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Dorian Hunter Band 100: Dämonensterben

Turpin, der heilige Dämon, ist erwacht.

Doch was ist seine Mission? Findet Dorian Hunter in ihm einen Freund oder einen Feind? Und was hat es mit Limas Brut auf sich?

Während in der Burg Predjama die Schatten der Vergangenheit lebendig werden, müssen Dorian und Coco erkennen, dass die Kanzlei dem Schiedsrichter der Schwarzen Familie nicht nur Schutz gewährt – sondern sich auch zu einer tödlichen Falle entwickeln kann …

 

 

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Der heilige Dämon

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Band 99

 

Der heilige Dämon

 

von Catherine Parker, Simon Borner und Dennis Ehrhardt

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm und Michael Marcus Thurner

 

 

© Zaubermond Verlag 2020

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

 

Titelbild: Mark Freier

E-Book-Erstellung: Die eBook-Manufaktur

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Was bisher geschah

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Den Posten des Schiedsrichters nimmt die babylonische Vampirin Salamanda Setis an, die noch ein sehr persönliches Hühnchen mit Dorian zu rupfen hat. Gleichzeitig gelingt es Dorian mithilfe seiner Tochter Irene, ganz Großbritannien von Dämonen zu befreien. Allerdings sind Salamanda und Asmodi bereits dabei, einen Gegenschlag zu planen. Um ihn zu verhindern und Salamanda als Schiedsrichterin zu stürzen, unterstützt Dorian seinen alten Mal-Freund-mal-Feind Olivaro als Schiedsrichter-Gegenkandidaten. Die endgültige Entscheidung über das Schiedsrichteramt soll bei einem Wettstreit entschieden werden. Dieser endet mit Salamandas Tod, aber auch damit, dass der Eidesstab Dorian zum neuen Schiedsrichter auserwählt. Asmodi allerdings erkennt diese Wahl nicht an und ernennt stattdessen den Archivar der Schwarzen Familie Zakum zum Schiedsrichter. Das hält Hunter allerdings nicht davon ab, den Posten dennoch anzutreten – um die Schwarze Familie von innen heraus zu vernichten.

 

 

Erstes Buch: Turpin, der Mönch

 

Turpin, der Mönch

 

von Catherine Parker

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm und Michael Marcus Thurner

 

 

Kapitel 1

 

Wien

Der Stab vor Dorian auf dem Tisch krümmte sich, als besitze er ein eigenes Leben.

Der Dämonenkiller spürte ein Pochen in den Schläfen, und seine Hände krampften sich um das Bourbonglas, als er den Bewegungen des Stabes zu folgen versuchte. Er schien sich regelrecht in die Oberfläche des altmodischen Nierentisches einzubrennen. Flammen von undurchdringlichem Schwarz umzüngelten den Stab, zerschmolzen ihn, und – ein Bild entstand.

Eine Chimäre – ein Mensch mit einem Schakalkopf, der den bildlichen Darstellungen ägyptischer Gottheiten ähnelte.

Dorian war jedoch sofort klar, dass es sich um einen Dämon handelte.

Der Schakalköpfige hob den Blick, und Dorian starrte in schwarze, gnadenlos kalte Augen. Hinter dem Kopf des Dämons, aus den Flammen, zuckte etwas empor, das Dorian nicht genau erkennen konnte … ein Schatten, der auf ihn zuraste.

Dorian fuhr zurück.

Und rang nach Luft.

Das Bild in der Schreibtischoberfläche war verschwunden. Der Eidesstab lag unversehrt vor ihm.

Als er danach tastete, fiel sein Blick auf seinen Handrücken. Deutlich zeichneten sich die Adern unter der Haut ab, die vor Schweiß glitzerte.

Nur eine magische Illusion, nichts weiter.

Oder hatte der Eidesstab sich entschlossen, ihm einen Hinweis zu geben?

Auf ein zukünftiges Ereignis?

Dorian drehte sich langsam um und warf einen Blick aus dem Fenster. Fahles Laternenlicht sickerte durch die Dunkelheit. Ein Sturm blies über die Schönbrunner Straße und ließ einen Fensterladen klappern. Ein Mann mit hochgestelltem Kragen führte seinen Hund aus und verschwand in einer Querstraße.

Die Fahrbahn lag verlassen da.

