wir reden.

Es wird ein unkompliziertes Brot, sie backt es so seit Jahrzehnten.

350 Gramm Weizenvollkornmehl

150 Gramm Dinkelmehl

20 Gramm Frischhefe

1,5 Teelöffel Salz

300 Milliliter lauwarmes Wasser werden sukzessive in den Teig gerührt.

Ein bisschen Fenchel und Kümmel kommen auch noch dazu.

Dann muss der Teig für eine Stunde ins auf 190 Grad aufgeheizte Backrohr des Herdes, und zum ersten Mal erzählt mir Mutter die Geschichte meines Großvaters.

Wie er als wandernder Pachtbäcker durchs Salzburger Land und Tirol zog. Alle zwei, drei Jahre ein neues Dorf. Sankt Johann, Lofer, Waidring. Die Hakenkreuzfahnen hingen schon überall. Wie die Familie in jedem Dorf um ein oder zwei Kinder größer wurde. Wie sie dann nach 1945 in die Stadt Salzburg zogen. Wie Großvater sich schließlich selbstständig machte. Und warum die Bäckerei in den Siebzigerjahren schließen musste und dort heute Suchtkranke betreut werden.

Vielleicht habe ich begonnen, mich mit Brot zu befassen, um diese Geschichte zu hören.

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Das Geheimnis des Sonntagsbrotes. Die Frankensteinisierung der Landwirtschaft. Monsanto und die Leiden der Ähren. Die Erkenntnis: Gutes Brot hängt vom Boden ab

Es ist das allererste Interview, das ich für dieses Buch führe.

Natürlich habe ich mich vorbereitet. Einen umfassenden Fragenkatalog erstellt. Die Zielperson gegoogelt und mich dabei, wie so oft, in der Internetrecherche verloren. In der WDR-Mediathek habe ich einen Film gefunden, in dem die Frau, die ich treffen werde, im Kaftan über die Märkte von Marrakesch schwebt und die Delikatessen der Garküchen preist. Ich kenne Marrakesch recht gut, inklusive der örtlichen Schmor- und Grillspeisen. Das könnte ein guter Einstieg sein, denke ich.

Ich freue mich auf das Gespräch.

Doch es wird nicht ganz so harmonisch, wie ich es mir erhoffe.

»Sie haben ja überhaupt keine Ahnung!«, fährt mich mein Gegenüber an, kaum dass wir eine Viertelstunde gesprochen haben. 

Als hätte sie ihr Tonfall selbst überrascht, schiebt sie ein deeskalierendes Lächeln nach. Ihr typisches Grübchen-Lächeln.

Das Sarah-Wiener-Lächeln.

Muss ich sie erklären? Gute Frau. Künstlergene (Vater: der Schriftsteller und Gastronom Oswald Wiener. Die Mutter, bei der sie aufwächst: Lore Heuermann, bildende Künstlerin, alles ein bisserl kompliziert. Eltern geschieden, wenig Geld zu Hause). Sarah schmeißt mit 17 das Internat, kifft, trampt durch Europa. Schlägt sich mit Sozialhilfe und Gelegenheitsjobs durch. Zwei Mal das Abi versaut. Berliner Meisterin im Vollkontakt-Taekwondo. Küchenhilfe im »Exil«, dem legendären Restaurant ihres Vaters. Dort herrscht ein klares Vorne und Hinten. Vorne sitzen David Bowie und Quincy Jones. Hinten putzt Sarah Gemüse oder backt fluffige Kuchen nach österreichischen Rezepten – auf die man sich vorne wiederum stürzt.

Auch die Schauspielerin Tilda Swinton ist begeistert von diesen magischen Mehlspeisen, sie spielt gerade in dem mittlerweile auch von Extremcineasten vergessenen Low-Budget-Filmprojekt The Party – Nature Morte von Cynthia Beatt. Auch Sarah Wiener gehört zum Cast, Nebenrolle als Partymädchen. Lernt, dass Drehen vorrangig aus Däumchendrehen besteht, und dass Filmen hungrig macht. Aus der Erkenntnis wird ein Geschäftsmodell. Wir schreiben die frühen Neunzigerjahre. Sarah Wiener organisiert für 2500 Mark einen tonnenschweren ausgemusterten Küchentank der DDR-Volksarmee, backt und kocht nun für Filmteams und auf Festivals. Bald beschäftigt die alleinerziehende Mutter über 100 Mitarbeiter. Heute ist sie eine Trademark für gutes Essen: TV-Köchin. Gastro-Unternehmerin mit Gewissen. Kochbuch-Autorin. Bio-Bäuerin. Multitalent mit Mundwerk. Sarah Wiener.

