Israel, um Himmels willen, Israel

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Inhaltsverzeichnis

Die Erstausgabe dieses Buches erschien im Herbst 1991, also vor elf Jahren. Aber die Aktualität des zentralen Themas – der Nahostkonflikt zwischen Arabern und Israelis – hat sich inzwischen angesichts seiner blutigen Eskalation eher noch erhöht. Was umso bestürzender ist, als die Verhandlungen von Madrid und Oslo 1991/92 sowie die Verleihung des Friedensnobelpreises an Jitzchak Rabin, Shimon Peres und Jassir Arafat 1994 eine Zwischenphase bescherten, die mit dem Codewort »Friedensprozess« zu berechtigtem Aufatmen führte – inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verflogene Hoffnungen.

Jitzchak Rabin, Israels Premier, wurde von einem Juden ermordet, der Palästinenserführer durch islamistische Fanatiker so gut wie entmachtet, während der Judenstaat seit der zweiten Intifada von einer ganz neuen Form kollektiver Furchtverbreitung heimgesucht wird – den islamistischen Selbstmordattentaten der »lebenden Bomben«.

Das Buch verteilt keine Lösungsrezepte, vielmehr war sein Autor bemüht, beiden Seiten zuzuhören – fußend auf der Unteilbarkeit der Menschenrechte, dem einzigen Standpunkt, der zu schließlichem Frieden führen kann. Das Werk definiert ein damals wie heute konstantes Verhältnis zu dem kleinen Mutterland: meine Liebe zu Israel, meine Sorge um Israel, meine Kritik an Israel. Ein Freibrief für falsche Bundesgenossen ist letztere nicht. Ich akzeptiere niemandes Kritik an Israel, der mir nicht nachgewiesen hat, was ihm die Menschenrechte und ihre Unteilbarkeit wert sind – Credo eines Rasters, durch das schon mancher Jude, Christ und Muslim gefallen ist.

Hinter allem aber hocken, heute wie damals, jene untrennbar miteinander verschweißte Angst und Hoffnung, deren Ungewissheiten mich, fürchte ich, bis an mein Ende begleiten werden, und die sich aufschreiartig in den fünf Worten des Buchtitels brechen:

»Israel, um Himmels willen, Israel«

 

Köln, im Juli 2002

Ralph Giordano

Das östliche Mittelmeer liegt flach wie ein Spiegel da. Nur der griechische Seelenverkäufer, die »Silver Paloma«, zu dessen Bug ich mich über allerlei Gerümpel vorgearbeitet habe, krängt deutlich nach Steuerbord.

Zyperns lang gestreckte Silhouette ist längst am westlichen Horizont verschwunden. An Backbord, unsichtbar, irgendwo die Küste des Libanon. Im Osten nichts als Nacht über dem Wasser, das vom Bug rauschend zerteilt wird.

Ich warte an der Reling, viel zu früh, denn es wird noch Stunden dauern, bis die Dunkelheit weicht und das Land zu sehen sein wird. Aber um alles in der Welt will ich die Sekunde nicht versäumen, wenn es auftauchen wird, und deshalb stehe ich hier wie angenagelt.

Ein Newcomer kommt da nicht – als Fernsehautor war ich bereits fünfmal in Israel, mit Kameramann, Assistent und Toningenieur. Diesmal aber bin ich ganz auf mich gestellt, und so stehe ich denn mutterseelenallein an Deck des dreißigjährigen Mittelmeerveteranen, der schwerfällig und dröhnend dahinpflügt. Und während ich sonst jedes Mal auf dem Luftweg gereist war, steht im Schiffsbauch, vollständig verdeckt von einer mammuthaften Phalanx zypriotischer Lastwagen, mein alter Ford Granada. Der Verlag hat mich zwar mit bemerkenswerten Konditionen bedacht, aber um in Israel über Monate hin einen Leihwagen zu mieten, müsste man über die Finanzkraft eines Ölpotentaten verfügen.

Wie seinerzeit im Jet am Himmel, so erwarte ich jetzt auf der »Silver Paloma« den Augenblick, an dem die Küste auftauchen wird, warte ich klopfenden Herzens, ob sich auch diesmal wieder meine Empfindungen in jenem inneren Aufschrei Luft machen würden, der sich seit der ersten Ankunft bisher jedes Mal artikuliert hatte.

