Mikhaïl Guerman

 

 

 

Wassily Kandinsky

1866 - 1944

 

 

„… seine Seele schritt durch den Spiegelsaal seines Lebens ...“

Herman Hesse

 

 

 

Text: Mikhaïl Guerman

 

Layout

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Confidential Concepts, worldwide, USA

© Parkstone Press International, New York, USA

Image-Bar www.image-bar.com

© Kandinsky Estate / Artist Rights Society, New York, USA

 

ISBN: 978-1-78310-447-5

 

Weltweit alle Rechte vorbehalten.

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

Inhalt

 

 

Konzentration

Das Wunder von Murnau

Zwischen Ost und West

Rückkehr

The “Blaue Reiter”: A Look Back

Lebenslauf

Index der Werke

Anmerkungen

Exotische Vögel, Tretjakow Galerie, Moskau

 

 

 

Konzentration

 

 

Wir malen immer noch, wenn auch mit etwas freier Handschrift und für den Bourgeois aufregend genug, die Dinge der „Wirklichkeit“: Menschen, Bäume, Jahrmärkte, Eisenbahnen, Landschaften. Darin fügen wir uns noch einer Konvention. „Wirklich“ nennt ja der Bürger die Dinge, die von allen oder doch vielen ähnlich wahrgenommen und beschrieben werden.

Hermann Hesse, Klingsors letzter Sommer.

 

Vor kurzem schien es, dass das jetzige Jahrhundert nicht nur mit Wassily Kandinsky begann, sondern auch mit ihm endet.[1] Doch wie oft die Anhänger von neuen und modischen Interpretationen seinen Namen auch zitieren mögen – der Künstler ist Geschichte und gehört vielleicht mehr zur Vergangenheit oder der Zukunft als zum Heute. Über Kandinsky ist soviel gesagt und geschrieben worden und seine Arbeiten – auch die theoretischen – sind derart bekannt, dass das Übermaß an Wissen und vorgefertigten Urteilen zuweilen verhindert, den Künstler in seiner Individualität und realen Bedeutung jenseits aller Mythologisierung zu sehen: Mit neuem Blick, von der Schwelle eines neuen Jahrtausends. Der erfahrene und interessierte Leser von heute sucht, ermüdet von den gewagten postmodernistischen Spielen, in Kandinsky das, was man früher nicht an ihm bemerkte und gar nicht erst bemüht war, in ihm zu sehen, nämlich eine Stütze in der instabilen Welt der künstlerischen Phantome und modischen Scheingeschöpfe. Was vor kaum weniger als hundert Jahren als wagemutige Entdeckung begann, gehört heute bereits zu den ewigen Werten.

Unter den Titanen der neuesten Kunst ist Kandinsky ein Patriarch. Matisse wurde 1869 geboren, Proust 1871, Malewitsch 1878, Klee 1879, Picasso 1881, Kafka 1883, Chagall 1887. Kandinsky dagegen 1866, als Romain Rolland zur Welt kam, als Dostojewski Schuld und Sühne veröffentlichte, als Anna Karenina noch nicht geschrieben war, als noch niemand den Begriff „Impressionismus“ benutzte. Mit einem Wort - in den „tiefsten Tiefen“ des 19. Jahrhunderts.

Gouspiar, Tretjakow Galerie, Moskau

Gebet vor den Dorfheiligen

Der Hafen von Odessa, späte 1890er,

Öl auf Leinwand, 65 x 45 cm,

Tretjakow Galerie, Moskau

 

 

 

