THIJS ZONNEVELD

THOMAS DEKKER

Unter Profis

1.

Es ist dunkel hier drinnen, die Düsternis hat tausend Farben. Die Vorhänge sind zugezogen, die Tür ist geschlossen. Das einzige Licht ist der schwache Schein der Nachttischlampe. Schatten kriechen über den Boden und an den Wänden entlang. An einer Stelle hängt ein Gemälde, so wie immer in dieser Art von Hotelzimmer – das Stillleben einer einsamen Blume.

Ich liege in Trainingshose und T-Shirt auf dem Bett. Ich habe mir nicht mal die Mühe gemacht, meine Schuhe auszuziehen. In meinem Arm steckt eine dicke Infusionsnadel. Durch den Schlauch läuft mein Blut. Langsam fließt es in einen Beutel auf einer Digitalwaage, die auf dem Fußboden steht.

In der Ecke des Zimmers, weit weg vom Licht, sitzt ein Mann in einem Sessel. Er wippt mit seinem Fuß, während er etwas in seinem Terminkalender notiert. Alle paar Minuten schaut er auf die Waage. Ich bin ihm vor einer halben Stunde zum ersten Mal begegnet, in der Lobby des Hotels. Er stellte sich mir als Doktor Fuentes vor. Er riecht nach Zigarettenrauch und hat ein Allerweltsgesicht, das man sofort wieder vergisst. Seine Hose ist beige und er trägt ein kariertes Hemd. Wir haben kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sein Englisch ist schlecht, und ich spreche kein Spanisch. Ich glaube, er weiß nicht einmal, wer ich bin. Das macht nichts. Ich bin nicht hier, um mich zu unterhalten.

Ich betrachte das Blut in dem Beutel. Es ist, als ob es nicht meins wäre. Als ob es sich um eine Fälschung handelte. Ich hatte gedacht, es würde anders sein: das erste Mal. Irgendwie spannender, irgendwie nervöser – so als würde man Süßigkeiten im Laden an der Ecke klauen. Aber es ist nichts Spannendes daran. Ich bin auch nicht nervös. Alles ist ganz sachlich und geschäftsmäßig. Doping ist Business. Aber schon eine Art von Business, von dem so wenige Menschen wie möglich etwas mitbekommen sollten. Nach einer Viertelstunde erhebt sich Doktor Fuentes aus seinem Sessel. Er zieht die Nadel aus meinem Arm und tupft das Blut mit einem Wattebausch ab. Er reicht mir einen Folienstift und sagt mit starkem Akzent: »I give you number. Twentyfour. Two four. You must write here.« Er zeigt auf den vollen Blutbeutel. Ich setze mich auf, nehme den Stift und schreibe die Nummer auf den Beutel. Er nickt und sagt dann: »We are done.« Ich ziehe meine Trainingsjacke an und gebe ihm die Hand. Er öffnet die Tür und murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ich trete hinaus in den Flur, wo das Licht so hell ist, dass es mir in den Augen wehtut.

Die Tür schließt sich hinter mir.

Von nun an gibt es kein Zurück mehr.

2.

Ich wuchs in einer stinknormalen Familie in einem stinknormalen Haus in einer stinknormalen Straße in einem stinknormalen Dorf auf. Dirkshorn heißt es und liegt auf einem Polder in der Provinz Nordholland, der Halbinsel zwischen der Nordsee und dem IJsselmeer. Es ist nicht viel mehr als ein Fliegenklecks auf der Landkarte. Es hat nur zwölf Straßen. Es gibt eine Kirche, einen Supermarkt, einen Fußballverein und eine Snackbar. Es passierte nie etwas in Dirkshorn. Eine Kirmes, ein Mal im Jahr, das war es dann auch schon.

Ich habe stinknormale Eltern. Sie heißen Bart und Marja. Meine Mutter arbeitet als Bademeisterin in dem Schwimmbad ein Dorf weiter. Mein Vater ist Gepäckträger am Flughafen Amsterdam-Schiphol. Seit 30 Jahren steht er fünf Mal in der Woche morgens um halb fünf auf und verlässt das Haus mit einer vollen Butterbrotdose, um den ganzen Tag lang Koffer von einem Ort zum anderen zu schleppen. Abends um halb sechs steht das Essen auf dem Tisch; mein Vater kocht. Meistens holländische Hausmannskost. Blumenkohl, Kartoffeln, ein Stück Fleisch. Sonntags holen wir uns Fritten von der Snackbar Joep. Meine Eltern verdienen nicht gerade Unmengen an Geld. Sie gehen sparsam um mit dem, was sie haben. Meine gesamte Kindheit hindurch bin ich mit Rollschuhen aus dem Secondhand-Shop herumgekurvt. Die gingen auch.

