Pagnol, Marcel Eine Kindheit in der Provence

PIPER

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Übersetzung aus dem Französischen von Pamela Wedekind

ISBN 978-3-492-97746-3

Juli 2017

© Edition de Fallois

Titel der französischen Originalausgaben:

»La Gloire de mon Père«, »Le Château de ma Mère« und »Le Temps des Secrets«

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Langen Müller in der F.A. Herbig

Verlagsbuchhandlung GmbH, München 1964

Covergestaltung: semper smile, München

Coverabbildung: IFA-Bilderteam

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Marcel

Eine Kindheit in der Provence

Dem Andenken meiner Lieben

Vorwort

Zum erstenmal – einige bescheidene Versuche nicht gerechnet – schreibe ich Prosa. Wie mir scheint, gibt es tatsächlich drei sehr verschiedene Arten von Literatur: Lyrik oder das gesungene Wort, Drama oder das gesprochene Wort, und Prosa, das geschriebene Wort. Was mich erschreckt, sind nicht so sehr die Wahl der Worte oder Wendungen, die grammatikalischen Feinheiten – die letzten Endes jedermann zugänglich sind – sondern es ist die Stellung des Romanciers und die noch gefährlichere des Memoirenschreibers.

Das gesprochene Wort muß im Munde des Schauspielers wie improvisiert klingen, die Antwort muß augenblicklich verstanden werden, denn einmal ausgesprochen, ist sie vorbei. Andererseits kann die Sprache des Theaters nicht ein Vorbild für literarischen Stil sein, denn sie ist nicht die Sprache des Schriftstellers, sondern die seiner Figur.

Der Stil des Dramatikers liegt in der Wahl seiner Personen, in den Gefühlen, die er sie ausdrücken läßt, im Gang der Handlung. Was seine persönliche Stellungnahme betrifft, so muß sie bescheiden bleiben. Er schweige! Sobald er seine eigene Stimme zu Gehör bringen will, wird die dramatische Spannung hinfällig. Er trete nicht aus der Kulisse! Seine Meinungen lassen uns kalt, wenn er selbst sie formulieren will. Seine Schauspieler sprechen für ihn und erfüllen uns mit seinen Gedanken und Gefühlen, indem sie uns überzeugen, daß es unsere eigenen sind.

Die Stellung des Romanciers ist ohne Zweifel schwieriger. Es ist nicht der berühmte Schauspieler Raimu, der spricht, ich spreche selbst. Allein durch meine Ausdrucksweise enthülle ich mich vollkommen, und wenn ich nicht aufrichtig bin – das heißt, ohne alle Scham – verliere ich meine Zeit damit, Papier zu vergeuden. Also werde ich aus der Kulisse herauskommen und mich dem Leser gegenüber setzen müssen, der mich zwei oder drei Stunden ganz genau betrachten wird: eine sehr beunruhigende Vorstellung, die mich lange gelähmt hat.

Aber ich habe auch die andere Seite dieser Frage geprüft.

Der Theaterbesucher trägt einen Kragen und eine Krawatte und den anonymen Anzug, den die Engländer uns vorgeschrieben haben.

Er ist nicht zu Hause, er hat viel Geld bezahlt, um mich zu besuchen. Und dann ist er nicht allein, er beobachtet seine Nachbarn, die wiederum ihn beobachten. Deshalb interessiert er sich nicht nur für die von meinen Schauspielern gespielten Rollen, sondern auch für seine eigene – die Rolle des vornehmen und intelligenten Zuschauers.

Fortwährend macht er sich bemerkbar: oft lacht er oder klatscht; der Autor in der Kulisse ist angenehm berührt. Aber manchmal hustet er auch, putzt sich die Nase, murmelt vor sich hin, pfeift, verläßt das Theater. Der Autor wagt niemandem mehr ins Gesicht zu sehen, und zerknirscht hört er sich die stets einfallsreichen Erklärungen seiner Freunde an: er wird nicht in einem Nachtlokal soupieren.

Der Leser – ich meine damit den wahren Leser – ist fast immer ein Freund.

Er hat das Buch ausgesucht, hat es unter dem Arm nach Hause getragen und zu sich eingeladen. Er wird es still für sich lesen, an seinem Lieblingsplatz in vertrauter Umgebung, und nicht dulden, daß jemand über seine Schulter hinweg mitliest.

Wahrscheinlich ist er im Morgenrock oder im Pyjama, eine Pfeife in der Hand. Sein guter Glaube ist vollkommen.

Das heißt noch nicht, daß ihm das Buch gefallen wird. Auf Seite dreißig zuckt er vielleicht die Achseln und sagt ärgerlich: »Ich frage mich nur, warum man solchen Blödsinn druckt.«

Aber der Schriftsteller ist nicht zugegen und wird nie etwas davon erfahren. Und wenn sein Werk sich nicht verkaufen läßt, wird sein Verleger und Mitverschworener die Katastrophe mildern und auf den Umschlag der dritten und letzten Auflage drucken: ›Fünfzehntes Tausend.‹

So ist – obwohl der Erfolg eines Buches ebensoviel Wert hat wie der eines Theaterstückes – doch der Mißerfolg des Romanciers weniger grausam.

Das sind die nicht sehr rühmlichen, aber beruhigenden Überlegungen, die mich veranlaßt haben, diese im übrigen anspruchslose Arbeit zu veröffentlichen. Sie ist nichts weiter als das Zeugnis einer entschwundenen Zeit und ein kleines Lied kindlicher Liebe, das heute vielleicht für eine große Neuheit gehalten wird.

Der Ruhm meines Vaters

Ich bin in der Stadt Aubagne geboren, unter dem von Ziegen gekrönten Garlaban, zur Zeit der letzten Ziegenhirten.

Der Garlaban ist ein riesiger Turm aus blauen Felsen, der sich am Rand von Plan de l’Aigle erhebt, dieser unermeßlichen, felsigen Hochebene, die das grüne Huveaune-Tal beherrscht. Der Turm ist etwas breiter als hoch: aber da er in sechshundert Meter Höhe aus dem Fels ragt, steigt er sehr hoch in den Himmel der Provence, und zuweilen ruht eine weiße Juliwolke sich auf seinem Gipfel aus.

Er ist noch kein Berg, aber er ist auch kein Hügel mehr: er ist der Garlaban, wo die Späher des Marius Reisigbündel anzündeten, als sie im Dunkel der Nacht auf der Sainte-Victoire Feuer aufflammen sahen: der rote Vogel flog in der Juninacht von Hügel zu Hügel, bis zum Felsen des Capitols, um Rom zu verkünden, daß seine Gallier in der Ebene von Aix hunderttausend teutonische Barbaren erschlagen hatten.

Mein Vater war das fünfte Kind eines Steinmetz' aus Valréas bei Orange.

Die Familie war seit mehreren Jahrhunderten dort ansässig. Woher kamen sie? Ohne Zweifel aus Spanien, denn in den Gemeindebüchern fand ich die Namen Lespagnol, später Spagnol.

