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Birgit Müller-Wieland
Flugschnee

Birgit Müller-Wieland

Flugschnee

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Meiner Familie

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1248-1

© 2017 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Covergestaltung: Leopold Fellinger

Inhalt

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags

Lorenz

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags

Lorenz

Helene

Lorenz

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags

Lorenz

Helene, einige Stunden zuvor

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, morgens

Helene

Berlin, zwanzig Jahre zuvor, morgens

Vera

Arnold

Berlin, Dezember

Lucy

Berlin, zwanzig Jahre und mehr zuvor

Vera

Berlin, Dezember

Lucy

Berlin, zwanzig Jahre zuvor, vormittags

Arnold

Vera

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags

Helene

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, vormittags

Die Besucher

Helene

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags

Die Besucher

Helene

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor

Helene

Arnold

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor

Vera

Helene

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor

Arnold

Vera

Lorenz

Berlin, Dezember

Lucy

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor

Vera

Arnold

Die Besucher

Helene

Arnold

Helene

Lorenz

Berlin, Dezember

Lucy

Zitate aus:

Danksagung

Berlin, Dezember

Lucy

1

Nach Hause möchte ich.

Dieser Satz war in mir, Simon, heute Morgen, als ich aufwachte und nicht mehr wußte, was geschehen war.

Nichts wußte ich mehr, nichts von dir oder mir oder irgendjemandem sonst.

Nur dieses diffuse Gleiten gab es, wenn man sich in den Tag hineinarbeitet, aus Träumen heraus oder Drogen.

Und etwas mitnimmt: ein Bild, eine Stimme, einen Satz.

Überall war es weiß, als ich aufblickte, makellos weiß, eine Art grundloses Existieren – es zog einen Schmerz nach sich. Der Schmerz war wie etwas, das ich einmal gekannt, aber irgendwann vergessen hatte.

Weißweißweiß.

War es Licht?

War es Farbe?

Der Satz blieb. Er glühte weiter in dieser blendenden Gleichgültigkeit, die alles erfüllte – außen wie innen.

Aber nach einer Weile, die eine Sekunde gewesen sein könnte oder eine Stunde, dachte ich: nein. Nicht weiß. Nicht weiß ist das, sondern grau, gräulich. Eine glatte Fläche. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr veränderte sie ihre Struktur, wurde porös, löste sich schließlich auf in Helles und Schattiges. Und später oder gleich taten sich diese feinen Linien auf, ein Netz von Linien, und in den Ecken weiteten sie sich aus, zu Rissen.

Und während ich all das sah, war klar: Ich bin das, Lucy.

Nach Hause möchte ich.

Dann begriff ich: Das ist die Decke meines Zimmers.

Ich liege im Bett.

Das Zimmer muß ausgemalt werden, dringend.

Stop. Falsch.

Es dauerte, bis ich fähig war zu erkennen, was falsch war. Worum es ging.

Darum ging es: Um meinen Körper.

Mein Körper war nicht mehr da.

Keine Schwere von Armen und Beinen, kein Kopf im Kissen, keine Zunge, keine Zähne im Mund.

Das war das Seltsamste: dieses Nichts.

Nur mehr aus zwei Augen bestand ich, die nach oben starrten und die Decke des Zimmers betrachteten, mit dem abgebrochenen Stuckkranz aus Lorbeerblättern in der Mitte.

Von einem Lorbeerblatt hing ein Faden, ungefähr drei Meter über mir.

Ein grauer, von fahlem Licht erhellter, zarter Strick.

Das war wohl der Zeitpunkt, an dem ich zu schreien begonnen habe, denn plötzlich spürte ich meinen aufgerissenen Mund, ich spürte ihn! – und das Verebben von Schall im Raum, und über mir schwebte, als ich wieder nach oben schaute, der Spinnwebfaden langsam hin und her.

Und gleich darauf war ein Gesicht neben meinem und eine Hand auf meiner Wange.

Die Hand war trocken und warm.

Sie konnte sprechen.

„Beruhige dich“, sagte die Hand, „ich bin da. Du hast wieder geträumt. Ruhig, ganz ruhig.“

Und allmählich wußte ich, daß die Hand zu Lisa gehörte, die im Nachthemd vor meinem Bett kniete. Als sie unter die Decke kroch und sich mit ihrem fülligen Körper an mich drängte, erinnerten sich meine Fersen an ihre kalten Zehen und mein Rücken an die Art, wie sie ihre Brüste von ihm fernhielt. Und mein Hintern, der ihre Oberschenkel berührte, wußte, wie oft er schon genau da gelegen war, fast in ihrem Schoß.

In dem Weinen, das mich nun zu schütteln begann, tauchten alle Nächte und Morgengrauen auf, in denen Lisa zu mir gekommen war und mich aus Träumen gerettet hatte, die über meinen Verstand gingen. Und während meine Schulterblätter ihre Flüsterworte spürten und das Kissen rund um meine Nase nass wurde, beschloss irgendeine Kraft in mir, aufzustehen und etwas zu ändern.

2

Du bist verschwunden, Simon.

Das ist die Wahrheit, der ich mich stellen muß. Ich kann mich nicht mehr im Nebel verstecken und Lisa die Nächte und die Morgen rauben und die Tage verbringen, irgendwie.

Jetzt ist es genug.

Alles ist getan, was man tun muß, wenn ein Mensch verschwindet.

Alle Welt sucht nach dir, Simon.

Es ist Anfang Dezember, und Lisa sagt, seit deinem Verschwinden sei es immer wärmer geworden. Im Oktober noch lagen die Leute an der Spree in T-Shirts herum.

Sommerwinde fegten durch die Straßen, und alles schwitzte in den Mänteln und Jacken.

Papier, Mützen, Staub, Plastiktüten, selbst Glasscherben – der ganze Müll flog auf.

Nur der Hundedreck blieb natürlich kleben.

Ich sehe dich vor mir, grinsend: „Hauptstadt der Hundekacke.“

Das schien wochenlang so zu gehen.

Erst jetzt, seit einigen Tagen, ist das Wetter so, wie es sein soll.

Ich stehe am Fenster und sehe hinaus. Es wird Winter.

Weihnachten wird kommen.

Das Wort ist wie ein schriller Ton. Er schmerzt in den Ohren.

Mein Herz schlägt so, daß ich die Hand darauf lege.

Ich summe und singe idiotischerweise: Happybirthdaytoyou.