Dann flackerten die Straßenlaternen plötzlich, und ein helles Knistern lief über die Kabel, die die Laternen über der Mitte des Asphalts mit Strom speisten.

Ein heller Knall.

Eine Lampe war erloschen, und in dem Schatten, der sich zwischen den Lichthöfen auftat, erkannte Dorian den schemenhaften Umriss eines Menschen.

Eines Menschen mit einem Schakalkopf.

Er sprang auf und klammerte sich an den Fensterrahmen.

Suchte den Schattenriss, den er vor Sekundenbruchteilen noch gesehen hatte, … doch da war nichts.

Die Lampe leuchtete wieder auf.

Die Straße war so leer wie zuvor.

Dorian schloss die Augen, atmete durch und ließ sich wieder in den Stuhl sinken.

Nachdenklich zündete er sich eine Players an und sog den Rauch ein.

Mach dich nicht verrückt. Es hat nichts zu bedeuten.

Wie um den Eindruck der Halluzination – oder Vision? – abzuschütteln, wandte er sich wieder dem Eidesstab zu.

Dorian war sicher, dass der Stab mehr als nur ein Geheimnis besaß. Wahrscheinlich würde er ihm den Zugang zur Kanzlei öffnen. Denn er konnte sich kaum vorstellen, dass das, was er vor sich sah – ein Haufen überfüllte Regale, ein paar altmodische Möbel und staubige Teppiche, in denen seine Schuhe versanken wie in einem original griechischen Flokati –, dass dieser Anblick das ganze Geheimnis war, die ganze Wahrheit.

Skarabäus Toth, der hier über viele Generationen residiert hatte, war ein uralter Dämon gewesen, der mit Vorliebe gegen Menschen, aber auch gegen Dämonen intrigiert hatte. Bestimmt gab es irgendwo in diesen Räumen Aufzeichnungen, Informationen … vielleicht eine Art Archiv oder Speicher. Allerdings würde es Zeit kosten, alles zu durchforsten. Viel Zeit. Die Asmodi ihm kaum lassen würde.

Nachdenklich nahm er einen weiteren Zug und nippte am Bourbon. Nimue hatte sich angeboten, ihm bei der Erforschung der Kanzlei zu helfen, aber konnte er ihr trauen? Genau genommen, war es eine Dummheit gewesen, die geheimnisvolle blonde Historikerin ohne Vergangenheit, die am Semmering so unvermittelt in sein Leben getreten war, mit hierher zu nehmen, an einen Ort von solcher Bedeutung – und Gefahr …

Aber sie hatte ihm geholfen, Alastor loszuwerden – den Dämon, der seinen Körper so lange besetzt hatte. Weshalb er sich ihr in gewisser Hinsicht verpflichtet fühlte.

Der Kampf im Panhaus.

Sofort standen ihm die Bilder wieder vor Augen. Es war ein wahnwitziges Abschlachten gewesen, dem nur wenige Angehörige der beteiligten Wiener Dämonensippen entkommen waren. Und dann Morales’ Tod durch die Hand seiner eigenen Tochter Beatrice …

War der Tod des Gefährten der Preis gewesen, den er, Dorian, für die Erlangung des Eidesstabes zu zahlen hatte?

Er hatte den Stab nicht gewollt; vielmehr hatte der Stab ihn zum neuen Schiedsrichter der Schwarzen Familie bestimmt. Und nun saß er hier. Auf dem Stuhl, hinter dem Schreibtisch, an dem vor nicht allzu langer Zeit noch Salamanda Setis ihren Platz gehabt hatte. Wild entschlossen, aus dem Amt des Schiedsrichters seinen Vorteil zu ziehen – indem er die neue Macht nutzte, um sie gegen die Dämonen zu wenden.

Am Semmering war keine Zeit geblieben, Nimues Angaben zu überprüfen. Die Tatsache, dass sie gemeinsam mit ihm gegen Dämonen gekämpft hatte, sprach für sie. Die geheimnisvolle Aura, die … Fähigkeiten, über die sie offenbar verfügte, weckten hingegen sein Misstrauen, und vielleicht sollte er sie zunächst …

Da war das Feuer wieder!

Es schlug direkt aus dem Eidesstab, um den sich plötzlich ein schwarzes Loch aufzutun schien. Daraus raste das aufgerissene Maul des Schakalköpfigen auf Dorian zu!