Er war 20, als die letzte Ausstellung der Impressionisten eröffnet wurde, und 34, als Ambroise Vollard in seiner Galerie die erste Einzelausstellung des jungen Picasso veranstaltete. An der Jahrhundertwende erst begann er seine Professionalität zu erwerben, sein Name war unbekannt, und auch er selbst kannte sich noch nicht. Kunsthistoriker und Biographen stellen stets die Intellektualität Kandinskys und seiner Kunst heraus. Die Situation ist atypisch: Die jungen Paladine der Avantgarde zogen ihre Anhänger weniger durch Wissen und Logik, denn durch Radikalität und Ausgefallenheit ihrer Urteile, mehr noch durch vieldeutiges, von genialen Einsprengseln durchsetztes Gedankengewirr an. Das Schicksal dieses Meisters, der seine Kunst mit Russland, Deutschland und Frankreich verband, seine Lehrtätigkeit am berühmten Bauhaus und sein unermüdlicher und konzentrierter Weg zur eigenen Individualität machten aus ihm nicht nur einfach einen Klassiker des 20. Jahrhunderts. In der Kultur unseres Jahrhunderts nimmt er durchaus einen Sonderplatz ein: Den Platz eines Künstlers, dem alle Hast nach Ruhm und der Wunsch, den Betrachter zu schockieren, fernsteht; er ist ein Meister, der zu ständigem und konzentriertem Nachsinnen neigt, sich um die Synthese der Künste bemüht, nach immer vollkommeneren, asketischeren und strengeren Formsystemen sucht. Mehr noch: Die Kunst Kandinskys trägt in sich nicht den Widerhall oder, besser gesagt, die Schicksalslast anderer Meister der russischen Avantgarde. Er verließ Russland sehr viel früher, ehe die offiziöse sowjetische Ästhetik sich von der neusten Kunst abwandte. Er wählte selbst, wo er leben und wie er arbeiten würde. Er war weder gezwungen, gegen sein Schicksal zu kämpfen noch einen Kompromiss mit ihm zu schließen. Er war und blieb stets ein freier Mensch. Seine Kämpfe trug er mit sich selbst aus. Die Verfolgungen, denen die „Linken“ in Russland ausgesetzt waren, betrafen ihn nicht und erschwerten ihm nicht das Leben. Auch wurde ihm nicht der Dornenkranz oder der Ruhm eines Märtyrers zuteil – dieses Schicksal erfuhren die in Russland verbliebenen berühmten Künstler der Avantgarde. Sein Ruf hat dem Schicksal nichts zu verdanken, sondern einzig und allein der Kunst selbst. Die Kultur der Vergangenheit war ihm verständlich und teuer, sein Ziel war es nicht, Götzen zu stürzen. Die Schaffung des Neuen nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Er war kein Bilderstürzer oder Provokant. Sein Werk war zwar durchaus herausfordernd und provozierend, aber diese Kühnheit war gedankenvoll, korrekt und argumentierte mit höchster künstlerischer Qualität.

Gegend bei Achtyrka, Tretjakow Galerie, Moskau

Skizze zu „Achtyrka, Herbst“, 1901.

Öl auf Leinwand, 23,6 x 32,7 cm,

Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

München, Schwabing, 1901. Öl auf Karton,

17 x 26,3 cm, Tretjakow Galerie, Moskau.

 

 

Kandinsky war ein europäisch gebildeter Mensch, Schriftsteller, professioneller Musiker und ein Künstler, der mehr zu Reflexion und strenger Logik – jedoch nicht ohne eine Spur von Romantik – neigte als zu schreienden Deklarationen. Er wahrte die Würde eines Denkers und verschwendete sich nicht an kleinkarierte, pseudokünstlerische Streitigkeiten. Oft und zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass nicht allein die Kunst, sondern das gesamte Weltgefühl Kandinskys in Russland und Deutschland wurzeln. Wichtig ist: Sein Russland ist Moskau. Im Unterschied zur Mehrheit seiner berühmten, ihm gleich gesinnten Landsleute – wenn es sie im vollen Wortsinne überhaupt gab – hatte er praktisch keine Bindung an die Petersburger Kultur. Kandinsky umging dieses Fegefeuer zwischen West und Ost. Die gefährlichen und verführerischen Petersburger Trugbilder vernebelten ihm nicht den Kopf, sie brachten nicht einmal Inspiration. Die intellektuelle Orientierung Kandinskys war vor allem philosophischer Natur und von Deutschland geprägt.[2] Doch bei all seinem Interesse an der Vergangenheit wurde er nicht deren Sklave, sondern sah die Weisheit des Vergangenen als Basis für das Verstehen und den Aufbau der Zukunft. Seine frühen malerischen Werke zeigen einen durchaus reifen Künstler: Die ersten bekannten Bilder Kandinskys entstehen um die Jahrhundertwende: Bergsee (1899, Sammlung M.G. Manuchina, Moskau), München, Schwabing (1901, Tretjakow-Galerie, Moskau), Achtyrka, Herbst (1901, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München), Kochel (um 1902, Tretjakow-Galerie).

Rote Kirche, 1901.

Russisches Museum, St. Petersburg

Bergsee, 1899. Öl auf Leinwand, 50 x 70 cm,

Manukhina Sammlung, Moskau.

Fluss im Sommer.

 

 

Kandinsky steht im Zenit seines vierten Lebensjahrzehnts. In diesem Alter ist es nicht leicht, sich als Anfänger zu fühlen. Das Gemälde Hafen von Odessa (Ende 1890er Jahre, Tretjakow-Galerie), das 1989 die berühmte Kandinsky-Retrospektive eröffnete, barg in sich bereits einen gewissen Hexenzauber.[3], die den dreißigjährigen Kandinsky in München in Begeisterung versetzten. Und auch später ist Kandinsky mit dem Satz „Unten stach der kleine blaue grüne See die Augen“[5]Klängen