Als Kind hat das geholfen, manchmal.

Ansingen und Summen gegen etwas, das irgendwie falsch ist.

Happybirthdayhappybirthdayhappybirthdaytoooyouuuuu.

Als Kinder haben wir es nicht gemerkt, daß es in unserer Familie anders war.

Es gab ja das ganze Trara mit Lichterketten und Adventskranz und Baum und Geschenken, all die Nervereien, dieses – „Du wolltest doch noch …“ und – „Wo sind denn wieder diese …?“, und es gab die stillen Momente, den Lebkuchenduft und die Schränke voller Geheimnisse.

Aber später haben wir es wohl gespürt, vielleicht ab zehn, elf.

Es war etwas zwischen den Erwachsenen, etwas Ungreifbares.

Vielleicht hatte es mit ihren Blicken zu tun, die im Kerzenlicht nach innen zu kippen schienen, vielleicht mit ihren langsamen Bewegungen, mit denen sie Kekse anrichteten oder den Schnee von den Schuhen klopften.

Alles schien ihnen schwer zu sein, und alles war darauf ausgerichtet, es uns nicht merken zu lassen.

Aber das weiß ich jetzt erst.

Weih-nach-ten.

Ich sage das Wort so lange vor mich hin, bis es ganz leise, ganz weit weg ist von mir.

3

Nach dem Frühstück, nachdem sie gegangen waren, Lisa und Samir, etwas zögerlich, ich ihnen aber versprochen hatte, mich zu melden, sollte ich mich nicht gut fühlen, ging ich in mein Zimmer.

Ich öffnete den Schrank und holte die Schachtel hervor, die ganz hinten verstaut liegt, die mit den Photos. Ich habe nur wenige aus der Zeit, als man Bilder noch entwickeln ließ, die meisten sind bei unserer Mutter.

Ich fand keines von jenen Weihnachten vor zwanzig Jahren in Hamburg, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte, und das du, Simon, bei unserem letzten Treffen erwähnt hattest.

Ich sah die Bilder an, sah uns als Babys, Kleinkinder, Schulkinder, als Jugendliche mit viel zu langen Armen und Beinen auf der Straße stehen oder vor dem Haus im Brunskrogweg, in unserem geliebten Ohlstedt, das hoch im Norden der Stadt lag und so viel grüner war als unser Kiez in Berlin.

Ich mußte lachen.

Erinnerst du dich noch an das Bild unseres Vaters neben dem Rasenmäher? Ergebenes Grinsen in die Kamera, Großvater darübergebeugt, wie er seinem Sohn Arnold den Mechanismus erklärt, zum hundertsten Mal.

Oder Vera im Gespräch mit Großmama, Wange an Wange, fast. Ein Augenblick der Nähe zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter.

Ich sah uns als Gruppe im Garten, auf der Terrasse, im Wohnzimmer, in allen denkbaren Posen und zu den üblichen Anlässen.

Und immer fehlt eine Person.

Das ist normal, denn irgendjemand mußte ja photographieren. Offensichtlich machte unsere Mutter die meisten Bilder, denn sie ist selten zu finden.

Sosehr ich auch suchte, es war kein Photo mit uns allen gemacht worden.

Auch unsere wenigen Versuche, mit den damals üblichen Selbstauslösern zu arbeiten, führten dazu, daß mindestens einer oder eine abgeschnitten wurde.

Manchmal fehlst du, weil du zu zappelig warst, oder man sieht nur dein halbes Gesicht, einen Arm, ein Bein.

Ich starrte auf die am Boden verstreuten Photos. Konnte mich nicht bewegen.

War von nichts anderem ausgefüllt als diesem betonschweren Wunsch:

Daß wir alle zu sehen sind. Ganz.

Vera, Arnold, Großmama, Großvater, ich. Und du, Simon.

4

Das Haus im Brunskrogweg war damals schon alt.

Ein Backsteinhaus, erbaut in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in einem Garten gelegen, der uns riesig erschien mit Ulmen, Pappeln, Tannen und einer Linde vor der Terrasse, deren klebrige Blätter wir morgens vor dem Frühstück von den Gartenmöbeln kratzen mußten, weil wir alle wieder vergessen hatten, sie unters Dach zu stellen.

Ich sehe uns beide, Simon, wie wir den Weg vom Eingangstor durch den Vorgarten laufen, meistens zu schnell für die Kurve, die wir dann für die drei Stufen zur Tür nehmen mußten.

Oder wir liefen daran vorbei, zum Holztürchen, das immer quietschte, wenn man es öffnete und mit einem Scheppern ins Schloß zurückfiel.

Rechts war der Schuppen, vollgestopft mit Großvaters Arbeitsgerät, vor uns aber öffnete sich das Paradies: der Garten.

Es ist Sommer oder Frühling, wenn ich uns laufen sehe. Rechts sind die Rhododendronsträucher, oder im schmalen Grünstreifen davor zarte Tupfer, die Schneeglöckchen.

Immer ist es grün, wenn ich an das Haus der Großeltern denke, immer blüht etwas, als hätte ich die Erinnerung an die Winter in Ohlstedt verloren, als hätte ich den Garten nie im Schnee gesehen, obwohl es doch Bilder davon gibt, gerade von Weihnachten, viele Bilder.

Ich sehe unseren Großvater mit seinem weißen, etwas störrischen Haar, das er morgens mit einem Kamm zu glätten versuchte, in seinen guten Hosen, einer dunkelblauen Strickjacke, in blank geputzten schwarzen Schuhen, wie er im Wintergarten steht und sein Königreich überblickt.

Ich sehe Großmama, ihre schmale Gestalt, wie sie an ihn herantritt und ihm über die Schulter streicht, eine liebevolle Geste, mit der sie gleichzeitig Haare und Schuppen entfernt.

Man kann es sehen: Sie teilen ein Geheimnis miteinander.

Bis heute weiß ich nicht, welche Art Geheimnis dies ist. Vielleicht hat es damit zu tun, daß sie so alt sind und einander auf eine bestimmte Art betrachten.

Es ist wie eine unsichtbare Kugel, in der sich beide befinden.

Ein Raum, den niemand sonst betreten kann.

5

Vielleicht begann alles in jener Nacht, nach der du mich fragtest bei unserem letzten Treffen, in jener Nacht in Hamburg vor zwanzig Jahren, als der Schnee zu fallen begonnen hatte und wir morgens nach dem Frühstück möglicherweise durch den Garten gestapft waren, die Tannen geschüttelt hatten und gezuckert hinter ihnen wieder hervorgekommen waren.