Der Dämonenkiller warf den Kopf zurück und spürte, wie der heiße Geifer der Kreatur auf seine Wange klatschte – und aus den tiefschwarzen Flammen schoss erneut der lange, spitze Schatten heran, der …

Dorian brüllte auf, als ein stechender heißer Schmerz durch seine Schulter schoss.

Die Lohen züngelten über das glitzernde Etwas, das sich in seine Haut gebohrt hatte, griffen auf ihn über, fraßen sich in seine Brust, zerfetzten seine Rippen und …

Er prallte zurück.

Rang nach Luft, während sich alles um ihn zu drehen schien.

Seine Hände zitterten, sein Pulsschlag hämmerte.

Diesmal war der Eindruck von Realität noch stärker gewesen, und er zweifelte nicht länger daran, dass er Zeuge einer Vision geworden war.

Eine Vision, die … was zu bedeuten hatte?

Er wischte sich über die Stirn, zog ein letztes Mal an der Zigarette und drückte sie im leeren Bourbonglas aus.

Er brauchte Unterstützung, ja.

Aber nicht Nimue.

Auch nicht das komplette Team.

Er brauchte eine Person, auf die er sich verlassen konnte und die sich an diesem undurchsichtigen Ort auskannte.

Er zückte das Handy und rief Coco an.

 

 

Kapitel 2

 

Kloster Tarasp, Anno Domini 1023

Im Skriptorium herrschte nachmittägliche Ruhe. Nur das leise Kratzen von Turpins Feder war zu hören, und hin und wieder das Husten von Bruder Vitus, der die Aufsicht führte.

Die meisten der Benediktinermönche waren zur Feldarbeit eingeteilt. Es galt, die Ernte einzubringen, ehe die Herbststürme durch das Hochtal im Engadin zogen. Etliche Plätze im Skriptorium waren daher freigeblieben. Im Kloster Tarasp musste eben jeder mit anpacken. Davon ausgenommen waren höchstens die Novizen und jüngeren Brüder, die gefälligst etwas lernen sollten.

Berno, Turpins Freund, der am Nachbarpult saß, starrte seit geraumer Zeit auf dieselbe Seite des Buches, das aufgeschlagen vor ihm lag. Er tat sich schwer mit der griechischen Schrift. Dafür war er künstlerisch begabt. Leider ließ Abt Justinian es nicht zu, dass Berno sich ganz dem Zeichnen widmete. Justinians Ansicht nach mussten gerade die ungeliebten Tätigkeiten mit besonderer Hingabe verrichtet werden.

Genau wie Turpin war Berno bereits als Kind im Kloster Tarasp aufgenommen worden – der eine mit neun, der andere mit zehn Jahren. Mittlerweile waren sie beide 16, hatten gemeinsam das Noviziat durchlaufen und anschließend die Profess abgelegt. Seitdem trugen sie voller Stolz die Tonsur und den schwarzen Habit der Benediktiner.

»Psst!«

Turpin wandte den Kopf. Mit unterdrücktem Lachen wies Berno nach vorn. Die Tür des Skriptoriums stand einen Spaltbreit offen – und dort spazierte ein Huhn herein! Neugierig spähte es durch den Raum, verharrte kurz und beging dann den Fehler, an Bruder Vitus’ Sandale zu picken. Als der alte Mönch auffuhr, stob das Tier gackernd unter die Pulte.

»Fangt es ein«, rief Bruder Vitus, bevor er sich unter einem Hustenanfall krümmte. Sein schlechter Gesundheitszustand hatte ihm in den letzten Monaten immer weniger Gelegenheit gelassen, sein Amt als Prior und direkter Stellvertreter des Abtes Justinian auszuführen.

»Schnell!« Berno war aufgesprungen. »Hilf mir, Turpin!«

Sie jagten das Huhn durchs Skriptorium und versuchten, es in eine Ecke zu drängen.

»Ich hab es gleich!«

»Da, jetzt!«

»Oh nein! Schnell, hierher!«

Immer wieder schlüpfte es ihnen wild flatternd durch die Hände. Jetzt hüpfte das aufgebrachte Federvieh auch noch über die kostbaren Bücher! Turpin gelang es gerade noch, sein Tintengefäß in Sicherheit zu bringen.

