Autor: Patrik Alac

Redaktion der deutschen Ausgabe: Klaus H. Carl

 

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Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen, den betreffenden Künstlern selbst oder ihren Rechtsnachfolgern. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

 

ISBN: 978-1-78310-622-6

Patrik Alac

 

 

 

BIKINI STORY

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Danksagung:

 

Dank an die Marken diNeila, Lenny Swimwear, RiodeSol und Pain de sucre.

 

Besonderer Dank an Neila Granzoti Rudden für ihr Nachwort und die vielen hilfreichen Hinweise bei der Auswahl der Fotos.

Inhaltsverzeichnis

 

 

Einleitung

Die Geburt des Bikinis

Von Skandal zu Skandal

Die Grenzen der Fantasie

Der Bikini im Film

Die Konditionierung des Körpers

Die neue Freiheit

Der Strand als gesellschaftlicher Freiraum

Nachwort

Ein Blick in die Zukunft des Bikini

Eine Retrospektive

Bestandsaufnahme

Zukunftsvision

Den Bikini nach Hause bringen – oder an den Pool, oder auf die Jacht, oder an den Strand…

Bibliografie

Bildnachweis

 

Eine provisorische Umkleidekabine. Bearbeitete Photographie Ende des 19. Jahrhunderts. Die mittlere Dame, bereits umgezogen, wartet im Schutz Einer muschelartigen Konstruktion auf ihre Freundin, die hinter einem aufgespannten Tuch mit dem Umziehen beschäftigt ist. Die dritte Frau, vielleicht die Mutter, steht in voller Montur mit Hut und Kopftuch rechts im Bild, mit einem Schirm auf einen Stuhl gestützt. Im Hintergrund sind zwei weitere Frauen zu sehen, die in schwarzen Badeanzügen und mit Hüten am Strand spazieren gehen. Die gestellte Szene, die einen ungewöhnlich freizügigen Einblick in den Ausschnitt der sich umziehenden jungen Dame gewährt, könnte auch ein erotisches Genrebild sein.

Einleitung

 

 

Eine Fotografie von Coney Island zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Badeort, der als „Sodom am Meer“ galt, scheint seinem Ruf in der Abbildung dieser fünf Damen, die eine Tanzfigur in Can-Can-Manier vollführen, gerecht zu werden. Die fünf Schönen tragen Badekostüme, die den ganzen Körper außer den Armen bedecken. Interessant ist die mehrfache Schichtung der Stoffe: über einer dicken Wollstrumpfhose eine kurze Unterhose, die mit Bändern an den Oberschenkeln festgehalten wird, dann erst folgt das eigentliche Badekleid darüber. Die „Rubensfiguren“ der humoristisch aufgelegten Tänzerinnen sind typisch für die Epoche.

 

 

Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends erwachte auch das Bedürfnis, einen Überblick über das vergangene Jahrhundert zu gewinnen. In den verschiedenen Versuchen, eine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben, bürgerte sich schnell die Formel vom „Jahrhundert der Kriege und Grausamkeiten“, vom „Jahrhundert der Barbarei“ ein, während die Betrachtung vieler durchaus positiver Ereignisse und Errungenschaften außer Acht gelassen wurde. Diese konnten natürlich, neben dem Gewicht der unheilvollen Ereignisse, nur nebensächlich und frivol erscheinen, doch ist nicht auszuschließen, dass eine künftige Geschichtsschreibung zu einer umfassenderen Sicht der vergangenen hundert Jahre finden wird, in der das „Historische“ nicht allein durch die Häufung der verursachten Leiden, das Ausmaß der Katastrophen und Kriege, die Zahl der Getöteten und die Liste der zerstörten Städte bestimmt wird. Zu den positiven Ereignissen dieser Art gehört zweifellos die durch den Niedergang des Christentums ermöglichte Rückbesinnung auf den Körper, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine die ganze westliche Welt umfassende Bewegung zur Befreiung des Körpers hervorrief. An diesem Prozess, der längst überholte, aber noch nicht abgeschaffte Moralvorstellungen und -gebote endgültig zur Seite brachte, war der Bikini in entscheidender Weise beteiligt.