Meine Mutter ist sehr fürsorglich. Sie ist eine jener Mütter, die immer dafür sorgen, dass schon Limonade und Kekse bereitstehen, wenn du nach Hause kommst. In ihrem ganzen Leben ist sie nur ein einziges Mal böse auf mich gewesen. Da war ich noch sehr klein. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich damals angestellt habe. Mein Vater ist ein typischer Nordholländer. Ein bisschen stur, auch ein wenig mürrisch, aber er trägt sein Herz auf der Zunge. Er sagt, was er denkt. Oft wäre das nicht mal erforderlich: Man sieht ihm an, wie er drauf ist. Normalerweise ist er glücklich. Aber wenn er frustriert oder wütend ist, dann bebt seine Lippe. Manchmal graben sich Falten in sein Gesicht. Dann kann ich sehen, dass er Sorgen hat. Oder hatte. In neun von zehn Fällen meinetwegen, fürchte ich. Am liebsten würde er mich immer noch festhalten, so wie früher, wenn wir mit dem Rad zu Oma nach Schoorl fuhren: mit seiner Hand in meinen Nacken gekrallt, so dass ich nicht stürzte und immer schön geradeaus fuhr.

Meine Schwester heißt Floor. Sie ist zwei Jahre jünger als ich. Wir haben uns immer gut verstanden. Die meiste Zeit spielten wir zusammen und zogen den ganzen Tag gemeinsam umher. Am Wochenende saßen wir morgens, wenn unsere Eltern noch schliefen, zu zweit unter einer Decke auf dem Sofa in einem kalten, dunklen Haus und schauten uns Zeichentrickfilme im Fernsehen an.

Ich spielte als Kind fast immer draußen. Auf dem Bolzplatz um die Ecke oder an der Lärmschutzwand entlang der N245. Fußball, Fahne erobern, Schwimmen in einem See oder im Freibad in der Nähe. Mein Herz schlug für Tennis, Fußball und Eisschnelllauf. Ich hatte für alle drei kein Talent, aber ich war mit Feuereifer bei der Sache. Von der F- bis zur D-Jugend spielte ich Fußball beim FC Dirkshorn. Mein Großvater, der nie ein Spiel verpasste, spendierte mir immer einen Gulden für jedes Tor, das ich schoss. Manchmal war ich so versessen darauf, einen Treffer zu erzielen, dass ich stumpf durch meine Gegenspieler hindurchlief. Wenn wir verloren, war ich nicht zu genießen. Das passierte mir bei anderen Sportarten übrigens auch. Ich war schnell auf hundertachtzig, wenn mir etwas nicht gelang. Aber ich wusste, dass ich mit meiner Ausrüstung stets pfleglich umgehen musste. Wäre ich je auf die Idee gekommen, auf dem Tennisplatz aus Ärger über einen verlorenen Ballwechsel meinen Schläger zu werfen, mein Vater hätte mich an den Haaren vom Platz geschleift.

Meine Schule war auch bei uns im Dorf. Ich war mit acht Kindern in einer Klasse, die gesamte Grundschule hindurch. In den Pausen spielten wir Murmeln auf dem Spielplatz. Ich musste immer partout die meisten Murmeln von allen haben. Manchmal verkaufte ich sie an andere Kinder – um sie dann gleich wieder zurückzugewinnen. Ich verdiente Hunderte von Gulden damit. Das Geld wollte ich sparen, für später. Um mir irgendwann ein schickes Auto zu kaufen. Das war mein Traum. Ich weiß nicht, woher ich das habe, dieses Materialistische. Jedenfalls nicht von meinen Eltern. Und meine Schwester hat es auch nicht.

Im Sommer fuhren wir wie alle anderen in den Urlaub. Mama und Papa vorne im Auto, Floor und ich auf der Rückbank, mit Milchbrötchen, Kaubonbons und Comics. Häufig fuhren wir mit dem Zelt nach Frankreich, auf Campingplätze mit Swimmingpool, Tischtennisplatte und Plumpsklo. Ein andern mal ging es in den Center Parc oder ein Gran Dorado. In eines dieser Häuser, die exakt identisch aussehen wie das Haus daneben und wie alle anderen hunderttausend Häuser der Ferienanlage.

