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Allerliebster Finn.
Danke.

Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs

ISBN 978-3-492-97873-6

© Karin Fossum 2014

Titel der norwegischen Originalausgabe:

»Helvetesilden«, Cappelen Damm AS, Oslo

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: B.Aa. Sætrenes/gettyimages

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

5. Juli 2005, Hitze.

Dezember 2004.

Blåkollen, Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Juli 2005.

Dezember 2004.

Januar 2005.

August 2005.

Februar 2005.

August 2005.

März 2005.

August 2005.

April 2005.

August 2005.

April 2005.

Juni 2005.

August 2005.

August.

5. Juli 2005, Hitze.

5. Juli 2005, Hitze.

Frauen und Kinder glühten, die Männer wussten es besser und blieben im Schatten, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Auf einem Feld in der Nähe des Hofes Skarven, in einer kleinen Talsenke mit einem schwarzen Fichtenwäldchen, stand ein alter Wohnwagen der Marke Fendt. Um die Fenster herum zeichnete sich Rost ab, hinter einer Fensterscheibe eine zerfetzte Gardine, einige Insekten hatten sich fangen lassen und hingen zwischen dichten feinen Fäden und weißen Spitzen tot im Netz aus Nylon. Gleich hinter der Tür lag ein Kind, vielleicht vier, fünf Jahre alt. Auf einer schmalen Sitzbank unter dem Fenster eine Frau. Im Mundwinkel hatte sie eine große Wunde, von der aus Blut über ihr Kinn gelaufen war. Der Hauptkommissar stand mit hämmerndem Herzen in der Tür.

Der Wagen war in schlechtem Zustand, konnten sie wirklich hier gelebt haben, Mutter und Kind? Nein, das glaubte er nicht. Vielleicht hatten sie hier nur spielen wollen. Waren querfeldein gewandert und hatten die rostige kleine Behausung entdeckt. Heute Nacht schlafen wir in einem Wohnwagen!

Im Westen lag Geirastadir, im Osten lag Haugane, aber hier, in diesem schwarzen Gehölz, lagen Mutter und Kind. Sejer ging hinein. Das Adrenalin hatte ihm den Mund ausgetrocknet. Er stieg über den Kinderkörper hinweg, vermied es, ins Blut zu treten, entdeckte vor der Bank auf dem Boden ein Messer. Ein Messer mit Holzgriff und Nieten und einer langen, schmalen Klinge, ein Messer, mit dem Fleisch oder Fisch filetiert werden. Auf der blanken Klinge Ränder aus Blut, das Blut war darübergeströmt, und es roch faulig. Auf der Bank eine Brieftasche, sie war rot und hatte viele Fächer. Ein Rucksack und eine halb gegessene Pizza, einige Kleidungsstücke in einem Regal. In der Brieftasche tausend Kronen in bar. Also kein Raubmord, dachte er, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Es gibt immer eine Beziehung, dachte er dann, einen Beweggrund, ein Motiv. Oder einen Keim aus einer lange zurückliegenden Zeit. Der Mensch, der die Mutter und das Kind getötet hatte, wusste, wer die Opfer waren. Und wo sie waren. Er hatte Jagd auf sie gemacht, war über Wiesen und Felder geschlichen und hatte ihr Versteck gefunden. Falls es ein Versteck gewesen war. Es war ein armseliger Ort, um gefunden zu werden, ein stinkender Unterschlupf, schmutzig und feucht. Regen war durch das Dach gedrungen, tote Insekten lagen herum. Das Kind trug einen Trainingsanzug in den norwegischen Nationalfarben, Rot, Weiß und Blau, es war unmöglich zu sehen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Es lag mit ausgestreckten Armen auf dem Boden auf dem Rücken, es schien bei der Tür niedergeschlagen worden zu sein. Einige blonde Locken klebten ihm an der Stirn. Der Kopf war in den Nacken gekippt, die Kehle dünn und weiß. Sejer öffnete die Brieftasche, die er soeben gefunden hatte, zog einen Führerschein heraus. Bonnie Hayden, so hieß also die Mutter. Das Kind war noch namenlos.

