KAPITEL 1

Ein Teil der Nationalkultur

Fußball in Uruguay

José „Pepe“ Mujica, Jahrgang 1935, ist kein großer Fußballfan. Zwar hat er wie all seine Altersgenossen als Kind gekickt, stieg dann aber mit zwölf Jahren aufs Fahrrad um und verschrieb sich eine Weile komplett dem Radsport. Und obwohl er eigentlich aus dem Osten Montevideos, aus dem Viertel Paso de la Arena, stammt, sympathisiert er mit dem Club Atlético Cerro aus dem gleichnamigen Viertel im Süden der Stadt – Huracán del Paso de la Arena gab es zu Mujicas Jugendzeiten noch gar nicht.

Auch wenn sich Mujica nicht so richtig für das runde Leder begeistern kann, so ist ihm doch bewusst, dass Fußball in Lateinamerika die „alles überragende Form der Kommunikation darstellt und gemeinsam mit der Sprache das stärkste überhaupt mögliche Band zwischen den Gesellschaften Südamerikas bildet. Ein einfaches Spiel ist zur denkbar bedeutendsten und wichtigsten Sache geworden.“ Ein Spiel, das gelegentlich auch Gewalt in den Stadien auslöst: „Jene Bestie in uns, die das Herz einer jeden Gesellschaft bedroht.“ Trotzdem sei „Uruguay eines der fußballverrücktesten Länder der Welt“, ist Mujica überzeugt. In einem Radiointerview jüngeren Datums merkte er an: „Gemessen an der Größe des Landes und den Möglichkeiten des einzelnen Bürgers [Uruguay hat 3,3 Millionen Einwohner, Anm. d. A.] ist der uruguayische Fußball ein Wunder, geschaffen durch die Leidenschaft unseres Volkes.“

Uruguays ehemaliger Präsident, der die Welt in seiner Amtszeit von 2010 bis 2015 sowohl mit seiner Gesetzgebung – Legalisierung von Marihuana, Schwangerschaftsabbruch und gleichgeschlechtlicher Ehe – als auch mit einer Formel für eine glücklichere Menschheit überraschte, hat natürlich völlig recht. Er ist außerdem nicht der Einzige, der so denkt: Das Fußballwunder ist in allen Gesellschaftsschichten Gesprächsthema. Wen man auch fragt, er wird zum Beleg entsprechende Zahlen, Fakten und Statistiken bemühen. Die vier Sterne auf dem hellblauen Trikot der Nationalmannschaft erinnern an die zwei olympischen Goldmedaillen von 1924 und 1928 sowie die beiden WM-Titel 1930 und 1950. Dazu gesellen sich noch 15 Titel in der Copa América.

Außerdem ist Fußball allgegenwärtiger Teil des Lebens in Uruguay, von staubigen Nebenstraßen bis zu den sattgrünen Spielfeldern der Profiteams oder zum Kinderfußball. An jedem Wochenende finden in Montevideo ungefähr 3.000 Spiele im Kinderbereich statt, die für die Familien und ihre fünf- bis zwölfjährigen Sprösslinge ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis darstellen. Der nationale Profibereich versammelte 2015/16 in den beiden höchsten Ligen 29 Vereine, von denen 19 in der Hauptstadt spielten. Die Eintrittskarten für die Partien sind mit 80 bis 500 Pesos, umgerechnet 2,50 bis 15 Euro, durchaus erschwinglich und ermöglichen jedem, der will, den Besuch eines Spiels.

Auch im Fernsehbereich geht es im Vergleich zu Europa eher um Peanuts: In Uruguay kosten die Übertragungsrechte knapp neun Millionen Euro. Zum Vergleich: Ab 2016/17 kostet in der englischen Premier League allein die nationale Liveberichterstattung 2,25 Milliarden Euro pro Saison! Der Etat des aktuellen uruguayischen Landesmeisters Club Nacional beträgt ungefähr 13,5 Millionen Euro, der von Real Madrid 520 Millionen. Die letzte Zahl, sagte dazu José Mujica, „ist wahrscheinlich ein Betrag, den der uruguayische Fußball in seiner gesamten Geschichte nicht ausgegeben hat“.