War es so gewesen?

Ich habe keine Ahnung. Also muß ich mir ein Bild machen von damals.

Ich muß zusehen, wie wir Kinder sind und in Schneeanzügen durch den Garten unserer Großeltern waten, vergnügt und ahnungslos.

Traumlos, so stelle ich mir vor, hatten wir nachts geschlafen, als diese gigantische Flockenmaschine angeworfen worden war.

Schwarzer Hintergrund, weiße Pfeile.

Und morgens: weißweißweiß.

Nicht Dunkelheit, keine Krabbeltiere, weder Krokodil noch schwarzer Mann, nein, meine Ängste kommen von da her: aus diesem hellen Nichts aus Flocken.

6

Gestern war ich bei Vera im Atelier, Simon.

Sie streifte den Mundschutz ab, die Handschuhe und legte den Bohrer beiseite. Es ist ein Granit, an dem sie gerade arbeitet.

Rosengranit.

Ich sah mir die Sachen an, die ich noch nicht kannte, während sie uns Tee kochte. Offenbar hat unsere Mutter in den letzten Monaten viel gemacht.

„Ein Grabstein“, sagte sie, als ich fragte, was aus dem Granit werden würde.

Sie sah mich nicht an dabei.

Ihre Hände waren grau und verschrumpelt, und es lag noch mehr Staub als sonst herum.

Ich erzählte ihr ein bißchen von der Uni, von Psycholinguistik und der Suche nach einem guten Master-Thema und sie sagte:

„Istjadoll.“

Sie fragte mich nach Lisa und Samir, und ob ich wirklich keine neue Matratze wolle.

Ihr Gesicht wirkte müde, aber ihre Augen waren klar und von einer Wachheit, die mir übertrieben vorkam.

Plötzlich wurde ihr Blick starr, sie stand auf, murmelte:

„Na warte“, beschleunigte und drehte die Kuppe ihres Mittelfingers drei Meter hinter mir an der Wand hin und her.

„Terroristen“, sagte sie und wusch energisch ihre Hände.

Sie meinte das Silberfischchen, das sie soeben zerdrückt hatte.

Dann klopfte es.

Es war jemand, der durch den Hinterhofgarten ins Atelier wollte, einen Stein ansehen.

Als ich an der Bushaltestelle stand, wurde mir klar:

Wir hatten uns getrennt, ohne über Arnold zu sprechen.

Oder über dich, Simon. Die Zeit dazu hätten wir gehabt.

Aber wir konnten nicht.

Wir haben es einfach nicht gekonnt.

7

In den ersten Wochen war es anders gewesen.

Die Nachricht von deinem Verschwinden war so frisch und unglaublich, daß wir noch in der Lage waren zu reden.

Wir hatten uns davor längere Zeit nicht gesehen, Vera, Arnold und ich.

Dein Verschwinden führte uns zusammen in deiner Wohnung in der Kolonnenstraße, und nachdem wir dort dein Smartphone gefunden hatten, das bei uns das Gefühl auslöste, du seist nur um die Ecke zum Kiosk gegangen, erzählten wir einander, wann wir dich zum letzten Mal getroffen hatten.

Ich war im ersten Moment verwundert, daß es schon einige Zeit her war, unser letztes Treffen.

Aber aufgrund der Semesterferien und der wochenlangen Reisen, die wir beide mit unseren jeweiligen Freundinnen und Freunden unternommen hatten, waren fast vier Monate seit unserer letzten Begegnung vergangen.

Jene Nacht im Sommer also, Simon, steht mir nun intensiver vor Augen, als ich sie damals erlebte, weil mir jedes Wort, jede Geste, jede Kleinigkeit in der Erinnerung wie ein Zeichen erscheint, das zu dir führen könnte.

In jener Nacht fragtest du mich, ob ich mich an Weihnachten vor zwanzig Jahren erinnern könne, du warst abrupt stehengeblieben, während wir unsere Räder scho–, „He!“ Ich hatte meine Lenkstange im Bauch.

Wir standen im Schein der Straßenlampe.

Du starrtest mich mit Glutaugen an. Rund um uns aber war es finster.

Eine Finsternis voll Flüstern, Küssen, Gitarrengezupfe.

Hart hatten sich unsere Fahrräder verkeilt, mein Schienbein schmerzte.

Was soll das, dachte ich, es war doch gerade so –

Irgendwie wußte ich, welche Weihnachten du meintest.

„Warum?“, fragte ich leichthin und hoffte, die Glutaugen kämen vom Licht oder vom Bier.

Du beugtest dich vor. Es war ein lauer Berliner Abend im Tiergarten.

So nah wollte ich dich gar nicht haben. Deine Fahne streifte mich.

Du starrtest eine Weile auf meine linke Wange.

„Halleluja!“, rief eine Frau vom Ufer.

Ich wartete.

„Du warst zu klein“, sagtest du schließlich zu meiner Wange.

„Wofür“, fragte eine komische Stimme aus mir, „zu klein?“

Jemand fuhr scharf mit seinem Rad an uns vorbei.

„Vergiß es“, sagtest du.

Immer wieder kreisen meine Gedanken um diese Szene, dieses Bild, wie wir nachts dastehen auf dem Weg, rund um uns Bäume und der Geruch von Wasser und Würsten, im Dunkeln feiernde Leute und das feine Glucksen des Landwehrkanals.

Und wie ich plötzlich in dein Rad krache, was du gar nicht zu bemerken schienst. Wie sich durch die Sommerluft hindurch ein Hauch einer kälteren Zone zwischen uns schob.

Es war das erste Mal, daß du mich fragtest nach damals.

Nach jenen Weihnachten.

Wir trennten uns an der S-Bahn-Station Bellevue.

Du sagtest: „Tschüs“, oder „Bis dann“, als die Bahn lärmend einfuhr und meine Bluse aufwehte.

Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie ein Typ mit Stirnband auf meinen Nabel starrte.

Ich wollte noch etwas sagen, aber da drehtest du dich schon um, drücktest den Knopf. Schobst dein Rad durch die aufspringende Tür.

Später, zu Hause, sah ich den rötlichen Streifen quer über meinem Bauch.

Tage danach war der Streifen blaugelb, ich trug lockere Hosen, aber spürte ihn immer wieder.