Die Mode, als Ausdruck dieser neuen Körperkultur, bot dabei von Beginn an auch eine Projektionsfläche für politische Ideen: Oft erteilt die „Kleiderordnung“ am genauesten Auskunft über den augenblicklichen Freiheitszustand einer Gesellschaft. Andererseits stellt sie das ursprünglichste und einfachste Kommunikationsmittel dar: Während sie früher Stand, Rang und Bedeutung zum Ausdruck brachte, signalisierte sie spätestens seit den sechziger Jahren die ideologische Anhängerschaft. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass auch die unreglementierte, „lockere“ Kleidung plötzlich zu einer Uniform wird, die die Gruppenzugehörigkeit andeutet. Am Anfang dieser revolutionären Kleidermoden, die alle aus Skandalen hervorgingen, findet sich der Bikini und die durch ihn verursachte moralische Entrüstung. Ein anderer Aspekt der Umwälzungen nach 1945 lässt sich am besten mit dem Wortpaar „Konsumation und Kommunikation“ fassen, das beinahe die Gesamtheit der gesellschaftlichen Aktivitäten bezeichnet. Die Bedeutung von Ware und Werbemittel nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich deutlich an der Geschichte des Bikinis ablesen. So ist beispielsweise die gegenseitige Förderung von Bikini und Film zu erwähnen: In den frühen fünfziger Jahren bedienen sich die Filmemacher der „entblößenden Eigenschaften“ des kleinen Badekostüms, um mehr Zuschauer in die Kinosäle zu locken; die von diesen Filmen ausgehende Mode wird von den Bikiniherstellern wiederum zur Steigerung ihrer Verkaufszahlen gebraucht. Man ahnt hier schon die kommende Verschränkung von Ware und Kommunikation zum perfekten Werbeclip, der Konsumanreiz und Kunstwerk zugleich sein will. Doch die Verbreitung des „kleinsten Badekostüms der Welt“ ist nicht nur die Folge einer neu erwachten Körperkultur, sondern selbst wiederum in der Form der Mode Ursache eines verstärkten Körperbewusstseins: Man muss über einen perfekten Körper verfügen, um ihn in einem Bikini präsentieren zu können. Schlankheitszwang und -wahn, Sportfanatismus und Bodybuilding sind nur die letzten Ausläufer einer in den fünfziger Jahren einsetzenden Befreiung des Körpers, die sich manchmal eher als Normierung und Disziplinierung denn als Freiheit ausnimmt. Dieses Buch erzählt die Geschichte des Bikinis: seine Geburt in einem Pariser Schwimmbad während eines glühend heißen Julinachmittages 1946, den darauf folgenden Skandal (der ihn für zehn Jahre in die Herrenmagazine verbannt), seinen überraschenden Durchbruch im Kino, das plötzlich erwachende Interesse der Modeschöpfer und schließlich seine triumphale Präsenz an den Stränden der ganzen Welt. Denn von den Küsten Brasiliens über die Seebäder am Mittelmeer bis zu den langgezogenen Stränden Kaliforniens gehört der Bikini heute zu den unumgänglichen Erscheinungen unserer Badelandschaft. Ob in knalligen Farben, buntscheckig oder dezent eintönig, aus Kunststoff, Wolle oder Lycra, weit über die Hüften ausgeschnitten oder diese fast ganz bedeckend, unten als Tanga oder String, oben nur aus kleinen Dreiecken bestehend, die wie Blätter an der Haut kleben, oder aus einer komplizierten, mehrschichtigen Konstruktion, die wie eine Festung über die Brust ragt, begegnen wir ihm auf Schritt und Tritt. Aus zwei kleinen Stoffteilen zusammengesetzt, meistens in Dreiecksform geschnitten, sieht er nicht gerade nach Viel aus, wenn er am Bügel hängt. Doch am Körper getragen, geht eine unglaubliche Verwandlung vor sich: Die zwei unbedeutenden Stoffteile, die nur durch Zufall in die Badekostüm-Abteilung geraten zu sein scheinen, bekommen unerwartet Kurven und Formen, als hauchte man ihnen Leben ein.

