Falkner, Gerhard Romeo oder Julia

PIPER

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ISBN 978-3-8270-7943-5

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INNSBRUCK

1

Am 16. September 2005 ereignete sich in einem Hotel in Tirol nahe Innsbruck ein ungewöhnlich seltsamer Vorfall. Die Umstände seines Zustandekommens wie auch die Prozeduren seines Fortgangs schienen so an den Haaren herbeigezogen, dass die beiden Polizisten, die schließlich gerufen wurden, um einem möglichen Versicherungsfall vorzuarbeiten, aus ihrem Misstrauen hinsichtlich meiner Aussagen kein Hehl machten.

Einer der beiden, der auf der Couch in meinem Hotelzimmer Platz genommen hatte, legte während meiner Schilderung des Vorfalls die Beine auf den Tisch und lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, so weit zurück, dass es den Anschein hatte, er würde sich mit dem ganzen Körper meiner Aussage entgegenstemmen. Der Hoteldirektor, ein sich sehr habsburgisch gebender Mensch, beinah wie ein Schwarzenberg, nur ohne den dazugehörigen Krieg, insistierte auf seiner Auffassung, dass derlei Dinge in seinem Hotel nicht vorkommen würden. Als ich ihm entgegenhielt, dass bestimmte Dinge trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit sich ständig und oft sogar im allergrößten Maßstab ereigneten, schließlich wäre ja jede Katastrophe genau das, was ein Hoteldirektor in seinem Hotel nie erwarten würde, und gerade die wären auf der ganzen Welt an der Tagesordnung, sagte er: »Jetzt reden Sie sogar schon von einer Katastrophe!«

»Nein«, sagte ich, »es ist natürlich eher eine Bagatelle. Schließlich ist ja nichts weggekommen. Jedenfalls nichts von Wert. Meine alte Nikon F2 steht immer noch auf dem Fensterbrett, mein gerade erst angeschafftes iBook wurde überhaupt nicht angerührt. Sogar meine Brieftasche mit allen Karten und Papieren liegt noch ganz oben im offenen Koffer. Weg sind eben nur alle meine Schlüssel.«

»Haben Sie denn so viele?«, fragte der ausgestreckte Polizist.

»Es war ein Schlüsselbund mit knapp dreißig Schlüsseln«, erwiderte ich.

»Sie sind wohl ein Schlossbesitzer?«

»Ich besitze zahlreiche Schlösser«, sagte ich und beendete mit meiner Antwort seine sarkastische Absicht wie per Knopfdruck. »Außerdem habe ich keine langen schwarzen Haare!«

Der Polizist und der Hoteldirektor starrten mich an.

2

Die Böden im Donau-Ries gelten als schwer und tiefgründig. Stellenweise sind sie fast schwarz und strotzen vor Fruchtbarkeit. Besonders die stickstoffreichen Braunerden verschafften dieser Gegend seit Jahrhunderten den Ruf einer deutschen Kornkammer. Die kreisrunde Beschaffenheit des Nördlinger Ries, durch die das Flüsschen Wörnitz sich über die Albhochfläche des Fränkischen Juras bis hinunter nach Donauwörth durchkämpft, um sich dort den Karawanen des Wassers nach Wien und Budapest anzuschließen, ist vor ungefähr vierzehn Millionen Jahren durch den Einschlag eines Meteoriten entstanden. Bei diesem Meteoriten handelte es sich allerdings, genauer gesagt, um einen Asteroiden. Nach dem Kollaps des Primärkraters und der Ablagerung der Auswurfmasse innerhalb von nur wenigen Minuten hatte sich eine kilometerweite Senke gebildet, die sich seither in einem ebenfalls eingedellten und gewöhnlich aschfahlen Himmel widerspiegelt. Außer an den höchst seltenen ganz klaren Tagen des Jahres ist der Himmel hier schlaff und eintönig. Manchmal scheint es, als hätte die mit Überschallgeschwindigkeit im Boden sich ausbreitende Stoßwelle, die das darunter liegende Gestein einschmolz und Hochdruckmineralien wie Coesit und sogar Diamant entstehen ließ, den Himmel mit ihrem Sog in eine korrespondierende Form gezogen und sein typisches Durchhängen verursacht. Am äußeren Kraterrand, vor den ehemaligen Ufern eines zwei Millionen Jahre lang existierenden Salzsees, der kaum differenzierteres Leben als das von Salzwasserschnecken und Armleuchteralgen hervorbrachte, lagerten sich Ölschiefer und Tone ab, die uns heute, in geeigneten Gegenden, als die schwer zu bearbeitenden Schicht- und Schlufflehme begegnen. In einer solchen Gegend lag das Haus, an dem ich arbeitete.