Als wollte er mich erinnern.

Ich sehe noch deinen Rücken. Deine breiten, aber irgendwie müden Schultern in dem zerdrückten, ehemals weißen T-Shirt. Sie wirkten immer so, als würden sie einen zu schweren Rucksack tragen.

Die Türhälften knallten zu, im Viereck der Scheiben war ein Teil deines wuschelighellen Hinterkopfs zu erkennen, über dem leicht gebräunten Nacken. Du hast mir im Wegfahren vielleicht noch hinterhergesehen, ja, vielleicht.

Auf der anderen Seite kam meine Bahn, Richtung Spandau.

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer ist mir, daß du mir nachgesehen hast im Hinausfahren.

Verrückt: Aber ich spüre deine Blicke durch das Fenster des Wagens, über den Bahnsteig, in meinen Rücken hinein.

Ich stelle mir vor, daß du dieses Bild von mir mitgenommen hast, wie ich zwischen den Leuten gehe, eine Hand am Lenkrad, die andere am Sattel. Vielleicht hast du gedacht, es ist merkwürdig, daß ich dunkle glatte Haare habe.

Ich wünschte, ich hätte mich umgedreht. Vielleicht aber kam ich dir fremd vor.

Eine dir unbekannte Person in Jeans und Latschen, die soeben in der Menge verschwindet.

8

Das Telefon klingelt.

Wir haben unser Festnetz wieder aktiviert.

Ich warte, bis der Anrufbeantworter sich einschaltet und unsere drei albernen Stimmen zu hören sind:

„Hallo! Hier sind Lisa, Lucy, Samir nicht zu Hause. Bitte sprechen Sie nach dem Signal– (Riesengelächter, abgehackt)“

„Hier“, sagt Vera entnervt, „ist Vera“.

Ich hebe ab.

„Hallo, Mama.“

„Ich habe ein besseres Angebot.“

„Nein, danke, wirklich…“

„Wie du meinst.“

„Jetzt sei doch nicht wieder gleich be–…“

„Kein Mensch ist…“

„Mamaaa…“

„Gut. Was machst du heute noch so?“

„Verschiedenes.“

Stille.

„Okay. Also dann.“

Es dauert etwas, bis auch ich „Also dann“ sage, „Tschüüüs“ hinterherschicke und dann vorsichtig unseren schicken altmodischen Hörer auflege.

Jetzt, Simon, habe ich natürlich wieder ein schlechtes Gewissen. Ich wollte nicht so –

Nicht wirklich. Ich brauche diese blöde Matratze nicht. Wieso nervt sie mich immer mit solchen Dingen?

Nicht mal du schaffst es, uns näherzubringen.

Nein, Unglück verbindet nicht.

Ich hole mir ein Glas Wasser. Die Dielen knarzen noch lauter, wenn niemand zu Hause ist.

Ich gehe an Lisas Zimmer vorbei, an Samirs. In meines hinein, das die volle Punktzahl verdient. Für Verwahrlosung.

Ich schaue aus dem Fenster und denke an jene Nacht im Tiergarten und daran, was ich nicht wissen kann.

Ich denke an den Satz und was das bedeuten könnte: nach Hause.

Augenblicklich beschließe ich, nicht mehr zu denken.

Ich wünschte, ich könnte meinen Kopf ausschalten mit seinem Synapsengewirr, das ins Innerste führt, dorthin, wo die Schmerzschlange sitzt und ihren züngelnden Kopf hebt.

Aber natürlich habe ich keine Chance: Schon marschiert Novalis um die Ecke.

Das ist schlecht, sehr schlecht. Novalis bedeutet Uni, und daß ich dieses Semester knicken kann.

So wie mir mein Studium nun sowieso wie etwas aus einer fernen Zeit erscheint.

Es war einmal ein Mädchen, das gerne Bücher las. Es beschloss, Literatur zu studieren. Es hatte das vage Gefühl, es könne so dem Geheimnis des Lebens näherkommen.

Das Studium half dabei nicht wirklich, aber es begegnete einigen wenigen Menschen mit zauberischen Fähigkeiten. Sie offenbarten dem Mädchen die Wunder der Poesie.

Die Leuchtkraft der Wörter.

Eines Tages verschwand der Bruder des Mädchens. Er verschwand in eine Welt, die keine Ordnung mehr besaß. Ein Fluch schien sich auf alles gelegt zu haben: Das, was einmal als gut angesehen worden war, kehrte sich ins Gegenteil. Reiche der Angst entstanden. Kriege flammten auf. Daten explodierten, Vulkane, Atomkraftwerke, Bomben. Soziopathen übernahmen die Macht. Stürme kamen, Amokläufe, Krankheiten, alle Plagen aller Weltreligionen. Niemand konnte den Bruder finden. Das Mädchen konnte keine Bücher mehr lesen. Es konnte nicht mehr unter Menschen sein.

Das Mädchen wußte, wo die Spindel es finden würde.

Dies ist das Märchen vom Hundertjährigen Schlaf.

9

Auf meinem Schreibtisch liegt ein Brief der Bibliothek. Daneben die gesammelten Werke mit dem Heinrich von Ofterdingen und Die Christenheit oder Europa, ein Buch, das ich längst schon zurückbringen hätte sollen.

Ich beschließe, den Umschlag nicht zu öffnen. Nicht jetzt.

Eigentlich ist der Satz eine einfache Angelegenheit:

„Nach Hause möchte ich.“

Etwas vollkommen Klares. In seiner Offenkundigkeit vergleichbar mit Aussagen wie:

„Essen möchte ich“ oder „Schlafen möchte ich“. Das Dumme ist, daß manche Sätze aus ihrer Eindeutigkeit herausfallen, je länger man über sie nachdenkt.

Seit heute Morgen weiß ich, daß dieser Satz voller Heimtücke ist.

Ha.

Heim-Tücke.

Ich muß einen kühlen Kopf bewahren. So heißt es doch.

Woher nimmt man noch mal schnell einen kühlen Kopf?

Durchatmen und anfangen.

Dort anfangen, wo mich dieser Satz hinzieht. Zurück in unsere Kindheit, zurück ins Haus der Großeltern, das es nicht mehr gibt.

10

Denke ich an das Haus in Ohlstedt, habe ich Gerüche in der Nase.

Genauer: eine Abfolge davon.