»Nein«, sagte er zu den anderen, die hereinwollten. »Nichts anfassen. Das hier ist erst vor kurzer Zeit passiert, alles ist noch ganz frisch. Ruft Snorrason in der Rechtsmedizin an und sagt ihm, er soll sofort herkommen.«

Er musste wieder hinaus und frische Luft schnappen, er blieb eine Weile im Gras stehen und atmete durch. Er registrierte einige Dinge kristallklar: dass die Vögel noch immer sangen, dass die Fichten in ihren schwarzen Kleidern in der Brise wogten, dass eine Amsel draußen auf dem Feld einen Wurm gefunden hatte und daran zerrte und zog. Ein Großteil der Umgebung wurde gerade abgesperrt. Das Plastikband flatterte in der Brise wie bunte Geschenkschleifen.

Die Männer folgten dem trockenen Fußweg in Richtung Geirastadir. Ihr Gespräch bestand aus kurzen, leisen Kommentaren. Hier war er vermutlich entlanggegangen, hier war er nach seiner Untat davongerannt.

»Sie müssen sich gegenseitig beim Sterben gesehen haben«, sagte Sejer zu seinem jüngeren Kollegen.

Er wusste nicht, was schlimmer wäre. Wenn das Kind den Tod der Mutter miterlebt hätte oder wenn die Mutter zur Zeugin beim Tod ihres Kindes geworden wäre. Das Allerallerschlimmste hatte diese beiden getroffen. Ein Teufel war über die Felder gekommen und hatte sie mit dem Messer erstochen. Die Morde hatten auch etwas Methodisches, etwas Gewolltes. Ich kann nur beten, dass es schnell gegangen ist, dachte Sejer. Er wechselte einige Worte mit dem Bauern, der die Toten gefunden hatte. Der Mann stand verängstigt in gebührender Entfernung, ging weder vor noch zurück, wollte nicht nach Hause, wollte nicht hierbleiben. Ihm gehörte der Wohnwagen, der wurde seit vielen Jahren nicht mehr benutzt, hatte nur zwischen den Fichten gestanden und vor sich hin gerostet.

»Wir kommen noch auf Sie zurück«, sagte Konrad Sejer. »Haben Sie in den letzten Tagen hier in der Umgebung irgendjemanden gesehen? Der hier nicht hingehört?«

Der Bauer verneinte. »Ich habe keine Menschenseele gesehen. Ich habe Polen, die auf dem Hof arbeiten«, fügte er hinzu. »Sie wussten von der Frau mit dem Kind, dass die im Wagen wohnten. Aber das war nur für eine Nacht, sie sind gestern gekommen. Ich kann nicht glauben, dass einer von den Polen mit der Sache zu tun hat. Wenn es so wäre, würde ich nicht drüber wegkommen, das sind doch meine Leute.«

»Auf dem Boden im Wagen liegt ein Messer«, sagte Sejer. »Haben Sie das gesehen?«

Der Bauer holte tief Luft.

»Bitte, schauen Sie es sich genauer an. Ob es Ihnen bekannt vorkommt.«

»Muss ich da wieder rein?«

Das widerstrebte dem Mann offensichtlich.

»Ja.«

Er ging die beiden Stufen hoch und starrte hinein.

»Das ist nicht von uns. Kann ich jetzt gehen?«

»Ja, wir kommen gleich nach. Sprechen Sie nicht mit der Presse.«

Sejer wollte schon wieder zurück in den Wagen, um dort seine Untersuchungen fortzusetzen, aber dann fiel sein Blick auf etwas im Gras neben der schmalen Tür. Eine umgekippte Kuchenform. Der Kuchen war herausgefallen und auf den Boden gerutscht. Er war unberührt. Sejer staunte über diesen Fund und vergewisserte sich, dass er umgehend fotografiert werden würde. Die fetten Krähen würden sich sicher in kurzer Zeit darauf stürzen und ihn verzehren, wenn die Polizei ihn nicht mitnahm. Die Techniker machten ihre Bilder. Krümmten sich in dem engen Wagen zusammen, gingen in die Hocke. Der Linoleumboden wies mehrere blutige Abdrücke einer großen Schuhsohle auf, die meisten waren schwach oder unvollständig, aber einer war deutlich. Sejer ging vorsichtig zwischen den beiden Toten hindurch. Der strenge Geruch nach Fleisch und Blut stach ihm in die Nase. Zugleich war sein Gehirn glasklar. Durch das Fenster sah er das dichte Gebüsch mit den reifen Himbeeren.