 

Jenna Pietersen am Strand mit
Canail-Bikini von Pain de sucre.

Foto: Èric Deniset, 2009.

 

Orange-goldener Bikini von

Pain de Sucre, 1990. Model: Sonia,

Modelagentur Farn, Paris. Foto: Delavigne

 

Ein weiteres Bild von Coney Island mit einer vergnügten Badegesellschaft aus denselben Jahren. Die Frauen tragen Badekleider, die an Schlafhemden erinnern. Wahrscheinlich marineblau mit weißen Streifen (das Marinemotiv wurde häufig verwendet, besonders bei Strandbekleidung für Knaben), Schleifchen, Kragen und Gürtel, reichen diese Badekleider bis zur Mitte der Waden.

 

Ein Strand in Italien, zwischen Genua und Santa Marguerita, um 1900. Im Vordergrund waten zwei Paare durch das Wasser. Die Männer tragen dunkle Badeanzüge, die an Sportkleidung erinnern, die Frauen Badekleider, die in der Hüfte talliert sind und bis unter die Knie reichen. Im Hintergrund die über den Halbkreis der Bucht sich drängende Masse, die sich noch heute an den italienischen Stränden tummelt. Rechts die auf den Wellen treibenden Köpfe einiger Schwimmer und im linken Hintergrund ein Komplex von Strandkabinen und Vergnügungszelten.

 

Eine provisorische Umkleidekabine. Bearbeitete Photographie Ende des 19. Jahrhunderts. Die mittlere Dame, bereits umgezogen, wartet im Schutz einer muschelartigen Konstruktion auf ihre Freundin, die hinter einem aufgespannten Tuch mit dem Umziehen beschäftigt ist. Die dritte Frau, vielleicht die Mutter, steht in voller Montur mit Hut und Kopftuch rechts im Bild, mit einem Schirm auf einen Stuhl gestützt. Im Hintergrund sind zwei weitere Frauen zu sehen, die in schwarzen Badeanzügen und mit Hüten am Strand spazieren gehen. Die gestellte Szene, die einen ungewöhnlich freizügigen Einblick in den Ausschnitt der sich umziehenden jungen Dame gewährt, könnte auch ein erotisches Genrebild sein.

 

 

Über die Haut gestreift, lassen sich plötzlich Muster, Verzierungen und Aufschriften erkennen. Ein kleiner Metalleinsatz, der zuvor unscheinbar von der Stange hing, zeigt auf einmal über einer Körperstelle, die er schmückt und zur Geltung bringt, seine bisher verborgene Bedeutung. Der Bikini entpuppt sich erst, wenn man ihn trägt, und das scheint die hervorragendste Eigenschaft dieses Kleidungsstücks zu sein. Zugleich gibt es kaum ein anderes Erzeugnis der Modeindustrie, das mit so vielen vorgefassten Ideen, Bildern und Eindrücken behaftet ist. Denn der Bikini gehört zu jenen Mythen unseres Alltags. Wie ein schnelles Auto, das seinem Fahrer ein rauschhaftes Machtgefühl verleiht, eine Mahlzeit aus Steak und Fritten, die nicht nur den Hunger stillt sondern auch ideologisch stärkt, oder eine goldene Kreditkarte, die ihrem Besitzer scheinbar unendliche Möglichkeiten eröffnet, ist der Bikini einer jener Gegenstände, hinter denen ein imaginärer Resonanzraum mitschwingt. Wenn wir diese Gegenstände besitzen oder berühren, wenn wir sie mit unserem Körper in Verbindung bringen, geben sie etwas von dem imaginären Zauber ab, mit dem wir sie aufgeladen haben und verändern unsere Welt. Wenn also eine Frau einen Bikini anzieht, kleidet sie sich nicht einfach in ein beliebiges Badekostüm, sondern trägt einen magischen Gegenstand, der wie der Ring im Märchen sowohl sie als auch ihre Umgebung verwandelt. Sie wird so zur Schauspielerin ihres eigenen Lebens. Die neuen Fähigkeiten, die sie über den Bikini erworben hat, versetzen sie in eine Welt der Möglichkeiten, die sich von der Welt des Alltags grundlegend unterscheidet, in der alles geschieht wie es geschehen muss und wie es lange im Voraus für jeden Augenblick geplant und festgesetzt wurde.

