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Trotzdem Ja zum Leben sagen

Die Frage nach dem Sinn stellt sich nicht nur angesichts des Todes. Aber die Tatsache, dass wir sterben werden, spitzt die Frage natürlich zu. Werde ich gefragt, ob das Leben einen Sinn habe, antworte ich zunächst mit einer Gegenfrage: Wenn es keinen Sinn des Lebens gäbe, dann wäre doch unser Leben sinnlos, oder? Und was hätte es für einen Sinn, ein sinnloses Leben zu führen? Meine Antwort: gar keinen.

Während meiner tiefen Lebenskrise 2002 gab es Phasen der Verzweiflung und Zeiten, in denen ich nicht mehr an einen Sinn in meinem Leben glaubte. Überwältigt von den Ereignissen hatte ich innerlich kapituliert und mich damit abgefunden, ein Versager zu sein. Ich hatte keine Lust mehr am Leben, da alles, auf das ich hingearbeitet hatte, zerstört zu sein schien. Die Parteispendenaffäre hatte mich meiner geplanten beruflichen Zukunft beraubt, meine Mutter hatte sich in meinem Kinderzimmer umgebracht und meine erste Ehe war zerbrochen. Den daraus folgenden Rosenkrieg hatte ich verloren, sodass ich de facto pleite war. Auch mein Körper zeigte mir inzwischen die Grenzen. Seit Monaten war mir mein Geschmackssinn abhandengekommen. Ich konnte Nutella mit Honig, Gewürzgurken, Senf und Emmentaler Käse gleichzeitig essen und schmeckte gar nichts. Alles schien so sinnlos und leer. Ich fühlte mich innerlich wie ausgebombt, überall nur noch dumpfer Schmerz, Sprachlosigkeit, Einsamkeit und ein schwarzes Loch namens Sinnlosigkeit. Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes den Geschmack am Leben verloren.

In dieser Zeit hing ich viel passiv rum. Besonders die Wochenenden waren schlimm. Da ich bis auf eine Handvoll so gut wie alle sozialen Kontakte verloren hatte, wusste ich wenig mit mir anzufangen. Meinen eigenen Freitod hatte ich in Form eines fingierten Tauchunfalls komplett vorbereitet. Ich musste nur noch das Geld aus der Schublade holen, ans Rote Meer fliegen und dann im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr auftauchen.

In dieser düsteren Stimmung saß ich im Wohnzimmer meines damaligen Heims und blickte durch das große Panoramafenster auf eine spektakuläre Frühlingslandschaft. Überall blühte die Natur auf, das Leben erwachte und ich saß völlig amorph da. Nichts und niemand schienen mich mehr zu erreichen. Aus Langeweile griff ich mir eine Zeitschrift, die auf der Couch neben mir lag, um das Kreuzworträtsel zu lösen. Einer meiner Standardwitze in dieser Zeit war: Wenn ich schon nichts hinkriege, dann wenigstens noch das Kreuzworträtsel. Ich begann also im Heft zu blättern, um das Kreuzworträtsel zu finden.

Plötzlich erfassten meine Augen eine Überschrift und ich erstarrte förmlich. „…trotzdem Ja sagen zum Leben“ stand da in fetten Lettern. Diese Worte lösten ein kleines Erdbeben in mir aus. Sie erreichten sofort mein Herz, denn sie sprachen etwas an, was ich damals überhaupt nicht konnte: Trotz aller Umstände, aller Erlebnisse, eben trotzdem Ja zum Leben zu sagen. Diese Worte waren eine Mischung aus Faustschlag und Elektroschock für meine Seele. Langsam begann ich, den Artikel und das dazugehörige Interview zu lesen.