Dezember 2004.

Kurz vor Weihnachten schneite es endlich.

»Musst du wirklich noch weg?«, fragte Eddie. »Das ist doch ein Sturm! Im Radio haben sie gesagt, es ist glatt, schwierige Verkehrsverhältnisse, haben sie gesagt, und allen wird geraten, zu Hause zu bleiben. Schau dir doch bloß mal den Schnee an. Man sieht ja fast nichts.«

Mass legte ihm eine Hand auf den Arm, ihre Stimme war ruhig und entschlossen.

»Eddie«, sagte sie freundlich. »Ich habe doch Spikereifen. Und ich fahre so vorsichtig wie irgend möglich, Ehrenwort. Ich will schließlich unversehrt zu dir nach Hause zurückkommen. Aber ich muss noch mal zum Laden, wir brauchen doch etwas zu essen. Oder wolltest du vielleicht fasten?«

Bei der Vorstellung, nichts zu essen zu haben, schüttelte Eddie seinen schweren Kopf.

»Du kannst zusammen mit Shiba hier zu Hause warten«, sagte sie. »Was möchtest du aus dem Laden? Du hast doch bestimmt Hunger.«

Eddie Malthe wischte sich mit dem Handrücken den Rotz ab. Er hatte die Figur einer riesigen Birne, seine Waden waren dürr, die Füße in den dicken Stiefeln, die er immer trug, waren hinten bei den Hacken schmal, dann wurden sie bei den Zehen um einiges breiter. Er hatte Füße wie eine fette Gans. Seine Fäuste waren groß und weiß, die Finger kurz und dick.

»Zimthörnchen«, sagte er entschieden.

»Alles klar, Zimthörnchen«, sagte die Mutter, »jetzt fahre ich. Sei lieb zu Shiba, zieh sie nicht am Schwanz. Ich weiß, dass du das machst, wenn du allein zu Hause bist.«

»Auf keinen Fall«, sagte Eddie, »großes Ehrenwort.« Und dabei freute er sich schon darauf, genau das zu tun. Wenn er Shiba am Schwanz zog, fing sie immer an zu winseln, während sie mit den langen Krallen über den Boden kratzte, um sich loszureißen.

»Denk an den Sicherheitsgurt«, mahnte er.

Die Mutter schob die Arme in ihren Mantel.

»Nicht dein Handy vergessen«, fügte er hinzu. »Ruf an, wenn du von der Straße abkommst, alarmier den Notruf. Jedenfalls, wenn du noch bei Bewusstsein bist.«

»Eddie«, sagte sie, »jetzt hör aber auf. So, setz dich brav aufs Sofa, in einer Dreiviertelstunde bin ich wieder zurück, das ist doch nicht schlimm.«

Eddie sah seine Mutter lange an. »Wenn du weg bist, wird es im ganzen Haus kalt«, klagte er. »Du weißt doch, wie das ist. Vergiss die Zimthörnchen nicht. Wenn die keine Hörnchen haben, musst du Kekse kaufen. Kekse von Pepita, mit Zitrone.«

Er starrte aus waidwunden Augen durch das Fenster. Die Scheiben waren blank geputzt, die Mutter hielt Ordnung. Er sah, wie der Wagen im Rückwärtsgang aus der Garage kam und dann auf die Hauptstraße abbog. Es schneite immer weiter, der Schnee wurde vom Sturm mitgerissen, weiter unten auf der Straße türmten sich hohe Schneewehen auf. In Gedanken betete er, dass alles gut ausgehen möge. Dass die Mutter unversehrt nach Hause kommen würde, mit Milch und süßem Gebäck. Der Hund lag vor dem gusseisernen Ofen und schlief mit dem Kopf auf den Pfoten. Eddie ging hinüber und zog Shiba am Schwanz, wie das seine Art war. Sie fing an zu winseln, rappelte sich auf und lief durch das Zimmer, suchte Zuflucht in der Küche. Eddie setzte sich aufs Sofa, griff nach der Tageszeitung und schlug sie auf der vorletzten Seite beim Kreuzworträtsel auf. Er schaffte die Kreuzworträtsel immer. An seinem Verstand war ja wohl nichts auszusetzen. Er holte sich einen Bleistift und fing an zu lesen. Waagerecht, »habsüchtig« mit sechs Buchstaben. Er schrieb das Wort »gierig« in die sechs Kästchen.

