Der Sieger: Zehn Satiren

Thomas Ziebula

Published by Cassiopeiapress, 2015.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Der Sieger

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Prolog: Einfach nur geklaut

Ich bin Killer von Beruf

Rosen

Der Sieger

Ein Käfig voller Pfauen

Und jetzt du

Einfach nur da sein

Der Loser

Alkohol, fast nie

Weihnachtsvisitation

Abschied

Der Sieger

Zehn Satiren

von Thomas Ziebula

Der Umfang dieses Buchs entspricht 136 Taschenbuchseiten.

ZEHN BERICHTE VON DER ALLTAGSFRONT, so der ursprünglich geplante Titel dieser Sammlung, denn die komischen Geschichten um den scheinbar stinknormalen Herbert führen mitten hinein ins pralle Leben: Herbert versucht zu flirten, den Leuchter zu reparieren, nach viel zu vielen Bieren, sein Auto zu finden, und so weiter. Meistens endet das mit einer Bauchlandung, manchmal aber auch mit einem Triumph. Die Titelgeschichte „Der Sieger“ etwa zeigt Herbert als Spitzenmanager vor einer entscheidenden Vorstandssitzung – und nach einer alltäglichen Einzelsitzung; allerdings ist diesmal das Klopapier ausgegangen ...

Lediglich in einer der zehn Satiren hat Herbert Sendepause, und Kuno, der Auftragskiller, kommt mit dem ersten Bericht aus seinem ungewöhnlichen Arbeitsalltag zu Wort. Von Kuno liegen weitere Arbeitsberichte in der Textschmiede des Autors.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Cover und Layout: Wolfram Becht

mit Fotos von Friedrich-Immanuel Ziebula & Martin Seyfried

Redaktion: Jonathan Ziebula

Für Mike Godyla

Prolog: Einfach nur geklaut

Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen? – mit dieser Frage darf ein Autor in jedem zweiten Interview rechnen. Ach was – in jedem! Schade, dass sie nicht noch öfter gestellt wird, denn ich mag diese Frage. Keine nämlich ist leichter zu beantworten.

Spielen wir das doch einfach mal durch. Frage also: „Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen?“

Antwort: „Ich klaue sie.“

„Bitte?“

„Sie haben schon richtig verstanden: Ich klaue meine Ideen.“

„Diese lebensnahen Figuren, diese vielen grandiosen Bauchlandungen ...?“

„... und die wenigen lachhaften Siege, von denen die folgenden Seiten künden – alles nur geklaut. Richtig.“

„Aber wem denn, um Gottes Willen?“

„Dem Schicksal, wenn Sie unserem Interview einen pathetischen Touch geben wollen. Wenn Sie es trockener mögen: Leuten, die zufällig in seiner Folterkammer landeten.“

„...?“

„Was gucken Sie mich denn so an? Trauen Sie mir etwa zu, an einem lächerlichen Glühbirnenwechsel zu scheitern? Oder einen hoffnungsvollen Flirt in den Sand zu setzen? Oder können Sie sich etwa einen wie mich vorstellen, wie er nach der Sitzung mit heruntergelassenen Hosen vor leerer Klopapierhalterung verzweifelt? Oder paranoid wird vor Eifersucht? Oder im Suff seinen Wagen nicht mehr findet? Jetzt sagen Sie bloß, Ihnen ist dergleichen jemals passiert. Das kann nicht Ihr Ernst sein!“

„Gott bewahre! Natürlich nicht ...! Das heißt, warten Sie ...“

„Na also! Wildfremde Leute erleben solche Sachen, Leute mit denen wir nichts zu schaffen haben. Sie nicht und ich nicht. Zum Glück. Zufällig hört man halt davon, schreibt’s auf, weil man nichts Besseres zu tun hat, und fertig ist die Geschichte.“

„Alles nur geklaut, also, aha.“

„Korrekt. Wobei ich nicht sagen möchte, dass in den folgenden Geschichten die Ähnlichkeit der Figuren mit lebenden Personen unbeabsichtigt oder gar zufällig zustande kommt. Auch wenn meine Hauptfiguren selbstverständlich Lichtjahre weit entfernt sind von meinem Alltag und von Ihrem sowieso – Namen und Adressen haben sie natürlich dennoch ...“