In dem Text ging es um eine philippinische Oppositionspolitikerin, die lange Jahre in den Kerkern des Diktators Marcos gequält und gefoltert wurde. Immer wieder stand sie an der Schwelle zum Tod und im Interview sagte sie sinngemäß: Ohne dieses Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ hätte ich diese Qualen nicht überlebt. Ich war fasziniert und – ohne im Moment zu verstehen, was passiert war – es beschlich mich eine Ahnung oder vielleicht besser eine Hoffnung, dass es da draußen doch noch etwas gibt, von dem ich heute nichts weiß, das aber auch meine Rettung sein könnte.

Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, besorgte ich mir so schnell wie möglich das Buch. Ohne es damals zu ahnen, sollte dieses Buch von Viktor Frankl, „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ mit dem Untertitel „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, zu einem der entscheidenden Wendepunkte in meinem Leben, zu einem guten Teil sogar zu meinem Lebensretter werden.

Frankl, ein jüdischer Arzt und Philosoph, lebte anfangs des Zweiten Weltkrieges mit seiner Frau und seiner Familie in Wien. Im September 1942 wurde die Familie in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, später nach Auschwitz. Dort starben aller Wahrscheinlichkeit nach seine Eltern und seine Geschwister, bis auf eine Schwester, die noch vor dem Krieg nach Australien auswandern konnte. Seine erste Frau starb in Bergen-Belsen. Frankl selbst wurde nach kurzer Zeit von Auschwitz nach Dachau, genauer gesagt ins Lager Kaufering deportiert, wo er die unvorstellbaren Gräuel des KZs nur mit knapper Not durch die Befreiung durch die U.S. Army im April 1945 überlebte.

Als ich das Buch endlich in den Händen hielt, begann ich sofort zu lesen. Es ist kein langer Text, etwa 90 Seiten, aber mit welcher Sprengkraft! Ich habe das ganze folgende Wochenende dieses Buch gelesen, sicherlich fünfmal hintereinander. Schnell begann ich einzelne Passagen zu markieren und mir einzelne Zitate herauszuschreiben. Ich fing an, neue Energie zu spüren, und plötzlich tauchte ein starkes Gefühl in mir auf, das ich am allerwenigsten erwartet hätte: Scham.

Ich konnte es nicht fassen. Sicher, der Text machte mich betroffen und manches konnte ich mir vage vorstellen, da ich eine Reihe von KZs besucht hatte. Doch Scham? Warum? Und woher kam sie? Nach Monaten der tauben, dumpfen Emotionslosigkeit war da auf einmal ein starkes Gefühl in mir. Aber es war kein wohliges, angenehmes Gefühl, das sich da breitmachte. Im Gegenteil, es war neuer Schmerz, der förmlich um sich schlug. Es war Scham. Ausgerechnet Scham! Ich saß auf der Couch, blickte in die aufblühende Frühlingslandschaft, heulte und schämte mich vor mir selbst. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was passiert war.

Ich schämte mich, weil ich, obwohl ich einen guten Job, genügend zu essen und ein schönes Zuhause hatte, trotzdem mein Leben nicht auf die Reihe zu bringen schien, im Hamsterrad des Sich-unglücklich-Fühlens, des „Alles ist scheiße“ völlig gefangen war und dem Leben nichts Schönes und Lebenswertes mehr abgewinnen konnte. Ich schämte mich in Grund und Boden ob meiner Unfähigkeit, etwas zu tun, das im Zentrum des Denkens steht, das Frankl entfaltet hat:

Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat.“

„Welche Frage stellt das Leben dir jetzt?“, so lautet seine Formulierung, die ich verstand und die mich aufrüttelte. Bisher hatte ich mich in sinnlosen inneren „Warum?“- oder besser „Warum ich?“-Schlachten verloren. Ich hatte nach Gerechtigkeit gesucht, wo es keine geben konnte. Ich war nachtragend geworden und dieses Nachtragen hatte mich komplett gelähmt. Dies sinnlose Verlangen nach einem „Warum“, das es wohl so nie geben würde, die selbstgerechte Suche nach meiner Gerechtigkeit und mein mich lähmendes Nachtragen, so hießen die drei inneren Sackgassen, in die ich mich damals so kunstvoll selbst hineinmanövriert hatte.