Doch ungeachtet des knappen Geldes und der genannten Summen geht das Fußballwunder weiter, und das kleine südamerikanische Land behauptet seine Nische zwischen den Riesen Brasilien und Argentinien. Es kann sich sogar einer ganzen Armee legendärer Spieler rühmen, ganz so, als wäre es ein Land mit 60 oder 200 Millionen Einwohnern. Die Gründe: Fußball ist hier eine Leidenschaft (oder Seuche), die alle Gesellschaftsschichten befallen hat. Außerdem besitzt das Land eine eher schwache nationale Identität, Nationalismus hat keine große Bedeutung, weshalb sich der Nationalstolz vor allem in Form hellblauer Trikots und der Ablehnung alles Argentinischen manifestiert.

So kommt es, dass Fußball hier ein fundamentaler Teil der Nationalkultur ist. Zwischen Fußball und Nation besteht eine regelrechte Symbiose. In Uruguay steht das Leben nur bei zwei Ereignissen komplett still: bei Länderspielen und bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Das Leben in der Républica Oriental del Uruguay, der „Republik Östlich des Uruguay“, wird von Politik und Fußball bestimmt – so sehr, dass die Liste der Nationalhelden von Fußballern nur so strotzt. Es finden sich darunter Männer wie „El Negro Jefe“, der „schwarze Chef“ Obdulio Varela, oder „El Mariscal“ José Nasazzi, der „Marschall“ und Teilnehmer der WM 1930.

Im Fußball werden die großen Konflikte ausgetragen, finden die großen Debatten statt und entstehen neue Ausdrücke, die Eingang in die Sprache finden. „Los de afuera son de palo“ („Die da draußen sind bloß Holzpfosten“): Mit diesem berühmten Satz hatte Varela seiner Mannschaft anno 1950 Mut gemacht, bevor sie in das mit 200.000 Menschen rappelvolle Maracanã einlaufen musste. Was er damit sagen wollte: Alle außerhalb der Familie, eigenen Umgebung oder Mannschaft sind egal, und man sollte lieber nicht auf Leute von außen hören.

Die Entstehung dieser Welt in sich und dieser starken fußballerischen Identität hat viel mit der Geschichte von Uruguay zu tun, obwohl sich der historische Hintergrund heute nur schwer nachzeichnen lässt. Auf jeden Fall aber ist der Fußball genau wie in Brasilien, Argentinien, Italien, Deutschland oder Frankreich eng mit der industriellen Revolution und der weltweiten Expansion der britischen Wirtschaft verknüpft. Es waren die Untertanen Ihrer Majestät Queen Victoria, die den Sport in jeden Winkel der Erde trugen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam Fußball auch im Hafen von Montevideo an, im Gepäck von Seeleuten, Handwerkern, Lehrern und Professoren, Arbeitern, Bankmanagern, Eisenbahnern und Beschäftigten der Gaswerke. Fuß fasste er dort zunächst in Kricketvereinen wie dem 1861 gegründeten Montevideo Cricket Club. Die Mitglieder dieses Klubs spielten nämlich keineswegs ausschließlich in weißen Hemden und mit Schlägern aus Kork und Leder, sondern trugen auch Rugby- und Fußballpartien gegen die Mannschaften britischer Handels- und Kriegsschiffe aus.

Das erste offizielle Spiel zwischen zwei Vereinen aus Montevideo lässt sich allerdings erst für den 22. Juni 1881 nachweisen. Es fand auf einem Platz im Viertel La Blanqueada statt, den die Engländer „Englisches Stadion“ nannten. Der Montevideo Cricket Club siegte mit 1:0 gegen den Montevideo Rowing Club, also den Ruderklub. Sieben Tage später folgte das Rückspiel, das der Cricket Club erneut gewann (2:1). Der Montevideo Cricket Club war auch Gastgeber der ersten internationalen Partie: Am 15. August 1889 ging es gegen den Buenos Aires Cricket Club. Die Einheimischen beäugten das neue Freizeitvergnügen der verrückten Engländer zunächst mit kopfschüttelndem Erstaunen. Nach und nach aber kam der Nachwuchs aus Montevideos besserer Gesellschaft auf den Geschmack.

