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Michael Reich

Apokalyptiker

Thriller

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2010 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel/Claudia Sanna

Schutzumschlagmotiv: akg-images, Berlin

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8284-2

Vorwort

I

Er ging zum Bücherregal und zog zielsicher einen Band aus einer langen Reihe. Sanft glitt seine Hand über den Einband aus weichem Leder. Baudelaire. »Die Blumen des Bösen«.

Wie ein dunkler Schatten kam die Erinnerung. Er hörte eine sanfte Stimme, die Verse las aus diesem Buch. Er blätterte, bis er die Seite fand, die er gesucht hatte, ging zum Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter und schrieb sie auf.

Er würde einen Weg beschreiten, von dem es kein Zurück mehr gab. Er gedachte der Jahre, in der er zur Einsamkeit verdammt gewesen war, und fand sich in seiner Entscheidung bestärkt. Für ungesühntes Unrecht gibt es kein Verfallsdatum. Er hatte schon zu lange gewartet. Seine Hand zitterte, als er zum Telefonhörer griff.

II

Seine Schritte waren schwer, die Füße vermochten sich kaum vom Boden zu lösen. Es war, als sähe er sich selber zu. Ein fremder Mann, der einsam durch menschenleere Straßen schlich. Die erleuchteten Fenster der Häuser spiegelten sich auf dem regennassen Asphalt. Er ging wie in Trance einen vorgeschriebenen Weg, der ihn schnurgerade auf sein Ziel zuführte. Dorthin, wo alles begonnen hatte und wo es jetzt sein Ende fand. Wolken, deren pastellenes Grau auch am Nachthimmel noch zu erkennen war, zogen über ihm ihre Bahn. Ab und zu, wenn die Wolkendecke für einen kurzen Augenblick aufriss, blitzten Sterne auf. Suchend sah er sich um. Es hatte sich einiges verändert. Doch er kannte sich immer noch aus.

Die Gegend war ruhig, vornehme Zurückgezogenheit, die auch ein Abstand zum Leben war, das man vor der Mauer ließ, die man um sein Grundstück gezogen hatte.

Wieder überkam ihn die Erinnerung an ein Leben, das schon lange ausgelöscht war und doch seine Schatten bis in seine Gegenwart warf.

Es begann zu nieseln. Er war am Ziel, ließ den Blick über die Hausfassade gleiten; alles war tot, das Haus, der Garten. Ein stummer Ankläger, mehr noch, ein Zeuge. Er schloss für einen Moment die Augen. Plötzlich vernahm er Kinderlachen; zwei Jungen in Matrosenanzügen, die fröhlich im Schatten der hohen Bäume spielen. Das Gras duftet, die Blumen verströmen ein süßes Parfum, das nach Sommer, Sonne und Glück riecht. Nein! Er musste es unterdrücken, atmete tief durch, versuchte sich zu sammeln. Sein Puls raste. Das alte Eisentor hing schief in den verrosteten Angeln und stand einen Spalt offen. Er machte einen entschlossenen Schritt nach vorn. Unter seinen Füßen knirschte der von Unkraut durchwachsene Kies, der den kurzen, gewundenen Weg zum Haus bedeckte.

Krampfhaft umschlossen seine Finger den kunstvoll verzierten alten Dolch in seiner Manteltasche. Ein für den Anlass durchaus passendes Werkzeug. Er stammte aus dem Besitz seines Vaters, eines der wenigen Erinnerungsstücke, das jetzt, nach einer langen qualvollen Reise, zurückkehrte. Ein weiterer Kreis, der sich schloss.

Die wenigen, von einem steinernen Baldachin überdachten Stufen zur Haustür hatte das Unkraut, das aus den Ritzen spross, gesprengt. Ein Netz aus feinen Rissen überzog die Steine. Einzelne Stücke waren herausgebrochen.

Verfall und Tod. Überall. Er kämpfte gegen einen plötzlichen Brechreiz, während er das Haus umrundete. Auch auf der Terrasse wucherte das Unkraut, nachdem man ihm seinen Willen gelassen hatte.

Eine der Terrassentüren, deren Glas längst blind geworden war, stand offen. Er schlüpfte geräuschlos ins Innere des Hauses, wo ihm ein muffiger Geruch nach Moder und Tod entgegenschlug. Der Boden war übersät mit Laub, das der Wind durch die offene Tür in das Zimmer geweht hatte. Er versuchte sich zu orientieren, erinnerte sich des großen Salons, mit tiefen Sesseln, einem Kamin. Ein Klavier hatte dort hinten in der Ecke gestanden, nahe dem Erker.

Von weit her drang eine liebliche Frauenstimme an sein Ohr, er sah schlanke, elegante Finger, die über die Tasten flogen. »Auf der Heide blühen die letzten Rosen …« Ein altes Lied, dessen Klang in seinem Kopf widerhallte.

Ein Geräusch über ihm holte ihn in die Gegenwart zurück. Er atmete tief durch, jetzt sich nur nicht in den Labyrinthen der Erinnerung verirren, und verließ das Zimmer durch eine breite, zweiflügelige Tür, die in eine quadratische Halle hinausführte. Er trat vorsichtig auf, jedes noch so kleine Geräusch hallte in dem hohen Raum wider. Langsam, jeden Schritt im gesamten Körper empfindend, stieg er die Stufen in den ersten Stock empor, so wie er es einst unzählige Male unbedacht getan hatte. Auch hier stand eine Tür halb offen. Der Schein einer Taschenlampe fiel durch den offenen Spalt auf den Flur hinaus. So leise es ging, schlich er näher heran, horchte und nahm ein schweres Atmen wahr. Behutsam öffnete er die Tür einen Spalt breiter. Der Lichtkegel der Taschenlampe erhellte einen kleinen Teil des Raumes. Es standen noch Möbel hier, abgedeckt mit weißen Planen, die wie Leichentücher wirkten.