Alle Nachrichten auf der langen Anreise über Brindisi, Patras, Athen, Rhodos und Zypern waren schlecht: Die Gewalt

Inzwischen, sechs Uhr früh, ist es hell geworden, die See liegt ruhig da wie auf der ganzen zweieinhalbtägigen Fahrt von Piräus aus. Endlich, gegen sieben, verformt sich der Horizont, verliert sich allmählich seine Glattheit, schwindet sacht die dunstige Symmetrie im Osten, wachsen Küste, Bauten, Berge auf, kommen näher und verdichten sich zu den Konturen einer Stadt ganz in Weiß – Haifa.

Und da ist es wieder, das, wovor ich mich gefürchtet, was ich mit Beklemmung erwartet habe …

Als ich das erste Mal nach Israel kam, im Dezember 1967, konnte der Judenstaat drei Siege feiern – den im Unabhängigkeitskrieg von 1948/49, den beim Sinaifeldzug von 1956 und den im Sechstagekrieg elf Jahre später. Bis zu meinem letzten Aufenthalt, 1976, war dann noch der Triumph im Jom-Kippur-Krieg dazugekommen.

Immer aber habe ich dieses Land betreten mit jener allgegenwärtigen, sengenden Frage, die sich wie von allein stellt und die längst zu meinem zentralen Daseinsproblem geworden ist, die Frage, die auch jetzt, bei dieser Ankunft, wieder da ist, genau wie früher, und die auch dieses Mal, wie eh und je, auf mich einhämmert: Was wäre geschehen, wenn die Araber nur einmal, ein einziges Mal nur, gesiegt hätten? Was, wenn sie im nächsten Krieg siegen würden?

Und wieder, wie schon fünfmal zuvor, höre ich, der nicht an ein höheres Wesen glaubt, weder an den Ewigen, Jahwe, noch an den Allgütigen und Allmächtigen der Christen, noch an irgendeine andere göttliche Projektion seiner selbst, die der Mensch ans Jenseits heftet, wieder höre ich jetzt meine Angst und meine Liebe gebündelt in dem tonlosen Aufschrei:

Israel, um Himmels willen, Israel!

Zwischen Hurva und Damaskustor

Mischkenot Scha’ananim.

Vorgewarnt, dass dies die schönste Wohnstätte Israels sei, betrete ich mein Appartement im lang gestreckten Gästehaus der Stadt, stoße die Tür zur Terrasse auf, nach Osten, und da liegt es vor mir – das alte Jerusalem! Goldene Vormittagssonne auf der ottomanischen Mauer, ein Ausschnitt wie aus einem Gemälde; links, die Straße von Hebron hoch, das Jaffator; rechts davor ragt der Turm der David-Zitadelle empor; vor mir Mount Zion; und südlich davon, mit unbeschränktem Blick hinweg über die Senke des Toten Meeres und Judäas Wüste, dolomitrötlich – die Berge Moabs, Jordanien schon, der Nachbar.

Welch eine Bleibe! Ich hatte Teddy Kollek, Jerusalems Bürgermeister, um Wohnung gebeten, hier, in seiner Stadt, und nicht in Tel Aviv, aus so mancher Erfahrung dort bei meinen fünf Aufenthalten in Israel als Fernsehmann zwischen 1967 und 1976, und Kollek schrieb mir rasch zurück. Wen immer ich in Deutschland über die Adresse informierte, die Folge war höchstes Entzücken: »Mischkenot Scha’ananim!«

Aber jetzt hält es mich nicht mehr, ich muss hier heraus und drüben durch die Tore hinein. Und so mache ich mich, Sir Moses Montefiores Windmühle im Rücken, auf und davon, die Treppen des gediegenen Künstlerviertels Yemin Moshe nebenan hinab, eile weiter durch das Hinnom-, das Teufelstal, vorbei an den Ruinen eines römischen Amphitheaters, und gelange auf die Hativat Jeruschalajim. Auf dieser großen Verkehrsader geht es hoch zum Jaffator.

Tauben fliegen in der Luft, über die Zinnen des Tors hinaus ragt eine Baumkrone, struppig und zerzaust. Ich kann die Mauer anfassen, tue es, drehe mich um. Drüben, im Westen, das neue Jerusalem, mit seinen Pylonen aus Beton, Stahl und Glas, endlos gedehnt, und doch an diesem Standort beherrscht vom nahen Hotel »King David« – sein mächtiges Rechteck

Die Luft des Märzmorgens ist aus Samt und Seide; drüben im Tal steigt ein Drachen hoch, wie ein Zitterrochen, der sich in ein fremdes Element verirrt hat; der Himmel ist blau, von verstreuten Wolkenfächern bedeckt, eine unwirkliche Atmosphäre. Aber gleich zu Beginn spüre ich wieder: In diesem Land hockt neben jeder Poesie – Hiob …