Außerdem waren sie seit Generationen Waffenschmiede und härteten ihre Schwerter in den Wassern des Ouvèze: wie jeder weiß, ein vornehmlich spanischer Beruf.

Da aber die Notwendigkeit, Mut zu zeigen, immer im umgekehrten Verhältnis zur Entfernung steht, die die Kämpfer voneinander trennt, wurden Dolch und Säbel bald von Gewehr und Pistole abgelöst. Nun betätigten sich meine Vorfahren als Feuerwerker, das heißt, sie fabrizierten Schießpulver, Bleikugeln, Stahl und Raketen.

Einer von ihnen, ein Urgroßonkel, wurde eines Tages in einer Funken-Apotheose durch das geschlossene Fenster seiner Werkstatt geschleudert, inmitten kreisender Sonnen und einer Garbe von Wunderkerzen.

Er starb nicht daran, aber auf seiner linken Backe wuchs kein Bart mehr. Deshalb nannte man ihn bis zu seinem Tode ›Le Rousti‹ – der Geröstete.

Möglich, daß infolge dieses aufsehenerregenden Unfalls die nächste Generation beschloß – ohne auf Patronen und Raketen zu verzichten – sie nicht mehr mit Schießpulver zu füllen; sie wurden Pappfabrikanten, und das sind sie noch heute.

Was für ein schönes Beispiel lateinischer Weisheit: mit Stahl, diesem schweren, harten Material, wollten sie nichts mehr zu tun haben, auch mit Pulver nicht, denn das verträgt nicht einmal die Nähe einer Zigarette. Also widmeten sie ihren Unternehmungsgeist der Pappe, einem leichten, weichen und keineswegs explosiven Material.

Aber da mein Großvater nicht der älteste Bruder war, erbte er die Kartonfabrik nicht und wurde Steinmetz, warum, weiß ich nicht. Als Geselle zog er durch Frankreich und ließ sich dann in Valréas nieder, später in Marseille.

Er war klein, breit in den Schultern und hatte starke Muskeln.

Als ich ihn kannte, hatte er lange, weiße Locken, die bis auf seinen Kragen fielen, und einen schönen gekräuselten Bart.

Seine Züge waren fein, aber energisch, und seine schwarzen Augen glänzten wie Oliven.

Seine Autorität gegenüber seinen Kindern war beängstigend, und seine Beschlüsse waren unwiderruflich. Doch seine Enkelkinder flochten Zöpfe in seinen Bart oder steckten ihm Bohnen in die Ohren.

Mit großem Ernst erzählte er mir manchmal von seinem Handwerk oder vielmehr von seiner Kunst, denn er war Steinmetzmeister.

Die Maurer schätzte er nicht besonders. »Wir errichten Mauern aus zugeschnittenen Steinen«, sagte er, »ein Stein muß sich genau in den anderen fügen, durch Zapfen, Stifte, Holzpfriemen und Falzbeine zusammengehalten. Natürlich gießen wir auch Blei in die Ritzen, um ein Verrutschen zu verhüten. Aber die Fugen werden so sorgfältig damit gefüllt, daß man außen nichts sieht. Die Maurer dagegen nehmen die Steine, wie sie kommen, und verstopfen die Spalten mit einem Haufen Mörtel. Auf diese Weise ertränkt der Maurer den Stein und versteckt ihn, weil er nicht gelernt hat, ihn zu bearbeiten.«

Sobald er einen freien Tag hatte – also vier- oder fünfmal im Jahr – nahm er die ganze Familie zu einem Picknick mit, etwa fünfzig Meter vor der berühmten Pont du Gard.

Während meine Großmutter die Mahlzeit bereitete und die Kinder im Fluß planschten, bestieg er die Pfeiler der Brücke, prüfte Fugen und Maße, besah sich den Schnitt und streichelte das Gestein.

Nach dem Essen setzte er sich ins Gras, die Familie gruppierte sich im Halbkreis um ihn herum. So verweilten sie im Angesicht der tausendjährigen Brücke, einem Meisterstück römischer Baukunst, das der Großvater bis zum Abend nicht mehr aus den Augen ließ.

Noch dreißig Jahre später schlugen seine Söhne und Töchter bei der bloßen Erwähnung dieser Brücke die Augen zum Himmel auf und stießen tiefe Seufzer aus.

Auf meinem Schreibtisch liegt ein kostbarer Briefbeschwerer. Es ist ein länglich-rechteckiges Stück Eisen, in der Mitte ein ovales Loch, die beiden äußeren Enden ausgehöhlt. Das ist der Hammer meines Großvaters André, der fünfzig Jahre lang auf den harten Kopf des stählernen Meißels schlug.

Dieser geschickte Mann hatte nur eine sehr geringe Ausbildung erhalten. Er konnte lesen und seinen Namen schreiben, aber mehr nicht. Darunter litt er heimlich sein ganzes Leben, was dazu führte, daß er Bildung für das höchste der Güter hielt. In seiner Vorstellung waren die gebildetsten Leute diejenigen, die andere unterrichteten. Deshalb opferte er sich auf, um seine sechs Kinder Lehrer werden zu lassen, und so kam es, daß mein Vater mit zwanzig Jahren die Ecole Normale in Aix en Provence als Volksschullehrer verließ.

Die Ecoles Normales Primaires waren zu dieser Zeit soviel wie Seminare, nur mit dem Unterschied, daß das Studium der Theologie durch Unterricht in Antiklerikalismus ersetzt wurde.

Man brachte den jungen Leuten bei, daß die Kirche nie etwas anderes gewesen sei als ein Instrument der Unterdrückung, und daß es die Aufgabe der Priester sei, die Augen des Volkes mit der schwarzen Binde der Ignoranz zu verhüllen und es mit Märchen von der Hölle und vom Paradies einzulullen.

Die bösen Absichten der ›Curés‹ waren übrigens hinlänglich bewiesen durch den Gebrauch des Lateinischen, einer mysteriösen Sprache, die für die kirchentreuen Dummköpfe eine magischfragwürdige Anziehungskraft besaß. Das Papsttum war würdig durch die beiden Borgia vertreten, und den Königen erging es in diesem Unterricht nicht besser als den Päpsten: als wollüstige Tyrannen beschäftigten sie sich nur mit ihren Konkubinen, wenn sie nicht gerade tranken oder spielten; ihre Kreaturen erhoben unterdessen verheerende Steuern, die bis zu zehn Prozent der nationalen Einkünfte verschlangen.

Wie man sieht, war dieser Geschichtsunterricht im Sinn der republikanischen Wahrheit elegant gefälscht.

Ich mache der Republik keinen Vorwurf deswegen: alle Handbücher der Weltgeschichte sind nie etwas anderes gewesen als Propagandatexte im Dienst der jeweiligen Regierung.

Die feste Überzeugung der neugebackenen Normalschüler war daher, daß es sich bei der großen Revolution um eine idyllische Epoche handelte, sozusagen um das goldene Zeitalter der Großmut, in dem die Brüderlichkeit sich bis zur Liebe gesteigert hatte – kurz und gut, um einen allgemeinen Ausbruch von Herzensgüte.