Hugo Winters hatte ihn nicht kommen hören. Er stand unschlüssig im Raum, den Rücken ihm zugewandt; suchend richtete er den Schein der Taschenlampe mal in diese Ecke, mal in jene. Als er sich schließlich umwandte, traf ihn der helle Strahl wie ein Blitzschlag.

Winters sah ihn forschend an, die Stirn in Falten gelegt, die Augenbrauen zusammengezogen. »Du bist es tatsächlich«, sagte er und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich hatte ja am Telefon gesagt, die Toten kehren zurück.« Er sah Ratlosigkeit in Winters’ Blick, Verwunderung, Desorientierung. Und doch war er gekommen. Eine ungeheure Wut schlug wie eine riesige Welle über ihm zusammen. Er griff nach dem Dolch, ein blitzartiger Streich – ein Todesengel –, nahm ein entsetztes Aufflackern in Hugo Winters’ Augen wahr, dann war es vorbei.

Sein Herz raste, er bekam keine Luft mehr. Er schwankte, ging einige Schritte rückwärts, bis er die Wand in seinem Rücken spürte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sein Blick wieder klar war. Fahles Mondlicht drang durch das Fenster ins Zimmer und malte ein helles Rechteck auf den Boden. Staubflocken vollführten einen irrsinnigen Tanz.

So viel Blut! Aus der Wunde am Hals sickerte es auf den Boden. Ein Leben entrann, schnell bildete sich eine Lache.

Hugo Winters’ Augen waren weit geöffnet und starrten zur Decke.

Der Mörder fasste in seine Manteltasche und holte einen gefalteten Zettel hervor, bückte sich und nahm die Hand des Toten. Sorgfältig legte er den Zettel hinein und schloss die noch warmen Finger darum.

Als er das Zimmer verließ, so leise, wie er gekommen war, hörten ihn die Seelen des Hauses leise flüstern:

»O namenloser Schmerz!

Die Zeit frisst unser Leben

Indes der finstre Feind,

der uns das Herz zerfleischt,

Wächst und gewaltig wird vom Blut,

das wir

Vergeben.«

Erster Tag

1

»Baudelaire.«

»Was?«

»Der Feind. Ein Gedicht aus den ›Blumen des Bösen‹.«

»Bist du jetzt unter die Intellektuellen gegangen?«

Hauptkommissarin Elise Brandt warf ihrem Kollegen einen pikierten Seitenblick zu. »Es gibt Gott sei Dank außer meiner Arbeit noch ein paar andere Dinge, die mich interessieren.« Und leise fügte sie hinzu: »Dieses Gedicht geht mir nicht aus dem Kopf.« Ihre Stimmung sank von Minute zu Minute. Feiner Nieselregen hüllte sie ein.

»Also haben wir es mit einem äußerst kultivierten Mörder zu tun?«

»Weil er dem Toten ein Baudelaire-Gedicht in die Hand gedrückt hat? Ich muss zugeben – das hat was.«

Die Trauergemeinde, die sich um das offene Grab versammelt hatte, verharrte in andächtigem Schweigen. Man lauschte den Worten eines Mannes, der sich redlich bemühte, dem Leben des Verstorbenen gute Seiten abzugewinnen.

»Ich habe gehört, er soll ein habgieriger alter Bastard gewesen sein«, sagte Michael Widmer.

»Im Tod wird alles relativ«, sinnierte Elise.

»Und was versprichst du dir davon, dass wir hier herumstehen?«

»Beim derzeitigen Ermittlungsstand ist mir jedes Mittel recht«, antwortete sie und dachte an Kriminalrat Strothmann, ihren direkten Vorgesetzten, der sie aus stahlblauen Augen ablehnend gemustert hatte, als er ihr den Fall übertragen hatte: »Sie sind noch sehr jung, Frau Brandt. Die jüngste Hauptkommissarin, die wir je hatten. Und dieser Fall ist heikel, sehr heikel. Das Opfer war ein angesehenes Mitglied unserer Gesellschaft. Dennoch ist man höheren Ortes der Meinung, Sie seien fähig, Licht in das Dunkel zu bringen. Bitte. Ich verlasse mich auf Sie. Und ich fordere Samthandschuhe.«

Er misstraute Elise, ihrer Jugend, ihren Instinkten, ihren unkonventionellen Methoden, auch wenn sie öfter als andere Erfolg gehabt hatte. Sie passte nicht in seine Welt. Auch weil sie eine Frau war. Ihren Aufstieg verdankte sie Oberstaatsanwalt Reberkötter, der ihr immer wieder den Rücken stärkte, wenn sie auf ihre innere Stimme hörte, als Strothmanns sogenannten eindeutigen Beweisen Glauben zu schenken. Dieser war stets um seinen Ruf und seine Position besorgt und schloss einen Fall lieber heute als morgen ab, ehe sich unvorhersehbare Komplikationen einstellen konnten.

»He – was hältst du von dem gutaussehenden Dunkelhaarigen mit der Sonnenbrille, der etwas abseits steht?«

Michael Widmers helle Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Halt deine Libido im Zaum und beobachte die Leute!«

»Das tue ich! Besonders den Gutaussehenden da drüben.«

»Mike!« Auch Elise war der hochgewachsene, schlanke Mann mit dem südländischen Teint aufgefallen. Sie konnte nicht sagen, warum, aber er schien nicht zu den anderen zu passen. Genau wie sie, beobachtete er die anderen distanziert. Sie richtete ihren Blick auf Luise Winters, die Witwe. Die alte Frau saß zusammengesunken in einem Rollstuhl, das Gesicht unter einem großen Hut verborgen. Hinter ihr stand, groß, schlank, mondän, ihre jüngere Schwester Leonore. Beide Frauen, die einzigen an diesem Ort, die dem Toten nähergestanden hatten, wirkten gefasst.