Vor der Eingangstür Steingeruch, der sich sofort mit dem Gefühl von Hochsommer, nackten Füßen auf kaltem Untergrund verbindet, mit dem Holzdunst aus dem um die Ecke liegenden Schuppen.

Im Eingangsbereich dann die merkwürdige Melange aus Gerüchen, die in den Schuhen, Jacken, Mänteln, Mützen, Tüchern der Großeltern nisteten.

Ein Durcheinander aus Leder, Baumwolle, zartem Schweiß.

Manchmal triumphierte der Lavendel, das Anti-Mottensäckchen, bis es schwächer wurde und sich wieder mischte mit dem Filzgeruch von Großvaters Hüten oder dem leichten Fliederduft aus Großmamas Tüchern.

Zweimal im Jahr wurde alles verpackt, weggebracht und winter- oder sommerfest gemacht.

Und noch Wochen danach kam man sich, öffnete man den Garderoben-Schrank, wie in einer chemischen Reinigung vor.

Ob Großmama oder Großvater wie die Weltmeister den Schrank geputzt hatten, wußten wir nicht, vielleicht aber war es auch Jolanta, die polnische Putzfrau, gewesen.

Überall zog es in der kalten Jahreszeit, als hätte das Haus eine dünne, rissige Haut, und manchmal waren auch Sommertage schlimm, wenn draußen der Regen gegen das Haus peitschte und die Feuchtigkeit in die Wände kroch. Waren wir länger als drei, vier Tage da, fingen wir zu schniefen an, alle vier.

Ich weiß noch genau, wie unsere Eltern abends im Bett stritten.

Es ging, glaube ich, darum, daß das Haus keine richtige Dämmung hatte.

Und die Großeltern kein Geld dafür.

Oder ihr Geld für etwas anderes verwendeten, ich weiß nicht.

Auf jeden Fall fiel immer wieder mal die Heizung aus, und wir trugen drei Schichten übereinander, was die Großeltern, abgehärtet wie sie waren, übertrieben fanden.

Wir aber mieden die gewissen Ecken, in denen es besonders zog, und Vera bekam ihre rote spitze Nase gar nicht mehr weg.

Dennoch freuten wir uns immer auf das Haus, du und ich.

Bogen wir in den Brunskrogweg ein, herrschte Stille im Auto, obwohl wir während der Fahrt von Berlin nach Hamburg viel gestritten hatten – und Vera und Arnold auch, die beide genervt waren von den Staus, von uns beiden hinter ihnen, ich glaube aber rückblickend, am meisten voneinander.

Warum sie still wurden, weiß ich nicht, weiß nur, daß ich meinen Lolli im Mund vergaß auf den letzten Metern, denn erst als das Knirschen des Kiesweges bei der Einfahrt zum Haus zu hören war, schluckte ich den süßen Speichel …

Schon bewegte sich der Vorhang im Bibliothekszimmer!

Dann eilten sie heraus, die Großeltern, bei jedem Wetter, und wie immer fein zurechtgemacht, uns zu Ehren.

Sie konnten noch erstaunlich eilen.

Ja, Simon, das war nicht ihr Problem gewesen, das nicht.

Sie sahen edel und alt aus, und Großmamas goldene Ohrringe hinterließen nach dem Umarmen zarte Abdrücke auf unseren Wangen.

Großvater fragte nach der Fahrt und dem Wetter, und Vera und Arnold spielten fröhliches Ehepaar. Sie konnten sich hervorragend zusammenreißen.

Obwohl, wenn ich es recht bedenke, hielten sie diesen Zustand auch noch einige Zeit nach dem Besuch in Ohlstedt aufrecht, auch zu Hause noch, manchmal einige Wochen lang.

Als hätte das Beispiel der Großeltern auf sie abgefärbt. Manchmal sangen wir sogar im Auto zurück nach Berlin.

Wenn wir in den wärmeren Monaten im ersten Stock oben die Tür zum Nordzimmer aufstießen, leuchtete sie den ganzen Raum aus, die Goldulme.

Sie stand im Vorgarten vor dem Holzzaun und erhellte ihre Umgebung wie ein blättriger Scheinwerfer.

Wir begrüßten sie jedes Mal, warfen unsere Sachen aufs Bett, konnten es nicht erwarten, gleich darauf im ganzen Haus herumzulaufen, die Türen aufzureißen, in jedes Zimmer zu stürzen, „Hallo!“ zu rufen, „Da sind wir wieder!“

Mit schnellen Blicken versuchten wir einander zuvorzukommen, wir schrien: „Vorhang!“ oder „Tischtuch!“ oder „Blumenstock!“, und spielten unser Ding-Spiel, bis irgendjemand von den Erwachsenen uns zum Essen rief oder:

„Genug gebrüllt! Ihr habt ja gar keine Stimmen mehr!“

Den Keller begrüßten wir nicht.

Das war der einzige Ort im Haus, den wir nicht mochten.

Ich kann mich nicht erinnern, je ganz unten gewesen zu sein.

Öffnete man die knarrende Tür, wand sich die Steintreppe unter einer niedrigen Decke hinab in etwas Katakombenartiges, und eine fremde Luft füllte die Nase, eine strenge Feuchtigkeit von etwas, das mich zurückweichen ließ.

Einmal haben wir zugesehen, wie Tim, der Nachbarsjunge, mit Großvater hinunterging, um irgendwelches Zeugs zusammenzuzimmern, Kaninchenställe oder alte Stühle.

Wir taten so, als würden wir es nicht bemerken, und danach ist es auch nicht mehr vorgekommen.

Jedenfalls weiß ich noch, wie du dir an jenem Nachmittag, als Großvater mit Tim in den Keller hinuntergegangen war, draußen im Garten ein riesiges Schwert aus Holz bautest und mich verächtlich anschriest: „Mädchen! Mädchen!“

11

Unten schlägt eine Tür, unser Nachbar. Nebenan rauscht die Wasserleitung.

Also gut. Ich werde mit Vera sprechen, auch wenn ich mir ihr Gesicht schon vorstellen kann: dieses Weggleiten, dieses Vage.

War sie immer so? Oder kam das erst später, im Lauf der Zeit, als die Dinge schiefzulaufen begannen mit ihr und Arnold?

Vielleicht nimmt sie ja auch Tabletten. Keine Ahnung.

Ich stehe am Fenster, ich schaue hinaus.

Durch die Ritzen des Holzes spüre ich den kalten Luftzug, und meine Nase wittert: Schneeluft.