Ich weiß nicht, wie man ihnen – ohne ihren Argwohn zu erregen – begreiflich machen konnte, daß die engelhaften Freigeister sich nach zwanzigtausend Morden und den dazugehörigen Diebstählen dann gegenseitig guillotiniert hatten.

Andererseits kann ich nicht leugnen, daß der sehr intelligente Pfarrer meines Dorfes, dessen Nächstenliebe vor nichts zurückschreckte, die Heilige Inquisition als eine Art Familienrat darstellte: er sagte, wenn die Prälaten so viele Juden und Gelehrte verbrannten, so taten sie es mit Tränen in den Augen und nur um ihnen einen Platz im Paradies zu sichern.

Das ist die Schwäche unserer Vernunft: wir bedienen uns ihrer meist nur zur Rechtfertigung unseres Glaubens.

Immerhin waren die Studien der Normalschüler nicht auf Antiklerikalismus und freigeistige Geschichte beschränkt. Es gab noch einen dritten Volksfeind, der nicht aus der Vergangenheit stammte, das war der Alkohol.

Aus dieser Zeit stammen der ›Assommoir‹ von Zola und die schrecklichen Abbildungen, mit denen alle Klassenwände tapeziert waren. Man sah eine rötliche Leber, als solche nicht mehr erkennbar, denn dank ihrer grünen Schwellungen und lila Verschnürungen glich sie einer in Fäulnis übergegangenen Kartoffel. Der Künstler hatte ihr vergleichsweise die appetitliche Leber eines braven Bürgers als frisches, harmonisches Gebilde gegenüberstellen müssen, damit der Beschauer den katastrophalen Befund der Säuferleber richtig beurteilen konnte. Der bis in seine Träume von solchen Schreckbildern verfolgte Normalschüler (nur nebenbei sei eine Bauchspeicheldrüse erwähnt, die aussah wie die Schraube des Archimedes und eine durch Brüche verzierte Aorta) wurde schließlich von panischer Angst ergriffen. Beim Anblick eines Glases Wein verzerrte sich sein Mund vor Ekel. Eine Kaffeehausterrasse zur Zeit des Dämmerschoppens erschien ihm wie ein Selbstmörderfriedhof. Ein für filtriertes Wasser passionierter Freund meines Vaters warf dort eines Tages alle Tische um: Polyeucte als Freigeist! Aber am verhaßtesten waren die sogenannten ›Magenbitter‹, vor allem Benediktiner und Chartreuse, ›mit königlicher Lizenz‹, die in bedrohlicher Dreieinigkeit Kirche, Alkohol und Gottesgnadentum vertraten.

Abgesehen vom Kampf gegen diese drei Erzübel war das Studienprogramm außerordentlich umfangreich und bewundernswert auf die Ausbildung der Volkserzieher abgestimmt, die das Volk sehr gut verstanden, denn sie waren selber fast alle Söhne von Bauern und Arbeitern.

Sie erhielten eine Allgemeinbildung, wahrscheinlich umfassender als gründlich, die aber etwas ganz Neues war. Und da sie ihren Vater noch zwölf Stunden täglich auf dem Feld, im Fischerboot oder auf dem Baugerüst hatten arbeiten sehen, priesen sie ihr Los glücklich, denn sie konnten am Sonntag ausgehen und dreimal im Jahr in den Ferien nach Hause fahren. Dann stellten der Vater, der Großvater und manchmal sogar die Nachbarn, die nie anders als mit ihren Händen gearbeitet hatten, Fragen und legten ihnen abstrakte Formulierungen vor, die keiner im Dorf verstehen konnte. Sie antworteten, und die Alten hörten ernst und kopfschüttelnd zu. So verschlangen sie drei Jahre lang die Wissenschaft wie eine kostbare Nahrung, die man ihren Ahnen vorenthalten hatte; deshalb mußte der Herr Direktor in den Pausen die Klassenzimmer inspizieren und die allzu eifrigen Schüler zum Ballspiel hinausjagen.

War dieses Studium beendet, galt es, das Reifezeugnis zu erwerben, dessen Resultate bewiesen, daß einer ›Beförderung‹ nichts mehr im Wege stand.

Danach wurden die Jünger der Gelehrsamkeit wie Samenkörner in die vier Departements des Landes verstreut, um dort den Kampf gegen die Unwissenheit aufzunehmen, die Republik zu verherrlichen und den Hut auf dem Kopf zu behalten, wenn die Prozession vorüberging.

Nach ein paar Jahren freigeistigen Lehramtes im Schnee verlassener Bergnester gelangte der junge Lehrer bis in die Dörfer auf halber Höhe des Berges, wo er sich meistens mit der Lehrerin oder mit der Postbeamtin verheiratete. Dann kamen einige Marktflecken mit immer noch abschüssigen Straßen, und jede dieser Stationen war durch die Geburt eines Kindes markiert. Beim vierten oder fünften Kind erreichte er die Anstellung in einer größeren Gemeinde des flachen Landes. Von dort aus hielt er mit schon gelichtetem Haar und faltigem Gesicht dann endlich seinen Einzug in die Großstadt. Nun lehrte er an einer Schule mit acht bis zehn Klassen, leitete die Oberstufe und manchmal sogar die Ausbildungsklasse.

Eines Tages beging man feierlich die Verleihung der akademischen Palmen. Drei Jahre später ›nahm er seinen Abschied‹, das heißt, die Statuten sahen es so vor. Dann sagte er, vergnügt lächelnd: »Jetzt kann ich endlich meinen Kohl pflanzen!«

Worauf er sich hinlegte und starb.

Ich habe viele dieser Lehrer gekannt.

Sie hatten den absoluten Glauben an die Schönheit ihrer Aufgabe und strahlendes Vertrauen in die Zukunft des Menschengeschlechts. Geld und Luxus verachteten sie, eine Beförderung wiesen sie zugunsten eines anderen zurück oder um die in einem verlassenen Dorf begonnene Arbeit zu beenden.

Ein alter Freund meines Vaters, der als Primus das Lehrerseminar absolviert hatte, bekam seine erste Anstellung in einem verwahrlosten Viertel von Marseille, einer von Elendsgestalten bevölkerten Gegend, in der niemand sich bei Nacht hinauswagte. Dort blieb er vom Beginn seiner Laufbahn bis zu seinem Abschied, vierzig Jahre in derselben Klasse, vierzig Jahre auf demselben Stuhl.