Schließlich begann sich die dunkle, uniforme Masse aufzulösen. Die meisten der schwarz gekleideten Trauergäste hatten Regenschirme gegen den Dauernieselregen des Spätfrühlings aufgespannt.

Der Dunkelhaarige blieb allein am Grab zurück. Er trug keinen Schirm, und das zurückgekämmte schwarze Haar glänzte im Regen. Vereinzelte Tropfen perlten auf dem anthrazitfarbenen Jackett über dem schwarzen Rollkragenpullover. Versonnen betrachtete er das frisch aufgeworfene Grab. Plötzlich blickte der Fremde auf. Einen Augenblick fixierte er die junge Hauptkommissarin unschlüssig. Dann wandte er sich abrupt ab und ging.

»Mike, bitte folge ihm. Ich will wissen, wo er hingeht.«

Michael Widmer war nicht begeistert, setzte sich aber sofort in Bewegung. Er war es gewohnt, dass seine Kollegin instinktiv handelte.

Ein Ausdruck, eine Geste, die Betonung eines Wortes konnten dazu führen, ihr das Seelenleben eines Menschen zu offenbaren. Nur wenige wussten, woher diese Sensibilität kam, kannten die dunklen Abschnitte ihrer Vergangenheit, die sie nicht ruhen ließen.

Der Dunkelhaarige entfernte sich in Richtung Haupteingang. Widmer blieb in gebührendem Abstand hinter ihm. Elise ging zum Grab, das drei Generationen der Familie Winters barg. Sie sah hinunter auf den kostbaren, mit Messing beschlagenen Sarg, auf dessen poliertem Holz eine einzige rote Rose lag. Der Tod macht alle gleich. Hugo Winters war ein reicher, ein sehr reicher Mann gewesen. Jetzt war er gefangen in einer Kiste, zwei mal einen halben Meter, genauso wie der ärmste Mann auf diesem Areal.

Es roch nach Erde und frischen Lilien. Ein widerlich süßer Geruch, den Elise mit Tod und Verwesung assoziierte. Sie las die Grüße und Namen auf den Schleifen der Kränze, Namen, in denen Einfluss und Erfolg mitklangen, Geschäftsleute, Politiker, Künstler, der Erzbischof. Ein beliebter Mann? Ein geachteter Mann?

Und doch hatte er sein Leben mit durchschnittener Kehle in einem halb verfallenen Haus beendet, fernab allen irdischen Ruhmes. Ihre Aufgabe war es, das Rätsel zu lösen, das dieser seltsame, einsame Tod aufgab, und jenes Knäuel aus Unaufrichtigkeiten, Beteuerungen und falschen Ehrbezeugungen, die jedes Verbrechen mit sich brachte, zu entwirren.

Sie wandte sich ab und ging den langen Hauptweg, der zum Ausgang führte, entlang. Friedhöfe machten sie immer beklommen.

2

Nürnberg 1528

Schweißperlen stehen auf der fahlen Stirn und rinnen ihm in kleinen, salzigen Bächen an den Schläfen und über die eingefallenen, hektisch geröteten Wangen hinunter, um schließlich im reinweißen Leinen des Kopfkissenbezuges zu versickern. Die Strähnen seines langen Haares, sein Stolz und sein Markenzeichen, kleben nass am Kopf. Er stöhnt und murmelt leise, unverständliche Worte, betet schließlich. Das Fieber tobt in ihm. Er glaubt sich im Fegefeuer und bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Er hört ein schmerzerfülltes Stöhnen, eine dünne Frauenstimme dringt von weit her zu ihm, eine Stimme aus der Vergangenheit: »Musst pressen, Barbara! Ist bald so weit!«

Ein Rauschen, als stünde er neben einem stürzenden Wildbach, dröhnt in seinen Ohren. Es ist der Fluss seines Blutes. Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich. Er weiß, er ist auf dem Weg in die unendliche, ewig währende Dunkelheit.

Er sieht seine Mutter, jung und blass, die sich in Krämpfen windet. Das Haar, wie jetzt seines, nass und verklebt. Ein schwacher Geruch von Kampfer und anderen frischen Kräutern erfüllt den Raum. Am Fenster des kleinen Dachzimmers im Hinterhaus an der Winkelstraße, dem Anbau am Anwesen des Patriziers Pirckheimer, den der reiche Kaufmann dem Kunsthandwerker vermietet hat, steht der Vater, groß, hager, blass, mit ernster Miene. Ein frommer Mann, der in sich ruht, in Gott und seiner Arbeit. Eine einzige Frage beschäftigt ihn: Wird es leben, wird es überleben? Zwei Kinder sind schon bei Gott. Barbaras Stöhnen reißt ihn aus seinen Gedanken. Eine schwere Hand legt sich auf seine Schulter. Koberger, der Freund, Handwerker wie er, Drucker.

»Willst Pate werden, wenn es lebt?«, fragt Dürer den schwergewichtigen Mann, der so ganz anders ist als er, anpackend, zuweisend. Koberger nickt stumm.

Dann ist es vorbei, der alles erlösende Schrei durchschneidet die Stille. Es lebt. Ein Lächeln huscht über das verhärmte Gesicht des Vierundvierzigjährigen. Er geht zum Bett, nimmt die Hand seiner neunzehnjährigen Frau, die sanft lächelnd die Augen niederschlägt. Mit festem, unerschütterlichem Gottglauben fügt sie sich in das Schicksal einer Frau jener Zeit und wird ihrem Mann in sechsundzwanzig Jahren achtzehn Kinder schenken – um sie eines nach dem anderen wieder zu verlieren und sich am Ende, zerstört, ausgelaugt und vor der Zeit, in Gottes Hände zu begeben.