»Ha, ich hab es«, rief Berno und zeigte das zappelnde Tier umher wie eine Trophäe.

Bruder Vitus hustete und verscheuchte sie mit einer Handbewegung. »Schafft es dorthin zurück, wo es hingehört! Bruder Iold wird sich für seine Nachlässigkeit verantworten müssen!«

Bruder Iold kümmerte sich sehr um die Hühner, aber er war nun mal ein Dummkopf und vergaß des Öfteren, die Stalltür zu schließen.

»Und dann räumt hier auf! Eure Studierzeit ist für heute beendet!«

Berno strahlte, als er das hörte, und grinste immer noch, als er mit Turpin den Klosterhof überquerte, um das Huhn zurück in den Stall zu bringen. Dabei leuchtete sein blonder Haarkranz, als hätten die grellen Strahlen der Nachmittagssonne ihn in Flammen gesetzt.

»Das ist perfekt«, raunte er Turpin zu. »Dann kann ich gleich noch ein paar Vorbereitungen treffen.«

»Vorbereitungen? Wofür das denn?«

»Hast du etwa vergessen, welcher Tag heute ist?«

Turpin öffnete die Stalltür, weil er im Gegensatz zu Berno beide Hände frei hatte. Dahinter saß Bruder Iold auf dem Boden und kratzte sich den ausladenden Bauch. Vor ihm lag eine leere Schüssel umgedreht auf dem Boden, mit Resten von Brotkrumen drumherum.

»Was ist denn hier passiert?«

Iold hob die Schultern. »Ich wollte ihnen etwas von meinem Essen abgeben, weil ich sie doch so liebhab! Aber die blöde Stufe … Was kann man da bloß machen, dass ich sie besser sehen kann, wenn ich in den Stall gehe?«

Vielleicht noch mehr Brotkrumen an die Hühner verfüttern, damit dein Wanst kleiner wird, dachte Turpin und schämte sich im selben Augenblick für den Gedanken. Iold war … eben Iold, aber er hatte das Herz auf dem rechten Fleck, und es war nicht recht, dass er so über ihn dachte.

Berno ließ das Huhn los. Es flatterte empört zu seinen Artgenossen hinüber, die sich aus Angst vor Iold in eine Ecke gedrängt hatten.

»Wollt ihr mir vielleicht helfen aufzustehen?« Bruder Iold streckte die Hände aus, und Turpin und Berno zogen ihn mit vereinten Kräften auf die Beine. »Und wenn ihr noch so lieb wärt, die Brotkrumen aufzusammeln und zurück in die Schüssel zu geben …«

»Leider keine Zeit, wir müssen zurück ins Skriptorium – weiterlernen.« Berno zwinkerte Turpin erneut zu. »Aber die Hühner werden sich schon um die Brotkrumen kümmern!«

Bevor Iold eine Erwiderung einfiel, zog Berno Turpin mit sich und schloss die Tür.

»Na, und?«, flüsterte er Turpin zu. »Ist es dir wieder eingefallen?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Dachte ich mir!« Berno stieß ihm grinsend in die Seite. »Du vergisst vor lauter Lernen, dass es noch andere Dinge gibt, die Gott der Welt geschenkt hat. Vor einem Jahr hab ich es dir versprochen, und zwar bei …«

Bei der offiziellen Aufnahme in den Benediktinerorden! Natürlich erinnerte sich Turpin – jetzt! –, und er versuchte, bei der Antwort möglichst gelassen zu klingen. »Das Geheimnis?«

»Ja, genau, das Geheimnis! Falls du es bis zum Jahrestag unserer Profess nicht schon selbst herausgefunden hast!« Berno lachte. »Aber natürlich hast du das nicht. Gibt es einen Bruder, der die Gebote gehorsamer befolgt als du?« Er zwinkerte Turpin zu, wie er es meistens tat, ein wenig zu herablassend für Turpins Geschmack. »Heute Abend nach der Komplet zeige ich es dir. Sobald alle schlafen, schleichen wir uns nach draußen.«

Damit verabschiedete sich Berno, und es war an Turpin, die Federn im Skriptorium aufzukehren. Er tat es bereitwillig, weil es ihm Zeit verschaffte, über Bernos Worte nachzudenken. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem, was Berno vorhatte. Es entsprach auch nicht seiner Art, Geheimnisse zu haben oder die Gemeinschaft zu hintergehen. Er wusste schon jetzt, dass er Ärger mit Bruder Vitus bekommen würde, falls der von Bernos Plänen erfuhr.