Und als mein Vater ihn eines Abends fragte:

»Hast du denn niemals Ehrgeiz gehabt?« antwortete er:

»Aber natürlich war ich ehrgeizig! Und ich glaube, ich kann mit meinem Erfolg zufrieden sein! Wenn du dir vorstellst, daß in zwanzig Jahren sechs Schüler meines Vorgängers guillotiniert wurden, bei mir in vierzig Jahren nur zwei, dazu wurde einer begnadigt, dann hat es sich schon gelohnt, daß ich dort geblieben bin.«

Denn das Bemerkenswerteste an diesen Antiklerikalen war, daß sie den Geist von Missionaren hatten. Um den ›Herrn Curé‹, dessen Tugend für scheinheilig galt, schachmatt zu setzen, lebten sie selbst wie die Heiligen, und ihre Moral war ebenso unantastbar wie die der ersten Puritaner. Der Herr Schulrat war ihr Bischof, der Herr Rektor ihr Erzbischof und der Herr Minister für Erziehung ihr Papst; an ihn schrieb man nur auf offiziellem Bogen und in formellem Stil.

»Wie die Priester«, sagte mein Vater, »arbeiten wir für das zukünftige Leben: aber wir verstehen darunter die Zukunft der anderen.«

Da er das Seminar ebenfalls mit Auszeichnung verlassen hatte, verschlug ihn die ›Aussaat‹ der Lehrer nach Aubagne, nicht weit entfernt von Marseille.

Aubagne war damals ein Städtchen von etwa zehntausend Einwohnern, an den Abhängen des Huveaune-Tales gelegen, durch das die staubige Straße von Marseille nach Toulon führt.

In dieser Gegend wurden Ziegel, Backsteine und Tonkrüge gebrannt; man aß Blut- und Leberwürste und gerbte Leder, das, nachdem es sieben Jahre in einer Miete gelegen hatte, unverwüstlich war. Man stellte auch buntbemalte Heiligenfiguren für die Weihnachtskrippe her.

Mein Vater, der Joseph hieß, war damals ein junger Mann mit dunkler Haut, mittelgroß, ohne klein zu wirken. Er hatte eine ziemlich gewichtige, aber ganz gerade Nase, vorteilhaft verkürzt durch seinen Schnurrbart und seine Brille, deren ovale Gläser von einem feinen Stahlrand eingefaßt waren. Seine Stimme klang tief und lustig, und sein blauschwarzes Haar lag bei feuchtem Wetter in natürlichen Wellen.

Eines Tages traf er eine kleine, dunkelhaarige Schneiderin, die Augustine hieß, und fand sie so hübsch, daß er sie auf der Stelle heiratete. Ich habe nie erfahren, wie sie sich kennenlernten, denn von solchen Sachen sprach man nicht bei uns zu Hause. Andererseits habe ich sie auch nie danach gefragt, denn weder ihre Jugend noch ihre Kindheit mochte ich mir vorstellen. Mein Vater war vierundzwanzig Jahre älter als ich, und das hat sich nie geändert.

Sie waren mein Vater und meine Mutter seit Ewigkeit und für immer.

Ich weiß nur, daß Augustine von der Begegnung mit dem ernsten jungen Mann, der so gut das Boulespiel beherrschte und unfehlbar vierundfünfzig Francs im Monat verdiente, geblendet war. Also gab sie es auf, für andere Leute zu nähen, und richtete sich in einer Wohnung ein, die um so angenehmer war, als man keine Miete dafür bezahlen mußte.

In den Monaten vor meiner Geburt – sie war erst neunzehn Jahre alt und ist zeitlebens nicht älter geworden – hatte sie schwere Ängste auszustehen und erklärte schluchzend, ihr Baby würde nie zur Welt kommen, denn sie fühle deutlich, daß sie nicht wisse, wie man es machen müsse.

Mein Vater versuchte, sie zur Vernunft zu bringen. Aber sie sagte wütend: »Wenn ich denke, daß du es bist, der mir das angetan hat!« und brach in Tränen aus.

Als das Ungeborene anfing, sich zu bewegen, bekam sie zwischen zwei Weinkrämpfen einen Lachanfall.

Durch dieses unvernünftige Benehmen erschreckt, rief mein Vater seine ältere Schwester zu Hilfe; sie hatte ihn erzogen, war – natürlich! – Leiterin einer Schule in La Ciotat und unverheiratet.

Die große Schwester war entzückt und ordnete an, daß meine Mutter sofort zu ihr an die Küste des Mittelmeers kommen müsse, was noch am gleichen Abend befolgt wurde.

Man hat mir gesagt, daß Joseph sehr froh über diese Lösung war und seine Freiheit benutzte, um mit der Bäckerin zu poussieren, deren Buchführung er in Ordnung hielt. Aber davon wollte ich nichts hören, und habe es niemals geglaubt.

Während dieser Zeit ging die zukünftige Mama in der milden Januarsonne am Strand spazieren und sah weit draußen die Segel der Fischerboote, die gegen drei Uhr nachmittags dem Sonnenuntergang entgegenfuhren. Später am Kaminfeuer, in dem die blaue Flamme der Olivenscheite knisterte, strickte sie die Ausstattung für die sich rührende Nachkommenschaft, während Tante Marie Windeln säumte und mit ihrer hübschen hellen Stimme sang:

Wenn die leichte Brigg auf den Wellen schaukelt,

Und die Nacht ihren schwarzen Schleier ausbreitet …

Sie war jetzt ausgesöhnt mit ihrem Los, um so mehr, als ihr lieber Joseph jeden Samstag auf dem Rad des Bäckers zu Besuch kam. Er brachte Mandelhörnchen mit, Marzipantörtchen und ein Säckchen weißes Mehl, um Pfannkuchen oder Apfelküchlein zu backen.

Sie hatte rosige Wangen bekommen, und alles sah aufs beste aus, als sie am achtundzwanzigsten Februar in aller Frühe durch leichte Schmerzen geweckt wurde.

Sofort rief sie Tante Marie, die ihr erklärte, das habe nichts zu bedeuten, da der Doktor erst für Ende März die Geburt eines Mädchens angekündigt habe; dann machte sie Feuer, um Kräutertee zu kochen. Aber die Patientin beharrte darauf, daß die Doktoren nichts davon verstünden, und daß sie auf der Stelle nach Aubagne zurück wolle.

»Das Kind muß zu Hause geboren werden! Joseph muß meine Hand halten! Marie, Marie, laß uns schnell fahren! Ich bin überzeugt, es will heraus!«

Die sanfte Marie versuchte sie mit Lindenblütentee und guten Worten zu beruhigen. Das Sieb in der Hand versprach sie, wenn die Vermutung sich bestätigen sollte, sofort den Fischhändler zu verständigen, der jeden Morgen gegen acht Uhr nach Aubagne fuhr. Schnell wie der Wind würde dann auch Joseph mit seinem Fahrrad zur Stelle sein.

Aber Augustine stieß die geblümte Tasse zurück, rang die Hände und weinte dicke Tränen.

Also klopfte Tante Marie an den Fensterladen des Nachbarn, der ein Gig und ein kleines Pferd besaß. Es war eine gesegnete Zeit, in der die Leute einander halfen: man brauchte sie nur darum zu bitten.

Der Nachbar spannte sein Pferd ein, die Tante hüllte Augustine in Decken, und schon waren wir im Trab unterwegs, während oben auf dem Hügel die Hälfte einer großen, roten Sonne durch die Kiefern schaute.