Dass man früh hätte erkennen können, dass ich eines Tages aus der Spur geraten würde, stimmt nicht. Meine Eltern haben uns mit Liebe überschüttet. Es gab nie Streit zu Hause. Es gab nie Probleme.

Meine Kindheit kann ich mit einem Wort beschreiben.

Stinknormal.

3.

Ich bekam es zu meinem elften Geburtstag. Ich hätte weinen können, so schön fand ich mein erstes Rennrad. Es war schwarz-weiß lackiert – dieselben Farben wie die Rennmaschinen, mit denen das niederländische Profiteam PDM seit Jahren fuhr. Concorde stand auf dem Unterrohr. Die Rahmengröße war so gewählt, dass das Rad mit mir mitwachsen würde: Der Sattel war so tief wie möglich eingestellt, vorerst verschwand die Sattelstütze komplett im Sitzrohr. Es hatte zwölf Gänge: Um zu schalten, musste man Hebel am Unterrohr hin- und herbewegen. Es hatte Pedale mit Lederriemen, die man strammziehen konnte. Ich bekam ein Paar Radschuhe dazu. Schwarz, mit Plastiksohlen.

Die allerersten Meter auf meinem neuen Rennrad fuhr ich vom Wohnzimmer in die Speisekammer. Ganz vorsichtig vorbei am Esstisch und am Fernseher, im wackligen Bogen um eine Vase mit Blumen herum. Mein Vater lachte, meine Mutter schaute ein wenig besorgt.

Mein Vater hatte es bei Hans Langerijs gekauft, einem Fahrradgeschäft in der Nachbarstadt Schagen. Mit einem eigenen Rennrad würde ich auch in den Sommermonaten mit dem Eisschnelllaufverein mittrainieren können, mit dem ich im Winter meine Runden auf dem Eis drehte. Auf Schlittschuhen war ich nicht sonderlich gut: Mir mangelte es an der richtigen Technik. Und zugegebenermaßen auch an der nötigen Kraft. Ich war klein und schmächtig. Meine Beine waren so dünn, dass sie aussahen wie Drähte, die aus meiner Hose herausragten. Auf der Eisbahn rauschten die größeren Jungs an mir vorbei, als würde ich gar nicht existieren. Es war eher Harken, was ich da tat – mühselig schleppte ich mich übers Eis. Aber Aufhören war auch keine Option. Daran habe ich nicht einen Gedanken verschwendet. Alle Jungs aus Nordholland gehen im Winter zum Eislaufen. Ich auch.

Radfahren klappte besser als Eislaufen. Ich unternahm Touren mit meinem Vater. Dreißig, fünfunddreißig Kilometer, in Richtung der Dünen, am Meer entlang und über den Seedeich bei Camperduin. Meistens mit Gegenwind auf dem Hinweg und mit Rückenwind zurück. Freitagabends drehten wir eine Trainingsrunde mit dem Schlittschuhverein; mein Vater fuhr auch mit. Anderthalb Stunden auf dem Rad, mehr nicht. Es waren alles Jungs und Mädchen aus der Gegend.

Der Radsport zog mich geradezu magisch an, wie ein mächtiger Magnet. Der allgegenwärtige Geruch von Massageöl, wenn ich mir mit meinem Vater ein Kriterium anschaute, das Glänzen der Räder, wenn das Peloton vorbeiflog… Es war ganz anders als Eislaufen oder Fußball. Es war rauer, heroischer. Atemlos sah ich zu, wie erwachsene Männer sich völlig verausgabten und verbissen dem Schmerz trotzten, während ihnen Rotzfäden vom Kinn hingen.

Im Vergleich zu Radrennen waren alle anderen Sportarten nur ein Spiel.

Mir gefielen gerade auch die Duelle Mann gegen Mann, die ich im Fernsehen sah. Gut erinnere ich mich an die Tour de France 1996, in der Miguel Induráin unterging. Ich war für ihn, ich wollte so sehr, dass er gewann. Ich war sicher, dass er Bjarne Riis schlagen würde. Aber es kam anders. Induráin brach am Port de Larrau ein – ausgerechnet bei einer Etappe nach Pamplona, seinem Heimatort. Kopfschüttelnd saß ich vor dem Fernseher. Ich verstand es nicht. Es war, als ob er plötzlich ein anderer Fahrer geworden wäre. Er war zu groß für sein Fahrrad, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, die ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er war von einem Tag auf den anderen alt geworden. Ich erinnere mich, dass er abends im Hotel um einen Kommentar gebeten wurde. Überall Menschen, überall Kameras. Aus seinen Worten sprachen Zweifel, und man sah die Verzweiflung in seinen Augen. Er wusste nicht mehr weiter. Er sagte: »Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht. Aber besser als früher werde ich bestimmt nie mehr werden.« Es klang wie Abschiednehmen.