Der kleine Ort, der außer ein paar bedrückenden, der Reihe nach aufgestellten Einfamilienhäusern mit sudetendeutsch gezüchtigten Vorgärten durch das blanke Nichts sich auszeichnet, liegt etwa in der Mitte zwischen dem fränkischen Nördlingen und dem schon etwas geistreicheren Donauwörth. Von der alten Reichsstadt, der bayerisch-schwäbischen Donauperle, wie sich Letztere nennt, führen die prunkvollen Fäden des Schwäbischen und des Bayerischen Barock mit seinen modifizierten Kuppeln, welschen Turmhauben und seiner berühmten, insbesondere in der kirchlichen Architektur verwirklichten, dramatischen Steigerung zur Mitte hin bis hinunter nach Salzburg, Passau und Wien. Die Absicht, diese dramatische Steigerung zur Mitte hin auch an mir selbst zu erproben, hatte mich zu dem Entschluss verleitet, mich für ein Jahr von meinem sogenannten normalen Leben zu verabschieden und mir meinen Körper mittels eines gründlichen Work-outs neu zu verdeutlichen. Es blieb einer jener sehnsüchtigen wie so oft aber vergeblichen Versuche, einen rastlos machenden Verstand mithilfe eines durch Arbeit und Bewegung beglückten Körpers überflügeln zu wollen.

Rund um das besagte Haus, das ganz am Rande dieses Ortes ohne Eigenschaften sich befindet, führte ein circa ein Meter achtzig tiefer Graben, gerade breit genug, dass man bequem darin stehen konnte. Die zwei zurückliegenden Tage und die vergangene Nacht hatte es immer wieder geregnet, so dass der Graben unter Wasser stand und der schwere und zähe Lehm sein Gewicht mit dem Gewicht des aufgesogenen Wassers, wie es schien, verdoppelt hatte. In diesem Drecksloch, um das Wort endlich auszusprechen, stand ich und sah mit den in Strömen herabfließenden braunen Rinnsalen aus wie der gegeißelte Christus, der Ecce homo des Lovis Corinth. Meine Füße ließen sich wegen der Lehmgewichte, die sich an die Arbeitsschuhe gehängt hatten, fast nicht mehr vom Boden bewegen.

Bereits nach den ersten Stunden dieses vernebelten Morgens hatte ich mich halb tot geschaufelt. Die Portionen der Schicht- und Schlufflehme, die ich über den auch noch mal ziemlich hohen Aushub entlang des Grabens zu werfen hatte, damit sie nicht auf seinen nassglatten Innenseiten in den Graben zurückschlitterten, waren bleischwer. Manche der zähen Schollen besaßen die Tücke, fest mit dem Schaufelblatt zu verkleben und nach einem eben aus diesem Grunde misslungenen Wurf auf der Schaufel in den Graben zurückzukehren, wo der Schwung ihres Gewichts abgefangen werden musste, was unfreiwillige Verbeugungen verursachte und die Anstrengung verdoppelte. Trotzdem hatte das milde Wasser des Septemberregens im Verein mit dieser saftigen Erde, die in pastosen Schlieren auf der nackten Haut der Arme und Beine kleben blieb und nach dem Trocknen im Haus wie eine dünne Gipsschicht wieder abplatzte, eine Euphorie in mir ausgelöst. Diese Euphorie wurde noch verstärkt durch die Erfahrung, dass jede eigene Bewegung sich in einer sichtbaren und direkten Wirkung widerspiegelte, was in meinem bisherigen Leben durchaus nichts Selbstverständliches war.

Gegen Mittag, als der Nieselregen in den dichten Nestern der Wolken versickert war und einen fahlen, tief herunterhängenden Himmel zurückgelassen hatte, verließ ich das Erdloch. Ich ging ins Haus, das fast durchwegs aus leergeräumten, an den Rand des Horror Vacui getriebenen Zimmern bestand, mit Ausnahme des ehemaligen Wohnzimmers, in dem, außer einer spartanischen Matratze mit einer filzgrauen Sanitätsdecke darauf, ein Tisch, ein Stuhl, ein schockierend verkrusteter Elektrokocher mit zwei Kochplatten und eine Mini-Anlage standen, schob das Roseland-Konzert von Portishead ein, drehte einen Joint und setzte mich mit dem Karl-May-Band Von Bagdad nach Stambul, den ich zusammen mit einigen anderen Fehsenfeld-Ausgaben in einer Kiste auf dem Dachboden gefunden hatte, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, auf den Boden.

Etwa zwanzig Minuten las ich ungeachtet der immer wieder leise anklopfenden Mahnungen meines schlechten Gewissens, das mich an meinen Vorsatz erinnerte, mich in jeder freien Minute mit der Politik des Aristoteles zu beschäftigen, wofür mir sowohl der an Ablenkung nicht nur arme, sondern geradezu mittellose Ort als auch der Zustand der körperlichen Zerdroschenheit und seine lustvolle Linderung durch gerade diese Lektüre als besonders geeignet erschienen. Grund für diese Selbstverpflichtung waren eine pessimistische Studie über den Rückstand des Zoon politikon in der medial destabilisierten extremen Demokratie und meine Verfallenheit an die aristotelischen Exzesse der Schlussfolgerung: »Wo immer Eines aus Mehreren zusammengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht, da zeigt sich ein Herrschendes und ein Beherrschtes« und dergleichen. Immerhin brachte ich es in diesem Konflikt zwischen Aristoteles und Karl May während meiner Zeit im Ort ohne Eigenschaften auf zwölf Bände K. M., darunter der gesamte Orientzyklus mit den Bildern von Peter Schnorr, die quasi jeweils den literarischen Nachtisch zu meinem um Aristoteles kreisenden Essay für Lettre International bildeten, wenn ich gerade nicht in der Erde stand und dampfte.

Nach diesen zwanzig Minuten Joint und Orient duschte ich lange und mit gierig in die Höhe greifenden Armen und genoss es, als ich mich abtrocknete, jeden Muskel meines Körpers zu spüren. Dann packte ich meine Sachen, kramte meine Bücher zusammen und fuhr nach Tirol.