Behutsam nimmt der Vater das in frisches Leinen gewickelte Kind in die Arme. Albrecht soll es heißen, wie er, und leben soll es, lieben und lachen und Gott ehren.

Keiner der Anwesenden ahnt in diesem Augenblick des Glückes, dass jenes kleine, wimmernde Wesen in den Armen des Vaters weiter gehen wird als je jemand vor ihm und kaum jemand nach ihm. Und vielleicht, vielleicht lächelt Gott in diesem Augenblick, weit oben, über allem, zufrieden über sein neuestes Werk.

Es ist St. Prudentien in der Kreuzwoche, der 21. Mai 1471, sechs Uhr morgens, die Sonne schickt die ersten zarten Strahlen zur Erde, und die Glocken der Kirchen läuten zur Morgenvesper.

3

»Er hat mich nach allen Regeln der Kunst auf der Breiten Straße abgehängt, dein schöner Unbekannter«, sagte Michael Widmer mürrisch, als er eine Stunde später zu Elise Brandt in ihr gemeinsames Büro im Polizeihauptquartier zurückkehrte. Er goss sich eine Tasse Kaffee ein.

Beide standen vor einer Tafel, an der die Fotos der Leiche sowie Zettel mit Daten und Fakten angeheftet waren. Elise überflog den Bericht des Gerichtsmediziners: Kehle mit einem kräftigen Zug unter Zuhilfenahme einer scharfen Klinge von unterhalb des linken Ohres bis zum rechten Halsmuskel durchtrennt. Ohne Zögern. Ein glatter, entschlossener Schnitt. Ein Schlussstrich.

Der Mörder war einen Kopf größer gewesen als Hugo Winters, hatte vor ihm gestanden, ihm in die Augen geblickt, als er die Klinge führte. Kraft? Eher Entschlossenheit. Ein geplanter Mord. Man hatte Winters in das verfallene Haus in Rodenkirchen gelockt. Er war gekommen. Nachts. Allein. Man hatte nichts bei ihm gefunden, was er zur Verteidigung hätte benutzen können.

Ein alter Mann aus der Nachbarschaft, der mit seinem Hund spät abends noch eine Runde gedreht hatte, bemerkte den Lichtschein der Taschenlampe, die Hugo Winters aus der Hand gefallen war. Die zu Hilfe gerufenen Streifenpolizisten kamen, um den vermeintlichen Landstreicher zu vertreiben, fanden aber den Toten.

Sie hatte die Angewohnheit, das, was ihr nach Besichtigung eines Tatortes spontan in den Sinn kam, niederzuschreiben. Dieser Zettel hing an der Pinnwand neben den Bildern vom Tatort. Es standen nur wenige Worte darauf: Hass, zweimal unterstrichen; verletzte Gefühle; Seelenpein. Geplant. Eiskalt? Nein. Mörder gekannt? Ja – zweimal unterstrichen.

Neben dem medizinischen Gutachten hing eine Liste der Gegenstände, die das Opfer bei sich getragen hatte. Eine Brieftasche mit Papieren, etwas Kleingeld. Kein Schlüssel. Auch nicht für das Haus. Und dann dieses Gedicht.

»Was weißt du über das Haus?«, fragte sie.

»Es steht seit mehr als fünfzig Jahren leer«, antwortete Widmer. »Allerdings hat es eine bewegte Vergangenheit. Der vorletzte Besitzer des Hauses, Endres Wolfarth, Spross einer reichen Kaufmannsfamilie, ist in Stalingrad geblieben. Er wollte vom Geschäft nichts wissen, hat in Kunst gemacht. Es gab da vor dem Krieg wohl so eine Künstlervereinigung: Maler, Bildhauer und Schriftsteller, deren Kopf dieser Wolfarth war. Nach dem Krieg gab es die Gruppe nicht mehr. Sie nannten sich ›Die Apokalyptiker‹.«

Kunst. War da die Verbindung zu Winters, dem bekannten Kunstsammler und Mäzen zahlreicher Museen? »Wem gehört das Haus jetzt?«

»Nach einigen Jahren hat man Wolfarth für tot erklären lassen, und der Besitz ging an seine einzige lebende Verwandte, eine Tante, Adele Wagner. Das ist der letzte Stand. Ihr Mann war wohl ziemlich wohlhabend, und sie wollte von dem Haus, obwohl es ihr Elternhaus war, nichts wissen und hat es verkommen lassen.«

»Seltsam. Einen solchen Besitz einfach verfallen lassen? Aber diese Tante kann doch nicht mehr leben?«

»Wer weiß?« Widmer zuckte die Schultern. »Wolfarth war noch ziemlich jung, als er eingezogen wurde. Ich hab auch eine Tante, die nur fünf Jahre älter ist als ich. Laut Unterlagen ist die Wagner jedenfalls die derzeitige Besitzerin. Ich habe sie noch nicht gefunden. Aber ich bleibe dran.«

Hugo Winters hatte keine Kinder gehabt. Seine Frau Luise, Tochter aus wohlhabendem jüdischem Haus, hatte es lange verstanden, Elise aus dem Weg zu gehen. Die Einundachtzigjährige hatte erst ihre angegriffene Gesundheit vorgeschoben, schließlich ihre Verbindungen spielen lassen. Dennoch hatte es die junge Hauptkommissarin bei Strothmann geschafft, wenigstens eine einzige, kurze Unterredung durchzusetzen. Sie hatte im Hause Hugo Winters’ stattgefunden, in einer Atmosphäre eisiger Ablehnung.

»Ich werde noch einmal mit der Witwe sprechen«, sagte Elise.

»Das ist nicht dein Ernst! Du handelst dir riesigen Ärger ein.«

»Ich weiß.«

4

Es goss in Strömen, als Elise Brandt vor Winters’ Anwesen parkte. Sie blieb noch eine Minute im Wagen sitzen, hing ihren Gedanken nach und starrte durch die beschlagenen Seitenfenster zur anderen Straßenseite hinüber. Der Regen trommelte auf das Autodach sein ganz eigenes melancholisches Lied.