Ich wollte Super-Sarah unbedingt kennenlernen und mit ihr über gutes Brot sprechen.

Ich mag ihre energischen Talkshow-Auftritte, in denen sie die Nahrungsmittelindustrie geißelt. Ich mag, wie sie für einen demokratischen Zugang zu gesunden Lebensmitteln streitet. Ich mag auch, dass sie Fleisch mag und ausspricht, dass Fleisch von getöteten Tieren kommt. Und dass es einen Zusammenhang zwischen unserer Lebensqualität und der Lebensqualität (und ja: auch der Sterbequalität) der Tiere, die wir essen, gibt. Ich mag eben offene Worte und offene Augen.

Ich mag vor allem ihren Laden »Wiener Brot« in der Tucholskystraße in Berlin-Mitte.

Draußen: schicker Scheiß, die Galerienmeile, Designerläden, Touristen, Ampelmännchenkitsch, Krempel, Kunst und Currywurst.

Drinnen, hinter dem Schaufenster mit der purpurroten Markise: ein Geruch, den ich wiedererkenne. Ein Gefühl, das ich oft vermisse. Heimweh aus Mehl.

Es locken: drei Sorten Brot. Es sind eindrucksvolle Zwei-Kilo-Laibe. Sehr dunkel. Liegen nicht, sondern stehen im Regal. Vertikal. Wie Bücher in einer Bibliothek.

Die Sarah-Wiener-Klassiker sind:

1. Das Hausbrot, aus Demeter-Roggen mit Anis, Fenchel und Kümmel. Aufgerissene Kruste, mit Mehl angestaubt. Sieht ein bisserl aus wie eine leicht verschneite Hügellandschaft im Alpenvorland.

2. Das Dinkel-Roggen-Kernbrot mit Sonnenblumen und Kürbiskernen. Der Bestseller bei den ernährungsbewussten Müttern, die ihre Kinder in die nahegelegene private Metropolitan School (Schulgeld zwischen 175 und 1158 Euro im Monat, je nach Schulstufe und Einkommen der Eltern) bringen oder sich beim Szene-Friseur »Modo«, der sich selbst als »high-concept salon« bezeichnet, für 130 bis 200 Euro die Haare schneiden und färben lassen.

Und 3. das Sonntagsbrot, ein Weizenbrot mit 20-prozentigem Roggenanteil, das dem legendären Brot der Pariser Bäckerei »Poilâne« nahekommt. Ich liebe dieses Brot wegen seiner saftigen, leicht speckig und zugleich rauchig schmeckenden, an Feuer erinnernden, fast will ich sagen: ehrlichen Kruste. Ein Brot wie ein Händedruck. Ein Brot, das nach Abendwind riecht und eigentlich nach einem Bier verlangt.

Eine Regaletage unter den Brotlaiben präsentieren sich die Weißmehlwunder.

Salzstangerl, goldig und resch, wie ich sie aus meiner Kindheit und aus dem Schlaraffenland kenne. Sie bildeten dort den Grenzzaun zwischen darben und schlemmen. Aufmerksam geflochtene Mohnweckerl (es gibt auch Gegenden, da heißen sie Mohnflieserl oder Mohnflesserl). Stolze Kaisersemmeln, die Aristokraten unter den Brötchen. Buchteln, die aus Tschechien nach Österreich und Süddeutschland eingewanderten Germtaschen mit Powidlmarmelade. Sogar Linzer Augen blicken mich mürbeteigkeksig an. Es ist weitgehend das gleiche Sortiment wie in der Bäckerei meines Großvaters in Salzburg damals. Ich komme mir sehr zu Hause vor hier in diesem Laden. 

Alle diese Köstlichkeiten werden seit 2008 in einer ehemaligen Filiale der Deutschen Post im krasseren Teil von Berlin-Neukölln gebacken. Der österreichische Meisterbäcker Helmut Gragger hat Sarah Wiener geholfen, dort eine Backstube einzurichten. Der Ofen wird mit Robinienholz aus Brandenburg befeuert.