Ich fing an, selbst Rennen zu fahren. Wilde, lose organisierte Rennen im Norden von Nordholland, meistens im Rahmen der örtlichen Kirmes. In Dörfern, die Wervershoof hießen oder Hippolytushoef. Gegen Altersgenossen aus der Region fuhr ich so schnell wie möglich im Kreis, mit hochrotem Kopf. Oft endete es im Sprint. Darin war ich nicht sehr gut. Ich verlor auch gegen Mädchen. Die waren in diesem Alter viel stärker. Das ärgerte mich maßlos.

Mein Vater kaufte mir Klickpedale für mein Rennrad. Violette, von Look. Ich übte erst bei uns in der Straße, bevor ich damit zum Training aufbrach. Mein Vater warnte mich noch: Fahr lieber aufmerksam und pass auf, dass du nicht umfällst, wenn du an einer Kreuzung anhalten musst. Ich wischte seine Warnungen achtlos beiseite. Aber an der erstbesten Kreuzung lag ich auf dem Rücken, weil ich mit den Schuhen nicht aus den Pedalen gekommen war. Ein Mann eilte herbei und fragte mich, ob ich in Ordnung sei. Ich stammelte: »Ja, ja, geht schon.« Es tat mir vor allem leid um meine Ausrüstung. In meiner Radhose war ein Loch. »Bekomme ich eine neue?«, fragte ich meine Mutter, als ich nach Hause kam. Meine Mutter schüttelte den Kopf und sagte nur: »Nein. Das Sitzpolster hat nichts abbekommen.« Ich fuhr ständig mehr und mehr. Aus zwei Mal in der Woche wurden drei Mal, aus drei bald vier Mal. Gemeinsam mit meinem Vater unternahm ich immer längere und weitere Touren.

Im Sommer 1998 waren wir im Urlaub auf einem Campingplatz in Frankreich. Vormittags fuhren wir selbst Rad, am Nachmittag sahen wir uns auf einem kleinen Fernseher im Essenssaal die Tour de France an. Mein Vater mit einem Bier vor sich, ich mit einem Glas Limonade. Der niederländische Radsport war in jenen Jahren keine große Nummer, aber bei dieser Tour fuhr Michael Boogerd fantastisch. Er trug das rotweiß-blaue Trikot des Niederländischen Meisters und kam mit den besten Fahrern der Welt die Berge hoch. Ich war vierzehn und fand es großartig, was er tat. Ich brüllte den Fernseher an, um ihn anzufeuern, und hoffte mit allem, was ich hatte, dass er die Gruppe der Klassementfahrer nicht würde ziehen lassen müssen. Nachts, wenn ich im Zelt auf meiner Luftmatratze lag, sah ich in meiner Vorstellung, wie ich eines Tages selbst die Tour de France fuhr. Wie ich gewann. Wie ich das Gelbe Trikot holte. Wie ich an der Spitze das Tempo verschärfte, mit einer Gruppe von Konkurrenten am Hinterrad, die einer nach dem anderen abreißen lassen mussten.

Als wir aus dem Urlaub wieder nach Hause kamen, entdeckte ich ein Poster von Michael Boogerd in einem Magazin. Ich nahm es heraus und hängte es direkt über mein Bett.

Ich wusste es sicher. Ich wollte auch Radrennfahrer werden.

4.

Wir standen unter der Dusche. Ich schaute mich um, betrachtete die Jungs, gegen die ich kurz zuvor eines meiner ersten offiziellen Rennen gefahren war. Sie brüllten herum, sie rissen Witze und sie erzählten Geschichten vom Radsport. Einige hatten auf dem Rad nicht viel drauf, zu anderen schaute ich auf. Das waren oft die größeren Jungs, die bereits einen Wachstumsschub gemacht hatten. Ein paar von ihnen hatten schon Haare am Sack. Ich schaute an mir herunter. Kein Haar zu sehen. Nicht einmal Flaum.

Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Rennen, die ich bestritt, nichts reißen konnte. Viele dieser Rennen endeten in einem Sprint und dabei wurde ich, da ich nur 45 Kilo wog, regelmäßig verblasen. In jener Zeit gewann Wim Stroetinga praktisch jedes Rennen – er konnte so schnell sprinten, dass es aussah, als würde man ihn mit einem Revolver abfeuern. Auf der Bahn war Niki Terpstra schon ziemlich gut. Er war damals noch ein wenig mollig, aber sobald der Startschuss fiel, konnte er irrsinnig schnell ums Oval jagen.

Jedes Wochenende fuhr ich einen anderen Wettkampf. Wir reisten im ganzen Land herum: Papa, Mama, Floor und ich. Es war jedes Mal eine Art Umzug. Die Rückbank lag voll mit Radklamotten und Milchbrötchen, und im Kofferraum stand eine Kühlbox mit Trinkjoghurt und Cola neben meinem neuen Rennrad – es war ein blaues Simon, eine Fahrradmarke aus Zaandam. Um alles im Auto unterzubekommen, kaufte mein Vater einen VW-Bus. Das war auch notwendig, erst recht, als Floor beschloss, ebenfalls Radrennen zu fahren. Sehr lange blieb sie nicht bei der Stange, aber sie besaß Talent im Überfluss. Bei den niederländischen Jugendmeisterschaften im Zeitfahren ist sie noch Zweite geworden, vor Marianne Vos. Es muss für sie manchmal schwer gewesen sein, dass sich oft alles um mich drehte, aber sie hat sich nie darüber beschwert. Zumindest mir gegenüber nicht.

Langsam, aber sicher wurde ich besser. In der Tour de Achterveld, einer Art einwöchigem Etappenrennen für Jungen und Mädchen, wurde ich Zweiter. Meine Eltern konnten nicht jeden Tag dabei sein, um zuzuschauen. Also schlief ich bei einer Gastfamilie. Es war das erste Mal, dass ich allein von zu Hause weg war. Ich war so nervös, dass ich nachts kaum schlafen konnte. Nicht, weil ich allein war, sondern eher, weil das Ganze nun richtigem Radsport ähnelte, komplett mit Zeitfahretappen, Podiummädchen, Rennjury und Absperrgittern, hinter denen die Zuschauer standen.

Ich pflügte durch die Jugendkategorien, jedes Jahr mit noch ein wenig mehr Ehrgeiz und noch größeren Träumen. Meine Eltern ermutigten mich zwar, zwangen mich aber nie zu etwas. Mein Vater war durchaus fanatisch bei der Sache, aber er stand nie schreiend am Straßenrand und er war auch nicht enttäuscht, wenn ich mal die Spitzengruppe verpasste. Am wichtigsten war für ihn, dass ich Einsatz zeigte. In meinen Augen war das nur logisch: Ich gab sowieso immer mein Bestes. Damals zumindest. Für meine Mutter spielte es ohnehin keine große Rolle, ob ich Erster, Zweiter oder Dreihundertsiebenundvierzigster geworden war: Wenn es nach ihr ging, hätte ich meine Zeit auch mit Tennis verbringen können oder den ganzen Tag mit meinen Freunden auf dem Spielplatz herumhängen.

Ein Mal habe ich es erlebt, dass mein Vater nach einem Rennen wütend war. Das war nach dem Omloop van de Maasvallei für »Nieuwelingen«, wie die U17-Kategorie in den Niederlanden heißt. Das Rennen fand in Süd-Limburg statt, dreihundert Kilometer von Dirkshorn entfernt. Mein Vater und ich waren schon am Tag vorher angereist. Wir übernachteten in einer Pension in Elsloo. Ich dachte, es wäre ein Rennen, das mir liegen müsste, mit all den südlimburgischen Hügeln – und sei es nur, weil ich insgeheim hoffte, ein guter Kletterer zu sein. Aber am Fuße des ersten Anstiegs war ich bereits abgehängt. Die Straßen waren ein bisschen nass, und kurz nach dem Start ging es auf einer Kopfsteinpflaster-Abfahrt den Maasberg hinab. Ich hatte Angst. Mit Schiss in der Buchse, die Hände fest in die Bremsen gekrallt, eierte ich nach unten. Schnell fuhr mir das Peloton davon. Wir hatten noch nicht mal acht Kilometer zurückgelegt. Ich habe sie an diesem Tag nicht mehr wiedergesehen. Ich fuhr zurück zum Start, mutterseelenallein. Da stand mein Vater und war gerade in ein Gespräch mit anderen Eltern vertieft. Er fluchte leise, als er mich kommen sah. »So ein Sch…dreck« – etwas in der Art. Die Rückfahrt nach Dirkshorn dauerte ein Jahrhundert. Fast die ganze Zeit saßen wir schweigend nebeneinander, mein Vater und ich. Ich war enttäuscht und beschämt zugleich. Mein Vater verstand die Welt nicht mehr. Dass ich nicht mit den Besten mithalten konnte: So was konnte immer passieren. Aber dass ich bereits geschlagen war, noch ehe das Rennen richtig begonnen hatte, fand er unbegreiflich. Als wir irgendwo in der Nähe von Utrecht waren, sagte er: »Tja, Junge, wenn man auch bergab an den Bremsen reißt…« Dann gab er mir einen Klaps auf den Hinterkopf und murmelte, dass es im nächsten Rennen bestimmt wieder besser laufen würde.