3

Jana Blanchefleur ist im Grunde nicht die Person, um die es in dieser Geschichte geht. Ihre Familie kommt, trotz dieses umwerfenden Namens, schlicht und einfach aus Mecklenburg-Vorpommern. Genauer gesagt, aus der Stadt Neubrandenburg. Die Herkunft des Namens verliert sich, ebenso wie die berühmte Ansicht dieser Stadt von Caspar David Friedrich, in rosigem Nebel. Möglicherweise hat ein versprengter Offizier Napoleons für die Verbreitung dieses Namens gesorgt, der für die Zeit vor 1808 in dieser Gegend nicht nachweisbar ist. Nach der Wende und dem Tod des Vaters, der vom Blitz erschlagen wurde, übersiedelte die Mutter mit ihrer siebenjährigen Tochter nach Oranienburg und eröffnete eine Zahnarztpraxis, wo sie in der ersten Zeit mehr Lebensabschnittspartner behandelte als zahlende Patienten. Wie so viele ihrer wiedervereinigten Genossinnen geriet sie nach dem Ende der Ostzeiten in ein Beate-Uhse-Fieber und entdeckte zu ihrer Überraschung den Begriff der Naturgeilheit, der ihr zwar nie über die Lippen kam, sich fortan jedoch bei jedem neu in ihr Leben tretenden Mann überwältigend unter Beweis stellte.

Jana war die erste Person, die ich kennenlernte, die den Verlust eines nahestehenden Menschen durch Blitzschlag zu beklagen hatte. Ihr Vater hatte, zusammen mit zwei Freunden, vor einem heftigen Gewitter in der dramatischen Weite der märkischen Landschaft unter einem mit einem Bagger beladenen Baufahrzeug Schutz gesucht. Die drei Männer wurden, da sie direkten Kontakt mit dem Fahrzeug hatten, tödlich verletzt, als der Blitz in dessen Eisenmasse einschlug. Einen besseren Magneten für diesen geladenen Himmel hätten sie gar nicht finden können. Diese Geschichte beschäftigte mich eine Weile so sehr, dass ich mir wenige Tage später das Buch des französischen Physikers Dominique François Jean Arago Über Gewitter besorgte.

Jana Blanchefleur war, als ich sie kennenlernte, sündhaft jung. Sie muss, nebenbei bemerkt, auch heute noch sehr jung sein, denn die nicht eben gelinde Naturkatastrophe, als die sie über mein Leben hereinbrach, liegt gerade mal ein knappes Jahr vor den hier zu erzählenden Ereignissen, und die Blitze, mit denen sie die Amygdalakerne in meinem Gehirn zum Schmelzen brachte, waren mindestens so unheimlich wie die Gewitterblitze über der Basilika Mariatrost am Purberg in Graz, die ich viele Jahre zuvor in einer aufwühlenden Augustnacht auf einer Reise von Kapfenberg nach Maribor aus dem Auto heraus fotografiert hatte.

Blanchefleur bedeutet weiße Blume, wie wahrscheinlich jeder weiß. Der Name ist ziemlich prominent unter den klassischen Liebespaaren. Hero und Leander, Tristan und Isolde, Troilus und Cressida, Floris und Blanchefleur. Ich heiße allerdings nicht Floris, sondern einfach nur Kurt. Zu einem berühmten Liebespaar haben wir es auch nicht gerade gebracht, aber für die Zeit des kurzen Unglücks zu einem ziemlich auffälligen. Die Leute auf der Straße blieben mit ihren Blicken an uns hängen, als ob wir eine Wolke von verpufftem Sex hinter uns herzögen. Einen Nebel von verdunsteten und immer noch weiter verdunstenden Östrogenen und den eigenen Pendants. Und irgendwie ergab das auch Sinn. Jedes Mal, wenn ich meine Mails öffnete und j.blanchefleur@gmail.com im Posteingang las, traf mich allein schon dieser Code wie ein Hormonstoß.

Anfangs, wenn sie mich in meinem Versteck im letzten Hinterhof der Prenzlauer Allee besuchte, schauten wir alte französische Filme wie Jules et Jim oder À bout de souffle. Jean-Paul Belmondo, Oskar Werner oder die coolen Männer der Nouvelle Vague wurden meine erotischen Alter Egos, die sie mit waidwunden Augen durch den Rauch ihrer Zigarette inhalierte und als kleine, ausgepumpte Wölkchen wieder ausstieß. Um frisch und aktuell zu bleiben, gingen wir anschließend meist auf YouTube, suchten die neuesten Musikclips und hielten uns schließlich an meinem langen Schreibtisch fest wie an einem offenen Autofenster, dessen Fahrzeug bei hoher Geschwindigkeit in die engen Kurven einer Gebirgspassstraße geht. Darüber, wie man sich an einem Autofenster in einer solchen Situation festhält, während alles Bewegliche und nicht Fixierte der Fliehkraft gehorcht, haben wir viel gelacht. Solchermaßen spielten wir uns aus dem Finsterherzdickicht in die Kathedralen der ewigen Nächte.