Die Robinie, das erfahre ich viel später, aber ich denke, diese Info bringe ich mal schnell hier unter, brennt mit wenig Flamme und viel Glut. Das macht sie zu einem guten Backofenbrennholz. Andere Holzofenbäcker schwören auf Buche. Wegen des Aromas. Einhellig gewarnt wird hingegen vor Nadelhölzern. Kiefern etwa. Wegen der ätherischen Öle, die beim Verbrennen Gifte freisetzen. Und wegen des hohen Teergehalts. In Finnland soll es allerdings ein Mehl geben, dem gemahlene Kiefernrinde beigesetzt ist. Das »Pettuleipä« oder Rindenbrot soll antiseptische, antirheumatische, jedenfalls grundsätzlich heilende Wirkung haben.

Dies alles weiß ich natürlich noch nicht, als ich mich zum Interview mit Sarah Wiener aufmache (und vielleicht ist die Kiefernmehlstory auch nur Bäckerlatein).

Nun aber treffe ich endlich die Chefin in dem hellen Office, in dem alle ihre beruflichen Aktivitäten, also die Bäckerei, das Restaurant im Hamburger Bahnhof, die Cateringbetriebe sowie die »Sarah Wiener Stiftung – Für gesunde Kinder und was Vernünftiges zu essen«, koordiniert und geführt werden.

Freundlicher Empfang. Lässiges Ambiente.

Zunächst ist alles peacig. Ich erwähne den TV-Beitrag, und wir sprechen kurz über nordafrikanische Küche und über das Verhältnis von verschleierten zu Minirock tragenden Frauen in den Gassen von Marrakesch. Dann geht’s ans Gebackene.

Was ist Ihre Ur-Erinnerung an Brot, Frau Wiener?, frage ich, und sie erzählt mir von ihrer Kindheit in Wien. Ohne Vater und ohne Geld. Und meistens ohne Fleisch.

Ich komme aus einer armen Familie. Zum Essen gab es entweder Grießbrei oder Brot. Brot war bezahlbar. Brot war billig. Brot war verfügbar. Brot hat uns satt gemacht.

Vor allem aber: Brot hat immer geschmeckt. Wenn mich meine Mutter mit ein paar Schilling losgeschickt hat, um Brot zu kaufen, fing ich immer schon auf dem Heimweg an, mir etwas von der warmen Kruste abzubrechen. Es war einfach zu verführerisch. Diese Kruste abbrechen und reinbeißen gehört zu meinen schönsten Erinnerungen.

Brot ist klassenloser Luxus.

Ich frage nach ihrem Lieblingsbrot, damals und heute.

Ein dunkles Roggenbrot mit Butter und Schnittlauch. Oder mit Tomaten und Schafskäse.

Oder mit Radieschen. Es gibt nichts Herrlicheres.

Ich will von Sarah Wiener nun wissen, welche Broterinnerungen sie mit bestimmten Ereignissen in ihrer Biografie verbindet.

Ob Brot die Seele sättigt, wenn das Leben ein harter Kanten ist. Wenn Gewissheiten zerbröseln. Wenn dir jemand die Butter vom Glück nehmen will. 

Um ehrlich zu sein, denke ich dabei natürlich auch an Sarah Wieners Trennung von Peter Lohmeyer, dem Schauspieler mit dem Cowboy-Appeal, über die die Yellow Press gerade ausführlichst berichtet.

Vielleicht sind das im Moment die verkehrten Fragen.

Das Wasser in den Gläsern vor uns schweigt.

»Unser ganzes Glück hängt vom Brot ab«, beginnt Sarah Wiener nun einen grundsätzlichen Vortrag über Globalisierung, die Saatgutindustrie, Bauern, Böden, Mehl und Verantwortung. 

Die Wurzel der Fehlentwicklung ist unser landwirtschaftliches System.

Saatgut ist ein Kulturgut. Wir müssen es verteidigen. 

90 Prozent der industriell und konventionell bewirtschafteten Böden liegen im Koma oder sind halbtot. Dort gibt es keine Insekten mehr, kein Unkraut, alles weggespritzt.

Wir züchten Getreidemonster.