Bei der Ankunft in La Bedoule, das genau auf halbem Wege liegt, fingen die Schmerzen wieder an, und jetzt regte die Tante sich auf. Sie nahm meine in Decken gehüllte Mutter in die Arme und gab ihr gute Ratschläge.

»Augustine«, sagte sie, »halte dich zurück!«, denn sie war noch Jungfrau.

Aber die blasse Augustine schlug ihre großen schwarzen Augen auf und wimmerte, in Schweiß gebadet.

Glücklicherweise hatten wir den Kamm des Berges bereits hinter uns, und der Weg ging bis Aubagne bergab. Der Nachbar löste die Bremsen und peitschte das Pferdchen, das sich vom Gewicht des Wagens vorwärts treiben ließ. Wir kamen gerade noch rechtzeitig an, und Madame Négrel, die Hebamme, eilte herbei, um meine Mutter zu entbinden, die endlich ihre Nägel in Josephs starkem Arm festkrallen konnte.

Diese Geschichte ist nicht besonders überraschend, aber nur eine Minute Geduld, sie wird es werden.

Anfang des 18. Jahrhunderts lebte in Aubagne eine sehr reiche, alte Kaufmannsfamilie, mit Namen Barthélémy. Ihre Verdienste waren so groß, daß der König sie eines Tages in den Adelsstand erhob.

Nun – in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1716, begab es sich, daß Madame Barthélémy, die sehr jung war, in Aubagne wohnte und deren Gatte Joseph hieß, die ersten Schmerzen verspürte. Sie stieg schleunigst in ihren Wagen, um zu ihrer Mutter in ihr Elternhaus zu fahren, dem hübschesten Besitz in ganz Cassis.

Cassis war ein kleiner Fischerhafen, eine Meile vor La Ciotat, und ungefähr auf Dreiviertel der Strecke fuhr man auf der Straße nach Aubagne.

Madame Barthélémy fuhr also durch die Schluchten, über den Kamm von La Bedoule und wimmerte unter ihren Decken. Sie kam in Cassis an, halb ohnmächtig vor Schmerzen, und als man sie zu Bett brachte, gebar sie einen Knaben.

Dieses Kind aus Aubagne wurde später der Abbé Barthélémy, berühmter Autor der ›Reise des jungen Anacharsis nach Griechenland‹, der am 5. März 1789 auf den fünfundzwanzigsten Platz der Académie Française gewählt wurde, denselben Platz, den ich seit dem 5. März 1946 einzunehmen die Ehre habe.

Aus dieser doppelten Anekdote könnte man den ungewöhnlichen Schluß ziehen: man habe die besten Möglichkeiten, dieser illustren Gesellschaft eines Tages anzugehören, wenn man der Sohn eines Mannes namens Joseph ist und versucht, an einem frühen Wintermorgen in einer aus zweierlei Gründen wimmernden Kutsche auf der Straße nach La Bedoule auf die Welt zu kommen.

Meine Erinnerungen an Aubagne sind nicht sehr zahlreich, da ich nur drei Jahre dort lebte.

Zuerst sehe ich unter den Platanen des Hofes direkt vor unserem Haus einen hohen Springbrunnen, das ist das Denkmal, das unserem Abbé Barthélémy von seinen Zeitgenossen errichtet wurde. Er galt, infolge der ›Reise des jungen Anacharsis‹, als ein Mann der Linken. Nur wenige Menschen hatten das Buch gelesen, und viele nannten es, in gutem Glauben, ›Der junge Anarchist‹. Ich kannte es zu dieser Zeit natürlich auch nicht, aber mit Entzücken lauschte ich dem kleinen Lied des Springbrunnens, der mit den Spatzen um die Wette sang.

Dann sehe ich die Decke unseres Zimmers, die in schwindelnder Eile auf mich herunterfällt, während meine entsetzte Mutter schreit: »Henri! Du bist wohl verrückt! Henri, ich verbiete dir …!«

Denn mein Onkel Henri, der Bruder meiner Mutter, wirft mich in die Luft und fängt mich im Fluge wieder auf. Ich brülle vor Angst, aber als meine Mutter mich in die Arme nimmt, rufe ich natürlich: »Nochmal! Nochmal!«

Mein Onkel Henri war dreißig Jahre alt, hatte einen schönen, braunen Bart und war Mechaniker in einer Fabrik für Dampfmaschinen, an deren Herstellung er in den Werkstätten von Forges und Chantier arbeitete. Er folgte darin dem Beispiel seines Vaters, meines Großvaters mütterlicherseits, den ich nie gekannt habe.

Dieser Großvater war in Coutances um das Jahr 1845 geboren und hieß Guillaume Lansot. Er war ein reiner Normanne und kam als Wandergeselle nach Marseille. Meine Marseiller Großmutter gefiel ihm, also blieb er dort. Mit vierundzwanzig Jahren hatte er schon drei Kinder, deren jüngstes meine Mutter war.

Da er sein Handwerk gut verstand und keine Angst vor dem Meer hatte, schickte man ihn eines Tages nach Rio de Janeiro, um einen Dampfer wieder flott zu machen, der einen Maschinenschaden hatte. Er kam in dieses, damals noch sehr wilde Land, wo es keinerlei Schutzimpfungen gab. Dort sah er Leute, die am gelben Fieber starben, und törichterweise machte er es wie sie.

Seine Kinder hatten keine Zeit gehabt, ihn kennenzulernen, und meine Großmutter, die nur vier Jahre seine Frau gewesen war, konnte uns auch nicht viel von ihm erzählen, außer, daß er sehr groß war, meerblaue Augen, blendend weiße Zähne und rotblondes Haar hatte, und über alles gelacht hatte, genau wie die Kinder.

Ich habe nicht einmal eine Photographie von ihm. Manchmal auf dem Land, wenn ich abends am Kaminfeuer sitze, rufe ich ihn. Aber er kommt nicht. Er muß wohl noch in Amerika sein. Und während ich ganz allein in die tanzenden Flammen sehe, denke ich an meinen vierundzwanzigjährigen Großvater, der ohne Brille starb, mit all seinen Zähnen und einer dichten, goldhaarigen Mähne; und es überrascht mich, daß der große junge Mann aus Coutances einen so alten Enkel hat wie mich.

Eine andere Erinnerung aus Aubagne ist das Boulespiel, das unter den Platanen auf dem Hof stattfand. Unter lauter Riesen machte mein kleiner Vater die wunderbarsten Sprünge und schleuderte eine Unmasse Eisen in unvorstellbare Entfernungen. Manchmal gab es lauten Beifall, und am Ende brach zwischen den Meistern des Spiels immer Streit aus wegen eines Stückchens Schnur, das sie sich gegenseitig aus den Händen rissen; aber sie prügelten sich nie.