Am Ende meiner ersten Saison in der U17 lag eines Tages ein Brief für mich auf der Fußmatte. Auf dem Umschlag prangte das Logo von Rabobank, dem großen niederländischen Radrennstall. Es war eine Einladung zur »Rabo Ardennen-Prüfung« – einem Mini-Trainingslager, in dem sie allerlei junge Burschen testeten. Der Plan dahinter war, die allerbesten jungen Rennfahrer des Landes schon früh an das Team zu binden und dann praktisch mit einer Mehrstufenrakete ganz an die Spitze zu katapultieren: über das Junioren-Team (unter 18 Jahren) und das Nachwuchsteam (unter 23) bis zum Profi-Team. Ich war im siebten Himmel, so sehr freute ich mich über die Einladung von Rabobank. Auf einer rosa Wolke schwebend brach ich ein paar Wochen später zum Hotel in Spa auf: Mein Vater brachte mich zum Treffpunkt in De Meern, dort bestieg ich einen Reisebus, der noch andere Haltestellen ansteuerte und uns schließlich in die Ardennen brachte. Es waren eine Menge andere gute Fahrer meines Alters dabei. Marc de Maar, Reinier Honig, Jos Harms. Der frühere Straßenweltmeister Jan Raas, Teammanager von Rabobank, hieß uns höchstpersönlich willkommen. Unsere Räder wurden mit Rabobank-Trinkflaschen bestückt, es gab Betreuer, die alle möglichen Dinge für uns regelten, und wir trainierten unter Leitung von Ex-Profi Adri van der Poel. Es war fantastisch. Für mich war Rabobank das Nonplusultra. Das Allergrößte.

5.

In der Schule tat ich in der Zwischenzeit nichts mehr. Ich saß nur noch lustlos meine Tage ab. Ich baute ein bisschen Mist, ich interessierte mich für Mädchen, und ich bekam kaum etwas von dem mit, was der Lehrer erklärte. In meine Bücher schaute ich nur, wenn es gar nicht anders ging: für die Prüfungen. Ein paar Jahre kam ich damit durch. Ich war von der Grundschule zunächst zur VWO gewechselt, der anspruchsvollsten Sekundarschulform in den Niederlanden. Das erste Jahr dort packte ich noch, und irgendwie wurde ich auch noch in die Dritte an der VWO versetzt, aber mein Interesse an der Schule entwickelte sich umgekehrt proportional zu meinem Interesse am Radsport.

Ich hatte nur noch einen einzigen Traum, und das war, Radprofi zu werden. Alles musste dahinter zurückstehen. Ich stand mit Radsport im Kopf auf, ich frühstückte mit Radsport im Kopf, ich putzte meine Zähne mit Radsport im Kopf, ich atmete Radsport und ich ging mit Radsport zu Bett. Der niederländische Verband besorgte mir einen Trainer: René Kos. Er entwarf Trainingspläne für mich. Ich machte immer mehr, als draufstand. Ende 2000, bevor ich von der U17 zu den Junioren wechselte, kaufte mein Vater einen Motorroller, hinter dem ich trainieren konnte. Am Nachmittag, wenn er vom Flughafen Schiphol nach Hause kam und ich aus der Schule, fuhren wir stundenlang über die Polder von Nordholland. Und jeden Donnerstagabend fuhr ich, egal ob bei Regen oder schönstem Wetter, mit Licht am Fahrrad zum Velodrom in Alkmaar, um dort zu trainieren – und anschließend fuhr ich spät abends wieder nach Hause. Zwanzig Kilometer hin, zwanzig Kilometer zurück.