Unser Getreide wird mit Turbodünger behandelt, um mehr Ertrag abzuwerfen. Die Ähren werden immer größer. Sie tragen mehr Körner als früher. Dadurch werden sie auch schwerer. Schauen Sie sich bloß mal ein konventionelles Feld an. Die Halme können die Frucht kaum mehr tragen. Sie lassen die Köpfe hängen. Sie knicken ein. Also wird geerntet, bevor das Getreide wirklich erntereif ist.

Die Industrialisierung der Natur führt zur Auslöschung der Natur. Die Pflanzen werden für die Maschinen gezüchtet, nicht mehr für den Menschen.

In den Backmischungen des Großhandels ist immer das Gleiche: global gehandelter, mit Enzymen gedopter Weizen, dazu ein paar Sonnenblumenkerne aus China, ein bisschen Mohn, Sesam oder Chia-Samen. Damit es gesund und authentisch wirkt.

Backshop-Brote sind geistige und handwerkliche Verarmung.

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Früher gab es viel mehr regionale Getreidesorten, deshalb schmeckte das Brot überall anders. Heute sind fast überall standardisierte Backmischungen drin.

All dies scheint mir plausibel und wichtig, doch der Vortrag überrascht und überfordert mich ein bisschen. Die ganzen harten Fakten. Die eindringlichen Worte, mit denen Sarah Wiener die Frankensteinisierung der Landwirtschaft beschreibt und die Dominanz der drei großen Saatgutkonzerne Monsanto, DuPont und Syngenta.

Ich hatte eigentlich vor, über kuscheligere Themen mit ihr zu sprechen. Roggenromantik, Weizenweisheit. Backen und Liebe, Rezepte und Erinnerungen, Brot und Promis. Das war ursprünglich mein Konzept für dieses Interview. Nun wird mir klar, dass ich da ein bisschen naiv herangegangen bin. Gleichzeitig wird mir bewusst, wie viel Basiswissen mir fehlt. Und, dass ich seit Kinderzeiten in keiner Backstube und auf keinem Feld war. 

Vielleicht hat Sarah Wiener in diesem Moment hinter meine Stirn geblickt. Jedenfalls schießt sie nun den Killersatz raus.

Schön, dass Sie sich für Brot interessieren. Aber: Sie haben doch keine Ahnung!

Sie sagt es in einer Mischung aus Erstaunen und Ärger. Ich weiß nicht mehr genau, was die Frage war, und meine Tonbandaufzeichnung klärt es später auch nicht auf.

Streifschuss, leichte Verletzung. Aber: Sarah Wiener hat recht.

Stimmt genau, sage ich nach ein paar Schrecksekunden.

Ich bin ahnungslos. Aber ich bin neugierig.

»Dann machen Sie doch als Allererstes eine Nachtschicht in unserer Bäckerei mit«, schlägt sie, mittlerweile milder, vor. »Und danach reden wir weiter.«

Vom »Wiener Brot«-Laden in der wohlständigen Tucholskystraße von Berlin-Mitte bis in die Neuköllner Backstube in der Hermannstraße sind es etwa 10 Kilometer. Soziologisch trennen die beiden Adressen jedoch Welten. In der Tucholskystraße herrschen die Bobos der Bohème-Bourgeoisie. In der Hermannstraße flanieren die Babos der eingewanderten Großfamilien. Bärte tragen beide.

Ich werde also eine Nachtschicht in der Backstube in Neukölln erleben und dabei sein, wie aus Mehl Teig wird. Und, wie sich dann der Teig in der Robinienhitze in mein Lieblingsbrot verwandelt. 

Ein Ecklokal mit zugeklebten Fensterscheiben. Früher mal eine Kneipe, die nicht lief. Dann eine Filiale der Post, die sich nicht mehr rechnete. Später Leerstand. In der Nachbarschaft: Getränkeläden, Döner, Daddelhallen. Arbeitslosenquote circa 18 Prozent.

Temperaturtaumel, als ich die Bäckerei an einem kühlen Märzabend betrete. Drinnen herrschen dampfbadmäßige 40 Grad. 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Wie ein krasser Tag in Bangkok.

Es ist das Klima, das Brot liebt. Das Klima, in dem sich die Sauerteigbakterien am besten entfalten. Das Klima, in dem sich der geknetete und geformte Teig beim Garen am besten auf den Backvorgang vorbereitet.