Das große Haus, das einsam inmitten eines parkähnlichen Areals lag, machte einen beinahe feindlichen Eindruck auf sie.

Plötzlich nahm sie einen Schatten wahr. Sie wischte über die Scheibe, um besser sehen zu können, und erkannte undeutlich eine große Gestalt, die das Anwesen durch das Eingangstor verließ. Schnell kurbelte sie die Scheibe herunter. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Es war ein Mann, und er war bereits ein gutes Stück die Straße hinuntergegangen; sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm im Wind und wirkte wie das Flügelpaar eines Raben. Elise erkannte ihn sofort, auch ohne seine Sonnenbrille, und stieg aus. In diesem Augenblick blieb er stehen und wandte sich um. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, dann setzte er schnellen Schrittes seinen Weg fort. Sie ging ihm bis zur nächsten Straßenecke hinterher, doch als sie um die Ecke bog, war er verschwunden.

Bedrückt kehrte sie zum Haupttor zurück. Wie schon beim ersten Mal vor zwei Tagen, als sie vor der halb hohen, elektrisch gesicherten Ummauerung stand, die das Grundstück von der Straße trennte, überkam sie ein starkes Gefühl des Unbehagens. Sie betätigte den Klingelknopf rechts des Tores und wartete. Von Weitem leuchtete das schmutzige Weiß der Außenwände der Villa; hohe, alte Bäume, deren gerade frisch grünendes Blattwerk im Regen glänzte, flankierten den viereckigen Bau. Ihre Zweige tanzten im Wind und gaben dabei knarzende Geräusche von sich.

Über Elises Kopf veränderte eine Videokamera mit leisem Surren ihre Position und richtete ihr Auge auf sie. Schutz oder Abwehr? Sie blickte nach oben und gerade in die Kamera. Hinter einer Vergitterung aus Messing verbarg sich die Sprechfunkanlage. Ein Knacken ertönte und eine elektronisch verzerrte Stimme sagte: »Bitte warten Sie einen Augenblick.«

Die deutliche Ablehnung in der Stimme gab ihr die Gewissheit, dass sie sich nicht weiter zu legitimieren brauchte. Der Regen ließ etwas nach, doch der starke Nordwind trieb bereits neue Wolkenformationen vor sich her, noch dunkler, noch Unheil verkündender als die vorherigen. Was geschah in dem Haus zwischen den Bäumen? Eine alte, einsame Frau, die sich darin verschanzte wie ein mittelalterlicher Lehnsherr in seiner Trutzburg, einzig umgeben von den stummen, kostbaren Zeugen der Sammelwut ihres Mannes, verharrte dort in der Erwartung des einzigen Gastes, der ihr noch willkommen war, dem Tod. Schließlich ertönte doch ein leises Summen und das Tor fuhr geräuschlos zur Seite. Elise legte die kurze Auffahrt zum Haus im Sprint zurück, um nicht noch nasser zu werden, gab sie doch schon jetzt ein klägliches Bild ab. Den Haupteingang des wuchtigen Gründerzeitbaus dominierte ein steinerner, auf nachgemachten ionischen Säulen ruhender Vorbau. Eine überdimensionale Lampe in Form einer Laterne hing an einer rostigen Eisenkette von der Decke herab und schaukelte sanft im Wind.

Sie fror erbärmlich in ihrem zu dünnen, inzwischen völlig durchweichten Kammgarnjackett. Auch die Jeans fühlte sich an, als wäre sie zu heiß gewaschen worden und jetzt mindestens zwei Nummern zu klein. Aus ihren Haaren tropfte das Wasser in den Kragen der Bluse und rann ihr kalt den Rücken hinunter.

Die linke Hälfte der hohen Tür mit den bronzenen, von Grünspan überzogenen Türklopfern in Form von Löwenköpfen öffnete sich, und eine kleine, hagere Gestalt erschien im Türrahmen. Der alte Mann mit den gebeugten Schultern wirkte auf Elise noch kleiner und verhutzelter als bei ihrem ersten Besuch.

»Bitte entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat«, sagte Franz Schmitt. »Soll ich Ihnen ein Handtuch bringen?«, fügte er hinzu mit einem Blick auf die kleine Wasserlache, die sich unter Elises Füßen bildete, kaum dass sie die Eingangshalle betreten hatte.

Seine Stimme war leise, zurückhaltend, die Stimme eines Menschen, der sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als anderen zu dienen.

»Wer war der Mann, der gerade eben das Haus verlassen hat?«

»Frau Winters’ Patensohn.«

»Was wollte er?«

»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, ein Kondolenzbesuch.«

Elise ließ den Blick durch das Rund der Eingangshalle schweifen, die die Höhe von zwei Stockwerken maß. Aus von indirektem Licht beleuchteten Nischen blickten ihr grazile Gestalten aus weißem Marmor entgegen; schlanke Frauen, gehüllt in wallende Gewänder, deren Leichtigkeit man, obwohl in Stein gemeißelt, zu spüren vermochte; athletische Jünglinge, die sich in Pose geworfen hatten, spontan in der Bewegung eingefangen. Ihre versteinerten Blicke ruhten skeptisch auf Elise, als hätten sie Sorge, sie könne den Frieden ihres Tempels stören.

Nein, dieses Haus gehörte ganz und gar der Kunst, ein schützender Schrein für die ungebändigte Gier eines leidenschaftlichen Sammlers, und jeder, der es betrat, musste sich vorkommen wie ein Eindringling.