 

Eine Damenriege um 1910.Die Schönen tragen knielange Badekostüme, die in ihrer Buntheit und Phantasie einer Jahrmarktsgarderobe entstammen könnten. In der Mitte ist deutlich ein „Weihnachtsmann“ mit weißen Bordüren erkennbar, links davon zwei Gestalten, die die Narren eines mittelalterlichen Hofes sein könnten, links außen ein gestreiftes, zum Badekostüm umfunktioniertes Kleid. Die Nähe von Unterwäsche und Bademode ist deutlich erkennbar. Alle Frauen tragen Schuhe (die vierte von links sogar Boxerschuhe) und Strümpfe.

 

 

Damit aber die Badende im Bikini eine solche Welt der Möglichkeiten betreten kann, muss sie sich in einen bestimmten Raum begeben, in dem sich diese Verwandlung erst vollziehen kann. Dieser Raum ist die wie eine dünne Atmosphäre um die Küsten der Kontinente gezogene Badelandschaft, ein Streifen, der als eine scheinbar endlose Kette von Strandabschnitten die Gesetze und Regeln, die im Alltag gelten, außer Kraft setzt. Wir alle kennen diese Badelandschaft bestens, sie gehört unersetzlich zu unserer Welt. Doch es war ein langer Prozess nötig, um sie zu errichten und in ihr ein so extravagantes und zauberhaftes Bedekostüm wie den Bikini zu erlauben. Die ersten Seebäder, die sich mit unseren Stränden vergleichen lassen, wurden gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet. Bis dahin galt das Meer als etwas verstörend Unheimliches und Mysteriöses. Die vielbesungene See der Antike geriet im Mittelalter, das die Welt in einen dunklen Innenraum verwandelte, fast vollständig in Vergessenheit. Man fürchtete sich nicht nur vor dem Unbekannten, das im Meer auf den Menschen lauerte, sondern schon die Nähe der See galt als gefährlich und ungesund. Die Küstenanwohner bauten ihre Häuser so weit wie möglich ins Land hinein, um sich vor „gefährlichen Ausdünstungen“ und dämonischen Kräften zu schützen.

Dieser Glaube an die gesundheitsschädigende Wirkung bestimmter Orte, der immer mit dem Element Wasser verbunden war, setzte sich bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert fort, als beispielsweise dem Kolosseum in Rom „unheilvolle Dämpfe“ zugesprochen wurden. In Stendhals Spaziergängen in Rom ist öfters davon die Rede, und in Henry James’ Daisy Miller stirbt die gleichnamige Heldin nach einer verrückten Nacht, die sie im alten Amphitheater zugebracht hat. Das Meer wurde eigentlich nur bei unheilbaren Krankheiten empfohlen. Dieser Rand zum Unbekannten, hinter dem man lange Zeit einen Abbruch ins Nichts, die eckige Begrenzung der Welt, vermutete, erschien als letzte Hoffnung. Ein Beispiel dafür ist die im siebzehnten Jahrhundert gebräuchliche „Medizin“ gegen Tollwut. Sie bestand einfach darin, sich dreimal kopfüber ins Meer zu werfen. Im neunzehnten Jahrhundert wurden Kuren an der See vermehrt empfohlen. Man vermutete therapeutische Qualitäten im wildbewegten Salzwasser, das man bei Anämie, Nervenkrankheiten, Rekonvaleszenzen von Brüchen und Stauchungen, Asthma und Hautkrankheiten verordnete. Doch diese „Kuren“ waren – wie alles im neunzehnten Jahrhundert – streng rationalisiert und exakt abgemessen. So sollte man sich, die Füße im Wasser, genau fünf Minuten lang im untiefen Gebiet dicht am Strand in lockeren Bewegungen ertüchtigen, dann mutig nach vorne schreiten und auf einmal bis zum Kopf eintauchen und in dieser Stellung möglichst bewegungslos verharren. Dann war das Wasser unverzüglich zu verlassen und der arg verlangsamte Kreislauf mit ausholenden Bewegungen am Strand wiederherzustellen.