An den Wochenenden jobbte ich, um mir etwas Geld für neues Material zu verdienen. Meine Eltern unterstützten mich in jenen Jahren bei allem, aber ich sparte selbst eine Menge dazu. Ich musste unbedingt eine »Campagnolo Record«-Schaltgruppe für mein Rad haben, komplett mit Bremshebeln aus Carbon. Schon seit Monaten hatte ich mit großen Augen vorm Schaufenster des Rahmenherstellers gestanden; 1.600 Gulden sollte eine solche Campa-Gruppe kosten. Ich schälte Birnen, ich hatte einen Job am Kaffeetresen des örtlichen Möbelcenters und ich arbeitete als Erntehelfer auf dem Acker. Weil ich auch trainieren musste, hatte ich ziemlich viel um die Ohren. Manchmal zu viel. Ich weiß noch, wie ich einmal weinend nach Hause kam, nachdem ich den ganzen Vormittag auf einem Blumenfeld malocht hatte. »Mama, Papa, ich bin so müde. Wenn ich jeden Morgen so früh aufstehen muss, schaffe ich es nie zum Radprofi.«

Schließlich fuhr ich bei den Junioren tatsächlich ein Rad mit Campagnolo Record. Selbst bezahlt. Den passenden Satz Carbonlaufräder bekam ich von meinem Onkel gesponsert. Das war eine deutliche Verbesserung. Aber noch viel wichtiger: Ich begann zu wachsen. Und das nicht nur ein bisschen. In kürzester Zeit schoss ich zehn Zentimeter in die Höhe. Ich bemerkte es auf dem Rad, ich war viel stärker als in den Vorjahren. In den ersten Rennen flog ich geradezu. Beim ersten Klassiker der Saison wurde ich gleich Dritter und daraufhin vom zuständigen Verbandstrainer Egon van Kessel in die Nationalmannschaft berufen. Ich durfte mit zu Einsätzen im Ausland, zu Weltcup-Rennen für Junioren. Das erste fand in Polen statt – der Coupe du Grudziądz. Ich wusste beim besten Willen nicht, wo in aller Welt wir da gelandet waren, und das Essen war so widerwärtig, dass wir am Tisch anfingen zu würgen – aber es war großartig.

Einige Monate später fuhr ich als Gastfahrer des Rabobank Junioren-Teams zu einem Weltcup-Rennen in Österreich. Wir waren mit der gesamten Mannschaft in einem Schlafsaal in einem Internat untergebracht. Johnny Hoogerland war in dieser Woche einer meiner Teamkollegen und in dem Rennen lernte ich zum ersten Mal die italienische Armada kennen. Vincenzo Nibali, Giovanni Visconti, Mauro Santambrogio. Sie trugen alle identische Trainingsanzüge und identische Hüfttaschen mitsamt identischen Mobiltelefonen und sie hatten alle die gleiche arrogante Ausstrahlung. Ich war tief, tief beeindruckt. Ich habe sie immer schon gemocht, die italienische Radsportkultur. Nicht diese ängstliche, calvinistische »Benimm dich einfach normal, dann benimmst du dich schon verrückt genug«-Haltung, die in den Niederlanden verbreitet ist – ich sah lieber Radrennfahrer, die mit geschwellter Brust und erhobenem Kinn herumstolzierten. In den Niederlanden wird man als Sportler schief angeschaut, wenn man sich einen Ferrari kauft, in Italien fragen dich die Leute, warum du keinen Ferrari hast.

Im Spätsommer 2001 unterschrieb ich bei Rabobank. Natürlich unterschrieb ich bei Rabobank. Sie wollten mich für ihr Junioren-Team, und ich für meinen Teil wäre für diesen Vertrag auch auf Knien hingekrochen, wenn es hätte sein müssen. Außerdem wurde ich für meine erste WM nominiert – in Lissabon. Die Junioren waren dort im selben Hotel untergebracht wie die Profis, und ich lief Michael Boogerd und Erik Dekker über den Weg. Sie sagten hallo zu mir und fragten, wie es mir ging. Ich glaube nicht, dass ich mehr als eine verlegene Antwort zustande gebracht habe. Aber das spielte keine Rolle. Dass ich kleiner Bengel da in einem Hotel in Portugal stand und mich mit Fahrern unterhielt, die ich normalerweise nur im Fernsehen sah, war für mich ein tolles Erlebnis. Das Poster über meinem Bett war zum Leben erweckt worden.