Mario Romano, Manager des Estadio Centenario in Montevideo, sitzt hinter seinem Schreibtisch in Sichtweite der berühmten Amsterdam-Tribüne und erzählt: „Im Mai 1891 verschickte Enrique Cándido Lichtenberger Einladungen an seine Kameraden von der English High School, weil er einen uruguayischen Fußballverein ins Leben rufen wollte. Das geschah dann am 1. Juni 1891. Da wurde der Klub gegründet. Im August absolvierte er sein erstes Spiel, gegen den Montevideo Cricket Club. Im September benannte sich der Verein in Albion Football Club um, zu Ehren des Mutterlands des Fußballs.“

Es ist offensichtlich, dass England für viele Vereine in Uruguay eine Art Vorbild war, so etwa auch für die Kicker vom Gymnasium der Kapuzinermönche. 1915 suchten sie einen Namen für ihren Klub und fanden ihn auf der Karte Großbritanniens. Sie riefen sich dabei die Ausführungen ihres Lehrers in Erinnerung: Er hatte den Schülern erzählt, wie die großen Kohlefrachter den Hafen von Liverpool in Richtung Montevideo verließen. So kam es, dass sie ihren Verein „Liverpool“ nannten. Die Truppe spielte in der Saison 2015/16 übrigens als Aufsteiger in der Primera División, Uruguays höchster Liga.

Doch kommen wir noch einmal zurück auf die bis heute umstrittenen Ursprünge des uruguayischen Fußballs. Sie hängen eng mit der Geschichte von Nacional und Peñarol zusammen, mit der Rivalität der beiden bedeutendsten Vereine des Landes. Stand 2016 haben sie zusammen 98 der 112 bisher ausgespielten Meisterschaften gewonnen, dazu achtmal die Copa Libertadores und sechsmal den Weltpokal.

Der Club Nacional de Football war am 14. Mai 1899 aus der Fusion zweier Universitätsvereine entstanden: des Montevideo Football Club und des Uruguay Athletic Club. Der Club Nacional war das Gegenstück zu den Vereinen der Kolonisten. Deshalb tragen Fahne und Wappen auch die Farben Weiß, Hellblau und Rot, entsprechend der Fahne von José Gervasio Artigas, dem Vater der uruguayischen Nation.

Bereits einige Jahre zuvor, am 28. September 1891, hatten überwiegend englische Arbeiter der Bahngesellschaft Central Uruguay Railway Company of Montevideo einen Klub gegründet. Sie nannten ihn Central Uruguay Railway Cricket Club, CURCC – oder kurz: „Peñarol“, damals noch ein nordöstlich von Montevideo gelegener Vorort und Heimat der Werkstätten der Bahngesellschaft. Die Farben waren Gelb und Schwarz, analog zu den damaligen mechanischen Signalen der Eisenbahn.

Von Beginn an prägte CURCC die uruguayische Meisterschaft. Beim ersten Wettbewerb im Jahr 1900 traf man auf drei andere Klubs: Albion, Uruguay Athletic und den Deutschen Fussball-Klub. Am 13. Dezember 1913 benannte sich CURCC auch offiziell in „Peñarol“ um. Bis dahin hatte man bereits mindestens 50 Partien gegen Nacional absolviert – carboneros („Kohlehändler“) gegen bolsos oder bolsilludos („Hemdtaschen“, weil ihre Jerseys stets eine solche trugen). Peñarol gegen Nacional, das hieß auch: auf der einen Seite der englische Eisenbahnerverein, auf der anderen die akademische Elite, auf der einen die Gringos, auf der anderen das nationale Establishment.