 

Badende am Strand von Deauville um 1925. Das Badekleid, das an ein über die Hüften gezogenes Unterhemd gemahnt, liegt eng an und betont die Körperformen. Die Frau, die in einem scheinbar besorgten Blick an der Kamera vorbeischaut, ist sehr schlank und hebt sich klar von den Badenden um 1900 ab. Im Hintergrund ist die Strandperspektive zu sehen, auf der Liegestühle und Tücher die voluminösen Körbe und Zelte ersetzt haben. Der Massenansturm auf die Strände der Welt hat bereits begonnen

 

Die Bademode zu Beginn des 19. Jahrhunderts.Sechs Grazien sitzen in identischer Pose auf einem Bootsrand. Sie tragen alle Badekappen (eine ist sogar mit Federn verziert), einteilige Badekostüme, die sich an den gerade aufkommenden Sporttenues inspirieren und halten das rechte Knie mit zwei Händen über dem linken Bein angewinkelt. Die Badekostüme, die nur noch knapp die Oberschenkel bedecken, zeigen deutlich die beginnende Tendenz einer Reduktion der Bademode, die nun auch sportlichen Zwecken dienen muss. Alle sechs sind geschminkt und haben ihre Münder mit Lippenstift nachgezogen. Man sieht vor allem in der Art ihrer „Puppenköpfe“ (weißgeschminkte Gesichtshaut, davon abstechende Lippen, unter Kappen geklemmte Frisuren, manieriert geneigte, lächelnde Gesichter), dass das Spiel mit der Unschuld, die einen sich immer mehr entkleidenden Körper wie eine Maske zur Schau trägt, bereits begonnen hat.

 

 

Wie bei der Einführung der Eisenbahn, deren Benutzern man empfahl, sich gegen den Schock der „unvorstellbaren Geschwindigkeit“ mit vor den Bauch und hinter den Rücken gebundenen Kissen zu schützen, fragte man sich beunruhigt, welche Wirkung dieses unbekannte und unheimliche Element, in das man den Körper eintauchte, wohl haben mochte. Die Bademode fügt sich in ihren Anfängen dem Gebrauch, den man von Strand und Meer macht. Zunächst ist eine grundsätzliche Trennung zwischen Bade- und Strandmode festzustellen: Die letztere gleicht durchaus den aufwendig übereinandergestapelten Stoffverkleidungen, wie sie die Frauen zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts in den Städten tragen. Von „Bademode“ kann zu Beginn eigentlich gar nicht gesprochen werden, da die Ausflüge ans Meer nicht dem Schwimmen gelten, sondern einem kurzen Eintauchen ins Wasser. So mussten die ersten „Badekostüme“ vor allem ebenso „schicklich und geziemend“ sein wie die alltägliche Bekleidung und möglichst viel bedecken. Ihre zweite Funktion bestand darin, die „Badende“ sowohl am Strand als auch im Wasser zu wärmen, weshalb sie aus dicken, wärmenden Wollstoffen hergestellt wurden.

 

Zeitungsannonce für den Wettbewerb um die „hübscheste Schwimmerin”, 1946. Zu diesem Zeitpunkt waren sich Leser noch nicht bewusst, dass der Bikini auf der Bildfläche erscheinen und das Verständnis von Bademode nachhaltig verändern würde.