Der Hund lag bewegungslos in einer Ecke in der Küche, im Ofen bullerte es. Shiba war ein acht Jahre alter Labrador mit ziemlichem Übergewicht, und sie hatte nicht mehr lange zu leben, das hatte die Mutter gesagt. Ihr Körper war voller Knubbel, er konnte sie durch das gelbliche Fell ertasten, aber sie hatten keine Versicherung und konnten es sich nicht leisten, den Hund operieren zu lassen.

»Das Leben muss eben seinen Gang gehen«, sagte die Mutter oft. »Nichts ist von Dauer.«

»Das weiß ich«, erwiderte Eddie darauf. Und dann dachte er an den Tod der Mutter, denn auch sie würde ja eines Tages sterben. Und obwohl sie erst sechsundfünfzig war und er selbst einundzwanzig, war es doch so beängstigend für ihn, an das Ende zu denken, dass ihm heiß wurde und er sich schrecklich aufregte. Oft musste er sich die Hand aufs Herz legen, um es zur Ruhe zu bringen. »Altes Wort für Roma«, las er dann, und den dritten Buchstaben bekam er von »gierig«, es war ein »g«. »Zigeuner«, schrieb er. Er nahm immer zuerst die leichten Wörter. Danach sah er auf die tickende Wanduhr. In zwanzig Minuten würde seine Mutter mit den Zimthörnchen wieder da sein. Schon jetzt spürte er den Geschmack im Mund. Wenn sie nur welche hatten! Wenn die nur frisch und lecker waren! »Himmelsrichtung« mit sechs Buchstaben, das konnte »Norden« sein. Oder »Westen«. Und in jedem Fall hatte er dann auch das nächste Wort, nämlich »kreisförmig«, mit vier Buchstaben. Das musste »rund« sein. Bald war er bei den schwierigen Wörtern angelangt und gönnte sich eine Pause. Ging ans Fenster und starrte ins Schneegestöber hinaus, und dabei betete er zu Jesus Christus, wo immer der sich gerade aufhalten mochte. Mach, dass Mama das Schneegestöber überlebt. Denn hier sitze ich allein und warte auf Plätzchen. Es gibt doch nur uns beide. Du musst auf uns aufpassen.

Er ging hinüber zu Shiba in die Küche, riss sie am Schwanz und lachte schallend, als die Hündin aufsprang und ins Wohnzimmer floh. Dort kroch sie unter das Sofa und blieb keuchend liegen.

»Du feige Töle«, sagte er und lachte. »Wieso wehrst du dich nicht? Hast du keine Zähne im Maul?«

Dann setzte er sich wieder an das Kreuzworträtsel, lutschte am Bleistift. Das Wort für »Abschluss« machte ihm arg zu schaffen, es hatte vier Buchstaben.

Eine Dreiviertelstunde war vergangen, und die Mutter war noch immer nicht wieder da. Besorgt griff er zum Telefon und gab mit seinen fetten Fingern ihre Nummer ein. Aber er bekam nur eine Stimme, die sagte: »Dieser Anschluss ist derzeit nicht zu erreichen.« Wieder ging er ans Fenster und starrte hinaus ins Schneegestöber, es war dicht und weiß, die Sonne war nur ein bleicher, bescheidener Schimmer. Er wusste, dass die Mutter ihn später zum Schneeschippen hinausschicken würde, und wenn er etwas verabscheute, dann Schneeschippen. Sicherheitshalber rief er noch einmal an, bekam aber weiterhin diese fremde Stimme, die sagte, die Mutter sei nicht zu erreichen. Mehr als fünfzig Minuten waren bereits vergangen. Jetzt ist es passiert, dachte er verzweifelt. Jetzt sitzt sie mit der Nase im Airbag fest. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, seine Jacke überzustreifen und an der Straße entlangzulaufen, um die Mutter zu suchen. Aber dann, während er noch am Fenster stand, während er vor Angst die Fäuste ballte, sah er ihr Auto vorfahren. Die Scheinwerfer leuchteten ihm entgegen, und er stürzte hinaus in den Flur und dann weiter die Treppe hinunter.