Schließlich ließ ich zum ersten Mal eine neue Denkrichtung, einen neuen Ansatz zu und fragte mich selbst: Walter, welche Frage stellt das Leben dir jetzt? Und die Antwort kam spontan aus meinem Herzen:

Walter, gestalte und überlebe den nächsten Tag, nur jeweils einen Tag, das genügt.

Ein fast erlösender Moment. Zum ersten Mal spürte ich die Kräfte der inneren Umkehr, des Perspektivwechsels, die in den folgenden Jahren noch so oft meine größten Verbündeten auf dem Weg in ein neues, sinnorientiertes Leben sein würden.

Heute glaube ich, dass der Sinn des Lebens eine der wichtigsten und stärksten Kräfte für unsere Lebensgestaltung darstellt. Wenn wir das Wofür kennen, dann kann dieses Wissen im wahrsten Sinne dieses Ausdrucks Berge versetzen. Viktor Frankl hat diese Weisheit exemplarisch in seinem Buch dargestellt.

Eine Schlüsselszene in Frankls Buch beschreibt seine Entscheidung, nicht „in den Draht zu gehen“. Die gesamte Lagerabsperrung entlang war an der Innenseite ein Draht gespannt, und jeder Häftling, der diese Markierung überschritt, wurde sofort von den Wachen erschossen. Viele Häftlinge wählten den Weg in den Draht, um ihrem so höllischen und aussichtslosen Schicksal zu entrinnen. Es war ihr Weg, Erlösung im Tod zu suchen. Viktor Frankl hingegen entschied sich gegen den Draht. Er wollte für etwas leben, er hatte ein Wofür, ein Ziel, einen Sinn, der ihm half, die schier endlose Marter zu ertragen und zu überleben. Er stellte sich vor, dass er nach dem Krieg Vorträge über seine sinnzentrierte Psychologie, die sogenannte Logotherapie, halten würde. Seine Vision war es, Menschen zu helfen, indem er ihnen die Kraft des Sinns erschloss. Diese Vision war die Sinngebung für ihn selbst. Sie gab ihm immer wieder Kraft, einen weiteren Tag durchzuhalten, bis die US-Armee ihn schließlich nach Jahren des Martyriums im April 1945 befreite.

„Wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden.“ Im Jahr 2002, am Tiefpunkt meines Lebens, haben mich solche Worte von Viktor Frankl zutiefst berührt. Sie zeigten mir auch in Zeiten der Sinnleere, dass Hoffnung und Sinn auf uns warten, auch wenn der Tag es nicht vermuten lässt.

Walter Kohl, Jahrgang 1963, Unternehmer, Referent, Coach und Autor, Königstein im Taunus, www.walterkohl.de

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Werden wieder gute Tage kommen?

Eine Anfrage an L. A. Seneca und V. E. Frankl

Lucius Annaeus Seneca, 4 v. Chr. in Córdoba geboren, war ein Philosoph der Antike. Viktor Emil Frankl, 1905 n. Chr. in Wien geboren, war ein Seelenarzt der modernen Zeit. Obwohl zwischen beiden berühmten Persönlichkeiten 19 Jahrhunderte liegen, finden sich in ihrem Erkenntnisschatz erstaunliche Parallelen. Beide waren Lehrmeister „weiser Lebenskunst“. Deshalb möchte ich die tröstliche Behauptung dieses Buches den beiden Gelehrten zur „Diskussion“ vorlegen. Werden wieder gute Tage kommen?