Also haben sie doch recht behalten, die Wetterfritzen.

Sie haben Schnee angesagt. Nicht viel. Eine nächtliche Episode, die ich hoffentlich verschlafen werde.

In vielen Wintern, Simon, hatten wir Glück, und es schneite nur kurz, unerheblich.

Und wir wußten, es war nicht wirklich, wenn es gerade mal so für eine dünne, weiße Decke reichte.

Einen flüchtigen Brautschleier für die Stadt.

Wie jetzt, an diesem Dezembertag, in den ich starre und warte.

12

Wann beginnt Erinnerung?

Kann man sich an Ereignisse erinnern, die man mit fünf erlebte?

Bei dir, Simon, scheint es so zu sein. Ich habe nur Schemenhaftes im Kopf, nichts Greifbares, Bilder, die von später stammen können, von denen ich nur glaube, sie rührten von ganz früher her. Eigentlich beginnt mein Bewußtsein erst mit sechs, mit Beginn der Schule.

Das ist der Anfang: Der Geschmack von etwas Scharfem im Mund.

Veras Hand, warm und rauh. Die Erregung, an etwas unerhört Neuem teilzuhaben.

Ich sehe an mir hinunter. Was ich sehe, macht mich froh:

Himmelblaue Rüschen an meinem Kleid.

Wenn ich gehe, sind sie leicht wie eine Girlande, die meine Knie umschwingt. Meine Füße in den weißen Lackschuhen lassen mich die Treppen hochschweben zum Eingang, der sich öffnet, groß wie ein Kirchentor. Kindergewusel rundherum, aufgeregtes Geplapper. Im Klassenzimmer dann Frau Ehrenreich mit ihrer hohen Stimme. Die Schultüten.

Anna hatte Pfefferminzbonbons in ihrer und steckte mir eines zu.

Seltsam, wie unser Gehirn gebaut ist. Kinder leben im Augenblick, von Jetzt zu Jetzt zu Jetzt, und später erinnert man nur Diffuses, Nebelhaftes, und wundert sich, wie wenig man weiß von diesen ersten wichtigen Jahren.

Das Vergessen: Vermutlich ist es unser Schutzengel.

Denn die Wahrheit ist, daß nur ein Knie die Rüschengirlande fühlen konnte.

Das rechte. Das linke steckte in Gips.

Bis zum Schenkel reichte das Gipsbein. Es gab nur einen weißen Lackschuh an jenem Tag, am rechten Fuß. Von Hochschweben zum Eingang der Schule also keine Spur.

Erinnerst du dich?

Mein Sprung vom Apfelbaum. Diesen Schmerz hat sich mein Unterschenkelknochen gemerkt. Aber das Schulmädchen zwei Wochen später hat diesen Schmerz im Gipsbein ausradiert.

Wäre nicht ein Photo, auf dem ich mit meiner Schultüte, dem himmelblauen Kleid und einem dünnen und einem weißen, dicken Bein abgebildet bin – Schulbeginn und Gipsbein wären zeitlich in meinem Gedächtnis nie zusammengekommen.

13

Es ist Mittag vorbei. Ich koche Kaffee.

Im Kühlschrank gammeln halbvolle Gurkengläser neben zwei Bierflaschen, sonst nichts.

Ich kaue auf einem Stück Brot herum, das sein Ablaufdatum wohl auch schon überschritten hat.

Balkontür auf, Luft schnuppern.

Es ist kalt, der Himmel berlingrau. Ich sollte etwas Nützliches tun. Einkaufen gehen.

Noch ehe ich weiß, was passiert, spüre ich, daß es mit dem Balkon zusammenhängt.

Es war ein Fehler, ihn zu betreten. Und es hilft auch nicht, daß ich ihn fluchtartig verlasse, die Tür hinter mir zuknalle, den Griff einrasten lasse.

Ich nehme den anderen mit, den von früher, den Balkon in der Danckelmannstraße mit seinen zusammenklappbaren Plastikstühlen, Veras Gartenhandschuhen und Schaufeln im Eimer, dem leeren Hamsterkäfig und Arnolds Stolz: der Grill.

Immer, Simon, wenn ich ans Ende unserer Familie denke, strahlt diese Honigsonne vom Himmel herunter. Es ist Sonntagmorgen, ich stehe auf Zehenspitzen, die Nase vorgereckt, Sonnenkringel auf dem Thymian, dem Rosmarin, dem leuchtend grünen Basilikum in Veras Blumenkästen. Duftorgie.

Wäre mein Arm doppelt so lang, könnte ich eine der Blüten vom Kastanienbaum mit ihren verzweigten Staubgefäßen berühren.

Sie sehen zartrosa aus. Ist aber eine Täuschung. Vera hatte mich aufgeklärt:

„Wenn man genau hinsieht, blühen sie gelb, siehst du, und orange und rot. Das hängt mit dem Nektar zusammen: Diejenigen Blüten, die noch nicht bestäubt sind, produzieren noch Nektar und sind gelb, nach der Bestäubung verfärben sie sich orange, und dann rot.“

Ich stehe also am Balkon, die Kastanienblüten gaukeln mir was vor, und Arnold ruft vom Küchenfenster aus:

„Kommst du jetzt – bitte.“

Die Art, wie er das ruft, dieses betont Beiläufige, bewirkt, daß ich wie ferngesteuert eintrete ins Innere der Wohnung, die dunkel ist und so wie ich noch nicht verstanden hat, was uns allen blühen wird.

Kaffeeduft, Duschgel, Toast:

Alles scheint wie immer, alles riecht so, wie ein Sonntagmorgen zu riechen hat.

Ich schleiche durchs Wohnzimmer mit den Möbeln und Bücherregalen, dem Tisch, auf dem Zeitungen verstreut liegen, Kaugummipapier, die Dielen quietschen, und da sind unsere Schuhe im Flur, Simons und meine durcheinander, und auch unsere Taschen und Jacken – unsere Eltern haben aufgegeben, man sieht es.

Ich gehe zur Küche, alle sind da:

Arnold, der an der Tür steht, sie für mich offenhält, ein zerquältes Lächeln im Gesicht.

Vera am Herd lehnend, blaß mir entgegenblickend, die Arme unter der Brust verschränkt.

Du, Simon, am Stuhl fläzend, ein Unterschenkel an die Tischkante gepreßt, mit genervtem Ausdruck im Gesicht („Ich wollte doch gerade …!“).