Eines Abends sahen wir nach einigen ernsteren Ermattungsfilmen Performance mit Anita Pallenberg und tanzten anschließend wie Mick Jagger und David Bowie in Dancing in the Street durch die krachenden Straßen meiner Wohnung, uns so ziemlich jeden Fummel um den Kopf und die Hüften wickelnd, der am Wegesrand zu finden war, egal ob Pelze, Decken, Tücher oder Zeitungen. Einen unbeschreiblichen Abend verdankten wir Lutz Mommartz’ Weg zum Nachbarn mit Renate Meves. Diese Filme erregten sie. Sie machten sie, wie sie sich ausdrückte, immer ganz kribbelig. Im Anschluss wollte sie dann zumeist über Mimesis, Emergenz und dergleichen reden, da sie ja schließlich, wie sie insistierte, Kulturwissenschaft studierte. Für mich schon damals das Junk-Studium schlechthin. Immerhin taten sich Abgründe des Pornografischen auf im Umgang mit solchen Begriffen. Irgendwann kam dann unweigerlich der in völliger Stummheit ausgeführte Moment, in dem sie sich ihrer Bluse oder ihres Pullovers entledigte, höchstens zwischen den Lippen ein bisschen Zigarettenrauch dabei ausblasend, und dann saß sie schimmernd am anderen Ende des Tisches, denn ihre Haut war fast so weiß, wie ihr Haar schwarz war, und wartete wortlos auf die Wirkung ihrer einfachen, aber aufputschenden Brüste, deren Knospen ihrer Jugend wegen die Farbe von Himbeeren hatten. Aus diesen scheuen Farben jedoch auf Unschuld zu schließen, wäre völlig abwegig gewesen.

Jana Blanchefleur verschwand aus meinem Leben ebenso plötzlich, wie sie in dieses getreten war. Alles, was von ihr blieb, waren Haare. Haare, die so schwarz waren, als wären sie mit der gleichen Wimperntusche gefärbt gewesen, mit deren Hilfe sie im Laufe unseres kurzen, aber beherzten Techtelmechtels alle meine Kissenbezüge mit den abwechslungsreichen Mustern ihrer Wimpernstempel bedruckt hatte, denn Zeit zum Abschminken gab es vor dem letzten Ins-Bett-Fallen so gut wie nie. Noch nach Monaten fand ich sie, diese Haare, an Stellen, an denen selbst ein Akrobat es nicht geschafft hätte, sie zu hinterlassen. Es schien beinahe so, als ob sie beim Sex durch die Luft geflogen oder durch Wände geschritten und hinter Schränke getreten wäre. Nur, um Haare zu lassen.

4

Obwohl ich Kurt heiße, bin ich Schriftsteller. Allerdings bin ich weit davon entfernt, mir auf diese Tatsache etwas einzubilden. Der Rausch, sich nach jahrelangen Tagen und Nächten endlich einem Text gegenüberzusehen, den es vor dem Zurückstellen erquicklicherer und einträglicherer Beschäftigungen nicht gegeben hatte, dauerte bei mir nur kurz. Ein paar selig vernebelte Jahre um die zwanzig. Dann war er ausgestanden. Danach ernüchterte sich das Schreiben zu einer Art von gehobenem Selbstmord. In der Literatur, was nicht in jedem Falle mit dem Schreiben von Büchern zu verwechseln ist, hat man lediglich die Gewissheit, so lange am Leben zu sein, wie man es bis zum Ende des angefangenen Satzes schafft. Bereits der folgende kann, falls er abbricht, das Ende dieser Gewissheit bedeutet haben. Also den Tod. Steht das Ende des allerletzten Satzes aber noch aus, so zieht das echte Leben ungerührt und fern der eigenen Teilnahme seine Bahnen. Ein Frühling nach dem anderen durchrauscht die Welt mit seinen Parfums und seinen Narkosemitteln, der Flieder und die Aprikosen kommen und gehen, nur man selbst wird von den ewig sich selbst weitererzählenden Worten aufs Papier oder auf den Bildschirm geleimt und befreit sich aus dieser Sprachgefangenschaft nur durch die kurzen Ablenkungen von Schlaf oder Notdurft. Unter solchen Umständen, dachte ich manchmal, würde es oft sogar mehr Sinn ergeben, in einem Riesengewitter in der Mark Brandenburg unter einem Bagger Schutz zu suchen, der mit seinen vielen Tonnen Eisen den Himmel um den nächsten Blitz anbettelt.

Dass ich Schriftsteller bin, erwähne ich eigentlich nur, damit man diese Geschichte versteht, die in Innsbruck ihren seltsamen Anfang nahm, denn ich hätte sonst keinen Grund gehabt, in diesem Hotel abzusteigen, und auch schlecht einen erfinden können, der so plausibel zu allen noch folgenden Umständen, Verwicklungen und Tragödien gepasst hätte. Ich war eingeladen auf einen Kongress, zu dem eine ganze Reihe literarischer Berühmtheiten erwartet wurden, bis hin zum letzten japanischen Nobelpreisträger, der mir vor allem wegen seiner eindrücklich nichtssagenden Sprache im Gedächtnis geblieben ist. Einer Sprache wie Pappmaché. Als er später aus seinem Buch las, wehten die Sätze auf der Bühne, oder von der Bühne herab, wie eine leere Fahne, auf der nichts drauf war, nicht einmal ein kleiner roter Kreis, den man mit Nippon hätte in Verbindung bringen können. Kein Knoten wurde geschürzt, und nichts folgte den Worten als die exhalierten Auspuffgase ihrer schieren sprachmotorischen Aneinanderreihung.