Natürlich wussten die zwei, dass im Leben Gutes und Schlechtes abwechseln. Dies allein ist aber nicht sonderlich tröstlich, weil ja auch schlechte Tage wieder kommen werden. Zudem wussten die zwei genau, dass keinesfalls jedermann Positives zu erwarten hat. Für manches Katastrophenopfer liegt nichts als Leid und Not bereit. Für manch unheilbar Kranken gibt es bloß noch Schmerzen oder Agonie. Ist also die Behauptung dieses Buches eine fromme Illusion? Was meinen die beiden weisen Männer dazu?1

Seneca: „Glückselig zu leben wünschen alle; aber die Grundlagen solchen Lebens erkennen nur wenige … Ein glückseliges Leben ist jenes, das auf rechter Lebensansicht beruht. Dann nämlich ist die Seele ungetrübt und frei von Übeln und sich ihrer unüberwindlichen Kraft voll bewusst.“

Frankl: „Was der Mensch letzten Endes wirklich will, ist nicht das Glücklichsein an sich, sondern ein Grund zum Glücklichsein. Sobald nämlich ein Grund zum Glücklichsein gegeben ist, stellt sich das Glück von selber ein.“

Beide Lehrmeister betonen also, dass gute Tage Vorbedingungen haben: die „rechte Lebensansicht“ bzw. die Sicht auf Gründe zum Glücklichsein. Was könnten solche Gründe sein?

Seneca: „Grundlage und Höhepunkt rechter Geisteshaltung ist es, sich nicht an gehaltlosen Dingen zu erfreuen, sondern zu wissen, worüber es Sinn und Wert hat, sich zu freuen … Weil echte Freudigkeit in der Seele entsteht und dort beschlossen bleibt, geht dem Weisen äußeres Ungemach nicht unter die Haut.“

Frankl: „Auf Grund seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in Form eines Du zu begegnen, es zu lieben. Erfüllung und Begegnung geben dem Menschen einen Grund zum Glück.“

Für beide Lehrmeister ist klar: Zu guten Tagen gehört die Freude, und zwar die Freude an Sinn- und Wertvollem. Da derjenige, der einen Blick dafür hat, überall Sinnvolles zu verwirklichen und Liebenswertes zu schätzen weiß, kann er der Freude einen Dauerwohnsitz in seiner Seele bieten.

Seneca: „Es gilt, Schwierigkeiten furchtlos gegenüberzutreten, sie als Ansporn und Prüfungen zu werten und an ihnen unsere Willigkeit zu beweisen, sie zu meistern. Den guten Steuermann lernt man im Sturm kennen, die Tauglichkeit und Kraft des Menschen, wenn Widrigkeiten seinen Weg kreuzen.“

Frankl: „Sein Bestes herzugeben, das jeweils Bestmögliche getan zu haben, heißt: die Relativität einer Leistung in deren Beurteilung einzubeziehen; die Leistung in Bezug auf den ‚Start‘ beurteilen, in Bezug auf die konkrete Situation, mit all ihren Schwierigkeiten, d. h. den äußeren Hindernissen oder inneren Hemmungen.“

Es gibt in unserer Welt nicht nur Anlass zur Freude. Sie ist voller Probleme und Stürme, die über uns hinwegfegen. Für die beiden Lehrmeister sind dies Prüfungen, die es zu bestehen gilt und die uns zu Kräftebündelungen befähigen sollen, welche laut ihnen hoch zu bewerten und zu beurteilen sind. Vielleicht liegen sie damit richtig, dass es nicht unsere guten, dafür aber unsere besten Tage sind, an denen die an uns heranbrandenden Schwierigkeiten eben das Beste aus uns herausfordern.

Seneca: „Halte keinen für glücklich, der von seinem Glück abhängt. Die Freude an äußeren Gütern steht auf tönernen Füßen. Jede Beglückung, die von außen kommt, verlässt uns wieder. Jene Werte hingegen, die im Inneren wurzeln, wachsen und begleiten uns bis ans Ende.“

Frankl: „Leiden heißt leisten und heißt wachsen. Aber es heißt auch reifen. Denn der Mensch, der über sich hinauswächst, reift zu sich selbst heran. Ja, die eigentliche Leistung des Leidens ist nichts anderes als ein Reifungsprozess. Die Reifung jedoch beruht darauf, dass der Mensch zu innerer Freiheit gelangt – trotz äußerer Abhängigkeit.“

Nicht alle Probleme sind zu lösen und nicht alle Schwierigkeiten sind zu überwinden. Es gibt auch unabänderliche Schicksalsfügungen und Leiden. Sie sind gleichsam „Bewährungsproben unserer geistigen Freiheit“, denn wenn wir sie mit Tapferkeit und Würde ertragen, wachsen wir zu einer inneren Größe heran, die durch Wohlergehen und Besitz niemals zu erlangen wäre.