 

 

Die Badegewohnheiten ließen ohnehin wenig Platz für tiefere Einblicke. So bewältigte man bis zum Ersten Weltkrieg die große Distanz zwischen Strand und Meer in einer schiebbaren Badekabine auf Rädern, die man erst „auf See“ verließ. Die ersten Abbildungen dieses Buches vergegenwärtigen, wie sich die Bademode langsam zu organisieren begann. Die Überwindung des absoluten Schamgebots, die Schwierigkeit, sich „schwimmtaugliche“ Badebekleidung zu verschaffen, sind die großen Probleme, zu deren Lösung Erfindungsreichtum gefragt ist. Zugleich sieht man auf diesen Fotografien einer entschwundenen Epoche, wie sich der Raum des Strandes zu bilden beginnt. Die Jahrmarktselemente der Kleidung im letzten Bild verweisen dabei auf den Volksfestcharakter, den die sommerlichen Zusammenkünfte am Meer trugen.

Der Strand gestattete ja in seiner ursprünglichen Form keine Trennung der Klassen und Stände, so dass er schon durch seine vermischende Funktion allein einen Raum der Freiheit bildete. Auch sieht man deutlich, wie die Vergnügungsindustrie – die später unsere Tourismusindustrie werden wird – in der unmittelbaren Nähe des Meeres Fuß zu fassen beginnt. Die großen, mehrstöckigen Bauten auf Coney Island, die als eine Art „Prater am Meer“ auf Pfählen in die See ragen, die Masse der Sonnenhungrigen am Strand bei Genua, hinter der schon ein wildes Zeltdurcheinander entstanden ist, vermitteln uns eine Idee von den tastenden und improvisierten Anfängen unserer Badelandschaft. Noch deutlicher erscheint die Funktion dieses neugeschaffenen Raumes jedoch in den Gesichtern der ersten Badenden. Denn es sind alles lächelnde, vergnügte Gesichter, die für jede Werbung taugen. Sie sind das stärkste Zeichen für die Außerterritorialität des Strandes als Ort aller Vergnügen und Freuden. Sie zeigen den gelungenen Aufbau einer Welt, in der es nur Zufriedenheit, Spaß und Unterhaltung gibt. Nach dem Ersten Weltkrieg sind alle Voraussetzungen für die uns bekannte Strandwelt versammelt. Ein Bild von 1925 zeigt eine Frau in einem sehr schlichten Einteiler, die in Deauville zwischen Liegestühlen im Sand sitzt. Die dargestellte Szene könnte sich, abgesehen von der Kostümierung, ebenso gut heute an einem beliebigen Badeort abspielen. Die im Vordergrund abgelegten Accessoires – Sandalen, eine Tasche, ein Badetuch und ein Schirm – bezeugen die familiäre Inbesitznahme des Strandes. Es sind nur noch zwanzig Jahre bis zur endgültigen Errichtung des globalen Badekomplexes, der die Menschen aller Sprachen und Länder die universale Leidenschaft des Badens teilen lassen wird, nur noch zwanzig Jahre bis zur Geburt des Bikinis...

 

Das überfüllte Schwimmbad Deligny in Paris am 12. Juli 1958.

Es sind mehrheitlich Männer zu sehen. Die wenigen

Damen tragen sowohl Ein- als auch Zweiteiler.

 

 

Der Bikini

Der Bikini ist ein knappes, zweiteiliges Badekostüm aus maximal fünfundvierzig Quadratzentimetern Stoff, das nicht nur zum Baden dient, in einer Streichholzschachtel verkauft werden kann, sich mühelos durch einen Ehering ziehen lässt und eine Frau eher an- als auszieht, sodass sie sich nie nackt fühlt und doch die Männer unwiderstehlich von ihr angezogen sind.

 

5. Juli 1946: Réards Präsentation mit
Micheline Bernardini im Schwimmbad Molitor
in Paris für die Wahl der schönsten Badenden.

Die Geburt des Bikinis

 

 

5. Juli 1946: Réards Präsentation mit
Micheline Bernardini im Schwimmbad Molitor in
Paris für die Wahl der schönsten Badenden, (detail).