Ihre Rivalität sollte den Fußball in Uruguay zum beliebtesten Sport im Lande, ja zum Nationalsport machen. In Windeseile breitete sich der Fußball nun in alle Richtungen aus, und es wurden weitere Klubs gegründet: Wanderers, River Plate, Bristol, Central, Universal, Colón, Reformers, Dublín und so weiter. Man spielte auch gegen englische Mannschaften auf Südamerikatournee, wie den FC Southampton, Nottingham Forest oder Tottenham Hotspur. In den binationalen Wettbewerben Copa Lipton und Copa Newton nahm zugleich die ewige Rivalität zwischen den Nationalteams aus Argentinien und Uruguay ihren Anfang.

Der Fußball überwand außerdem Klassengrenzen. Hier konnten sich auch die Armen entfalten, hier war ein Ort gegenseitiger Integration für die weniger Wohlhabenden und die Oberschicht, für Gauchos und Einwanderer. Zwischen 1860 und 1920 erlebte Uruguay einen massenhaften Zustrom von Immigranten aus Europa (hauptsächlich aus Spanien und Italien), der die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung deutlich veränderte. Hinzu kamen zahlreiche Brasilianer mit afrikanischen Wurzeln und gelegentlich sogar noch Sklaven. Diese Mischung aus Immigranten und Alteingesessenen beeinflusste auch entscheidend die Gesellschaft Uruguays. Das Land erlebte keine ernsthaften Klassenkämpfe, und es gab keine tief verwurzelte Aristokratie. Folgerichtig vermischten sich Einwanderer, Afrikaner und die lateinamerikanische Bevölkerung.

Lincoln Maiztegui Casas, Geschichtsprofessor und Autor umfassender Studien über die soziopolitischen Entwicklungen des Landes, erklärt die Demografie so: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Uruguay zwar keine egalitäre, wohl aber eine integrierte Gesellschaft. Das hing mit dem beginnenden Aufbau des Sozialstaates und der bereits 1877 erfolgten Reform des Bildungssystems durch José Pedro Varela zusammen. Danach waren Schulen Staatsaufgabe, und ihr nun kostenloser Besuch wurde Pflicht.“

So entstand die Idee, dass Söhne aus reichem und armem Haus die gleiche Schule besuchen, den gleichen Rock tragen und die gleichen Pflichten erfüllen. Mit der Reform rückte man der gesellschaftlichen Gleichberechtigung ein gutes Stück näher, und allmählich verwischten sich auch die kulturellen Unterschiede zwischen der einheimischen Bevölkerung und Zuwanderern. Auch wenn Letztere ihre Heimatkultur bis heute nicht ganz aufgeben, fühlen sie sich tief im Inneren als Uruguayer.

Eine ähnliche Rolle bei der Zusammenführung von Menschen unterschiedlicher Kulturen und sozialer Klassen spielte auch der Fußball. Man muss sich nur die Nationalspieler anschauen, die 1924 bei den Olympischen Spielen in Paris Gold holten. Petrone, Scarone, Romano, Nasazzi, Uriarte, Urdinarán – das sind vor allem Namen italienischen und spanischen Ursprungs. Und dann war da noch José Leandro Andrade, „La Maravilla Negra“ („das schwarze Wunder“), der erste berühmte dunkelhäutige Spieler im uruguayischen Fußball. Keine Frage: Fußball integriert und führt Menschen zusammen. Mit ihm kann man auch auf der sozialen Leiter nach oben klettern.

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Abdón Porte, genannt „El Indio“. Maiztegui, durch und durch bolso, erzählte mir dessen Geschichte: „Er war Meister mit Nacional geworden und hatte 1917 mit Uruguay die Copa América geholt. Doch dann kam der Schicksalstag, an dem ihm der Trainer sagte, dass er am Sonntag nicht im Kader stehen würde. Abdón konnte sich kein Leben vorstellen, in dem er nicht mehr für Nacional spielte. Durch den Fußball hatte er gelernt, sich in der Gesellschaft zu bewegen, sich ordentlich zu kleiden, regelmäßig zu baden und eine Arbeit und eine Braut zu finden. Also schoss er sich am 5. März 1918 im Gran Parque Central, dem Stadion von Nacional, eine Kugel in den Kopf. Man fand ihn am nächsten Tag, die Pistole noch in der Hand.“

Dann kamen die 1920er Jahre, die fetten Jahre des uruguayischen Fußballs. „Es gab keinen speziellen Grund für die Erfolge Uruguays in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts“, erklärte Mario Romano, als er mit großen Schritten durch die Gänge im Bauch des Centenario zum Fußballmuseum eilte. Der Stadionmanager zeigte mir die Jerseys, die Bälle, die Trophäen, die Schuhe von José Vidal, dem Fünfer in der Nationalmannschaft von 1924, und ein großes Poster von Andrade. Er hielt an, um einige Reliquien der Celeste zu erklären.