Tschechow, in meinen Augen ein ganz anderes Kaliber, soll einmal gesagt haben, eine Pistole, die im ersten Akt auftaucht, muss spätestens im dritten Akt abgefeuert werden.

Innsbruck war, wie sich zeigen sollte, der erste Akt. Der Schwung des Vorfalls, den die Polizisten nur widerwillig zur Kenntnis nahmen, trug so weit, als hätte er in Innsbruck auf der berühmten Olympiaschanze Anlauf genommen, um Moskau zu überfliegen und erst in Madrid zu Boden zu gehen. Und zwar, was die virtuelle Flugbegleiterin angeht, tot. Es handelte sich, jedenfalls anfangs, auch nicht um eine Pistole, die auftauchte, sondern um ein paar lange schwarze Haare. Sie klebten in den Resten von eingetrocknetem Seifenschaum, zwei Handbreit unter dem oberen Rand der Badewanne, und man kann nicht behaupten, sie wären später, im dritten Akt, nicht abgefeuert worden.

Es hätten zu anderen Zeiten durchaus die Haare Jana Blanchefleurs sein und mit Leichtigkeit hätte ich mir in einem solchen Fall auch jede Menge Filme vorstellen können, die zu ihrem Verlust und einer solchen Anordnung im Seifenschaum hätten führen können. Es waren aber nicht die Haare von Jana Blanchefleur, denn die hatte sich, aktuelleren Filmen zuliebe, nicht nur von mir, sondern auch von ihren pechschwarzen Haaren getrennt und ging, wie mir zugetragen wurde, als Skinhead in einer Gang russischer Kommilitonen auf, in der Mimesis oder semiotisches Dreieck kein Thema mehr waren und wo Arthaus-Filme nicht mehr vorkamen. Jedenfalls hatte die Spur der Haare von Jana Blanchefleur, als sie noch lang und schwarz waren und es bis in die Spinnweben unter meiner fast vier Meter hohen Stuckdecke geschafft hatten, immer in eine indiskrete und ausschweifende Richtung gedeutet. Wohin die Spur dieser Haare führen mochte, davon hatte ich nicht die leiseste Ahnung. Jedenfalls noch nicht.

5

Nachdem ich in meinem Haus in der Nähe von Nürnberg frische Wäsche, mein grau-grünes Harris-Tweed-Sakko aus dem Vorbesitz meines Schwagers, meine Nikon F2, die, als ich sie kaufte, als Profikamera für den »harten Einsatz« galt, sowie ein paar Bücher und persönliche Unterlagen zusammengepackt und dafür einen Umweg von mindestens vier Stunden in Kauf genommen hatte, der unnötig gewesen wäre, wenn ich mich auf das beschränkt hätte, was ich auf der klandestinen Baustelle schon eine Woche zuvor für die Reise bereitgelegt hatte, fuhr ich los. Obwohl die Strecke über die A9 und dann über Rosenheim vermutlich der schnellere Weg gewesen wäre, fuhr ich über Donauwörth zurück nach Augsburg und nahm von dort die Bundesstraße 17 bis Schongau, wo ich schließlich ins Ammertal Richtung Garmisch-Partenkirchen abbog. Ich hatte Lust auf Landschaft, und die Landschaft hatte, wie es aussah, Lust auf mich. Schon kurz nachdem ich das Donau-Ries mit seinem durchhängenden Himmel und die Frankenalb mit ihrer dumpfen Solnhofener Schwere Richtung Süden verlassen hatte, war an allen Ecken und Enden die Sonne ausgebrochen. Man sah sie noch nicht, aber sie feuerte, wie es schien, bereits überall aus dem Verborgenen wie ein Heckenschütze. Nun, als ich ins Ammertal einbog, befreite sich der Himmel vollständig von allen Wolken, und eine dicke Septembersonne schwebte gleißend über der Idylle und berührte mit einem Hauch von Röte am westlichen Rand des Wettersteins den Gipfel der Zugspitze, während weiter im Süden, ihre gewaltige Wand zwischen Bayern und Tirol aufrichtend, die von West nach Ost streichenden Ketten des Karwendelgebirges hervortraten. Berge, die wegen ihres Kalk- und Dolomitgesteins ihr mildes, kreidiges Leuchten sogar in klaren Nächten nicht verlieren.

Vor zwei Jahren, als auf Schloss Elmau wegen einer defekten Heizdecke in Ducci Mesircas Zimmer der große Brand ausbrach, der fast das gesamte Dachgeschoss des Hotels zerstörte und jene ganz besonderen und ehrwürdigen Möbel vernichtete, die wie verdiente Persönlichkeiten überall auf den Zimmern und in den Gängen herumgestanden hatten, hatte sich der Wettersteinkamm mit seinem schmelzenden Licht, auf den ich nachts immer wieder von meinem Zimmerfenster aus starrte, als der glückliche Zufall mich einmal in dieses Hotel eingeladen hatte, in mein Gedächtnis gebrannt.

Die Straße führte den Drahnbach entlang, der mir mit seinem sprudelnd weißen Gebirgswasser so hastig entgegenkam, als wäre weiter oben eine Katastrophe im Gange.