Seneca: „Wie eine Flamme sich stets in die Höhe erhebt und himmelwärts lodert, so ist auch unser Geist in steter Bewegung höhenwärts und bis zum letzten Tage seiner Erdenverkörperung umso feuriger und kraftvoller, je tätiger er ist. Glücklich nun, wer diesen Drang auf das Edle, Gute und Göttliche richtet. Er entzieht sich im gleichen Maße der Gewalt des Schicksals.“

Frankl: „Das Geistige ist nicht etwas, das den Menschen bloß kennzeichnet, nicht anders als etwa das Physische und das Psychische dies tun, die ja auch dem Tier eigen sind; sondern das Geistige ist etwas, das den Menschen auszeichnet, das nur ihm und erst ihm zukommt.“

Ja, das ist unser menschliches Privileg: Wir können uns geistig von Verführungen distanzieren und über eigene Schwächen erheben – himmelwärts. Vielleicht machen wir davon nicht oft genug Gebrauch. Je mehr wir uns jedoch darin einüben, desto mehr Gutes können wir in der Welt bewirken und desto mehr Gutes fließt zurück … in unsere Erdentage hinein.

Seneca: „Alles Menschliche fließt dahin, und kein Teil unseres Daseins ist so verwundbar wie der, welcher uns der liebste ist. Nichts ist gewiss, als was vorüber ist.“

Frankl: „Nicht nur was wir erlebt; auch was wir getan, was wir Großes je gedacht und was wir gelitten … all das haben wir hineingerettet in die Wirklichkeit, ein für alle Mal. Und mag es auch vergangen sein – eben in der Vergangenheit ist es für alle Ewigkeit gesichert! Denn Vergangensein ist auch noch eine Art von Sein, ja vielleicht die sicherste.“

Abschiede stimmen wehmütig. Sind es Abschiede von „unserem Liebsten“, ist die Trauer unbeschreiblich. Naht der Abschied von unserem eigenen Leben, lässt uns das ebenfalls nicht unberührt. Gibt es etwas von bleibendem Wert? Nun, bleiben tut alles, das Verfehlte, Versäumte, aber auch unser Bestes und „Liebstes“, geborgen in der geschichtlichen Wahrheit, die selbst der mächtige Tod nicht auslöschen kann.

Beide Lehrmeister meinen: In dem Maße, in dem wir uns intensiv um kostbare Erlebnisse, sinnvolle Ziele, liebevolle Handlungen und noble Haltungen bemühen, dürfen wir tatsächlich der Verheißung glauben, dass gute Tage kommen werden, wieder und wieder – in unserem Leben und über unser Leben hinaus.

Prof. Dr. Elisabeth Lukas, emerit. Hochschuldozentin, Jahrgang 1942, Perchtoldsdorf bei Wien

1 Die Zitate stammen aus den Büchern: Karl-Otto Schmidt, „Seneca der Lebensmeister“, Drei Eichen, Hammelburg, 17. Aufl. 2016, Viktor Emil Frankl, „Ärztliche Seelsorge“, Deuticke, Wien, 10. Auflage 1982 und „Der leidende Mensch“, Huber, Bern, 2. Aufl. 1984 und „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“, Piper, München, 1985 und „Logotherapie und Existenzanalyse“, Piper, München, 1987 und „…trotzdem Ja zum Leben sagen“, dtv, München, 18. Aufl. 1999