Ein letzter Rest dunkelbrauner Geburtstagstorte lugt aus der Alufolie auf der Anrichte hervor.

Zwei Tage zuvor bist du fünfzehn Jahre alt geworden.

Daß niemand etwas sagt, ist das eine.

Das andere: Die Kastanienblüten, hatte mir Vera erklärt, seien wie eine Ampelanlage.

Jetzt fällt mir auf, daß das nicht stimmen kann.

Es gibt kein Grün, kein Nun-gehts-los.

Es gibt nur Achtung und Halt und Stillstand.

Das ist in meinem Kopf, als Arnold sagt: „Komm, Lucy“, und ich über die Schwelle trete und erfahren werde, daß wir keine Familie mehr sind.

14

„Sie hatte wieder ihren Schneetraum.“

Eine Tür klickte, es wurde still und dunkel, und das kleine Kind, das ich war, konnte offensichtlich weiterschlafen.

Irgendwann viel früher hörte ich diesen Satz, viele Jahre vor jenem Sonntagmorgen, als die Kastanienblüten zu Ampeln wurden, die keinen Weg mehr freigaben.

Aber ich weiß nicht, ob die Stimme dazu von Vera stammte oder von Arnold.

Es war eine tiefe Müdigkeit in diesem Satz, ein Erschöpftsein.

Alles begann mit dem Schnee, Simon, nicht wahr.

Der Schnee ist es, der die Erinnerung an jene Weihnachten bewahrt, so seltsam das klingt.

Wir haben nie darüber gesprochen, aber wir sind, soweit es möglich war, später dem Schnee aus dem Weg gegangen.

Die Eltern auf ihre, wir auf unsere Weise.

Ja, es ist besser für uns, durch einen milden Winter zu kommen.

Nieselregen, asphaltgrauer Himmel. Anflüge von Rauhreif, wenn überhaupt.

Im Rückblick ist es, als wären wir immer weggelaufen.

Seitdem du nicht mehr da bist, weiß ich das. Immer ging unsere Sehnsucht in jene Teile der Welt, die vom Schnee nichts wissen.

Als Kinder haben wir es noch nicht so gespürt.

Kinder haben ja eine spezielle Fähigkeit, den Dingen zu begegnen. Ich glaube, es geht dabei vor allem um Neugier.

Und um Schutz. Ums Singen im Dunkeln.

Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags

Lorenz

Lorenz sah durch die Terrassentür, sah Lucy und Simon hinterher, wie sie eifrig um die Ecke stapften, ihren Schneeabenteuern entgegen, hellrosa und dunkelblau.

Still war es, so lautlos, daß er schon dachte, etwas stimme nicht mit seinen Ohren. Und auch die Augen mußten sich gewöhnen:

Der Schnee hatte den Garten neu modelliert. Als gäbe es die gewohnte Welt aus graubraunen Beeten, dem Rasen und der Linde nicht mehr, den Pappeln hinten, diese ganze handfeste Angelegenheit aus kompakten Formen.

Und wo war die grüne Bank unter dem Ahorn?

Lorenz sah hinein in dieses diffuse Licht, in dieses Helle, das keine Abgrenzung kannte. Keine noch so feinen Linien zeigten den Übergang zwischen Garten und Nachbarsgrundstück. Keine Sonne sorgte für Schatten und Kontrast, der Himmel war von einer milchigen Undurchsichtigkeit, – und die Kinder?

Verschluckt vom Weiß.

Aber: Ein Juchzen drang von draußen zu ihm. Erleichtert atmete Lorenz auf. Sie kreischten.

Er strich über seinen Pullover. Seine Handfläche berührte in Brusthöhe etwas Verkrustetes, ach das, ja, ich muß –

Er horchte hinaus. Wäre der Schnee doch einige Tage früher – Helene, das wußte Lorenz, hätte ihre Hand vor den Mund gelegt und die Augen geschlossen.

„Schnee-Weihnachten sind richtige Weihnachten“, das war immer ihre Meinung gewesen, und nun wurde es für sie also nachträglich auch dieses Jahr ein gelungenes Fest.

Andrerseits – ein wenig besorgt dachte er an den Dachboden, den er vor einigen Wochen aufgesucht hatte, nach dem ersten Schneefall.

Wenn wir wieder allein sind, dachte Lorenz, Helene und ich.

Dann würde er hinaufgehen und den Rest Schnee beseitigen, der sich am Boden unter dem Dach angesammelt haben würde – das würde zu schaffen sein, und wenn es schlimm käme, was er dumpf ahnte, müßte er eben jemanden zu Rate ziehen –, aber das war etwas, das er nun nicht weiterdenken wollte.

Alles zu seiner Zeit. Wo war seine Brille?

Lorenz schnupperte würzigen Tannenduft.

Einige Meter weiter stand der Baum voller Strohsterne und glänzender Äpfel, die Helene wie jedes Jahr mit Speck eingerieben hatte.

Wie hatte Arnold als Kind gesagt?

„Weihnachten wohnt der Baum bei uns.“

Arnold. Er sah seinen erwachsenen Sohn vor sich, schlaksig, eine Hand in der Hosentasche, prüfender Blick aus kristallgrauen Augen, Helenes Augen.

Knubbelnase. Dichtes, kurzgeschnittenes Haar.

Nahm er die Brille ab, überraschten seine nun größeren Augen mit einem Kranz schwarzer Wimpern. Er war jemand, den man in der Menge übersah, keiner, der einen Raum betrat, und alle blickten hoch.

Hat auch viel Gutes. Manchmal aber, das mußte Lorenz sich eingestehen, hätte er sich mehr Mumm in Arnold gewünscht.

„Wehr dich doch auch mal, Junge!“

Seine eigenen Worte klangen ihm im Ohr, viele Jahre her, wenn ihm wieder mal von Kämpfen berichtet worden war, den üblichen Schulhof-Randalen, die Arnold regelmäßig als Geschlagener verlassen hatte.

Er dachte an Helenes Blick, den sie bekam, wenn sie den Abstand zwischen Lorenz und Arnold fühlte. Als hätte jemand den Glanz ihrer Augen weggeknipst.

Er hatte ihr nie sagen können, daß er das wortlose, Jahr um Jahr sich beschleunigende Auseinanderdriften zwischen Vater und Sohn mit hemdsärmeliger Tapferkeit nahm:

Soll vorkommen. Kommt in den besten Familien vor.