Sofort nachdem bekannt wurde, dass Winters tot war, begannen hinter den Kulissen gnadenlose Spekulationen darüber, was mit den Kunstwerken werden würde. Druckgrafiken, Gemälde, Schnitzereien. Ein Erbe von nationaler Bedeutung und Experten und Kunstwissenschaftler sahen bereits den drohenden Schatten des Ausverkaufs dieser Sammlung am Horizont aufziehen. Werke von Dürer, Campin, van Eyck, van der Weyden, van der Goes, Bosch und Brueghel, verstreut in alle Winde, verschollen in den Tresoren asiatischer Großkonzerne. Nur eine Person war vielleicht in der Lage, schon jetzt Licht in das Dunkel zu bringen. Doch Luise Winters hüllte sich in Schweigen.

Elise versuchte sich vorzustellen, was der Millionär empfunden haben mochte, wenn er durch die Räume und Hallen dieses Hauses geschritten war, vorbeiflanierend an Kunstwerken, von denen die meisten einen Wert besaßen, der jedes vorstellbare Maß überschritt. Wie ein Usurpator hatte er sich ein Königreich zusammengerafft, über das er ganz allein regierte. Seine Untertanen waren stumm, auf Leinwand und Papier gebannt, in Stein gemeißelt, in Holz geschnitzt, in Gold und Kupfer geprägt. Und es schien, als hätten sie ihm nähergestanden als jeder lebende Mensch auf dieser Welt. Nun war der König tot, die Sammlung verwaist.

Franz Schmitt führte sie durch die große Halle zu einem Paar hoher, zweiflügeliger Türen. Dort, wo keine Teppiche lagen und sie über den teuren, auf Hochglanz polierten Marmor laufen mussten, hallten ihre Schritte im ganzen Haus wider.

Bevor der alte Diener öffnete, drehte er sich kurz zu Elise um, suchte ihren Blick. Für wenige Sekunden standen sie sich stumm gegenüber. Die blutleeren Lippen des alten Mannes öffneten sich langsam, hielten dann aber in der Bewegung inne und schlossen sich wieder, nein, pressten sich aufeinander wie zwei steinerne Platten, um auf immer das zu verschließen, was sich hinter der Öffnung verbarg. Die ihm im Leben zugedachte Rolle war stumm. Und das würde sie bleiben bis zu seinem letzten Atemzug.

Luise Winters saß in einem der zahlreichen kleinen Salons des Hauses. In einem mit Wappen verzierten Kamin brannte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme. Der Raum war wegen seiner Wandtäfelung aus vom Rauch gebeizten Holz sehr dunkel, und lediglich zwei Lampen im Art-déco-Stil mit Schirmen aus opakem Glas erhellten die Dunkelheit, in die sich die einzige Person im Raum, so erschien es Elise, vor der eisigen Ablehnung des Hauses geflüchtet hatte. Auf einer Kommode im Hintergrund thronte, einem Schutzengel gleich, eine riesige Menora, der jüdische siebenarmige Leuchter. Sein dunkles Gold flackerte unruhig im Schein des Kaminfeuers.

Aus einer Hightech-Musikanlage, der einzigen Reminiszenz an die Neuzeit in diesem Raum, ertönte schwere, aus den Tiefen der russischen Seele kommende Musik. Elise überlegte einen Moment. Rimski-Korsakov? Tschaikowski?

Franz Schmitt zog leise die Türen hinter Elise zu.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.« Luise Winters’ dunkle Stimme zerschnitt die fast sakrale Stimmung. Sie saß mit dem Rücken zu Elise, kerzengerade, bewegungslos, wie zur Totenwache. Die mit kostbaren Ringen geschmückte rechte Hand ruhte auf einem schwarzen Ebenholzstock mit kunstvollem Silbergriff. »Und Sie tropfen meinen Teppich nass.«

»Tut mir leid.« Obwohl nicht dazu aufgefordert, machte Elise wenige Schritte in den Salon hinein und umrundete den Sessel, in dem die Witwe saß.

Luise Winters trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, das der alten Frau etwas Nonnenhaftes gab. Das zu einem festen Knoten gebundene graubraune Haar verstärkte den Eindruck von gouvernantenhafter Strenge. »Noch einmal: Was wollen Sie?« Ihre dunklen, sephardischen Augen blickten zu der jungen Frau auf und maßen sie mit unverhohlener Abneigung. Auch in diesem fortgeschrittenen Alter war sie noch immer eine schöne Frau, die ihre einstige dunkle, fast geheimnisvolle Schönheit vor Jahrhunderten aus Russland eingewanderten Juden verdankte. Unruhig tanzten ihre Finger auf dem Stockknauf auf und ab.

»Ich habe noch einige Fragen.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt.« Sie hob abwehrend die freie Hand.

»Sind Sie nicht an der Aufklärung des Todes Ihres Gatten interessiert?«

Luise Winters hob wie in Zeitlupe den Stock an und schlug damit kräftig auf den Boden. Ihre Lippen, die sie fest aufeinanderpresste, zitterten. »Zum letzten Mal, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, Frau Brandt! Und setzen Sie sich! Ich sehe nicht gern zu einem Menschen auf.« Sie wies mit dem Stock auf einen zweiten Sessel, der in gebührendem Abstand zu ihr stand.

Elise glaubte ihr nicht. Luise Winters hätte ihr nicht zu öffnen brauchen. Warum hatte sie es trotzdem getan? »Was hat Ihr Mann in diesem alten, verfallenen Haus getan, in dem wir ihn gefunden haben?«

Die alte Frau sah an ihr vorbei in die Weite des Raumes, als könne sie allein dadurch Elises Anwesenheit ins Reich der Albträume verbannen. Sie trug den Kopf hoch erhoben, eine über Jahrzehnte einstudierte Pose.