Ich hörte das panische Zischen durch die offenen Autofenster, und die Gipfel ringsum drehten sich in den Kurven neugierig hin und her wie alte Dampfloks mit Frontschornsteinen auf einer Drehscheibe.

Oben, in Leithen, parkte ich meinen Wagen, einen metallicgrünen Mercedes-Benz 230 E, Baujahr 1986, um mir die Pestsäule anzuschauen, die der ehrsame und gestrenge Nikolaus Haller aus Innsbruck aufstellen ließ, und mir anschließend auf den umliegenden Wiesen eine Weile die Beine zu vertreten. Völlig zu Recht heißt die Säule bei den Einheimischen »der dicke Turm« und unterscheidet sich von den meist schlanken Mariensäulen, die sich von Wien aus über das gesamte k. u. k.-Reich und den anstoßenden katholischen Raum hier unten verbreiteten, eben dadurch.

Damals, auf dem Weg nach Maribor, als ich dieses Gewitter über der Basilika Mariatrost in Graz aus dem Autofenster heraus fotografierte, hatte ich, so erinnere ich mich, in Kapfenberg haltgemacht, um mir die dortige Pestsäule anzuschauen. Die hatte ich damals ebenfalls fotografiert. Es war die gleiche Nikon F2, die ich jetzt verwendete – beide Male zugegebenermaßen nicht gerade im harten Einsatz. Undeutlich drängte sich mir eine Frau ins Gedächtnis, die sich lachend und pantomimisch in den Autositz zurückstemmte, um mir aus dem Bild zu gehen, während ich fotografierte. Diese Erinnerung flackerte wie ein Blitz, der schauerlich über den dunklen Weiten der Vergessenheit leuchtet, ohne die Person zu zeigen, die diese Vergessenheit beherbergt oder verbirgt. Das Titanrollo des Kameraverschlusses flüsterte, und man hörte das edel gedämpfte Klappen des Spiegels, als die Erinnerung auch schon wieder verblasste.

Ich schlug den Bergweg Richtung Brunstkopf ein. Er thronte mit seinem Gipfel siebenhundert Meter über dem Ort Leithen und wirkte so plump, als hätte er zur Last seiner Steinmassen auch noch die seines Namens zu tragen. Beim Anstieg merkte ich, dass mir die Anstrengung vom Vormittag noch in den Knochen steckte. Meine Waden waren wie Blei, und auf meinem Rücken spannten die Muskeln, als wäre er mit Stricken zusammengeschnürt. Trotzdem durchströmte mich eine Begeisterung, für die es keinen besonderen Anlass gab, außer dass alles in Bewegung war, die Sonne schien und nicht ein einziger Gedanke es schaffte, meine Aufmerksamkeit ganz in sich zu versenken. Es war, als würden sich die Dinge nicht durch ihre Namen und die üblichen damit verbundenen Merkwürdigkeiten Aufmerksamkeit verschaffen, sondern als würden sie in meinen Augen ein Bad nehmen. Ohne mehr Wirbel zu verursachen als ein gelegentliches, leichtes Plätschern.

Als ich Innsbruck und schließlich auch das Hotel erreichte, war es früher Abend. Die Leute auf den Straßen kamen mir alle zu klein vor. Durchs Autofenster sahen sie schmal und winzig aus, wie verkleidete Streichhölzer. Schließlich war ich erstaunt, ein großes, modern gebautes Viersternehotel vorzufinden, das den alpinen Stil geschickt umging, ohne allein deshalb schon ein Fehlschlag zu sein. Es öffnete sich mit seiner halbrunden Front auf eine großzügige Auffahrt, in der ein grün livrierter Hoteldiener stand und die Wagenschläge aufriss. Wagenschläge sagt man zwar heute nicht mehr, aber so, wie der livrierte Mensch sie aufriss, waren es welche. In der Mitte zwischen mindestens sechs Glastüren gab es eine Drehtür, die sich wie eine durchsichtige Revolvertrommel drehte und Leute auswarf wie verschossene Munition. Hauseinwärts ebenso wie hausauswärts. Alle Gäste stolperten erst noch ein Stückchen, bevor sie ihren Tritt wiederfanden. Sogar wenn kein Schnee liegt, ist der Anteil an roter Kleidung in den Alpenregionen immer sehr hoch. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass auch Sportwagen gerne rot sind, Ferraris ja sogar fast immer. Offenbar schlitzen die roten Anoraks besonders eindrucksvoll das kalte Blau der Pisten, der Schnee scheint diese Farbe anzuhimmeln, aber auch unverfrorene Sommerberge werden gerne in Rot erwandert. Absolut alle, die irgendein rotes Kleidungsstück trugen, schienen auf diese Revolvertrommel zu fliegen. Ich nahm also, meiner farblichen Zurückhaltung Rechnung tragend, eine der seitlichen Glastüren, um mich nach einer Parkmöglichkeit zu erkundigen, da der Portier sich gerade links und rechts mit Koffern und darüber hinaus mit einem exklusiv für die drei jungen Frauen reservierten Lächeln beladen hatte, die soeben dem großen weißen Audi mit Starnberger Kennzeichen entstiegen waren.