Durch das beleuchtete Tor auf die orientalische Suk-El-Bazaar Road. Arabische Mütter, die Hühner kaufen; Wassermelonen von erschreckender Größe; duftendes Sesambrot zuhauf. Jugendliche, die das abschüssige Terrain auf ihre Weise überlisten: An ihren hochbeladenen Karren haben sie einen Reifen gebunden, auf den sie treten, wenn das Tempo die abgewetzten Steine bergab zu schnell wird. Ein junger Moslem beugt sich über eine Hand und küsst sie – uralte Geste: Hat der Ahn sie überhaupt wahrgenommen? Vor tausend Jahren geboren und doch aufrecht, geht der Patriarch davon, eine einzige Hoheit und Würde.

Weiter in die El Wad Road. Blinde werden geführt oder ertasten sich mit einem Bambusstock selbst den Weg. Dauergeschrei, gellendes Anpreisen der Waren, und über allem der ständige Ruf: »Schekel, Schekel, Schekel!« Ein Schmied hämmert auf glühendes Eisen ein; Töpfe türmen sich; die blutige Demonstration orientalischer Fleischerläden; plötzlich der Ruf des Muezzins, scheppernd aus Lautsprechern. Das gebündelte Parfüm von Feigen, Datteln, Aprikosen und Gewürzpulvern, scharf abgelöst vom stechenden Geruch der Fischstände. Dahinter das grellbunte Potpourri gehäufter Süßigkeiten, bei deren Anblick auch das gesündeste Gebiss schmerzen muss.

In einer Seitenstraße des Muslimviertels finde ich eine Stelle, wo ich mich hinsetzen kann. Etwas erhöht, wird der Blick auf entfernter liegende Häuser frei – ein Wald von

Endlich am Damaskustor.

Dort greift mich ein Honighändler, erkennt mich an meinem europäischen Habitus, will mir jedoch nichts von seinem goldenen Seim andrehen, sondern mich zum Muslim bekehren. Er ist Vater von zwei Kindern, im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit (weshalb ich stumm zuzuhören habe) und heißt Mohammed. Er ist von Himmel und Hölle überzeugt, wie auch davon, dass jeder, der einen anderen tötet, kein wahrer Muslim sei und das Paradies nicht erleben werde. Mein schüchterner Hinweis auf den Dschihad, den Heiligen Krieg, kann Mohammed nicht wankend machen – inbrünstig wiederholt er das Tötungstabu. Seine Augen glühen, wenn er vom Koran und vom Islam spricht, blicken aber gleichzeitig freundlich. Berührungsängste hat er nicht, dauernd tatscht er mir mit den Händen gegen das Knie und wiederholt immer wieder: »I will tell you something …« Er möchte mir beweisen, dass das Leben in Europa und Amerika schlecht sei und dass man nur als Moslem gut leben könne in der Welt. Die Bibel sei unzählige Male umgeschrieben worden, im Gegensatz zum Koran, der unverändert geblieben sei – darauf kommt er mehrfach zurück.

Zwischendurch treten Leute heran, fragen nach dem Preis des Honigs, öffnen die Deckel, stecken ihre Finger ins Goldgelbe, lecken sie ab, mal nach dieser, mal nach jener Probe, und manche kaufen auch. Mohammed lässt sich nicht ablenken, wirft ein paar arabische Brocken hin, ohne unser Gespräch, besser seinen Monolog, wirklich zu unterbrechen. Bei aller Konzilianz, so kommt zum Vorschein, entbehrt seine missionarische Überzeugungswut nicht eines gewissen Fanatismus. Mein Geständnis, dass ich Jude sei, wenn auch kein religiöser, beeindruckt ihn nicht: So mancher Ungläubige, beharrt Mohammed, sei schon bekehrt worden. Mein Einwand, dass ich an keinen Gott glaube, weder an den der Christen noch an Jahwe, noch an Allah, geht über sein Begriffsvermögen – er lächelt verständnislos. Ich gebe ihm die Hand, entkomme, von Segenswünschen geleitet – und hatte, unerwartet, mein erstes Gespräch mit einem Palästinenser auf dieser Reise.

In Mischkenot Scha’ananim zurück, nehme ich ein Päckchen aus Deutschland in Empfang. Darauf ein roter Zettel: »Be careful, dear citizen, for your security«. Aber es war keine Briefbombe darin.