Anschließend setzte er da fort, wo er kurz zuvor aufgehört hatte: „Ich glaube, dass es viel mit der Lage am Río de la Plata zu tun hatte, mit der Wirtschaftskraft von Uruguay und Argentinien, die damals einen echten Boom erlebten. Sie litten ja nicht unter den Folgen des Ersten Weltkriegs, der in Europa gewütet hatte. Ganz im Gegenteil stiegen die Nettoexporte, und Kapital und Devisen kamen ins Land.“

Und weiter: „Uruguay erlebte eine Wachstumsphase. Der Handel prosperierte, die Industrie expandierte. Dazu kam politische Stabilität, der Staat sorgte für ein modernes Sozialwesen und förderte die Leibeserziehung der Jugend, indem er im ganzen Land Sportplätze eröffnete. Und der uruguayische Fußball eroberte bei seinem ersten Auftritt auf dem alten Kontinent direkt die ganze Welt. 1924 in Paris gewann die Celeste mit einem 3:0 gegen die Schweiz das olympische Fußballturnier.“

Henri de Montherlant, französischer Romancier und Dramatiker, schrieb damals: „Eine Offenbarung! Endlich echter Fußball. Der Fußball, den wir kannten, den wir gespielt haben, ist verglichen damit nur ein Pausenkick in der Schule.“ Maiztegui meinte dazu: „Uruguay war ein kleines Land, das auf der Weltkarte nicht besonders hervorstach. Einen Namen machte es sich in Europa nicht durch seine von Frankreich inspirierten Literaten und ebenso wenig durch seine Musikkultur mit ihrem starken italienischen Einschlag, sondern durch seine Fußballspieler.“

Im Stade de Colombes, gelegen in der gleichnamigen Pariser Vorstadt, wurde schließlich der Mythos der garra charrúa, der „uruguayischen Kralle“, geboren. Von hier drang er in das öffentliche Bewusstsein vor. Da die Organisatoren keine Vorstellung hatten, in welcher Weise sie das nur wenigen Europäern bekannte Land repräsentieren sollten, stellten sie den Uruguayern einfach einen als Charrúa-Indio verkleideten Franzosen an die Spitze der Delegation. Die Spieler der Celeste waren wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Eltern und Großeltern stammten schließlich aus Europa.

Die Kicker wussten wenig bis gar nichts über die indigene Bevölkerung, die einst in der Banda Oriental nördlich des Río de la Plata gelebt hatte. Die letzten dieser Indios waren 1831 auf Befehl von José Fructuoso Rivera y Toscana, dem ersten Präsidenten Uruguays, beim Massaker von Salsipuedes getötet oder gefangen genommen worden. Die Überlebenden wurden als Sklaven nach Montevideo gebracht, bis auf drei, die in Paris als Zirkusattraktion herhalten mussten.

Dank romantischer Dichter wie Juan Zorrilla de San Martín lebt die Legende vom tapferen und furchtlosen Krieger, der bis zum Tode kämpft, bis heute fort. Die garra charrúa war dabei die göttliche Gabe, die dem Krieger entscheidende Kraft verlieh, wenn der Feind es am wenigsten erwartete. Diese Eigenschaft in der Schlacht wurde auf den Fußball und auf die Spieler Uruguays übertragen und die Klaue zum Markenzeichen der Celeste.

Bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam sicherten sich die Uruguayer noch einmal die Goldmedaille. Im Finale spielten sie gegen den ewigen Rivalen Argentinien zunächst unentschieden und gewannen dann das Wiederholungsspiel. 1929 beschloss die FIFA auf ihrem Kongress in Barcelona, Uruguay mit der Ausrichtung der ersten Weltmeisterschaft zu beauftragen. Das Land war wohlhabend und litt nicht unter dem Crash an der Wall Street und der Weltwirtschaftskrise, sondern durchlebte gerade „los años locos“, „die verrückten Jahre“.

Uruguays Wirtschaft boomte, der Peso war mehr wert als der Dollar. Viele Menschen stiegen sozial auf, und die Mittelschicht gewann enorm an Kaufkraft. Große Kaufhäuser wurden eröffnet, um die steigende Nachfrage nach Konsumgütern zu befriedigen; pro Jahr wurden allein 15.000 Autos importiert. Auch Montevideo veränderte sich: Es entstanden neue Wohngebiete, Hochhäuser wurden gebaut, und Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Parks und eben Stadien (wie das Centenario) schossen wie Pilze aus dem Boden.

Da die FIFA schon immer einen guten Riecher für Länder mit großem Geldbeutel hatte, entschied sie sich für Uruguay. Sie wusste, dass dessen Wirtschaft die Organisation einer WM finanziell stemmen konnte. Doch nicht nur das: Die uruguayische Regierung ging noch weiter und stellte 300.000 Pesos bereit. Mit diesem Geld bezahlte sie den Mannschaften aus Europa – Frankreich, Jugoslawien, Belgien und Rumänien – die Überfahrt und gewährte ihnen vor Ort freie Kost und Logis und sogar Tagesspesen.

In nur sechs Monaten wurde das Centenario hochgezogen. Schichtarbeiter schufteten ohne Pause, um den Bau rechtzeitig fertigzustellen. Das Centenario ist das bisher einzige Stadion, das von der FIFA zum „Monument des Weltfußballs“ erklärt wurde. Es verfügte über 90.000 (nach anderen Quellen 100.000) Plätze, die Baukosten betrugen 1,5 Millionen Pesos. Geplant hatte es der Architekt Juan Antonio Scasso im Stil der Moderne. Wegen einer heftigen Regenperiode verzögerte sich die Eröffnung jedoch und fand erst fünf Tage nach Beginn der WM statt.

Am 30. Juli 1930, einem Samstag, wurde um 14:10 Uhr das Endspiel angepfiffen: Uruguay gegen Argentinien, die Neuauflage des Finales zwei Jahre zuvor in Amsterdam. Héctor Castro, „El Divino Manco“ („der göttliche Einhänder“), Sohn galicischer Einwanderer, dessen rechte Hand im Jugendalter in eine elektrische Säge geraten war, traf in der 89. Minute mit einem vorzüglichen Kopfball zum 4:2-Endstand. Uruguay war Weltmeister.

FIFA-Präsident Jules Rimet überreichte Kapitän José Nasazzi den Pokal, und das Land verfiel in einen kollektiven Freudentaumel. Die Regierung erklärte den 31. Juli kurzerhand zum nationalen Feiertag. Laut dem Soziologen Rafael Bayce hatte die Celeste ihren Sieg „einer glänzenden Kombination aus direktem und aggressivem Fußball [zu verdanken], bestehend aus langen Bällen wie bei den Engländern und raffinierten Kurzpässen, mit denen sie dem Spiel einen schnellen Rhythmus gaben“. Mit dem Finale im Centenario hatte sich der Fußball endgültig als populärste Sportart am Río de la Plata etabliert.

*

Man schrieb den 16. Juli 1950, und die Uhren in Rio de Janeiro zeigten auf 16:33 Uhr, da brachte Uruguays Linksaußen Alcides Ghiggia das Maracanã zum Schweigen (lange bevor Frank Sinatra und Papst Johannes Paul II. Vergleichbares erreichen sollten). 200.000 Menschen, die sich des Sieges ihres Teams so sicher gewesen waren, verstummten. Doch nun schlug Uruguay tatsächlich Brasilien und nahm zum zweiten Mal die WM-Trophäe in Empfang.