 

 

Am 1. Juli 1946, um 9 Uhr morgens, explodierte über dem bisher kaum bekannten Bikiniatoll im Südpazifik eine Atombombe von 23.000 Tonnen Sprengkraft, versenkte gut ein halbes Dutzend abgetakelter Kriegschiffe, die in der japanischen, bzw. amerikanischen Flotte gedient hatten und beschädigte mindestens doppelt so viele schwer.

Die atmosphärischen Bedingungen für den Test waren ideal, der Himmel unbedeckt, und es herrschte vollkommene Windstille. Eine gigantische Rauchsäule, die aus einer zunächst blendend weißen, dann sich orange und bordeaux und schließlich gräulich-grün verfärbenden Feuerkugel zu entstehen schien, stieg über der Inselgruppe auf. Die nach Schätzung der Piloten zehntausend Meter hohe Rauchwolke wurde sofort von unbemannten, ferngelenkten Flugzeugen durchflogen, die hochempfindliche wissenschaftliche Messgeräte und Apparaturen sowie einige Versuchstiere an Bord trugen. Dies war der erste „offizielle“ Atomtest seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den verheerenden Bombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki. Alle wichtigen Tageszeitungen berichteten über die Versuche im Südseeparadies, deren Wirkung bedacht propagandistisch sein sollte. Die USA, als einzige Atommacht jener Zeit, wollten vor allem ihrem sowjetischen Gegenspieler die Wirkung dieser einzigartigen Waffe, in deren Besitz sie sich befanden, demonstrieren.

 

Das Pariser Schwimmbad Deligny am 1. Juli 1946.

Die erkennbaren zweiteiligen Bademodelle

sparen für heutige Verhältnisse nicht an Stoff.

 

 

So wurden absichtlich Gerüchte über die allweltzerstörende Wirkung der Bombe in Umlauf gesetzt, die inoffizielle Stellen, die um die wirkliche Bedrohung wussten, zusätzlich nährten. Als aber die Zeitungen den 2. Juli titelten und die Welt sich nach wie vor in der gewohnten Richtung drehte, stellte die Menschheit beschwichtigt fest, „dass die Erde sich nicht verflüssigt, der Himmel nicht in Flammen aufgegangen und der Ozean nicht zu Stein geworden war“ (Le Monde vom 2. Juli 1946). Militärisch galt der Versuch den nautischen Einsatzmöglichkeiten der Atombombe als ein vollkommener Misserfolg. Nur wenige der insgesamt vierundzwanzig der Explosion ausgesetzten Schiffe, die man für diesen Anlass gelb und grell orange angemalt hatte, waren gesunken. Zugleich hatte die Bombe ihr eigentliches Ziel, den amerikanischen Zerstörer „Nevada“, deutlich verfehlt. Die russischen Beobachter, die von den Amerikanern auf das Atoll geflogen worden waren, verließen das Testgebiet kaum beeindruckt, und ein amerikanischer Admiral bemerkte enttäuscht, dass die Bombe gegen Schiffe nur in Verbindung mit einer anderen, zielsicheren Waffe einsetzbar sei, beispielsweise einem Torpedo.

So blieb die von den Amerikanern erhoffte Wirkung des Atomtests aus, und der Name „Bikini“ ging nicht als ehrfurchtvolles Raunen um die Welt. Doch vier Tage später, am 5. Juli, ereignete sich in einem öffentlichen Schwimmbad in Paris, in dem gerade ein Wettbewerb unter den anwesenden Badeschönheiten abgehalten wurde, ein kleiner, scheinbar unbedeutender Skandal, der den Namen „Bikini“ nun tatsächlich in der ganzen Welt und für lange Zeit bekannt machen sollte. Ein französischer Modedesigner, Louis Réard, stiftete den Preis des Schönheitswettbewerbs und nutzte die Gelegenheit, um seine neueste Badekreation vorzuführen. Unter den dicht um den Swimmingpool gedrängten Besuchern mochte einigen schon vor der Endausscheidung eine ausgesprochen knapp bekleidete Frau aufgefallen sein, die sich scheinbar gedankenverloren durch die Menge wand. Als sie dann aber aufs Podium gerufen wurde, auf dem man der Jury die Finalistinnen präsentierte, ging ein Raunen durch die Zuschauer. Dies lag nicht an der außergewöhnlichen Schönheit der Badenden oder daran, dass man in ihr eine berühmte Persönlichkeit wiedererkannt hätte, sondern am speziellen Badekostüm, das sie trug.