„Sie sprechen von Herbert, nicht wahr? Nach ihm wollte ich Sie als nächstes fragen: Alle Hauptfiguren Ihrer Geschichten heißen komischerweise Herbert. Wieso?“

„Damit es keine Scherereien gibt. Schauen Sie: Niemand soll reale Personen in meinen Figuren wieder erkennen. Da hat einer einen guten Rechtsschutz, und schon hängt mir ein Prozess am Hals. Außerdem ist Herbert so etwas wie mein Adam, verstehen Sie?“

„Nicht wirklich. Gerät diese Namensgleichheit nicht gar zu leicht zur Quelle von Verwechslungen?“

„Na und? Übrigens heißen nicht alle meine Hauptfiguren Herbert. Der Killer gleich in meiner ersten Geschichte heißt Kuno. Ihn einfach wie jeden anderen zu nennen, habe ich mich nicht getraut. Kuno ist ein wenig heikel, wissen Sie? Und nicht ganz ungefährlich.“

„Kuno, der Killer? Sie kennen ihn persönlich?“

„Sonst noch Fragen?“

„Ähm..., nein. Das heißt, vielleicht diese noch: Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen?“

Und so weiter, und so weiter.

Da wir gerade bei Kuno sind: Der ist so was von geklaut, das glauben Sie kaum. Mein Freund Mike Godyla hat Kuno vor Jahren neben einem Sixpack an einer Tankstelle getroffen, ein paar Stunden mit ihm geplaudert, überlebt und ein Lied über ihn geschrieben: Kuno, der Killer.

Mike also ist der Erfinder dieser Figur. Weil ich sie mag, habe ich sie geklaut und ihr, über Mikes Lied hinaus, eine zweite Geschichte geschrieben. Weitere Kuno-Geschichten glühen übrigens bereits in unserer Textschmiede. Wenn Kuno will und wir leben – er ist wirklich ein wenig heikel – wird demnächst ein Buch mit weiteren Berichten aus seinem ungewöhnlichen Berufsalltag erscheinen.

Mehr noch als Kuno schätze ich seinen Schöpfer. Deswegen und weil er witzige Geschichten mag, widme ich Mike dieses Buch.

Thomas Ziebula, Colmurano, August 2013

Ich bin Killer von Beruf

Mein Name ist Kuno. Ich bin Killer von Beruf. Das muss Ihnen reichen. Eine gewisse Zurückhaltung gehört zur Professionalität in unserer Branche.

In den letzten Tagen musste ich im Zusammenhang mit dem Müller-Leipniz-Auftrag empörende Gerüchte über mich zur Kenntnis nehmen; Verleumdungen, die mich wirklich schmerzen. Gegen Lügen gibt es nur ein Mittel: Die Wahrheit. Deswegen will ich erzählen, wie das wirklich gewesen ist mit dem Müller-Leipniz-Auftrag; oder genauer gesagt: Wie das mit dem Jungen gewesen ist.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich habe ihm nichts getan.

Möglicherweise gehören auch Sie, was Gott verhüten möge, zu den Menschen, die reißerischen Gerüchten eher Gehör schenken als der schmucklosen Wahrheit. Selbst wenn das auf Sie zutreffen sollte – wie gesagt, ich halte es für wenig wahrscheinlich – bitte ich Sie dennoch, meinen Bericht bis zum Ende zu lesen. Ein wenig Mitgefühl darf ich schon erwarten. Nur weil ich einen ungewöhnlichen Beruf habe, muss man ja nicht gleich jedes Gerücht über mich akzeptieren, oder?

Dazu kommt: Ich will die Sache endlich vergessen. Ich muss endlich wieder jene Unbeschwertheit zurück gewinnen, ohne die auf die Dauer kein Mensch einem erfolgreichen Broterwerb nachgehen kann. Deswegen will ich hiermit all den Verleumdungen die nackte Wahrheit entgegensetzen: Nicht ein Haar habe ich dem Jungen gekrümmt.