»Sagt Ihnen der Name Endres Wolfarth etwas?«

Ein kurzes Aufflackern in den dunklen Augen der Witwe ließ Elise aufmerken. Sie antwortete mit dem Bruchteil einer Sekunde Verzögerung. »Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Zumindest nicht in Zusammenhang mit meinem Mann.«

»In welchem dann?«

»Es gab einmal eine Familie Wolfarth hier in der Stadt, die Stoffe vertrieb. Ich glaube, mein Vater hat mit ihnen Geschäfte gemacht«, antwortete Luise Winters unwillig.

»Was hat Ihr Vater getan?«

Jetzt blickte sie Elise an. »Ist das von Bedeutung?«

»Es interessiert mich.«

Wieder eine kurze Pause, dann antwortete die alte Dame: »Mein Vater hatte vor dem Krieg ein Kaufhaus hier in Köln. Nach dem Krieg gab es das Kaufhaus nicht mehr, ebenso wenig wie ihn selbst. Wissen Sie, Frau Brandt, mein Mann war ein sehr verschlossener Mensch. Er hat mir gegenüber weder von seinen Geschäften noch von seinen anderen Projekten gesprochen. Es hätte mich auch nicht interessiert. Jeder von uns lebte sein eigenes Leben. Das müssten Sie, eine Frau in Ihrem Alter, Ihrer Generation, eigentlich verstehen.« Ihr Blick glitt an ihr hinauf und wieder hinab, wie ein Rastermikroskop, das eine unbekannte Materie untersucht.

»Endres Wolfarth war Mitglied einer Künstlergruppe. Wissen Sie etwas darüber?«

Luise Winters antwortete erneut zögernd. Die liturgischen Gesänge eines russischen Chores schwollen in rhythmischen Wellen langsam ab und erstarben. Die Stille, die sie hinterließen, war angefüllt von Angst und Misstrauen. Die alte Frau in dem Sessel schien Elise plötzlich längst nicht mehr so selbstsicher wie zu Anfang ihres Gespräches. Ihr Gegenüber, das spürte die Kommissarin, war auf der Hut. Es war durchaus möglich, dass die alte Frau sie nur noch einmal ins Haus gelassen hatte, um von ihr zu hören, in welche Richtung ihre Ermittlungen gingen.

»Das alles ist lange her und längst vergessen. Diese ›Künstlergruppe‹ , sie nannten sich sogar die ›Apokalyptiker‹, war nichts anderes als ein zusammengewürfelter Haufen junger, weltfremder Idealisten. Das hat nichts mit meinem Mann zu tun. Und schon gar nichts mit seinem Tod.«

»Er gehörte diesen – wie nannten Sie sie? – Apokalyptikern also nicht an.«

Luise Winters lachte verächtlich auf. »Wenn ich mich richtig erinnere, waren es Leute aus meinen Kreisen. Nein, Frau Brandt, zu ihnen hat mein Mann nie gehört.«

»Und doch wurde seine Leiche in dem Haus gefunden, das vermutlich als Treffpunkt der Gruppe diente, die sich um Wolfarth geschart hatte«, beharrte sie. »In Wolfarths Villa.«

»Vergessen Sie das Ganze, Frau Brandt«, sagte die alte Frau plötzlich. Zum Erstaunen der jungen Beamtin beugte sie sich plötzlich vor und ergriff ihr Handgelenk. »Sie lassen sich auf etwas ein, dem Sie nicht gewachsen sind. Sie sind so jung. Sie können vieles, was hier passiert, nicht verstehen. Lassen Sie meinen Mann ruhen. Ich bitte Sie!« Ihr Griff lockerte sich, erschöpft sank sie nach hinten. »Ich habe Einfluss. Der Fall kann schon morgen abgeschlossen sein. Einer von vielen unzähligen, ungeklärten Todesfällen. Eine Akte, die in einem Schrank verschwindet und bald zu Staub zerfällt.«

Elise konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Steif erhob sie sich. »Ich bin es gewohnt, meine Arbeit bis zum Schluss zu machen«, sagte sie. »Ich werde dafür bezahlt, Verbrechen aufzuklären und Täter zu überführen. Und ich mache meine Arbeit gern und professionell.«

Luise Winters wandte schmerzerfüllt den Kopf zur Seite. »Sie lassen sich auf etwas ein, dem Sie nicht gewachsen sind«, wiederholte sie leise.

»Worauf, Frau Winters? Reden Sie!«

Doch die alte Frau schüttelte nur den Kopf.

»Wer wird das Vermögen und die Kunstsammlungen Ihres Mannes erben?«

Nun umspielte der Hauch eines Lächelns die Lippen der Witwe. »Alles, was Sie hier sehen, gehört mir und meiner Schwester. Und das nicht erst seit dem Tod meines Mannes. Wir sind in diesem Haus geboren. Wir waren hier, lange bevor er es sich angeeignet hat. Alles, außer der Sammlung. Sie wird in eine Stiftung übergehen, die dieses Haus dann auch offiziell zu einem Museum machen wird. Zumindest so lange, bis sich ein geeigneterer Raum dafür findet.« Sie starrte ins Feuer, das sich in den dunklen Pupillen ihrer Augen widerspiegelte. »Die Hugo-Winters-Sammlung.« Sie sprach es mit so viel unverhohlenem Abscheu aus, dass Elise eine Gänsehaut über den Rücken lief. »Die Sammlungen meines Mannes sind von nationaler Bedeutung, glauben Sie mir, Frau Brandt.« Plötzlich kehrte wieder Leben in den kraftlosen Körper der alten Frau zurück. »Ich kenne ein Dutzend Kuratoren, die für diese Sammlung einen Mord begehen würden.« Ihre Stimme hatte sich zu einem leisen Flüstern gesenkt, dem nun ein raues Lachen voller Bosheit folgte.