Es war, wie bei ihren Konkurentinnen, ein Zweiteiler, nur zu solchen Dimensionen geschrumpft, dass man das Gefühl hatte, sie sei eher nackt als angezogen. Zwei geizige Dreiecke bedeckten die Brüste, die ein dünner, um den Nacken gewundener Faden festhielt, und das Unterteil, vorne zu einem Dreieck ausgeschnitten, endete abrupt auf Hüfthöhe und ließ die Seiten der Oberschenkel und Hüften frei. Nur ein dünner Faden bog sich nach hinten, deutlich unter dem Bauchnabel, der sichtbar blieb.

Diese für uns heute gewöhnliche Erscheinung, die an jedem Strand anzutreffen ist, wurde an diesem heißen Sommernachmittag im Schwimmbad Molitor in Paris von den Anwesenden als ein Gipfel der Schamlosigkeit und Obszönität empfunden.

Es war der Augenblick, in dem der Bikini geboren wurde, in dem ein fast zwanzig Jahre dauernder Skandal begann und in dem ein bisher nur wenig beachteter Modemacher, der sich auf Badekostüme spezialisiert hatte, den Höhepunkt seines Ruhmes erlebte. Louis Réard, der in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geboren worden war, hatte seit den dreißiger Jahren seine Aktivität auf die Bademode eingeschränkt; es war sein erklärter Ehrgeiz, die Stars der Stunde in Réard-Kostüme zu kleiden, und das gelang ihm auch teilweise, zum Beispiel bei Maurice Chevalier.

 

18. Mai 1940. Covermodel für die Picture Post

präsentiert den neuen Sommerbikini, ein handtuchhaftes

Konstrukt mit Fransen, kombiniert mit einem

perlenverzierten Sonnenhut. Picture Post Cover 607,

1940. Foto: IPC Magazines/Picture Post/Getty Images.

 

 

Der Bikini-Coup vom 5. Juli war lange und minutiös vorbereitet. Réard hatte zunächst versucht, seine üblichen Modelle für eine Demonstration zu gewinnen; als diese aber alle entsetzt ablehnten (vor allem wegen der Rückseite des Bikiniunterteils, das in einer noch nie gesehenen Mischung zwischen Tanga und String die Pobacken fast vollständig frei ließ), muss ihm eine Ahnung des Skandals gekommen sein, den das Prunkstück seiner neuesten Kollektion auslösen würde. In diesem Moment entschloss er sich, alles auf eine Karte zu setzen und die Entrüstung der Öffentlichkeit zur Werbung zu benützen.

In Micheline Bernardini, einer Nackttänzerin aus dem Casino de Paris, war schnell das Mädchen gefunden, das sich im knappen Bikini noch äußerst bekleidet fühlen würde. Der Rahmen der Präsentation bereitete ihm noch Kopfzerbrechen, aber spätestens am 2. Juli, als er in der populären Tageszeitung France Soir die Reportage über eine Bademodenschau in einem Flugzeug zwischen Paris und New York gelesen hatte, in der Stewardessen in bunten Zweiteilern zwischen den staunenden Fluggästen im Gang hin- und herspazierten, dürfte er die Idee einer öffentlichen Präsentation während einer „Misswahl“ adoptiert haben.

In der Mittagsausgabe von France Soir des 5. Juli findet sich die Anzeige, die die Pariser einlädt, den Nachmittag im Schwimmbad Molitor zu verbringen, wo die „schönste Badende“ von einer ausgewählten Jury von Sportlerinnen und Mannequins gekürt werden soll. Der Preis, die „Coupe Réard“, erklärt im Nachhinein, wozu diese Badeveranstaltung in Wirklichkeit diente.

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