Mehr noch: Mich quält sogar mein Gewissen. Wegen Müller-Leipniz? Nein, wegen des Jungen!

Doch der Reihe nach.

Den Auftrag Müller-Leipniz habe ich nur ungern angenommen, das können Sie mir glauben. Der Mann ist querschnittsgelähmt gewesen, und Behinderte erschießen – mal ehrlich ...

Doch einige meiner Kunden sind ernsthaft in Zahlungsrückstand geraten und ich dadurch ernsthaft in Schwierigkeiten: Kinder, Vermieter, Katzenfutter, Kredite, Finanzamt und so weiter. Ich muss Ihnen nichts erzählen, Sie kennen das. Kurz: Mir ist keine Wahl geblieben, ich habe den Auftrag einfach annehmen müssen. Und es ist ja dann auch alles gut gegangen.

Bis auf die Sache mit dem Jungen eben. Üble Geschichte.

Doch eines nach dem anderen. Müller-Leipniz also.

Bei seiner Art der Querschnittslähmung hat es sich um eine Paraplegie gehandelt. Falls ihnen das nichts sagt: Von den Halswirbeln abwärts geht da gar nichts mehr. Das macht die Sache nicht einfacher, weiß Gott nicht; also für Dienstleister meiner Branche. Zum einen schreibt mir ein derart desolater Zustand des Zielobjekts den Arbeitsplatz vor, denn solche Leute pflegen ihr Bett nicht allzu häufig zu verlassen und ihre Wohnung zweimal nicht. Zum anderen erschweren derartige Umstände die Ausspähung eines Zielobjekts ganz erheblich. Stellen Sie sich vor, Sie müssten den Alltag und die Gewohnheiten eines Mannes auskundschaften, der nur zwischen Bett und Rollstuhl hin und her pendelt. Allenfalls noch mit dem Rollstuhl zwischen Bett und Küche oder Bad. Wie wollen Sie das anstellen?

Verzwickte Angelegenheit, das können Sie mir ruhig glauben. Und am Ende, also wenn es ernst wird, brauchen Sie auch noch einen guten Grund, um in die Wohnung zu gelangen.

Sie merken schon: Das TATORT-Klischee vom Kollegen, der mal eben seine Sachen in der Dachgeschosswohnung gegenüber auspackt und peng, können Sie vergessen. Ein Auftrag in unserer Branche erfordert akribischste Vorbereitung, und das über Tage und Wochen.

Doch ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, zumal ja dann auch alles gut gegangen ist wie gesagt, sogar relativ unspektakulär, möchte ich behaupten. Jedenfalls habe ich klären können, was zu klären war. Nur so viel: Ich hab’ herausgefunden, dass sich bei Müller-Leipniz doch noch etwas geregt hat unterhalb der Halswirbelsäule, und dass er einmal die Woche eine Dame bestellte. Telefonisch. Sie verstehen.

Nun muss man in unserer Branche Beziehungen zu den ungewöhnlichsten Dienstleistern pflegen, da gehören die Damen vom horizontalen Gewerbe eher noch zu den alltäglicheren Kontakten. Zwei, drei Anrufe und Müller-Leipniz’ wöchentlicher Damenbesuch steht in meinem Terminkalender. Und damit auch Tag und Stunde seines Ablebens.

Ich lege Bach auf, die „Kunst der Fuge“ in einer alten Orgelversion; Bach kühlt den Kopf herunter, sage ich immer, und bringt Ordnung in die Gedanken.

Danach überprüfe ich das Werkzeug in meinem Geigenkasten, steige in einen leichten Sommeranzug – ein ungewöhnlich warmer Frühlingstag strahlt vor den Fenstern, und ich schwitze doch so leicht bei der Arbeit – und fülle meine Taschen mit all den Dingen, ohne die ich nicht aus dem Haus zu gehen pflege: Deospray, Kaugummi, Phone, Mundharmonika, Kruzifix, Gummibären, Taschenmesser mit Nagelschere, Tabak für die Zigarette danach und natürlich meine Papiere; damit man mich identifizieren kann, falls etwas schief geht.