Hinter der Glasfront öffnete sich eine weiträumige Lobby, die rechts vom langen Tresen der Rezeption eingenommen wurde und die in die andere Richtung allmählich in eine recht lebhafte Hotelbar überging. Nachdem ich mich nach dem Wie und Wo erkundigt hatte, parkte ich das Auto in der Tiefgarage. Ich nahm mein Gepäck aus dem Kofferraum und beschloss, den Wagen in den fünf Tagen, die ich hier sein würde, nicht anzurühren. Die letzten Wochen war ich, wenn ich nicht meiner Selbstverdeutlichung durch körperliche Arbeit nachgegangen war, zu der sicher auch die hemmungslose körperliche Beschmutzung ihre dunklen Beweggründe beisteuerte, ununterbrochen zwischen weit auseinanderliegenden Baumärkten und Baustoffcentern unterwegs gewesen. Und heute waren es seit Mittag auch schon wieder fast siebenhundert Kilometer, die ich hinter mich gebracht hatte. Ich nahm den Lift in die Lobby, um einzuchecken. Auf einem Flachbildmonitor, der an einer Säule ein paar Schritte neben mir befestigt war, lief auf MTV leise Big in Japan von Alphaville. Es war in etwa die Lautstärke, in der die Musik in einem Flugzeug unmittelbar nach der Landung einsetzt. Während ich meinen Pass über den Tresen schob, blieb mein Blick an dem Clip hängen. Grandiose Blitze, wie ich sie nur damals in Graz über der Basilika gesehen hatte, zuckten hinter dem Sänger. Blitze, die erst einmal in einer ungeheueren Breite den Himmel überzogen, bevor sie sich anschickten, in einem furiosen Zickzack zu Boden zu fahren. Blitze, geschleudert von DEM, der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch. Ich erinnerte mich, dass jemand, als das Lied Mitte der Achtzigerjahre herauskam, zu mir sagte, ich hätte den gleichen Mund wie Marian Gold, der Sänger von Alphaville. Mir missfiel dieser Vergleich besonders auch deshalb, weil anschließend mit Häme über das Wort Gummilippen gelacht wurde. Heute würde ich wahrscheinlich, wenn ich den richtigen Hut aufhätte, eher an Tom Waits erinnern, besonders während seiner rauen Version von Big in Japan, die 1999 in Amsterdam aufgenommen wurde. Mein übriger Aufzug würde sicher ganz gut hinkommen, dachte ich.

»Wie lange bleiben Sie?«, fragte die Frau an der Rezeption, von der ich weiter nichts als das Lächeln wahrnahm. Nur den Ausschnitt ihres lächelnden Mundes. Der Rest ihres Gesichts war von meiner Gedankenverlorenheit ausgeblendet oder gelöscht.

»Ja, selbstverständlich«, antwortete ich, unterschrieb die Anmeldung, griff somnambul nach der Schlüsselkarte und ging.

Ich nahm die in einem schönen, weiten Schwung aufsteigende Freitreppe, denn vor dem Lift, der alle paar Minuten seine Rückkehr in die Lobby mit einem weichen Gong ankündigte, hatte sich schon wieder eine ganze Ansammlung roter Anoraks eingefunden, so dass zwischen Drehtür und Aufzug eine alarmierende Rotverschiebung in beide Richtungen im Gange schien.

Mein Zimmer befand sich im zweiten Stock. Ich öffnete es mit der Karte, trat ans Fenster, das im Verein mit einer Balkontür die ganze Breite der gegenüberliegenden Wand einnahm, und zog die Gardinen zurück. Ich drehte mich einmal mit Schwung um die eigene Achse. Dann stellte ich mich auf die linke Schuhspitze, stieß mich mit dem rechten Fuß ab und drehte mich noch einmal um die eigene Achse – diesmal in entgegengesetzter Richtung. Leise sang ich: »Things will happen while they can.« Ich hatte die Stelle von vorhin noch im Ohr. Dann öffnete ich den Schrank, klappte den Deckel des Notebooks zurück, das auf einer Konsole neben dem Bett mit einem Spezialkabel gegen Diebstahl gesichert war, ließ mich mit einem Hechtsprung auf das Kingsize-Bett fallen und wie von einem Trampolin auf die Füße zurückschnellen. Alles war frisch und hatte gute Farben. Nur die Tagesdecke, die auf allen Seiten bis auf den Boden herunterhing, war so überladen mit Blumendekors, dass das Ganze ein bisschen aussah wie ein frisch aufgeschüttetes Grab kurz nach einer Beerdigung. Ich knipste das Licht im Badezimmer an, und die Kacheln strahlten wie die Zähne auf einer Pepsodent-Reklame. Holla, beides sogar, Badewanne und Dusche, das ist gut, dachte ich.

In diesem Haus im Niemandsland, das ich heute Vormittag verlassen hatte, war alles Sanitärporzellan – Wannen, Waschbecken et cetera – bereits auf den Hof gewandert und dort in beglückenden Momenten von Vandalismus zertrümmert worden, um im Bauschuttcontainer möglichst wenig Platz einzunehmen. In einem der beiden deinstallierten Bäder gab es lediglich ein Rohr, das oben aus der Wand kam. Dort konnte man sich, wenn man den Hahn aufdrehte, unter eiskaltes Wasser stellen und zusehen, wie der Lehm in hellbraunen oder der Schmutz in dunkelbraunen Bächen über die Haut rann und sich in den Ausguss trollte.