»Ich würde mir gern noch einmal das Arbeitszimmer Ihres Mannes ansehen.«

»Bitte. Sie werden nicht mehr finden als beim ersten Mal.«

Elise hatte das so genannte Arbeitszimmer, einen länglichen Raum, dessen Wände bis an die Decke zugestellt waren mit hohen Bücherregalen, noch genau vor Augen. Gearbeitet hatte Winters dort nicht. Die Schubladen des wuchtigen Schreibtisches waren fast leer gewesen, die polierte Tischplatte von einer Staubschicht bedeckt. Nur eines hatte darauf gelegen, eine Biografie Albrecht Dürers, vor einigen Jahren als Übersetzung aus dem Französischen in einem namhaften Kölner Buchverlag erschienen. Es wirkte seltsam verloren auf dem leeren Schreibtisch. Wann und warum hatte Hugo Winters es aus dem Regal genommen? Den Einband zierte Dürers Selbstporträt von 1500, das heute in der Alten Pinakothek in München hängt. Eines der bedeutendsten Meisterwerke der Kunstgeschichte. Das Porträt eines Mannes, ebenso eitel und anmaßend wie rätselhaft. Ein Gemälde, das weit über die bloße Darstellung eines Menschen hinausging. Ein Jahrhundert forschten Kunstgelehrte vergeblich, bis sie das zugrunde liegende beziehungsreiche Bildgerüst fanden und darauf aufbauend die geistesgeschichtlichen Hintergründe zu deuten vermochten. Er, der in seinen theoretischen Schriften im Bild Christi das Abbild des vollkommenen Menschen sah, verband die sakrale, dem Christusbild zugeordnete Form mit dem eigenen Antlitz. Ein ungeheurer Vorgang, an der Schwelle zur Neuzeit. Ein Porträt, gemalt mit dem Formgerüst des Mittelalters, das das Idealbild des neuen, universalen Menschen zeigt, wie es dem Maler vorschwebte.

Auf dem dunklen Hintergrund prangten in leuchtendem Rot zwei ineinander verschlungene Initialen: A und D, die wohl bekanntesten Initialen der Kunstgeschichte. Ein Geniestreich des Meisters, in einer Zeit, in der Begriffe wie Public Relations und Wiedererkennungswert noch nicht existiert hatten.

Sie las die Namen der beiden Autoren: Marcel Weidenmann und Avide St. Cyr.

Dieses Buch hatte eine Bedeutung, davon war Elise überzeugt. Seine so verloren wirkende Präsenz schrie es ihr förmlich entgegen. Ein weiteres Geheimnis im Leben dieses Mannes.

»Bitte gehen Sie«, sagte Luise Winters ungeduldig. »Ich erwarte meinen Arzt. Es geht mir nicht gut.«

Bevor Elise den kleinen Salon verließ, warf sie noch einmal einen Blick auf die alte Frau in dem dunklen Zimmer, entrückt von der Welt, eine Gefangene ihrer selbst.

5

Nürnberg 1528

Ein mildes Lächeln, ein matter Abglanz seiner einstigen Fröhlichkeit, umspielt die rissigen Lippen, denen der Körper schon längst die Feuchtigkeit entzogen hat, in dem verzweifelten Versuch, das Feuer, das in seinem Inneren lodert, zu löschen. Agnes tritt an sein Bett und legt ihm ein kühlendes Tuch auf die Stirn.

Er seufzt leise. Er sieht ihr Gesicht, die ihm so vertrauten Züge, verzerrt wie durch ein Prisma, ihre traurigen Augen, rotgerändert und glänzend, und es dauert ihn, sie so zu sehen. Eine unbestimmte Angst bricht kurzzeitig wieder hervor. War er ihr ein guter Mann gewesen? Ihr, der Tochter aus gutem, aus bestem Hause? Hatte sie nicht etwas Besseres verdient als einen Handwerker, der zeit seines Lebens nur eine einzige wirkliche Leidenschaft kannte – die Kunst?

Sicher, er lässt sie nicht als arme Frau zurück. Sein Haus ist angesehen, er selbst für seine Verhältnisse wohlhabend zu nennen. Und das alles nicht ererbt, wie die direkten Vorfahren seiner Frau, sondern erarbeitet, mit niemals ruhenden Händen und einem sensiblen Geist und dem Gespür für das Kommende.

Er lächelt und denkt an die Jahre seiner Kindheit zurück, geprägt von den engen Gassen seiner Stadt Nürnberg zwischen Pate Kobergers Druckerei und dem Haus des Vaters, und vor seinem geistigen Auge erstehen Bilder aus längst vergangenen Tagen; er sieht die kleine, dunkle Werkstatt, riecht die staubige, von winzig kleinen Partikeln glitzernden Goldes durchsprengte Luft.

Mit nachsichtigem Lächeln sieht der Alte zu seinem Sprössling hinüber, der zwischen den Arbeitstischen, an denen stumm und arbeitsam die Gesellen hocken, herumspringt. Vaters Werkstatt ist ihm das Liebste. Die andächtige Stimmung während der Arbeit, fast wie in einer Kapelle, die leisen Geräusche beim Bearbeiten der edlen Metalle, ziehen ihn magisch an. Und der Vater sieht es nicht ungern, wenn der kleine Albrecht sich von der Mutter fortstiehlt und zu ihm kommt. Ein seltenes Lächeln erhellt seine Züge. Arbeit ist sein Leben – und die ständige Sorge um Barbara und die Kinder, die ein ums andere Jahr geboren werden, und keines ist kräftig und gesund. Da mag er noch so oft den Herrn anrufen und Kerzen in St. Sebald entzünden.

Manchmal, in einer seltenen stillen Minute, denkt er an seine eigenen Jugendjahre zurück, an jenes kleine Dorf Ajtos in Ungarn, südlich von Großwardein im Bekeser Kombinat. Später, lange nachdem er zum Herrn gegangen ist, im Jahr 1566, werden die Türken das Dorf dem Erdboden gleichmachen.