Es ist kurz vor neun, als ich mich wie immer von meiner Katze verabschieden will. Doch Dorothea zeigt mir die kalte Schulter, weicht meiner zärtlichen Hand aus und huscht ins Schlafzimmer. Dort springt sie vom Bett auf den Schrank, und von dort äugt sie auf mich herunter. Vorwurfsvoll, wie ich meine. Ein wenig böse sogar.

„Muss das sein, Dorothea!“ Ich bin ein wenig ungehalten, ehrlich gesagt. „Jedes Mal das Theater, wenn ich zur Arbeit gehe! Was glauben Sie eigentlich, womit ich Ihr Katzenfutter bezahle, Gnädigste? Mit Goldplomben zufällig auf der Straße gefundener Leichen? Nein, nein, meine Liebe, da ist nichts zu holen mit Zufall, da muss ich mich schon ein wenig anstrengen!“

Dorothea wendet ihren schönen getigerten Pelzschädel ab und schießt ihre herrlichen Raubtieraugen. Als könnte sie meinen Anblick nicht ertragen. „Ach!“ Ich winke ab und verlasse das Schlafzimmer. „Thron doch du auf deinem Schrank!“ Ich schalte Bach ab. „Spiel doch du die Moralapostelin! Ich jedenfalls muss was tun für unser Geld.“

Es ist nicht schön, derart kritisch beäugt zur Arbeit gehen zu müssen; und es ist auch nicht schön, sich am Morgen unter derartigen Dissonanzen zu trennen. Weiß man denn, ob man sich noch einmal wiedersieht? Lebend, meine ich.

Zum Bahnhof nehme ich ein Taxi, versuche zu vergessen, versuche nach vorn zu blicken. Dann in den ICE. Müller-Leipniz wohnt nur zwei Stunden entfernt in einer Stadt im Ruhrgebiet.

Um die Mittagszeit komme ich an, immer noch schönstes Wetter, ich esse eine Kleinigkeit, stehe ja unter keinerlei Zeitdruck: Müller-Leipniz hat seine Dame erst für 15.30 Uhr bestellt – nach Mittagsschlaf und Kaffee und vor dem Abführen – und sie, also die Dame, soll gewissermaßen mein Türöffner sein.

Gegen zwei dann in die Straßenbahn. Ich setze mich in eine freie Bank, lege meinen Werkzeugkasten neben mich auf den Fensterplatz. Und kurz darauf, gleich in der nächsten Station, steigt er ein.

Der Junge.

Seine Mutter schiebt ihn in die Bank, nickt mir freundlich zu, setzt sich, schlägt die Beine übereinander, blättert in einer Illustrierten. Hübsches Mädel: blond, nicht zu dick, nicht zu dünn.

Der Junge dagegen, nun ja. Stumpfer Blick, viel zu fett für sein Alter – höchstens acht, schätze ich – und dann dieser trotzige Zug um den Mund. Unangenehmes Kind. Vor allem stiert es penetrant auf meinen Geigenkasten.

In meiner Anfangszeit habe ich, wie die meisten Kollegen übrigens, einen schwarzen Aktenkoffer mit Überbreite benutzt. Doch so ein Behältnis macht die Leute einfach zu nervös; besonders die Krimigucker und -leser unter meiner Klientel. Die sind ja praktisch groß geworden mit dem Klischee vom schwarzen Aktenkoffer mit Überlänge, ohne den ein Profikiller gar nicht erst das Haus verlässt. Ist doch so. Ein Geigenkasten dagegen – zumal ein brauner und vielfach abgestoßener wie meiner – beruhigt die Leute irgendwie, ja schafft sogar etwas wie Vertrauen, möchte ich meinen.

„Was hast du denn da drin?“ Der Junge zeigt auf meinen Geigenkasten.

Bitte? Habe ich mich verhört? Nein, habe ich nicht. Der Lümmel glotzt mich an, als heiße er James Bond oder Lena Odenthal, zeigt auf meinen vertrauenserweckenden Geigenkasten und will tatsächlich wissen, was da drin ist. Ich glaub’s nicht! Naseweiße Blagen sind eine echte Strafe.