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Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Es ist, als würde ich die Luft anhalten. Als würde mein ganzer Körper in Winterstarre verfallen. Und so sitze ich steif auf dem Beifahrersitz und versuche, das Geruckel der vielen Schlaglöcher zu ignorieren. Meine Hände umklammern meinen Bauch. Es ist bestimmt nichts, hat mein Mann mich zu beruhigen versucht, die Hebamme hat doch echt unprofessionell gewirkt. Jetzt sitzt er still neben mir. Ich zwinge mich, nicht zu denken und nicht zu fühlen. Aber ganz tief in mir spüre ich, da stimmt etwas ganz und gar nicht.

Am Freitag war vormittags eine unvollständige Sonnenfinsternis. In diesem Moment wirkte die Welt ganz grau und irgendetwas ist passiert. Gestern Abend dann diese Unruhe, ich spüre so wenig von dir. Und heute Morgen die Gewissheit, das ist nicht normal.

Wir kommen im Krankenhaus an. Die Hebamme im Kreißsaal nimmt uns freundlich auf, fragt ein paar Dinge, bietet mir eine Untersuchung an, aber da hat die zuständige Ärztin schon Zeit. Ich liege, das Gel auf meinem Bauch ist kalt. Mein Gynäkologe wärmt es immer vor. Die Ärztin fährt langsam und gründlich über meinen Bauch. Ich kann dich auf einem Bildschirm über mir sehen, so wunderschön bist du und liegst wie immer mit dem Kopf nach unten. Du bewegst dich nicht. Ich warte. Irgendwann schaut die Ärztin mich an, sagt nichts. Muss sie auch nicht, ich habe es verstanden. Mein Baby, mein Baby. Dein Herz schlägt nicht mehr. Ich schreie und schreie, mein Baby, mein Baby. Alles tut mir weh. Der Chefarzt kommt, will auch nachsehen, ich schreie immer noch. Und er nimmt die Worte in den Mund: „Es tut mir sehr leid, Ihr Baby lebt nicht mehr.“

In dem Vakuum, das folgt, fühle ich alles, meine Sinne sind geschärft. Kein einziger Augenblick darf mir entgehen, denn es sind die letzten Tage, Stunden, Minuten mit dir. Ich halte die Zeit an. Du bist doch noch da, in meinem Bauch, noch bist du nicht weg.

Ich habe doch jeden Tag gebetet, bitte lass es stark werden und wachsen, bitte lass es leben. Du bist immer gesund, alles verläuft normal. Ich sage mir, jetzt bist du schon so groß, es kann nichts mehr passieren. Und doch – jetzt schlägt dein Herz nicht mehr.

Ich möchte für dich singen, für dich dort in meinem Bauch, ich bin sicher, du kannst mich noch hören. Aber es kommt kein Ton. Meine Stimme ist weg, die Musik verschwunden. Zwei Tage später wird die Geburt eingeleitet und es dauert anderthalb Tage, bis ich Wehen bekomme. Dann wirst du geboren und in diesen Minuten gibt es keinen Tod. Ich will dich gleich sehen, du liegst auf meinem Bauch und siehst aus, als würdest du schlafen. Wunderschön bist du, ein Junge, das wusste ich von Anfang an. Keine Worte der Welt können dich vollständig beschreiben, ich habe es so oft versucht. Ich halte dich, du bist so klein. Und doch hättest du leben können und sollen. Ich berühre dich überall, sehe mir genau an, wer du bist. Dein Name gehört zu dir, wir haben ihn schon lange ausgesucht. Justus, der Gerechte, der niemals ein Unrecht verüben wird. Ich gäbe alles für dein Leben, auch wenn es Unrecht beinhaltet.