Es ist das Klima, das die Bäcker aushalten müssen.

»Ich trinke sechs Liter Mineralwasser pro Schicht«, sagt mir Bäckermeister Kai Cüppers, der heute hier der Chef ist. Ein großer blonder, freundlicher Mann mit mehligem Händedruck. 

Wir sind gleich beim Du. Bei 40 Grad schmilzt das Sie zum Du.

Die Nachtschicht dauert von 19 Uhr bis kurz nach 1 Uhr morgens. Etwa 500 Laibe Brot und noch mal so viel Kleingebäck werden in den Morgenstunden verpackt. Die frische Ware geht dann ins »Wiener Brot«-Geschäft, in die Berliner Filialen von Bio Company und der Bio-Kette LPG. Und morgens ab 7 Uhr können die Neuköllner Nachbarn direkt in der Backstube kaufen.

Kai ordnet Sonntagsbrote im Garregal, während sein Geselle Feingebäck formt und mit Salz, Kümmel oder Mohn bestreut.

Beide haben gut zu tun, doch obwohl in der Backstube unter tropischen Bedingungen körperlich hart gearbeitet wird, riecht es nicht nach Mensch und Schweiß. Es riecht nach Mehl und Gewürzen. Es riecht schon am Abend nach dem Frühstück. Es riecht nach Ruhe; kein lautes Wort, entspannte Freundlichkeit.

Die Bäcker leisten Schwerarbeit in dieser aufgeheizten Backstube. Kräftezehrende, den Körper vom Rücken bis zur mehlstaubbedrängten Lunge fordernde Schwerarbeit. Und dennoch erinnern mich Kai und sein Kollege, wie sie da konzentriert mit dem Teig hantieren, an zwei verschworene Jungs, die im Sandkasten ein ernsthaftes Sandburgprojekt verfolgen. Das Schwere wird leichter, wenn es Sinn macht, denke ich.

Warum bist du Bäcker geworden?, frage ich Kai.

Die Antwort ist erst Lachen, dann Schweigen und schließlich ein schöner Satz.

Weil mich backen satt macht.

Wie meinst du das?

Mein Beruf ernährt mich materiell und ideell. Es ist die höchste Form der Anerkennung, wenn dein Tagwerk anderen Menschen schmeckt.

Als Bäcker bin ich körperlich und geistig gefordert.

Ich bin Handarbeiter und Kopfarbeiter. Ich bin Mathematiker, Chemiker, Bildhauer. Keiner kann mir am Ende des Tages nehmen, was ich geschaffen habe. Aber jeder kann es essen.

Ein Traumberuf?, frage ich mit einer Prise Zweifel.

Leider nein. Der Markt ist bescheuert. Du findest ja kaum mehr Betriebe, in denen du als Bäcker mit allen deinen Fähigkeiten gefragt bist. Viele Kollegen rühren nur mehr fertige Backmischungen an und schieben sie in den Ofen. Das ist nicht mehr das, was ich unter Backen verstehe. Und die wenigen Bäckereien, die wirklich noch handwerklich backen, können es sich oft nicht mehr leisten, einen ausgebildeten Meister anzustellen.

Kai, der, bevor er zu Sarah Wiener stieß, eine eigene Bäckerei in Neukölln betrieb, aber nicht darüber sprechen möchte, warum er sie schließen musste, schimpft über das Drama der Branche.

Die Großbäckereien überschwemmen mit Fertigprodukten den Markt und verderben die Preise. Die Kleinen ziehen nach und verlernen ihr Handwerk.

Aus Bäckern werden Knopfdrücker und Maschinenbeobachter.

Mittlerweile hat mich die Hitze im Raum in einen willenlosen Waran verwandelt. Sie entströmt den beiden, jeweils zehn Tonnen schweren Backöfen. Wie Altare im Dom beherrschen die Öfen die Backstube.

Bis zu 300 Grad heiß wird es in ihrem Inneren, niemals kühlen sie unter 50 Grad ab.

Neben dem Mehl, dem Wasser, dem Salz sowie dem dreistufig geführten Sauerteig, ist die Feuerkraft der Öfen entscheidend dafür, dass das Brot von Sarah Wiener so schmeckt und so aussieht, wie ich es mag.