Von Aubagne übersiedelten wir nach Saint-Loup, einem großen Dorf in der Umgebung von Marseille. Gegenüber der Schule war der Gemeindeschlachthof, eine Art Schuppen, in dem zwei riesige Metzger bei offenen Türen hantierten.

Während meine Mutter ihren kleinen Haushalt versorgte, kletterte ich vor dem Fenster des Eßzimmers auf einen Stuhl und sah der Ermordung von Ochsen und Schweinen mit größtem Interesse zu. Ich glaube, daß der Mensch von Natur grausam ist: die Kinder und die Wilden beweisen es täglich.

Wenn der unglückliche Ochse den tödlichen Beilhieb zwischen seine Hörner erhielt und in die Knie sank, bewunderte ich ganz einfach die Kraft des Metzgers und den Sieg des Menschen über das Tier. Wenn die Schweine abgestochen wurden, lachte ich Tränen; man zog sie an den Ohren herbei, und sie quiekten schrill. Aber das interessanteste Schauspiel war die Abschlachtung der Hammel.

Der Metzger schnitt ihnen elegant die Kehle durch, ohne die Unterhaltung mit seinem Gehilfen zu unterbrechen und ohne seiner Tätigkeit die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn er drei oder vier geschlachtet hatte, legte er die Leichen, mit den Beinen in der Luft, auf eine Art Wiege. Dann blies er sie mit einem Blasebalg gewaltig auf, um die Haut besser abziehen zu können. Ich dachte, er versuche Ballons aus ihnen zu machen, und hoffte, sie davonfliegen zu sehen. Aber meine Mutter, die immer erschien, wenn es am schönsten war, hieß mich meinen Beobachtungsposten verlassen, und während sie Fleischwürfel für die Suppe schnitt, führte sie ganz unverständliche Reden über die Gutmütigkeit des armen Ochsen, die Anmut der gelockten kleinen Hammel und die Grausamkeit des Metzgers.

Wenn sie auf den Markt ging, ließ sie mich derweil in der Klasse meines Vaters, der sechs- bis siebenjährigen Buben das Lesen beibrachte. Ich blieb artig in der ersten Reihe sitzen und bewunderte die väterliche Allmacht. Er hielt ein Bambusstöckchen in der Hand, mit dem er auf die Buchstaben und Worte zeigte, die er an die Tafel schrieb, und manchmal auch einem unaufmerksamen Schlingel auf die Finger schlug.

Eines schönen Morgens brachte meine Mutter mich wieder auf meinen Platz und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Mein Vater schrieb großartig an die Tafel: ›Die Mutter hat ihren kleinen Jungen bestraft, weil er nicht artig war.‹

Er malte gerade einen herrlichen Punkt hinter diesen Satz, da schrie ich: »Nein! Das ist nicht wahr!«

Mein Vater drehte sich um, sah mich fassungslos an und rief:

»Was sagst du da?«

»Mama hat mich nicht bestraft. Du hast etwas Falsches geschrieben!«

Er kam auf mich zu:

»Wer sagt denn, daß man dich bestraft hat?«

»Dort steht es ja.«

Die Überraschung verschlug ihm einen Moment die Sprache.

»Schau einmal an!« sagte er schließlich. »Kannst du denn lesen?«

»Ja.«

»Schau an …«, wiederholte er.

Er zeigte mit dem Bambusstöckchen auf die Tafel.

»Nun lies mal!«

Ich las den Satz laut vor. Da nahm er eine Abc-Fibel, und ich las ohne Schwierigkeit mehrere Seiten.

Ich glaube, dieser Tag bescherte ihm die größte Freude und den größten Stolz seines Lebens.

Als meine Mutter zurückkam, fand sie mich von vier Lehrern umringt, die ihre Schüler zum Spielen auf den Hof geschickt hatten und mir zuhörten, wie ich langsam die Geschichte des kleinen Däumlings entzifferte. Aber anstatt diese Leistung zu bewundern, wurde sie blaß, ließ ihre Pakete fallen, schlug das Buch zu, nahm mich auf den Arm, trug mich fort und rief: »Mein Gott! Mein Gott!«

An der Klassentür stand die Portiersfrau, eine alte Korsin, und bekreuzigte sich. Später erfuhr ich, daß sie meine Mutter geholt und ihr versichert hatte, ›diese Herren würden es noch so weit treiben, bis mir der Kopf platze …‹

Bei Tisch erklärte mein Vater, das sei ein ganz lächerlicher Aberglaube, da ich mich keineswegs überanstrengt, sondern so lesen gelernt hätte wie ein Papagei sprechen, ohne selbst etwas davon zu merken. Meine Mutter war nicht davon überzeugt, und von Zeit zu Zeit legte sie ihre kühle Hand auf meine Stirn und fragte:

»Hast du keine Kopfschmerzen?«

Nein, Kopfschmerzen hatte ich nicht, aber bis zu meinem sechsten Lebensjahr durfte ich weder ein Klassenzimmer betreten noch ein Buch anschauen, da meine Mutter fürchtete, das Gehirn könnte mir platzen. Und erst zwei Jahre später, am Ende meines ersten Schulquartals, beruhigte sie sich, als meine Lehrerin ihr erklärte, daß ich zwar mit einem erstaunlichen Gedächtnis begabt wäre, meine geistige Reife aber die eines Kindes in der Wiege sei.

Von Saint-Loup stieg mein Vater auf wie ein Komet. Er übersprang alle Vororte von Marseille und wurde – zu seiner großen Überraschung – Hauptlehrer an der Schule von Chemin des Chartreux, der größten Volksschule von Marseille.

Ihr stand ein ›Rektor ohne Klasse‹ vor, der eine Art Schulleiter war. Er konnte den Herrn Inspektor der Akademie ohne Anmeldung jederzeit besuchen, er war Mitglied der Prüfungskommission für Volksschulen und manchmal sogar für das Gymnasium.

Außerdem hatte der Schulpedell in meiner Gegenwart meinem entzückten Vater mitgeteilt, daß die zwölf Lehrer der Chartreux die ›Lehrer-Elite‹ darstellten, und nach vier- oder fünfjähriger Dienstzeit, wenn sie wollten, gleich zu Direktoren ernannt wurden, des öfteren sogar in Marseille selbst.

Diese Erklärung des Schulpedells von Chartreux wurde in der Familie oft zitiert, und meine Mutter – die sehr stolz darauf war – wiederholte sie auch vor Madame Mercier und Mademoiselle Guimard, allerdings setzte sie hinzu, daß der Pedell vielleicht ein bißchen übertrieben habe; aber sie sah gar nicht aus, als ob sie das wirklich glaubte.

Sie war immer noch zart und blaß, aber glücklich mit ihrem Joseph, ihren beiden Buben und ihrer neuen Nähmaschine.

Diese wunderbare, moderne Erfindung erlaubte mir, ihr bei ihrer Arbeit zu helfen.

Ich kniete unter dem kleinen Tisch und – halb zugedeckt von ihren Röcken – drehte ich mit meinen Händen das große Rad, das ich auf Befehl sofort zum Stehen brachte.