In der Nacht grollt über Jerusalem ein ausgiebiges Gewitter. Der Regen platscht und klatscht auf das lang gestreckte Terrassendach des Gästehauses. Aber das Trommeln wird noch übertönt von einem Geräusch, das zwar auch tagsüber unüberhörbar ist, das nun jedoch immer aufdringlicher wird – der Lärm von Motoren! Und der hält bis morgens an.

Zerschlagen erhebe ich mich, stoße die leicht klemmende Tür zur Terrasse auf und schaue auf das unbeschreibliche Panorama da drüben. Mischkenot Scha’ananim, es wird in Israel keinen schöneren Platz geben als dich! Aber wie nur soll ich die Nächte überleben?

 

Ich gehe durch das Ziontor, biege nach rechts ein in die Batei Mahasse Street und bin nach einigen Hundert Metern in einer völlig anderen Welt als der muslimisch-orientalischen – ich bin im Jüdischen Viertel. Es erstreckt sich entlang der südlichen und dann der östlichen Mauer nach Norden hoch, gegen den Tempelberg.

Licht ist das Jewish Quarter, sehr licht, durch den hellen Stein, aus dem hier alles errichtet und der nach dieser Stadt benannt worden ist – Jerusalemstein, rosa, bernsteinfarben, changierend im Wechsel der Tageszeiten und des Sonnenstandes: auf uraltem Boden Neubauten, erst in den letzten Jahrzehnten, seit 1970, entstanden. Bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 war hier jordanisches Hoheitsgebiet gewesen.

Ich setze mich am Eingang der Ha Yehudim, der Jewish Quarter Road, auf die Treppe gegenüber einem Restaurant, neben dem ein Polizeiposten liegt: Uniformen, Waffenträger neben ungerührt eisschleckenden Menschen – an den Gegensatz muss ich mich erst gewöhnen. Links Palmen, ein Minarett und

Die Hurva war die erste Synagoge Jerusalems gewesen, die allein im Freien stand, ein kolossales Gebäude, gedrungen, klotzig, wie für die Ewigkeit hingestellt. Und nun nichts als die Ästhetik dieses gleichsam schwerelosen Bogens, dessen Anblick ans Herz greift.

Aus seiner Richtung kommen Stimmen, Gesang, Musik, Jubel – dort hat sich eine größere Menschenmenge angesammelt, Frauen und Männer, viele von ihnen in schwarzer Tracht und mit schwarzem Hut. Es wird in die Hände geklatscht – ein freudiges Ereignis scheint bevorzustehen. Das spielt sich auf zwei Ebenen ab: hier oben, auf der Höhe des Bogens, wo Tische mit Süßigkeiten, Früchten, Datteln und Feigen aufgebaut sind, und auf einem tiefer gelegenen Terrain daneben. In dessen Mitte eine Art Baldachin, graublauer Samt, oben der Davidstern; dazu ein Mann mit drei Fahnen.

Dort lassen sich jetzt Soldaten nieder, spielen Kinder unberührt von den Zeremonien, die Knaben mit der Kippa auf den Köpfchen. Eingekeilt von zuschauenden, mitsingenden Passanten, sitze ich auf einem schmalen Mauersims, von dem aus ich in beide Ebenen Einblick habe. Die Sonne steht halb zwischen Zenit und Horizont, der von den Häusern des Jüdischen Viertels gebildet wird. Es weht ein leichter Wind.

Hier oben spielt ein Gitarrist, lächelnd, hingerissen von den

Dann kommt die Braut, eine stattliche Frau, kein junges Mädchen mehr. Mit einem Blumenstrauß in der Hand, wird sie langsam geleitet zu den Stufen des kleinen Podests, geht mit ihren beiden Begleiterinnen um den Bräutigam herum, der auch groß ist, von ihr aber noch um Haupteslänge überragt wird. Wein wird in einen silbernen Kelch gegossen, er trinkt, steckt ihr den Ring an den Finger, zertritt das Glas unter dem Lächeln der Braut – hübsch, sehr hübsch sieht sie aus.

Rabbiner kommen hoch, greifen zum Mikrofon, der Verstärker dröhnt ihren Gesang heraus. Die Braut, den Schleier jetzt nach hinten, das Gesicht frei, bekommt eine zweireihige Kette um den Hals gelegt. Die Szene ist von feierlicher Unbefangenheit. Alle singen, klatschen und verlaufen sich nur langsam, wie widerwillig, nach dem Ende der Trauung.