Seine Hand strich über die Maserung des Cembalos, an dem er soeben vorbeikam, die Freude seiner späten Jahre. Er summte einige Takte, die er vor Weihnachten geübt hatte.

Schwingt freudig euch empor. Bereitet die Wege, bereitet die Bahn! Ärgre dich, o Seele, nicht.

Bachs Musik war Trost beim Erwachen, das, worauf er sich schon beim Einschlafen am Vorabend am meisten freute.

Ein Schatz, den er erst ausgraben hatte müssen am ersten Vormittag seiner Rente.

Damals war er in den Keller gestiegen und hatte nicht lange nach dem Erbe seiner Mutter suchen müssen.

Die Kiste voller Noten war zwar etwas staubig gewesen, aber vollständig.

„Ich klimpere jetzt ein bißchen“, sagte Lorenz seither jeden Morgen nach dem Frühstück zu Helene, die daraufhin nickte und alle Türen zum Wohnzimmer schloß, damit er sich in Ruhe ärgern konnte über die Ungelenkigkeit seiner Finger und seinen dummen Kopf, der die Koordination nicht mehr richtig schaffte:

Lesen und spielen gleichzeitig.

Übermorgen würde er sich wieder an die Noten setzen, wenn die Kinder aufgebrochen waren, Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust, so könnten sie der plötzlichen Stille im Haus beikommen, Helene und er, pling, pling, plong, er summte und sah nur verschwommen den Gabentisch, an dem er nun vorbeitappte, griff in etwas Weiches, Schneefarbenes – das mußte ihr neuer Cashmere-Pullover sein, und jetzt: Ffffffffff …

Lorenz preßte den Handrücken. Zog Luft durch die Zähne.

Die Ecke des Photoalbums, – wie dumm. Wo hatte er nur wieder diese verdammte Brille hingelegt?

Er tappte zwei Schritte nach vorne, ging durch die Wohnzimmertür hinaus in den Vorraum. Erreichte das Treppengeländer, da, da war es, seine linke, schmerzfreie Hand umfaßte das glatte Holz, er blieb stehen, schloß die Lider.

Jetzt wurde es ungemütlich. Lorenz räusperte sich.

So ungemütlich wird es, wenn einen Augen beobachten.

Viele Augen.

Vor allem – jetzt mußte er fast lachen über seine Situation – wenn man selbst nicht mehr richtig sehen konnte.

Seitlich an der Wand musterten ihn die Blicke aus zwei Jahrhunderten.

Was sahen sie? Einen ehemals stattlichen, nun etwas gebeugten, soeben fast blinden Mann.

Struppiges Weißhaar auf dem schmal gewordenen Kopf.

Dieser ältere – eigentlich schon alte – Mann nestelte nun mit der Hand, auf der bald ein blauer Fleck zu sehen sein würde, nach dem Taschentuch in seiner Hose, schneuzte sich mit geschlossenen Augen, verstaute es wieder.

Er würde an ihnen vorbeimüssen: An den dreißig in schwarze Holzrahmen gesteckten Schwarzweißphotographien, die an der Wand hingen, Gesichter, die er lange nicht wirklich wahrgenommen hatte und die ihm nun gegen seinen Willen ihre Anwesenheit aufdrängten.

Zum ersten Mal war es Lorenz, als könnte er alle ihre Blicke fühlen, als könnten sie ihm Punkte in den Körper brennen, wie er so stand und die Augen geschlossen hielt.

Die Bilder waren gut drei Jahrzehnte zuvor das erste gewesen, das er angebracht hatte, als sie in dieses Haus gezogen waren.

Er hatte es so wie sein Vater viele Jahre zuvor in seinem Treppenhaus getan. Und davor dessen Vater mit den ersten wenigen Bildern.

Jedes einzelne Bild hatte Lorenz neu gerahmt, einen Nagel in die Wand geklopft, es gerade gerückt.

Und so hingen sie seitdem hier, die Kaufmänner, Amtmänner, Apotheker, Geheimen Regierungsräte, Guts- und Fabriksbesitzer, deren Namen und Professionen in sauberer Schrift unter dem jeweiligen Porträt zu finden waren. Lorenz sah hinter ihren Köpfen die Weite masurischer Seenlandschaften, er konnte den Geruch von Pferdemist auf schleswig-holsteinischen Gütern riechen, den Waschküchendunst in Berliner Hinterhöfen. Am Potsdamer Platz kreischten die Räder einer Pferdekutsche, Wiehern, Schreien, Leute liefen zusammen, der Verkehrspolizist wedelte, – dann Erleichterung, dieses Mal war nichts passiert. Lorenz sah seinen Vater, wie er sich im Berliner Polizeipräsidium, Abteilung Verkehr, an den Schreibtisch setzte, seine Füllfeder nahm und einen Brief entwarf.

Eine Kampfschrift für das Ampelsystem, das er Anfang des Jahrhunderts in London und New York gesehen hatte.

Drei Farben.

So einfach wäre das.

Lorenz lachte leise auf. Ach, Berlin.

Auch wenn einige Vorfahren, die hier an der Wand hingen, aus anderen Gegenden gekommen waren, war es doch Berlin gewesen, das ihre Lebenslinien verknüpft hatte. Zwei Jahrhunderte war die Stadt der Mittelpunkt seiner und Helenes Familie gewesen und noch als junger Erwachsener hatte er sich keinen anderen Lebensort vorstellen können.

Lorenz räusperte sich.

An Hamburg hatte er sich erst gewöhnen müssen. Die andere Mentalität, das Klima.

Der Wind!

Mit der Zeit aber war seine Gewißheit gewachsen, daß es richtig gewesen war, damals, nach dem Mauerbau, wegzugehen.

Jetzt noch, nach so vielen Jahren, fühlte er Erleichterung und Wehmut zugleich, wenn er an jenen Tag dachte, an dem ihn das Angebot aus Hamburg, dem Klinikum Eppendorf, erreicht hatte.

Berlin, ich muß dich lassen.

Nur nicht wieder in den Sog der Weltpolitik geraten.

Lorenz fand, er habe ausreichend Gelegenheit gehabt, die Auswirkungen heißer und kalter Kriege am eigenen Leib zu erfahren, sodaß die zweite Lebenshälfte aus nichts anderem bestehen sollte, als mit Helene in Frieden zu leben, den Jungen aufwachsen zu sehen, Kranke zu heilen.