In seinem Kommentar im Jornal dos Sports schrieb der brasilianische Journalist Mario Filho: „Die Stadt hat ihre Fenster verrammelt und ist in Trauer versunken. Es war, als hätte jede Brasilianerin und jeder Brasilianer einen geliebten Menschen verloren. Oder, noch schlimmer, als hätte jeder Brasilianer seine Ehre und Würde verloren.“ Der Dramatiker Nelson Rodrigues, ein Landsmann Filhos, sprach von einem „Schock, einem seelischen Hiroshima“. Es herrschte unendliche Traurigkeit, es gab Tränen, Herzinfarkte und Selbstmorde.

Uruguay hingegen war in Feierstimmung. Und dann gab es da noch den Kapitän Obdulio Varela, der sich mit dem Ball unterm Arm die Zeit nahm, die brasilianischen Seelen zu trösten; ein Mann, der bis tief in die Nacht hinein mit den Verlierern trank und weinte und der später sagte: „Mit dem Hellblauen auf der Brust werden wir zu Edelmännern.“ Varela wurde zur Legende, zu einem Symbol des Erfolges und der garra charrúa. Bald 70 Jahre sind seit jenem schicksalhaften Spiel vergangen, doch in Uruguay ist es noch immer Gesprächsthema. Es wurden Bücher geschrieben und Dokumentarfilme gedreht über die ruhmreichen 90 Minuten. Niemand hat das Maracanaço vergessen; es wird weiterhin sowohl als positiver als auch negativer Wendepunkt gesehen.

Mario Romano interpretiert die WM 1950 aus rein sportlicher Perspektive: „Maracanã war ganz sicher ein Höhepunkt in der Fußballgeschichte Uruguays; es war der größte sportliche Erfolg. Danach wurde die garra charrúa gefeiert, dass man trotz vermeintlich aussichtslosem Kampf niemals aufgab, wie David gegen Goliath. Aber die Kehrseite der Medaille war, dass nur noch Platz eins zählte. Als die Nationalmannschaft bei der WM 1954 in der Schweiz Vierter wurde, wurde das allgemein als Versagen gewertet, genau wie der vierte Platz bei der WM 1970. Erst 60 Jahre später wurde er gewürdigt und bei der WM in Südafrika wie ein Titel gefeiert.“

„Das Problem ist nicht der Titelgewinn, der ja nun mal Fakt ist, sondern die Lehren, die man daraus zog“, ergänzt Maiztegui. „Nämlich: Wir Uruguayer gewinnen das, wofür andere hart arbeiten und sich lange vorbereiten müssen, allein mit unserer garra charrúa und Schläue.“

Juan Alberto Schiaffino, ein ganz Großer am Ball, bekannte mir gegenüber: „Wird man denn niemals sagen, niemals schreiben, dass wir Brasilien einfach deshalb geschlagen haben, weil wir tollen Fußball gespielt haben? Wird man weiterhin sagen, dass es die Klaue war, der uruguayische Charakter, der uns angeblich zu Machos und schlauen Füchsen macht? Genau diese fixe Idee hat uns geschadet, dem Fußball wie auch dem Land selbst.“

Pepe Mujica hat einmal gesagt, dass die Uruguayer nach dem Erfolg eingeschlafen seien und im darauffolgenden Jahrzehnt der Niedergang der einst so reichen Nation folgte. Auch Maiztegui meint: „Europa hatte ja 1950 noch ganz andere Sachen im Kopf als Fußball. Es baute allmählich seine Industrie, sein Sozial- und Produktionssystem wieder auf und schickte sich an, wieder seine alte Rolle auf der Weltbühne einzunehmen. Uruguay und eigentlich ganz Lateinamerika dagegen hatten es nicht verstanden, die an sich hervorragenden Voraussetzungen für eine Industrialisierung auszunutzen und ihr Wachstum zu verstetigen. Stattdessen fiel man zurück, genau wie der Fußball auch.“