Falls Bruder Vitus davon erfuhr.

 

Die Komplet war die letzte Hore des Tages, die vor der Nachtruhe gebetet wurde. Heute fiel es Turpin schwer, sich zu konzentrieren. In der Nacht wälzte er sich unruhig auf der Schlafstatt. Am liebsten hätte er Berno zugeflüstert, dass er nicht mitkommen würde. Aber dazu hätte er das nächtliche Schweigegebot brechen müssen. Was auch immer er also tat, er würde sich einer Verfehlung schuldig machen, und so konnte er Berno ebenso gut begleiten. Dann würde er wenigstens endlich erfahren, was mit dem Geheimnis gemeint war, von dem auch die anderen Brüder hin und wieder gemunkelt hatten. Als er einmal nachgefragt hatte, waren sie sofort verstummt und lächelnd auseinandergegangen, wobei sie sich wissende Blicke zuwarfen.

Zur vereinbarten Stunde schlich Turpin mit Berno aus dem Dormitorium. Die anderen Brüder schliefen nach dem langen Tag auf dem Feld tief und fest, und ihr Schnarchen folgte Berno und Turpin, bis sie die Tür hinter sich schlossen und auf den Klostergang traten.

»Aber Malachias wacht an der Pforte«, wandte Turpin ein. »Wird er uns nicht sehen?«

»Wir gehen hinten raus.«

Turpin kam sich töricht vor. Selbstverständlich hatte Berno nicht die Absicht gehabt, den Weg durch das schwere, verriegelte Eingangstor des Klosters zu nehmen. Da hätten sie auch gleich beim Abt um Erlaubnis für ihr Vorhaben ersuchen können.

Sie huschten über den Klosterhof. Vorbei am Refektorium, an den Vorratshäusern und angrenzenden Stallungen. Hufe scharrten, eine der Milchkühe schnaubte.

»Komm schon, beeil dich!« Berno raffte sein schwarzes Skapulier, den Überwurf der Benediktinermönche, und schwang sich über die Mauer des Kräutergartens. Die Haut seiner nackten Beine schimmerte für einen Herzschlag im Mondlicht.

»Warte auf mich!«

Turpin kletterte weit weniger geschickt hinterher. An der Mauerkante wäre er fast abgerutscht und schürfte sich dabei die linke Handfläche auf. Gewiss ein Zeichen, dass der Allmächtige sein Tun missbilligte!

»Wohin gehen wir?«

»Zur Höhle. Komm jetzt endlich! Sogar der hinkende Bruder Odo wär schneller als du …«

Kloster Tarasp lag auf einer flachen Hochebene. Neben dem bekannten Weg gab es noch zwei kleinere, steinige Pfade, die steil ins Tal hinabführten und die außer den Mönchen niemand kannte. Dorniges Gestrüpp wucherte hüfthoch am Wegrand. Mehr als einmal stolperte Turpin in der Dunkelheit, und hätte Berno ihn nicht aufgefangen, wäre er über den Abgrund getreten und in die Tiefe gestürzt.

»Wollen wir nicht lieber umkehren?«

»Hast du etwa Angst? Vielleicht vor Geistern?«

Turpin straffte die Schultern und schüttelte den Kopf, aber das war nur die halbe Wahrheit. Natürlich fürchtete er sich nicht vor Geistern, jedenfalls fiel ihm kein Grund ein, weshalb sie hier in der Kälte am Steilhang wochenlang darauf warten sollten, dass Berno einen seiner dummen Streiche ausführte … aber er fürchtete sich davor, Gott zu enttäuschen. Und natürlich Abt Justinian, seinen Stellvertreter auf Erden, was auf dasselbe hinauslief.

Endlich erreichten sie die Höhle, die versteckt zwischen Felsspalten am Fuße des Berges lag. Der Lärchenwald zeichnete sich als Schattenriss hinter ihnen ab. Vom nahen Fluss zog Nebel auf, der die gezackten Felsen des Hangs wie mit weißem Leinen bedeckte.