Als sie dich zwei Tage später abholen für den Transport, zerreißt es mich. Ich will nicht, dass du verschwindest. Wir haben Bilder gemacht, viele, um nicht zu vergessen. Wir besuchen dich beim Bestatter, du liegst in deinem Körbchen, kein Sarg, bist immer noch so schön. Ich schaffe es irgendwie, für die Beerdigung einen Text auszusuchen. Denn „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“. Und ich schaffe es, an diesem Tag aufzustehen und zu leben, und auch an jedem kommenden Tag. Ich habe eine Kraft, die mich den Schmerz immer wieder erleben lässt, das Zerbrechen auszuhalten, ohne mich dabei zu verlieren. Jeden Tag gehe ich zu deinem Grab. Ich will nicht, dass dein Körper vergeht, und wenn ich dort bin, vergeht die Zeit langsamer. Am liebsten würde ich sie anhalten, meine Zeit, doch wer kann mir sagen, ob ich dich dann sehe? Ich beschließe, kein Risiko einzugehen. Denn ich habe mich damals taufen lassen in der Gewissheit, eines Tages immer noch zu sein, in der besten aller Welten. Und ich weiß, dass du sicher dort bist.

Letztendlich vergeht die Zeit doch, auch wenn ich für immer langsamer sein werde als diese Welt. Noch immer weigere ich mich, von dir Abschied zu nehmen. Ich musste deinen Körper loslassen und hergeben, dich gebe ich nicht her. Du bist immer noch und für immer ein Teil von mir. Ich werde nicht darüber hinwegkommen, denn das würde bedeuten, weg von dir. Aber das ist in Ordnung. Lange geht es mir „o.k.“ oder eben „traurig“, wenn jemand fragt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir je wieder „gut“ gehen kann. Und langsam und leise schleichen sie sich ein, die guten Tage. Niemals so gut wie damals, als es noch keinen Tod gab. Aber gut.

Und wer könnte jemals wagen zu sagen, die Tage mit dir seien schlecht gewesen. Ich werde nicht ein kurzes Leben mit dir tauschen gegen eines ohne dich.

Und Gott. Gott ist nicht schuld. Er hat einst der Menschheit den Zauber geschenkt, Leben weiterzugeben. Jeder Tag beweist seine Anwesenheit, jedes entstandene Kind seine Macht. Und der Zauber deiner Geburt ist der Anfang eines Lebens, das ich irgendwann einmal in Fülle sehen kann.

Yasmine Wolf, Ergotherapeutin, Jahrgang 1990, Bruchsal

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Die stille Geburt

Der 23. September 2010 war eigentlich ein ganz normaler Tag, aber er sollte es nicht bleiben. Es ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ich war in der 38. Woche mit unserem dritten Kind schwanger und hatte einen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung bei der Hebamme im Geburtshaus. Zu dieser Vorsorgeuntersuchung ging ich ohne Vorahnung, ohne wirklich wichtige Fragen. Dafür bekam ich einige Fragen gestellt, zum Beispiel: „Was machen die Bewegungen des Kindes?“ In den letzten Tagen hatte ich nichts Wesentliches beobachtet. Noch war alles gut. Die Suche nach den Herztönen verursachte da schon etwas Unruhe. Eine zweite Hebamme kam und fand auch nichts. Jetzt sei nur noch wichtig, dass ich das vom Frauenarzt durch einen Dopplerultraschall abklären ließ.

Ich war zwar etwas unsicher geworden, doch ich wollte nicht verstehen und begreifen, was das bedeutet. Die Frage: „Soll dich jemand zum Frauenarzt begleiten?“, wirkte auf mich in diesem Moment wie übertriebene Fürsorge. Erst als die Ärztin den Doppler gemacht hatte, ebenfalls keinen Herzschlag fand und auch den Blutfluss des Babys durch die Nabelschnur auf dem Bildschirm nicht sichtbar machen konnte, stand fest: Unser Baby ist von uns gegangen, noch bevor es auf die Welt kam. Es ist tot.

In diesem Moment ging in meinem Leben nichts mehr. Die Zeit blieb für eine Weile stehen.