»Du hast eine Dreiviertelstunde gesagt«, klagte er. »Ich hatte solche Angst.«

»Also bitte, Eddie«, erwiderte sie. »Nun tu mal nicht so dramatisch. Ich kann beim Fahren ja nicht telefonieren, und ich war schon fast zu Hause.«

»Hatten sie Hörnchen?«

»Ja«, sagte sie. »Das hatten sie, ich habe zwei Tüten gekauft. Schau mal, hier sind sie, jetzt kannst du es dir gemütlich machen. Stell die Milch kalt, ich will den Schnee von der Treppe fegen. Nachher, wenn du die Hörnchen gegessen hast, musst du unten Schnee schippen.«

Sie zählte sieben Hörnchen ab und legte sie auf einen Teller.

»Heute Abend bekommst du den Rest. Wir wollen doch ehrlich sein, du bist ganz schön dick. Ich weiß, du bist ein großer Junge, aber hundertdreißig Kilo ist zu viel, nur damit du’s weißt. Übergewicht ist gefährlich. Eddie. Milch und Kuchen lagern sich wie Lehm in den Adern ab. Und dann reißt sich irgendwann ein dicker Klumpen los und wird ins Herz geschwemmt. Oder auch ins Gehirn, und dann kannst du nie mehr ein Kreuzworträtsel lösen.«

»Aber dann krieg ich die letzten Hörnchen heute Abend, nicht wahr?«, bettelte er.

»Ja«, sagte sie. »Versprochen. Aber du weißt, ich muss eben streng sein. Irgendjemand muss bei dir Ordnung halten, da sind wir uns doch einig.«

»Wir müssen ins Einkaufszentrum«, sagte er. »Ich brauche was zum Anziehen. Ich will den Pullover, den ich in der Zeitung gesehen habe. I Love New York

In der Nacht träumte er von Küken. Gelb, flaumig und weich wuselten sie auf ihren dünnen Beinchen herum. Er hob sie auf und ließ sie in einen Kochtopf mit Knoblauch und Butter fallen. Er träumte, dass sie dort blubberten, während sie zugleich piepsten und in dem kochenden Wasser zappelten. Als der Traum zu Ende war, fuhr er aus dem Schlaf hoch und lauschte dann zum Zimmer seiner Mutter hinüber. Manchmal sprach sie im Schlaf, manchmal stöhnte sie, aber meistens war es dort die ganze Nacht hindurch still. Er mochte es nicht, wenn seine Mutter schlief. Wenn sie nicht da war und auf ihn aufpasste, wenn sie nicht antwortete, wenn er sie ansprach, sondern nur dort lag und in der Dunkelheit atmete, außerhalb seiner Reichweite.

Immer wurde er zuerst wach, und dann lag er da und horchte auf seine Mutter, ob sie vielleicht wach sei. Er blieb ganz ruhig liegen, bis er die Toilettenspülung hörte, dann wälzte er sich aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer, riss den Vorhang zur Seite und starrte hinaus auf den neuen Tag, der ihm zuteilgeworden war. Danach ging er in die Küche und steckte eine Hand in seine Unterhose und die andere in die Brottrommel. Er schnitt sich zwei Scheiben Brot ab und bestrich sie dick mit Butter, dann griff er nach der Zuckerschale. Wischte einige Krümel von der glatten Wachstuchdecke.

Bald kam die Mutter aus dem Badezimmer und sah ihn mit Brot und Zucker dort sitzen. Es war immer dieselbe Leier: »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dir vor dem Essen die Hände waschen sollst, du warst bestimmt noch nicht im Badezimmer. Mit diesen Händen hast du doch alles Mögliche angefasst.«

Eddie dachte sich seinen Teil. Er wusste, dass sie oft mit einer Hand zwischen den schweißnassen Oberschenkeln schlief, und manchmal, nachts, konnte er sie stöhnen hören. Ich bin, verdammt noch mal, kein Idiot, sagte er zu sich selbst. Und obwohl die Mutter ihn ins Badezimmer scheuchte, um sich die Hände zu waschen, fühlte er sich obenauf. Die Mutter schaute aus dem Fenster in das wilde Schneegestöber.