Ich nahm meinen dicken Schlüsselbund aus der Tasche und legte ihn auf die Konsole neben das hoteleigene Notebook. Dann trat ich hinaus auf den schmalen Balkon. Er war kaum mehr als einen Schritt tief, bot höchstens Platz für einen Stuhl und ein Paar über diesen hinausragende Knie und hatte ein umlaufendes Geländer aus Edelstahl. Dünne Metallsprossen trennten die Balkonabschnitte der über das gesamte Halbrund des Gebäudes aneinanderstoßenden Hotelzimmer. Da es keinerlei Sichtblenden zwischen den Balkonen gab, waren sie für alles Erdenkliche wenig einladend. Es hätte bereits ziemlich absurd ausgesehen, wenn auch nur zwei Gäste aus nebeneinanderliegenden Zimmern hinausgetreten wären. Schließlich gingen sie in ihren langen Reihen über alle Stockwerke und wie alle Fenster auf den Platz vor dem Hotel hinaus, der als Anfahrt diente und den ganzen Tag und die halbe Nacht sehr belebt war. Von dort unten hätte man leicht den Eindruck bekommen können, als wären zwei oder sogar mehrere Menschen mithilfe eines Edelstahlgeländers an der Glasfassade befestigt. Sie würden alle aussehen wie Skulpturen von Balkenhol. Als ich mir vorstellte, dass es ja zufällig auch eine ganze Anzahl von Personen auf verschiedenen Etagen sein könnten, Männer und Frauen, noch dazu in Bewegung, konnte ich mich an diesem absurden Bild gar nicht sattamüsieren.

6

»Ahhhh«, schrie ein junger Mann mit eitlen Haaren und breitete beide Arme aus, als er mich die Freitreppe herunterkommen sah. Sein Gesicht strahlte, wenn man es nicht so genau nahm. Nahm man es genau, entlarvte es sich schnell als ein gekünsteltes Lächeln. Hinter der gespielten Herzlichkeit verbargen sich Geltungssucht, Selbstüberschätzung und eiskalte Berechnung. Es handelte sich um den osteuropäischen Autor Anton Jurcic, der mit dem forcierten Charme seiner jungen und jugendlichen Erscheinung insbesondere die gefühlshungrigen Deutschen, und da wiederum besonders die von erotisch-kulturellen Sehnsüchten bewegten Frauen mittlerer Reife, um den Finger wickelte. Mit dem Ergebnis, dass die dann prompt, wie um ihre Erwärmtheit auf ein neutrales Terrain zu lenken, von seiner Literatur zu schwärmen begannen. Der Einsatz lohnte sich also in jedem Fall, denn er wurde überall eingeladen, und die dürftige Literatur, die er gewöhnlich verfasste und zum Besten gab, wurde allemal aufgewogen durch seine vollkommen wahllose und korrupte Herzlichkeit, mit der die Larven des Betriebs beim anschließenden Umtrunk ihr Wohlbefinden aufpolstern konnten.

»Endlich!«, rief er.

»Was endlich?«

»Na, endlich sehen wir uns wieder.«

»Aber wir haben uns doch erst vor zwei Monaten in Berlin gesehen.«

»Ja, aber zwei Monate, das ist doch Jahre her!«

»Da hast du natürlich recht«, sagte ich und hielt ihm meine Hand entgegen.

Er aber hatte mich bereits mit je einer Hand an je einer Schulter gepackt und zog mich an sich. Diese Art der Begrüßung ist für mich ein Inbegriff der Körperbelästigung. Wahrscheinlich hatte ich es deswegen so genossen, die letzten Wochen in diesem Erdloch zu stehen, mit einem Maurerhammer Wände abzuschlagen und im Garten alte Waschbecken zu zertrümmern, weil ich mir da von niemand solche Vertraulichkeiten bieten lassen musste. Während er mich kurz an sich drückte, bemerkte ich im Augenwinkel, dass er schon gar nicht mehr bei mir war. Ich sah ihn mit bohrenden Blicken den Eingang absuchen, vor dem gerade ein Kleinbus des Hotels neue Gäste entließ, die mit allerlei Brimborium wie Begrüßungsblumen, Empfangskomitee und Blitzlichtern begrüßt wurden. Unter den Neuankömmlingen war ein schlanker Mann, umweht von einer fernöstlichen Frau. Er trug einen sandfarbenen Anzug, seine Gesichtszüge wirkten cineastisch. Der grün livrierte Hoteldiener, der fast genauso viel unterkühlte Würde an den Tag legte wie der Hoteldirektor, war schon wieder auf beiden Seiten mit mehreren Koffern beladen, was merkwürdig aussah.

»Das ist sicher unser Nobelpreisträger«, sagte eine an mich gerichtete Stimme.

Ich drehte mich um und schaute in das sympathische und freundlich staunende Gesicht von Peter Selznik.

Seine Augen waren wie üblich leicht aufgerissen, so dass um die ganze Iris ein Rand des weißen Augapfels zu sehen war. Erst spät nachts und oft nach einer nicht unbeträchtlichen Zeche verhängte das obere Lid langsam das obere Drittel der Iris, und der zuvor durch die weiße Umrahmung etwas stechende Blick verlor erst dann seinen Stachel. Peter Selznik war einer der Verantwortlichen.

»Hallo, Kurt«, sagte er und drückte mir die Hand. »Wann bist du denn angekommen?«

»Kommt darauf an, mit wie viel Tagen du zwei Stunden veranschlagst!«

Er lächelte misstrauisch.