Doch wer sich so sehr auf seinen Lorbeeren ausruht, entwickelt sich in Sachen Kondition, Taktik und Strategie nicht weiter. Ab Mitte der 1950er Jahre kehrten sich dann auch noch die Migrationsströme um, die bis dahin tausende Einwanderer nach Uruguay hineingespült hatten. Der Exodus nach Europa betraf auch Fußballspieler. Maiztegui: „Beispiele dafür sind Schiaffino und Ghiggia, die in Italien bei Milan und der Roma landeten. Oder José Santamaría, der nach der WM in der Schweiz zu Real Madrid ging und in den 1980er Jahren sogar die spanische Nationalmannschaft trainierte. Tja, selbst in den finstersten Zeiten unserer Geschichte haben wir immer noch Fleisch und Fußballspieler exportiert.“

Die schwärzesten Tage dieser Geschichte begannen am 27. Juni 1973. Präsident Juan María Bordaberry löste das Parlament auf und errichtete mit Unterstützung der Armee eine bis 1985 bestehende zivil-militärische Diktatur. Die Opposition wurde aufgelöst, die Spitzen der politischen Linken und der Gewerkschaften inhaftiert und ihre Führer gefoltert. Unter ihnen war auch Pepe Mujica, der wegen seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros insgesamt 13 Jahre im Gefängnis verbrachte. Doch selbst die Führer der traditionellen Parteien wurden eingekerkert. Bordaberry erklärte außerdem sämtliche bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte für ungültig.

Auch Maiztegui war betroffen und musste während der Zeit der Diktatur nach Spanien fliehen. Er meinte: „Das Regime machte alle strukturellen Probleme des Landes nur noch schlimmer. Alles ging kaputt. Erst heute kriegen wir langsam das zurück, was uns in dieser Zeit verloren gegangen ist, nach 50 Jahre Nostalgie und Stagnation plus der Finanzkatastrophe von 2001/02, die 40 Prozent der Bevölkerung auf Armutsniveau zurückließ.“

2005 kam dann die Wende: Das linke Parteienbündnis Frente Amplio („Breite Front“) gewann die Wahlen. Die Wahl José Mujicas zum Präsidenten 2009 war ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Während die Arbeitslosigkeit im Jahr 2002 noch bei 21 Prozent lag, sank sie bis 2011 auf 6,1 Prozent. Die Haushalte haben wieder mehr Kaufkraft, die Sozialpolitik verändert das Gesicht des Landes. Im Bildungs- und Gesundheitswesen ist immer noch viel zu tun, aber Uruguay ist kein Land mehr, aus dem man lieber abhaut.

Die Hoffnung ist also zurück, und davon profitiert auch der Fußball. So wurde die Nationalmannschaft 2011 bei der Copa América in Argentinien Vierter. Romano erklärt das so: „Die Geschichte hat sich wiederholt. Einmal mehr haben die äußeren Bedingungen den Fußball beeinflusst, auch wenn wir immer noch strukturelle Probleme haben. Abgesehen von Peñarol und Nacional spielen in der Liga kaum Mannschaften, die international wettbewerbsfähig sind. Die Qualität ist nicht sehr hoch. Deshalb interessieren sich auch keine TV-Sender aus dem Ausland für unseren Fußball.“

Romano weiter: „2006 startete Uruguay mit einem einheitlichen Ausbildungssystem. Auch ihm ist es zu verdanken, dass es die U17 und die U20 in ihren jeweiligen Altersklassen 2011 und 2013 bis ins Finale der WM geschafft haben. Allerdings hat Uruguay definitiv nicht die Sponsoren und den Etat, mit dem Brasilien und Argentinien oder Italien und England planen können.“

Sein Fazit: „Der größte Unterschied zwischen dem Fußball in Uruguay und anderswo auf der Welt sind die Strukturen: Es fehlt die Infrastruktur, um den Nachwuchs auszubilden, und es fehlt die entsprechende Politik. Trotzdem bringen wir unglaublicherweise – durch die vielen Aktiven, durch die Ernährung mit viel Fleisch und Milchprodukten – regelmäßig starke Spieler hervor, die auf jedem Niveau mithalten können. Spieler wie Luis Suárez machen die Fans stolz, Uruguayer zu sein.“