Dort, in Lissabon, lernte ich auch Gerrie Knetemann kennen. Er war als technischer Direktor für das Nationalteam der Profis verantwortlich, aber er saß auch in dem Begleitfahrzeug, das beim Zeitfahren hinter mir herfuhr. Vorher nahm er mich zur Seite und wir sprachen lange miteinander. Er schien etwas in mir zu sehen. Und das nicht nur, weil er aus der gleichen Gegend kam wie ich. »Thomas«, sagte er, »du bringst alles mit. Du kannst klettern, du kannst Zeitfahren und ich spüre, dass du bereit bist, alles dafür zu tun. Wir werden noch eine Menge von dir hören, Junge.« Ich schwebte auf Wolke sieben. Es kam mir vor, als wäre an diesem Tag alles wie von selbst gegangen. Als ob ich ständig den Wind im Rücken hatte, wohin ich auch fuhr.

Alle Junioren waren in jenen Tagen in Pleuni Möhlmann verliebt, eine niederländische Radsportlerin, die bei der WM in Lissabon Silber bei den Juniorinnen gewann. Auf der Abschlussparty küssten wir uns. Nach der WM hatten wir noch ein kleines Techtelmechtel, aber es ist nie mehr daraus geworden. Auch zu Hause war ich immer mehr mit Mädchen beschäftigt. Während der Pausen an der Schule schlich ich ständig um die Mädels herum. Ich bemerkte, dass ich Schlag bei ihnen hatte. Ich verstand, was sie wollten. Ich schenkte ihnen Aufmerksamkeit und Zeit. Denn Zeit hatte ich ja genug: Sobald ich mit dem Training fertig war, hatte ich nichts zu tun. Also schrieb ich den Mädchen Nachrichten aufs Handy, ich schrieb ihnen E-Mails, ich rief sie an. Ich führte sie zum Essen aus und ging mit ihnen ins Kino. Eine feste Freundin hatte ich nie. Meist war ich ihnen auch recht schnell wieder überdrüssig. Andere Mütter hatten schließlich auch schöne Töchter… Aber wenn jemand damals behauptet hätte, dass ich mit Hunderten von Frauen ins Bett gehen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

Die Schule nahm ich immer weniger ernst. Ich war nach dem dritten Sekundarschuljahr auf eine etwas weniger anspruchsvolle Schulform gewechselt, zur HAVO, blieb dort in der Vierten aber gleich mal sitzen. Und dadurch dass ich im Jahr darauf bei den Junioren von Rabobank fuhr, wurde es sicherlich nicht besser. Ich schwänzte die Schule, um zu trainieren, ich tauchte ohne Bücher und geringste Ahnung vom Stundenplan beim Unterricht auf, und auf die Prüfungsbögen kritzelte ich irgendwelchen Unsinn. Als meine Schwester am Ende des Schuljahres meine Bücher abgab – ich selbst fuhr lieber trainieren –, waren sie immer noch eingeschweißt. Ich hatte nicht ein einziges Mal reingeschaut. Die Schule war in meinen Augen nur sinnlose Zeitverschwendung, ein schwarzes Loch, in dem meine wertvollen Stunden verschwanden. Wenn wenigstens Italienisch auf dem Stundenplan gestanden hätte, da hätte ich vielleicht ein wenig aufgepasst – das könnte ich später gebrauchen, wenn ich Radprofi geworden war. Der Rest konnte mir gestohlen bleiben.

Durch den Sturz wurde ich lediglich Vierter bei der Zeitfahr-WM. Ich sehe mich selbst noch fahren, beim anschließenden Straßenrennen, an letzter Position der Gruppe, mit einer Jacke über dem Trikot. Das Kameramotorrad fuhr ständig neben mir. Das Rennen wurde live im Fernsehen übertragen, die Kommentatoren sprachen fast nur über mich und meine Chancen. Aber die miese Laune stand mir ins Gesicht geschrieben. Ich fand alles furchtbar: die flache Strecke, auf der man nirgendwo den Unterschied machen konnte, den Sturz, den ich kurz zuvor durchgemacht hatte, dieses Straßenrennen, das zwangsläufig in einem Massensprint enden würde. Ich war komplett angepisst.

Ich erwartete mehr von mir, der Rest der Radsportwelt erwartete mehr von mir. Ich war nicht nur irgendein Talent, ich war verdammt noch mal Thomas Dekker.