»Wir nehmen heute den Bus«, sagte sie und sah ihren Sohn an. »Das geht genauso gut. Und wir müssen jetzt wirklich mit dir zum Friseur, du siehst aus wie ein Mädchen.«

Eddie schnaubte. Er war eins neunzig groß und hatte eine Stimme wie ein Reibeisen. Er sah absolut nicht aus wie ein Mädchen, wie konnte sie so etwas sagen? Aber seine Haare lockten sich im Nacken, dick und braun und weich, und er fand es schrecklich, wenn die Schere an seinen Ohren kreischte.

Bald saß sie neben ihm im Bus, die Hände um die braune Handtasche gefaltet.

»Wir gehen zu Dressman«, entschied sie. »Da haben sie extra large. Du darfst dir keinen Zucker mehr aufs Brot streuen, davon kannst du Diabetes kriegen.«

Darauf erwiderte er nichts. Er saß auf seinem Sitz neben ihr und nahm den Seifengeruch wahr. Er saß gern so im Bus und wurde hin und her geschaukelt, ihm gefielen das leise, verschlafene Brummen des Motors, der Geruch der neuen Sitze aus rotem Plüsch. Der Geruch fremder Menschen, mit denen er nichts zu tun haben musste.

Dressman lag im ersten Stock des Einkaufszentrums, und sie fuhren mit der Rolltreppe nach oben. Vor dem Laden gab es Gestelle mit Waren, einiges war alt und heruntergesetzt.

»Ich brauche eine Hose und einen Pullover«, sagte er laut und deutlich zu der jungen Frau, die ihnen behilflich sein wollte. »Die Hose soll schwarz sein. Sie soll viele Taschen haben, vorn und hinten an den Beinen. Keine Jeans, es muss ein anderer Stoff sein. Steife Kleider sind scheußlich. Sie muss extra large sein, ich bin ein großer Junge.«

Sie lächelte und zeigte weiße Zähne. Ihre Haut war dunkel wie Schokolade, und ihre Haare waren schwarz.

»Du bist keine Norwegerin«, erklärte Eddie.

»Bin ich wohl«, entgegnete sie eifrig. »Mein Vater ist Äthiopier, aber ich bin in Norwegen geboren und aufgewachsen. Schauen Sie mal, hier habe ich eine Hose mit vielen Taschen. Sechs vorn und zwei hinten, das ist ja wohl nicht schlecht?«

»Die ist nicht schwarz«, sagte Eddie unzufrieden.

»Nein, aber eine andere habe ich nicht. In Ihrer Größe. Wenn die Taschen so wichtig sind. Ich hätte noch andere schwarze Hosen, aber nur Jeans. Und Sie haben ja gerade gesagt, dass Sie keine wollen.«

»Na gut«, sagte Eddie. »Dann ist heute der Tag, an dem ich mit einer dunkelblauen Hose nach Hause komme. Komisch, dass man sich nicht mal einen bescheidenen Wunsch erfüllen kann. Und ich brauche einen Pullover«, fügte er hinzu, »und der soll auch schwarz sein. Warst du schon mal in Äthiopien, um nach deinen Wurzeln zu suchen?«, fragte er neugierig.

Die Mutter griff verärgert ein. »Jetzt nerv hier nicht rum. Mach, dass du in die Umkleidekabine kommst, du musst die Hose anprobieren. Ich such solange einen Pullover. Frag die Leute nicht, wo sie herkommen, das geht dich nichts an. Fändest du es gut, wenn alle wissen wollten, woher du stammst?«

»Ja, das fände ich gut«, erwiderte er.

Er riss den Vorhang zur Seite und betrat die enge Umkleidekabine, streifte die alte Hose herunter und zog die neue an. Die Mutter brachte einen Pullover, sie hatte den mit New York gefunden, aber den wollte er nicht anprobieren, er konnte sehen, dass er passte. Mass bezahlte siebenhundertzwanzig Kronen, und Eddie trug die Tüte aus dem Laden.