Roggen, Dinkel und Weizen kommen von den Bauckhöfen in der Lüneburger Heide. Dort hat der von der anthroposophischen Philosophie Rudolf Steiners begeisterte Landwirt Eduard Bauck bereits im Jahr 1932 auf biologisch-dynamische Produktion umgestellt.

Das Salz liefert die Saline Luisenhall in Göttingen, wo die aus einem unterirdischen Salzlager geförderte Natursole noch wie im Mittelalter in offenen Pfannen kristallisiert wird.

Die Backöfen sind das Zentrum der Kraft. Das Heiligtum der Hitze. Alles in der Backstube bewegt sich auf die beiden Riesen aus Eisen und Stein zu. Diese Öfen entwarf Helmut Gragger. Der Mann ist selbst eine Spezialkonstruktion. Ein Rock ’n’ Roll-Typ. Kräftig, Bart, zupackend. War mal Produktentwickler bei Nestlé. Also in Diensten der anderen Seite, des großen Leviathans, des welterobernden Nahrungsmittelmultis. Dort schulte er die Mitarbeiter von großen Bäckereien im Umgang mit den Nestlé-Backmischungen, bis er die Fronten wechselte und in Linz drei Bio-Bäckereien eröffnete.

Ein Tüftler, ein Besessener, einer, der mit dem Feuer zaubert.

Gragger entwickelte mit Sarah Wiener die Brot-Rezepte. Monatelang pendelte er mit dem Motorrad die 730 Kilometer zwischen Linz und Berlin-Neukölln, bis aus dem Flammenkäfig perfekte Brote kamen.

»Der Ofen wird so heiß, damit sich die Kruste sofort bildet und die Feuchtigkeit im Teig eingeschlossen wird«, erklärt Bäckermeister Cüppers. Das macht die Kruste knuspriger, das Brot saftiger, und es bleibt länger frisch. Es hält sich – ohne Konservierungsstoffe! – bis zu sieben Tage.

Ich habe Mehl, Wasser, Salz, Sauerteig und den Ofen als Faktoren für das Gelingen des Backwerks aufgezählt, aber in der Hektik die entscheidende sechste Zutat vergessen: die Zeit.

Brot braucht Zeit, um zu gelingen. Langsamkeit ist Teil der Rezeptur.

Der dreistufige Roggen-Sauerteig, der anstelle von Hefe für die Fermentierung und den besonderen Geschmack der Sarah-Wiener-Brote sorgt, wird tagelang »gefüttert«, also mit Mehl und Wasser vermengt, bevor er zum Produktionsteig wird.

Die dann aus diesem Produktionsteig gekneteten und bedachtsam geformten Brote dürfen noch mal stundenlang ruhen, reifen und ihre Aromen entfalten, bevor sie in den Backofen geschoben werden. Das Feingebäck chillt einstweilen im Kühlraum. Und zwischen Backen und Verpacken bleibt auch noch mal Zeit.

Das ginge alles auch zack, zack.

Wenn man den Teig mit Enzymen und fertigen Backmischungen tunt. Wenn Industriehefe den Sauerteig ersetzt. Wenn man den Backvorgang künstlich beschleunigt. Wenn Produktivität zum Maßstab der Professionalität wird. Wenn Habgier das Handwerk ersetzt.

Aber: Die Back-Unternehmung von Sarah Wiener setzt auf Zeit. Auch nach Jahren wirft sie noch keinen nennenswerten Gewinn ab. Jedenfalls keinen, den man in Geld zählen kann.

Qualität bringt am Ende mehr als schneller Profit. Alles braucht Zeit, um zu reifen. Das Brot. Das Geschäft. Der Charakter.

So hat mir Sarah Wiener ihre Geschäftsphilosophie erklärt. Hier in der Backstube sehe ich sie bestätigt. Zeit ist der Rohstoff des Lebens. Sie kann uns ernähren und sie kann uns auffressen.

Schön, dass Sie sich für Brot interessieren, aber Sie haben ja keine Ahnung!

Doch: Ich habe ein erstes Bisschen Ahnung gewonnen. Von der Hitze des Backofens. Von der Herkunft des Mehls. Von den Sorgen der Bäcker. Vom Wert der Zeit.

Dafür: Danke, Sarah! Danke, Kai!