Turpin kannte die Höhle. Jeder im Kloster und auch in den umliegenden Dörfern kannte sie, aber selbst bei Tageslicht wagten sich nur die wenigsten hierher. Weil sie ein böser, verwunschener Ort war, an dem sich nach Einbruch der Dunkelheit allerlei Wesen trafen, die Gott spotteten und seiner Schöpfung hohnlachten. Turpin rann ein Schauer über den Rücken, und er wünschte sich wieder, niemals auf Bernos Vorschlag eingegangen zu sein.

Neben dem Höhleneingang befanden sich mehrere flache Steinplatten mit kleinen Vertiefungen. Hexensteine! Auch davon hatten die Mönche erzählt.

Auf einem der Steine saß zu Turpins Entsetzen Bruder Mathis, der nur wenige Jahre älter war als Berno und er und von dem Turpin erst jetzt auffiel, dass sein Bett im Dormitorium leer gewesen war. Zur Begrüßung reichte er ihnen zwei gefüllte Becher.

»Endlich gesellst du dich zu uns, Turpin! Das wurde ja auch Zeit. Hier, nimm einen Schluck!«

Turpin trank – und spie die Flüssigkeit beinahe wieder aus. »Das ist kein Wasser!«

»Natürlich nicht, mein Freund.« Berno lachte und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich sagte doch, wir feiern heute unseren Jahrestag.«

»Woher habt ihr den Wein? Etwa dem Cellerar gestohlen?«

Mathis prustete. »Der zweigt so viel für sich selbst ab, dass ihm die fehlende Menge sowieso nicht auffällt!«

»Wir haben noch etwas besorgt. Sieh!« Berno wies in die Höhle, in der eine winzige Kerzenflamme in einer Ölschale brannte. Ihr flackerndes Licht erhellte eine Schüssel mit einem Rest kalter Pastete und einen Sud aus vergorenen Früchten und Bilsenkraut. Laut Mathis stammte das Rezept aus dem Infirmarium, wo Bruder Malachias sich um die Kranken kümmerte. Malachias verwahrte eine Reihe von Giftkräutern, um neue Arzneien und Tinkturen zu mischen – er war einer der klügsten Köpfe des Klosters und voll Ehrgeiz, wenn es um die Fortentwicklung von Heilmethoden ging.

»Malachias wird euch durch den Kreuzgang prügeln, wenn er davon erfährt!«

»Deshalb erfährt er es ja nicht. Oder?« Berno sah ihn durchdringend an.

Turpin senkte den Kopf. »Nein.«

Wieder wallten Schuldgefühle in ihm auf. Gleichzeitig fühlte er sich … gut. Berno vertraute ihm, und es fühlte sich gut an, einen Freund zu haben, der seine Geheimnisse mit einem teilte.

Turpin holte tief Luft, dann nahm er einen zweiten, kräftigeren Schluck aus dem Becher.

»So gefällst du mir!« Berno schlug ihm auf die Schulter.

Der Wein war stark. Noch berauschender war das Gebräu mit dem Bilsenkraut. Turpins Glieder wurden warm, seine Zunge schwer. Seine Bedenken verflogen mit jeder Minute weiter, und er begann über Mathis’ Scherze zu lachen und über Bernos dumme Grimasse, als er Bruder Iold nachahmte, wie er im Stall inmitten der Hühner auf dem Boden gesessen hatte.

Dann hörte er Schritte.

Schatten unweit der Höhle!

Sie näherten sich schnell.

»Jemand kommt.« Er merkte, dass seine Zunge ihm nicht mehr so gehorchte, wie er es gewohnt war, und versuchte aufzustehen.

»Ja, das Beste kommt jetzt«, johlte Mathis.

»Seid willkommen!«, rief Berno.

Turpin vernahm eine helle Stimme und glaubte zu träumen, als drei Schatten vor ihnen auftauchten und sich als – Mädchen entpuppten! Panisch krallte er die Finger in Bernos Gewand. »Ist das das Geheimnis, in das du mich einweihen wolltest? Fleischl…, flei…schliche Lust, die von mir Besitz ergreifen soll?«

Mathis grinste breit. »Bleib ganz ruhig. Sonst ist das Vergnügen gleich schneller vorbei, als du ein Gebet sprechen kannst.«

Berno kicherte.