„Ein Gewehr“, sage ich mit vielleicht etwas übertrieben sarkastischem Unterton. „Damit erschieße ich neugierige, kleine Knaben.“

Die blonde Mami lacht kichernd, die Leute in den Sitzbänken um uns herum und im Gang lachen auch; die Bahn ist ziemlich voll geworden inzwischen. „Was soll schon in einem Geigenkasten sein, du dummes Kind!“ Die blonde Mami hat aufgehört zu kichern und nimmt die Frucht ihres Leibes mit verächtlich-zornigen Blicken unter Beschuss. „Eine Geige natürlich!“

Eigentlich müsste der fette Knabe mir jetzt schon leid tun, doch dieser moralisch korrekte Fall tritt nicht ein.

Zu meiner Überraschung zeigt sich der Rotzlümmel keineswegs beleidigt; auch befriedigt ihn die Auskunft seiner Mutter nicht wirklich. Im Gegenteil. „Spielst du mir etwas vor?“, fragt er.

Ziemlich starkes Stück, oder? Ich lasse mir meinen Groll nicht anmerken, sage einfach: „Nein“, und gucke zum S-Bahnfenster hinaus. Die Bahn hält, ein Schwung Mitmenschen steigt zu. Noch vier Stationen.

„Bitte“, sagt der Knabe, und dass dabei weder Trotz noch Gleichgültigkeit aus seinem fetten Gesicht weichen, macht ihn nicht sympathischer, weiß Gott nicht. Ich schaue wieder zum Fenster hinaus. Die Bahn fährt an. „Bitte“, sagt die Leibesfrucht der blonden Mami zum zweiten Mal.

Scharf sauge ich die Luft durch die Nase ein. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, vorzeitig auszusteigen und den Rest des Weges zu Müller-Leipniz laufend zu bewältigen; ich stehe ja nicht unter Zeitdruck, wie gesagt. „Ich habe morgen Geburtstag“, erklärt der Knabe.

„Hör zu, mein Junge.“ Wegen seiner hübschen Mami sehe ich mich nun doch zu einer Erklärung genötigt. „Es ist ein sündhaft teures Stück, das hier drinnen ruht.“ Ich lege die linke Hand auf meinen vertrauensstiftenden Geigenkasten. „Es in diesem Gedränge hier auszupacken und dann auch noch zu benutzen, ist mir einfach zu gefährlich. Stell dir vor, die Bahn legt eine Vollbremsung hin! Was glaubst du, was mir im Schadensfall die Versicherung erzählt? ‚Im Gedränge eines öffentlichen Verkehrsmittels das sensible Präzisionsinstrument ausgepackt?’, sagen die. ‚Noch dazu in einem fahrenden? Tut uns leid’, sagen die. Und ich muss sehen, wo ich die Goldplomben für ein neues ..., nein.“ Ich gebe mich sehr energisch, und das scheint mir auch angebracht angesichts dieses hartnäckigen Rotzlümmels. „Außerdem käme es mir angeberisch vor, mein teures Instrument jetzt hier auszupacken. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe, ich habe noch einen anstrengenden Arbeitstag vor mir.“

Der fette Bursche schiebt die Unterlippe vor, mustert mich aus plötzlich sehr schmalen Augen. Für mich ist die Sache erledigt, ich beachte ihn einfach nicht mehr.

„Bitte“, sagt die blonde Mami. „Er hat wirklich morgen Geburtstag.“ Sie neigt den Kopf ein wenig zur Schulter, lächelt irgendwie mädchenhaft, sagt noch einmal „bitte“ und macht einen Kussmund.

Niemand, nehme ich an, muss Ihnen erklären, was mit einem noch so entschlossenen Männerherz geschieht, dessen Besitzer auf diese Weise von einem hübschen, blonden Mädel angeschmachtet wird. „Gern“, sage ich. „Doch ich schlage einen Kompromiss vor.“ Ich greife in die Innentasche meiner Anzugjacke und hole meine Mundharmonika heraus. „Ich spiele auf diesem Instrument hier. Für das Geburtstagskind und für seine reizende Mami.“ Ich verneige mich vor der blonden Mami.