Sie standen im Café Christiania im ersten Stock vor dem Tresen.

»Du kannst ein Butterbrot haben«, sagte Mass, »und ein Stück Kuchen. Ich nehme Waffeln mit Marmelade. Eddie, du darfst Ausländer nicht fragen, woher sie kommen.«

»Äthiopien ist doch gut«, meinte er. »Da braucht man sich nicht zu schämen.«

Sie setzten sich an einen Fenstertisch. Eddie zerquetschte seine Cremeschnitte auf dem Teller, versuchte, den Deckel in kleine Stücke zu teilen.

»Weißt du noch, wie wir von Las Palmas gekommen sind?«, fragte er. »Weißt du noch, der Neger, der am Flughafen auf der Rolltreppe gefallen ist? Der hat sich beide Beine gebrochen. An mehreren Stellen. So was Schreckliches hatte ich noch nie gesehen.«

»Du darfst nicht Neger sagen«, sagte Mass. »Warum denkst du jetzt an ihn?«

»Weil wir auch mit der Rolltreppe fahren müssen. Sei vorsichtig. Ich nehm die Tüten.«

Er leckte sich die Lippen.

»Heute Abend kommt diese Sendung im Fernsehen, die, wo sie nach vermissten Verwandten suchen. Die will ich unbedingt sehen«, sagte er dann. »Du weißt, dass ich total neugierig auf die Großeltern bin. Und überhaupt auf alle Verwandten von Papa. Woher sie gekommen sind und wie ihr Leben war. Und was sie gemacht haben.«

Mass trank einen Schluck Kaffee.

»Die sind doch tot«, wandte sie ein. »Da spielt das ja wohl keine Rolle. Jetzt gibt es nur noch dich und mich, und ich finde, wir haben es gut.«

Sie nahm einen Bissen von ihrer Waffel.

»Ich finde, du solltest dir eine Freundin suchen«, sagte sie dann. »Ich werde schließlich nicht immer hier sein.«

Eddie machte ein beleidigtes Gesicht.

»Was soll ich mit einer Frau?«, fragte er. »Ich hab doch dich. Warst du traurig, als Papa abgehauen ist?«

»Nein«, sagte sie, »eigentlich nicht, ich war darauf vorbereitet. Er war ein Schürzenjäger, Eddie, nur damit das gesagt ist. Ich habe dir doch erzählt, dass er sich eine andere gesucht hatte, und sie war natürlich viel jünger als ich, so sind die Männer eben. Aber dann wurde er krank, er ist schon zweiundneunzig gestorben, also hatte sie nicht viel von ihm. Ich weiß gar nicht, ob sie Kinder hatten. Aber über all das haben wir schon so oft gesprochen, Eddie, ich habe nichts mehr zu sagen.«

»Das hört sich an, als wäre dir alles nur recht so gewesen.« Eddie klang verletzt. »Hast du überhaupt nicht an mich gedacht?«

»Natürlich habe ich das. Aber du solltest doch nicht bei einem Vater aufwachsen, der uns gar nicht wollte.«

Später an diesem Nachmittag saß Eddie mit der Zeitung auf dem Sofa. Er las gern die Todesanzeigen, ließ sie sich fast schon schmatzend auf der Zunge zergehen, viele alte Damen starben, sie schmeckten nach Kampfer. Einige waren süß wie Karamell, das waren die kleinen Kinder. Andere Todesfälle brannten wie türkischer Pfeffer. Das war dann vielleicht Mord oder Selbstmord, und viele verloren den Kampf gegen den Krebs. Er versank vollständig in seinen Gedanken. Danach machte er sich über das Kreuzworträtsel her. »Corona«. Fünf Buchstaben, der letzte war ein »s«. Er wusste, dass »Corona« eine Biersorte war, er wusste, dass eine Stadt so hieß. Und es hatte natürlich etwas mit der Sonne zu tun. Er stand auf und suchte im Internet und erfuhr zu seiner großen Überraschung, dass es auch ein Virus war. Was ich alles kann, dachte Eddie zufrieden. Ich hab den Durchblick.