Turpin musterte die drei Mädchen, die schüchtern vor ihnen standen, ohne ein Wort zu verlieren. Er hatte sie schon einmal gesehen – in Scuol, einem der nahe gelegenen Dörfer. Ihre Kleidung bestand aus nichts als ein paar Leinenfetzen, die sie sich um den Körper geknotet hatten, und ihr schmutziges Haar war grob geflochten. Zwei von ihnen wirkten tapferer als die Dritte; sie hakten sich bei Mathis und Berno unter, als diese es von ihnen verlangten, und begannen sogar mit ihnen zu sprechen und schließlich herumzualbern. Das dritte Mädchen suchte mehrere Male Turpins Blick, doch er senkte jedes Mal hastig den Kopf. Sein Atem stockte, als sie endlich nähertrat. In seinem Kopf wallte ein dichter Nebel, der auf den Wein zurückzuführen war. Bernos und Mathis’ Stimmen und das Lachen der Mädchen verursachten ihm Kopfschmerzen – die verschwanden, als das dritte Mädchen ihm die Hand auf den Arm legte.

»Du warst noch nie hier, oder?«

Er schüttelte benommen den Kopf. Seine Kehle war wie zugeschnürt, während er vorsichtig den Blick hob. Sie war von hagerer, fast dürrer Gestalt und besaß schwarzes Haar, das ihn irgendwie … faszinierte.

»Gibst du mir von deinem Wein ab?«, fragte sie und reckte das Kinn vor. Vielleicht fror sie nur, denn als sie noch einmal näher rückte, fiel Turpin auf, dass ihre Wangen leicht gerötet waren. Hastig drückte er ihr seinen Becher in die Hand.

»Danke.« Sie trank, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihr Blick fesselte ihn.

Turpin registrierte, wie ein schreckliches Gefühl von ihm Besitz ergriff. Verlangen. Lust! Er sträubte sich mit jeder Faser seines Körpers, ihr nachzugeben. Er durfte nicht schwach werden – nicht einmal in seinem Zustand!

Um sich abzulenken, dachte er an den Abt Justinian und an Bruder Vitus, deren Anblick normalerweise dazu angetan war, jedes körperliche Verlangen sofort erlöschen zu lassen. Er dachte sogar an den Erzbischof und an Papst Benedikt … bis ihm einfiel, dass der Papst vor Kurzem den Enthaltsamkeitszölibat aufgehoben und durch den Ehelosigkeitszölibat ersetzt hatte. Er verbannte den Gedanken daran aus seinem Kopf. Seine Entscheidung stand felsenfest! Er wollte keusch bleiben, und nichts würde ihn dazu bringen, den heiligen Eid, den er Gott geleistet hatte, zu brechen!

Niemals!

In seine düsteren Gedanken wehte das raue Gelächter von Berno und Mathis.

»Na, gefällt sie dir, Turpin?«

Er öffnete den Mund zu einer Antwort, aber seine Zunge lag wie eine tote Ratte in seinem Mund. Das dritte Mädchen legte ihm den Finger auf die Lippen, woraufhin er von einer Woge aus Scham und Verlegenheit beinahe hinweggeschwemmt wurde.

»Lasst mich gehen«, stammelte er. »Ich darf das nicht tun.«

Berno stieß sein Mädchen zur Seite und kam näher. »Was denn? Ist deine dir etwa nicht hübsch genug?« Er zwinkerte jetzt nicht mehr, sondern sein Spott klang böse und aggressiv. »Wir können gern tauschen, wenn du das möchtest!«

»Nein, ich…«

Turpin verstummte, als die Schwarzhaarige sich zwischen Berno und ihn stellte.

»Lass nur. Ich kümmere mich um ihn.«

Berno grinste. »So soll es sein.« Mit unsicheren Schritten taumelte er an seinen Platz zurück.

Turpins Herz flatterte, als das Mädchen sich vor ihn stellte – so nah, dass ihre Nasenspitzen einander beinahe berührten. Ihre Lippen öffneten sich, und der Hauch ihres Atems ließ Turpins Wangen aufglühen.

Sie war nicht böse auf ihn.

Sie verstand, was ihn plagte.

Aber sie verstand auch, welche Rolle sie in diesem Spiel einzunehmen hatte, und öffnete ihren Umhang aus grober Wolle.