Mein Bruder Paul war ein kleiner Bursche von drei Jahren, mit weißer Haut und vollen Wangen, klaren, hellblauen Augen und den goldenen Locken unseres unbekannten Großvaters. Er hatte ein nachdenkliches Gemüt, weinte nie und spielte stundenlang allein unter dem Tisch mit einem Korken oder einem Lockenwickler. Aber er war erstaunlich gefräßig. Von Zeit zu Zeit spielte sich blitzartig ein Drama ab: man sah ihn plötzlich unter dem Tisch hervorkriechen; schwankend, mit ausgebreiteten Armen und blau im Gesicht, war er im Begriff zu ersticken.

Meine zu Tode erschrockene Mutter klopfte ihm auf den Rücken, steckte ihm den Finger in den Hals oder schüttelte ihn, wobei sie ihn wie Achilles an den Fersen hielt.

Dann spuckte er unter schrecklichem Röcheln eine große schwarze Olive aus, einen Pfirsichkern oder eine lange Scheibe Speck.

Danach kehrte er zu seinen einsamen Spielen zurück und hockte wie eine Kröte unter dem Tisch.

Joseph hatte sich prächtig herausgemacht. Er besaß einen neuen, dunkelblauen Anzug, wie es die Würde der Schule von Chemin des Chartreux verlangte. Seine Brille, früher stahlgerändert, hatte nun eine blinkende Goldfassung mit runden Gläsern. Dazu trug er eine Künstlerkrawatte, eine schwarze Schleife mit zwei hängenden Enden. Dieses anspruchsvolle Äußere war durch die Tatsache gerechtfertigt, daß er gemeinsam mit seinem Kollegen Arnaud jeden Donnerstag und jeden Sonntag vormittags an der Reproduktion geographischer Wandkarten arbeitete, die der Verlag Vidal-Lablache bis zu hundert Francs pro Stück honorierte. Im Familienbudget figurierte Vidal-Lablache also mit fünfundzwanzig Francs im Monat, und dieser Doppelname wurde doppelt gesegnet.

Ich näherte mich meinem sechsten Jahr und ging in die Vorschulklasse unter Leitung von Mademoiselle Guimard.

Mademoiselle Guimard war sehr groß, hatte einen hübschen braunen Schnurrbart, und wenn sie sprach, bebten ihre Nasenflügel. Trotzdem fand ich sie häßlich, denn sie war gelb wie ein Chinese und hatte vorstehende Kugelaugen.

Sie brachte meinen Mitschülern geduldig das ABC bei, aber mit mir beschäftigte sie sich nicht, da ich bereits fließend las, was sie auf eine unpassende Voreiligkeit meines Vaters zurückführte. Aus Rache stellte sie in der Singstunde vor der ganzen Klasse fest, daß ich falsch singe und besser meinen Mund halte, was ich gern tat. Der Kinderschwarm folgte den Noten, auf die sie mit ihrem Bambusstock zeigte und schrie sich die Lunge aus dem Leibe; ich blieb stumm und saß friedlich lächelnd da. Mit geschlossenen Augen dachte ich mir Geschichten aus und ging in Gedanken am Teich vom Borély-Park spazieren. Dieser Park ist ähnlich wie der von St. Cloud und liegt am anderen Ende des Prado von Marseille.

Donnerstags und sonntags kam meine Tante Rose, die ältere und ebenso hübsche Schwester meiner Mutter zu uns zu Tisch und fuhr nachher mit mir in der Trambahn zu diesem entzückenden Platz. Dort gab es eine uralte, schattige Platanenallee, wildwuchernde Sträucher, Wiesen, die einluden, darauf herumzutollen, Aufseher, die es verboten, und Teiche, auf denen ganze Flotillen von Enten schwammen.

Dort fanden sich zu jener Zeit auch Leute ein, die radfahren lernten. Mit starrem Blick und angespanntem Kinn verloren sie zum Schrecken ihrer Lehrer manchmal die Herrschaft über ihr Rad, überquerten die Allee, verschwanden in den Büschen und erschienen wieder, ihr Vehikel um den Hals. Dieses Schauspiel war nicht uninteressant, und ich lachte Tränen darüber. Aber meine Tante erlaubte mir nicht, lange in dieser Gefahrenzone zu bleiben. Sie zog mich – der ich mich mit verdrehtem Kopf von dem faszinierenden Anblick kaum losreißen konnte – in einen stillen Winkel am Ufer des Teiches.

Wir setzten uns auf eine Bank – immer auf die gleiche – vor einem dichten Lorbeerboskett zwischen zwei Platanen. Sie nahm eine Handarbeit aus ihrem Beutel, und ich spielte die Spiele meines Alters.

Meine Hauptbeschäftigung war, den Enten Brot zuzuwerfen. Diese dummen Tiere kannten mich genau. Sobald ich eine Brotkruste hervorholte, kam die Flotille angeschwommen, und ich begann mit meiner Zuteilung.

Wenn meine Tante nicht hinsah, lockte ich die Enten mit schmeichelnder Stimme und süßen Worten und warf Steine nach ihnen mit der festen Absicht, eine zu töten. Diese immer wieder getäuschte Hoffnung war der Reiz jener Spaziergänge, und schon in der ratternden Trambahn, die nach dem Prado fuhr, zitterte ich vor Ungeduld.

Eines schönen Sonntags war ich unangenehm überrascht, als ein Herr auf unserer Bank saß. Seine Gesichtsfarbe war altrosa; er hatte einen dicken, kastanienbraunen Schnurrbart, buschige, rote Augenbrauen, große blaue, leicht gerötete Augen und an den Schläfen einige graue Haare. Noch dazu las er Zeitung, und ich rechnete ihn sofort unter die Greise.

Meine Tante wollte mich zu einem anderen Platzführen, aberich protestierte: das war unsere Bank und dieser Herr hatte zu gehen.

Er war höflich und zurückhaltend. Ohne ein Wort zu sagen, glitt er bis ans andere Ende der Bank und legte seine Melone und seine Lederhandschuhe, untrügliche Zeichen von Reichtum und guter Erziehung, neben sich.

Meine Tante richtete sich am entgegengesetzten Ende der Bank ein und holte ihr Strickzeug hervor; ich lief mit meiner Tüte voll Brotkrumen zum Ufer des Teiches.

Zuerst wählte ich einen sehr schönen Stein, ungefähr so groß wie ein Fünffrancstück, ziemlich flach und wunderbar scharf. Leider beobachtete mich ein Wärter. Ich versteckte den Stein in meiner Tasche und verteilte meine Krusten mit so freundlichen und liebevollen Worten, daß ich mich bald von einem ganzen Entengeschwader im Halbkreis belagert sah.