„Danke, Sie sind sehr lieb“, sagte das Mädel, und ich spiele.

Erst einen alten Choral – Großer Gott, wir loben dich. Eine weißhaarige Frau auf der anderen Seite des Ganges kennt den Text und singt mit. Die Leute auf den Sitz- und Stehplätzen um mich herum lächeln dankbar. Am dankbarsten lächelt die blonde Mami. Die Frucht ihres Leibes hingegen verzieht keine Miene.

Nach dem altehrwürdigen Choral stimme ich das Lied vom Tod an. Sie erinnern sich dunkel: Sergio Leone, Claudia Cardinal, Charles Bronson und so weiter; und natürlich der schlimme Henry Fonda. Ein Vater, die Schlinge schon um den Hals, steht auf den Schultern seines etwa achtjährigen Sohnes, der muss die Mundharmonika blasen und wird bald zusammenbrechen.

Grausam, stimmt schon. Ich stelle mir den trotzig lauschenden Rotzlümmel unter den Stiefeln des Todgeweihten vor, versinke in meinem Spiel.

Besonderes Entzücken bereitet mir die blonde Mami: Sie hängt mit verklärtem Blick an mir. Das schmeichelt mir, ich gebe es zu. Um noch hingebungsvoller zu wirken, noch leidenschaftlicher, noch mehr wie ein richtiger Künstler, schließe ich die Augen. In der Bahn herrscht plötzlich Stille; eine geradezu heilige Stille, möchte ich sagen. Nur die klagenden Klänge meines Instruments sind zu hören. So zelebriere ich das Lied vom Tod. Wunderbar.

Wie lange? Ich weiß es nicht, denn ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Doch plötzlich stößt mich ein polterndes und vielstimmiges Krachen aus der Versunkenheit. Ich öffne die Augen: Der verdammte Rotzlümmel hat tatsächlich an meinem Geigenkasten herum gefummelt! Das gute Stück ist vom Sitz gefallen und aufgesprungen, die Einzelteile meines teuren Präzisionsgewehrs rollen und rutschen in alle Richtungen davon.

Und in diesem Augenblick geschieht es zum ersten Mal: Ich wünsche mir den verdammten Blagen nicht nur auf die Schultern seines sicher ganz zu Recht galgenumschlungenen Vaters – ich wünsche ihn mir sogar vor den gezogenen, fachmännisch mit gespanntem Hahn und in Zielposition gehaltenen Revolver Henry Fondas und peng. Ja, das wünsche ich mir in diesem Moment.

Ich gestehe das nur ungern, und im Rückblick bedaure ich es aufrichtig – es ist nicht in Ordnung, Kindern den Tod zu wünschen, nur weil sie ihre Neugier nicht in den Griff bekommen.

Jedenfalls liegen mein Geigenkasten und die Einzelteile meines Präzisionswerkzeugs jetzt auf dem Boden der Straßenbahn, und sofort bricht ein Tumult los: „Was fällt dir ein!“, kreischt Mami, und schon hat der Knabe eine sitzen, das klatscht gewaltig. Geschieht dir recht, du fette Kröte, denke ich, und tauche zwischen den Sitzen ab, um meine Arbeitsmittel zusammenzusuchen. Die blonde Mami will gar nicht mehr aufhören, mit ihrem Blagen zu schimpfen.

Auch die Leute regen sich auf über den ungezogenen Jungen. „Kann ich Ihnen helfen?“ Ein Fahrgast geht neben mir auf die Knie, tastet nach Waffenteilen unter der Sitzbank, ein anderer reicht mir den Carbonkolben meines teuren Stücks, ein dritter das Ersatzmagazin. Nette Leute, diese Ruhries, weiß Gott.

Schnell habe ich mein Arbeitsgerät wieder beieinander. „Dankeschön, danke ...“ Ich bin gerührt und lächle nach allen Seiten. Ob auch alles unbeschädigt ist, will die blonde Mami wissen, zieht den Jungen an den Haaren und schlägt schon wieder zu. Allmählich beißt mich mein Gewissen. Ich bereue bereits, den Knaben in Gedanken fette Kröte genannt zu haben.