»Komm, ich helfe dir.«

»Nein, ich …«

»Schhht! – Ich helfe dir.«

Darunter trug sie nur ein dünnes Hemd. Ihr Geruch, der gewiss wenig mehr als saurer Schweißgestank war, erschien ihm wie der Duft von Rosen und Lavendel.

»Willst du mich nicht berühren?«

Sie griff nach seiner Hand und legte sie auf ihre Brust.

Turpin keuchte auf. Er schielte hinüber zu Berno, der in brüllendes Gelächter ausbrach, als er Turpins Blick bemerkte.

Seine Qual erheiterte den Freund also!

Grinsend beobachteten Berno, Mathis und die beiden anderen Mädchen, wie die Schwarzhaarige an Turpins Zingulum nestelte, um den Gürtel seines Gewandes zu öffnen. Schockiert registrierte Turpin erst jetzt, dass Berno selbst seine Kleidung längst abgeworfen hatte – ebenso wie Mathis, der laut aufkeuchte, als sich sein Mädchen mit weit gespreizten Schenkeln auf seinen Schoß schob.

Turpin schloss die Augen. Bestimmt war dies nur ein Albtraum, den Gott ihm gesandt hatte, um ihn zu prüfen. Er musste nur durchhalten, Widerstand leisten, dann würde Gott ihn in Bälde erlösen …

Doch stattdessen wanderten fremde Fingerspitzen über Turpins Bauch. Streichelten seine Haut. Warm spürte er den Atem des Mädchens auf dem Gesicht. Zwischen seinen Lenden regte sich etwas, er verspürte dort plötzlich einen Druck, den er nie zuvor wahrgenommen hatte. Er bäumte sich auf und schob die Hand der Schwarzhaarigen zurück.

»Nein! Ich werde mein Gelübde nicht brechen!«

Sie musterte ihn enttäuscht, vielleicht weil sie sich vor Bernos Reaktion fürchtete. Er schalt Turpin einen erbärmlichen Spielverderber. Jemand, der keinen Sinn für ein bisschen mönchische Freiheit habe und der überhaupt nicht wisse, was einem erwachsenen Mann, der sein Leben Gott gewidmet hatte, als Ausgleich zustehe, nämlich …

Turpin hörte nicht weiter zu, sondern schnürte seinen Gürtel zu und torkelte den Pfad in Richtung Kloster hinauf. Berno und Mathis, die zunächst die Mädchen nach Hause schickten, holten ihn schneller ein, als ihm lieb war, und bewahrten ihn erneut davor, in den Abgrund zu stürzen. Unentwegt redeten sie auf ihn ein und gerieten schließlich, als er stumpfsinnig mit pochenden Kopfschmerzen weiterging, ohne auf sie zu reagieren, auch untereinander in Streit.

»Ich hab’s dir ja gleich gesagt«, rief Mathis, »es war ein Fehler, den Langweiler mitzunehmen!«

»Er wird schon noch kapieren, was gut für ihn ist!«, widersprach Berno und zischte Turpin zu: »Warum kannst du nicht Gottes Gebote ernst nehmen und dir trotzdem mal ein harmloses Vergnügen gönnen?«

Turpin hatte darauf keine Antwort, und der Rest von Bernos und Mathis’ Schimpftirade versickerte im Sumpf der trüben Gedanken, die ihn beherrschten.

Gerade noch rechtzeitig zur Matutin kehrten sie zurück und nahmen ihre Plätze ein. Turpins berauschter Schädel dröhnte, als er auf die Knie sank und Gott inständig um Vergebung anflehte. Gleichzeitig brannte die Furcht in ihm.

Die Furcht, in dieser Nacht einen Freund verloren zu haben.

Er wusste nicht, was von beidem schlimmer war.

 

 

Kapitel 3

 

»Du wolltest mich sprechen?«, grollte Asmodi, dessen Miene hinter einer nebulösen, weißen Fläche verschwand, in der sich lediglich die beiden zornig roten Augen abzeichneten.

Zakum war dieser Anblick des Oberhaupts der Schwarzen Familie nicht unvertraut, aber er war bereits durch die Tatsache gewarnt worden, dass Asmodi ihn nicht in der Suite seines Hotels empfing wie bei ihrer letzten Begegnung. Also kein vergnügliches Planschen im Whirlpool heute, sondern ein dem Anlass angemessenes Krisengespräch.