Der Wärter – ein ganz blasierter – schien wenig interessiert an diesem Schauspiel. Er drehte mir den Rücken zu und entfernte sich gemessenen Schrittes. Sofort zog ich meinen Stein hervor und hatte die etwas angsterfüllte Freude, einen alten Entenvater mitten auf den Kopf zu treffen. Doch anstatt zu kentern und auf der Stelle zu versinken, wie ich hoffte, flog der Enterich mit dem Eisenschädel fort und stieß entrüstetes Geschrei aus. Zehn Meter vom Ufer hielt er an und wandte sich erneut gegen mich. Er hob sich flügelschlagend aus dem Wasser und rief mir alle ihm bekannten Schimpfworte zu, von dem ohrenbetäubenden Geschnatter seiner Familie unterstützt.

Der Wärter war noch nicht sehr weit weg; ich flüchtete zu meiner Tante. Sie hatte nichts gesehen, sie hatte nichts gehört, sie strickte nicht, sie machte Konversation mit dem Herrn auf der Bank.

»Was für ein reizender kleiner Junge!« sagte er. »Wie alt bist du?«

»Sechs Jahre.«

»Er sieht aus wie sieben«, sagte der Herr. Dann lobte er mein gutes Aussehen und behauptete, daß ich wirklich sehr schöne Augen hätte. Meine Tante beeilte sich zu sagen, daß ich nicht ihr Sohn sei, sondern der Sohn ihrer Schwester und fügte hinzu, daß sie nicht verheiratet sei, worauf mir der freundliche alte Herr zwei Sous schenkte, um mir Bonbons im Kiosk am Ende der Allee zu kaufen.

Man ließ mir viel mehr Freiheit als gewöhnlich. Ich nahm die Gelegenheit wahr, um zu den Radfahrern zu gehen. Aus Vorsicht stellte ich mich auf eine Bank und konnte so einige unbeschreibliche Stürze miterleben.

Am komischsten war der Unfall eines alten Herrn von mindestens vierzig Jahren. Mit fürchterlichen Grimassen riß er die Lenkstange aus seinem Rad und fiel seitlich hin, wobei er weiter die Gummigriffe fest umklammerte. Man hob ihn auf, staubbedeckt, mit bis zu den Knien zerrissenen Hosen und genauso wütend, wie der alte Enterich. Ich hoffte nun auf eine Schlacht zwischen den Erwachsenen, aber da erschien die Tante mit dem Herrn von der Bank. Sie holten mich aus der Gruppe der Streitenden heraus, denn es war Zeit für den Heimweg.

Der Herr stieg mit uns in die Trambahn, er bezahlte sogar unsere Fahrkarten, trotz des energischen Protestes meiner Tante, die, zu meinem großen Erstaunen, ganz rot wurde. Erst sehr viel später verstand ich, daß sie sich wie eine regelrechte Kurtisane vorgekommen war, weil ein Herr, den sie kaum kannte, drei Sous für uns bezahlt hatte.

An der Endstation verließen wir ihn, und mit seiner Melone in der Hand verbeugte er sich höflich.

Als wir an unsere Haustür kamen, empfahl meine Tante mir mit leiser Stimme, von dieser Begegnung niemandem etwas zu erzählen. Sie ließ durchblicken, daß dieser Herr der Eigentümer des Borely-Parks sei, und wenn ich auch nur ein Wort über diese Begegnung sagte, würde er es sicher erfahren und uns verbieten, wieder in den Park zu kommen. Als ich sie fragte, warum, sagte sie, das sei ein ›Geheimnis‹. Ich war begeistert – wenn auch nicht ein Geheimnis selbst, so doch von seiner Existenz zu wissen. Ich versprach und hielt Wort.

Unsere Parkpromenaden wurden immer häufiger, und der liebenswürdige ›Besitzer‹ erwartete uns stets auf unserer Bank. Aber es war schwer, ihn von weitem zu erkennen, denn er hatte nie denselben Anzug an. Manchmal trug er eine helle Jacke mit blauer Weste, manchmal einen Jagdanzug über einem gestrickten Pullover; ich habe ihn sogar im Cutaway gesehen.

Tante Rose trug jetzt eine Federboa und ein kleines Tüllhütchen, auf dem ein blauer Vogel seine Flügel ausbreitete, als wollte er ihren Haarknoten ausbrüten. Sie lieh sich den Sonnenschirm von meiner Mutter, ihre Handschuhe, oder ihre Handtasche. Sie lachte, sie errötete und wurde immer hübscher. Bei unserer Ankunft im Park übergab der ›Besitzer‹ mich erst einmal dem Eselswärter; auf den Eseln ritt ich stundenlang spazieren. Dann durfte ich mit dem Wagen fahren, der von vier Ziegen gezogen wurde, und zum Schluß mit der Berg- und Talbahn. Ich wußte, daß diese Großzügigkeit ihn nichts kostete, da ihm ja der ganze Park gehörte. Aber deshalb war ich nicht weniger dankbar und stolz, einen so reichen Freund zu haben, der mir mit all dem seine Liebe bewies.

Sechs Monate später, als ich mit meinem Bruder Paul Verstecken spielte, schloß ich mich im Büfett ein, nachdem ich die Teller zur Seite geschoben hatte. Paul suchte mich in meinem Zimmer, und ich hielt den Atem an, um mich nicht zu verraten, als mein Vater, meine Mutter und meine Tante ins Eßzimmer kamen. Meine Mutter sagte:

»Trotzdem, siebenunddreißig Jahre, das ist ein bißchen alt!«

»Ich bitte dich!« sagte mein Vater. »Ich werde Ende des Jahres dreißig und halte mich immer noch für einen jungen Mann. Siebenunddreißig, das ist das beste Alter! Und abgesehen davon – Rose ist auch nicht mehr achtzehn!«

»Ich bin sechsundzwanzig«, sagte Tante Rose, »und er gefällt mir.«

»Was macht er denn auf der Präfektur?«

»Er ist zweiter Vorstand. Er verdient zweihundertzwanzig Francs im Monat.«

»Sieh mal an!« sagte mein Vater.

»Außerdem hat er eine kleine Rente von seiner Familie.«

»Soso!« sagte mein Vater.

»Er sagte mir, daß wir mit einem Einkommen von dreihundertfünfzig Francs im Monat rechnen können.«

Ich hörte meinen Vater pfeifen, und dann fügte er hinzu:

»Ja, dann gratuliere ich dir, meine liebe Rose. Aber ist er wenigstens hübsch?«

»Nein«, sagte meine Mutter, »davon kann keine Rede sein. Er ist nicht hübsch.«

Worauf ich plötzlich die Tür des Büfetts aufstieß, auf den Fußboden sprang und schrie:

»Doch! Er ist hübsch! Er ist fabelhaft!«

Dann rannte ich in die Küche undriegelte die Türhinter mir zu.

Die Folge all dieser Ereignisse war, daß der ›Besitzer‹ eines Tages zu uns ins Haus kam, begleitet von Tante Rose.

Unter dem Rand seiner glänzenden, schwarzen Melone lachte er über das ganze Gesicht.

Tante Rose sah rosig aus, und von Kopf bis Fuß rosa angezogen, strahlten ihre schönen Augen unter einem blauen Schleier, der von ihrem Hütchen wehte.