Die Sonne steht dicht über den Dächern des Jüdischen Viertels, ich hocke auf der Mauer, kann mich an dem Bogen der Hurva nicht sattsehen und nicht daran, dass gleich daneben das Minarett aufragt, sehr nahe und so, als hätte es zwischen Juden und Moslems nie etwas anderes als Frieden gegeben.

 

Wer durch diese Straßen geht, der steigt hinab in 3000 Jahre geschriebene und von Menschenhand in Stein gehauene Geschichte. Ausgrabungen, versehen mit Schildern wie »Jerusalem in the first temple period«, womit man im Jahr 1000 vor unserer

Dann Babylon, Nebukadnezar, 586 v.u.Z., nach jüdischer Zeitrechnung 3175 – das Jahr der Zerstörung des ersten Tempels. Die Reste eines Turms, der beim Fall Jerusalems niedergerissen wurde, stehen noch und sind zu besichtigen. Da muten römische Baurelikte fast wie Zeugen von gestern an, etwa die sorgfältig restaurierten Quader, Säulen und Kolonnaden des byzantinischen Geschäfts- und Ladenviertels Cardo aus dem sechsten Jahrhundert – vom Zeitalter der Kreuzfahrer zu Beginn unseres, des zweiten Jahrtausends gar nicht zu reden.

Ich kann mich nicht sattsehen an den behauenen und unbehauenen Felsbrocken, auf die die Sonne nach Äonen der Finsternis unter der Erde nun wieder brennt – die hasmonäische Mauer, weiß man heute, war 4,65 Meter dick.

Die Geschichte baut von unten nach oben, verplombt sich, wartet auf den Kuss der Wiedererweckung.

Ebenfalls von gestern, aber viel jünger, die Synagoge »Tiferet Israel« (»Ruhm Israels«), Zentrum »for most Chassidim who lived in the walled city«, wie dort angeschlagen steht. Ein Bau, der 5603 – das ist 1863 – errichtet und 1948 nach einer der schwersten Schlachten um Jerusalem von den Arabern in einen

Als ich hochgucke von meinem Standort in der Plugat Hakotel Road, sehe ich drüben, über den archäologischen Abgrund hinweg, einen Jungen, etwa fünf Jahre alt, mit Peies, den geringelten Löckchen, an den Schläfen und einer Pistole in der Hand. Er zielt auf mich – und drückt ab. Aber der Wasserstrahl erreicht mich nicht.

Es gibt ganz versteckte, verschwiegene Winkel im Jüdischen Viertel von Jerusalem, eine Architektur, die mich an maurische Bauweisen erinnert. Schmale Gänge, Höfe, Treppen auf und ab, verschachtelte Quartiere, überall Vegetation, Bäume, aus denen zu Zeiten so lautes Vogelgezeter erschallt, dass man sich die Ohren zuhalten möchte; Büsche, auch Stacheliges, Kakteen; Blumen hinter schmiedeeisernen Gittern; Grün, das aus der Erde herauswächst und an den Mauern.

Ein Kinderspielplatz, kleine Mädchen und Jungen, die Kippa auf den Köpfchen. Ein Knabe läuft weg, sichtlich böse, wird aber zurückgeholt von dem jungen Mann, der die Aufsicht hat. Ein Kreis schließt sich um die beiden, der Fall wird besprochen. Dann stiebt die Schar wieder auseinander, springt über Taue, fegt Rutschen herab, hantelt an Balken – ein Bild des Friedens.

Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber die Laternen haben schon ihr Licht entzündet.

Ich stehe da und prügle innerlich auf mich ein, kann mich aber der Gedanken nicht erwehren, die mir stets bei solchem Anblick kommen: So haben jüdische Kinder überall gespielt, gelacht, gejubelt, sich gefreut – und am nächsten Tag schon waren sie und ihre Eltern nicht mehr am Leben.

»Schabbat Schalom«, begrüßen sich zwei Männer in dunklen Anzügen und schwarzen Hüten, gehen auf die tobende Schar zu und greifen sich ihre Sprösslinge heraus.

Aus dem moslemischen Viertel schallt die Stimme des Muezzins herüber, fliegt über die Dächer des Ha-Rova Ha-Yehudi, wie das Jüdische Viertel auf Hebräisch heißt, und verliert sich über die Mauer nach Süden.

Alle Erwachsenen sind schwarz gekleidet und tragen schwarze Hüte. Ein dicker Vater trägt einen in Kissen gehüllten Säugling auf dem Arm, seine Frau schiebt einen Kinderwagen über den Platz, umtanzt von kleinen Jungen mit der Kippa. Es erscheinen drei Männer mit langen, ausgefransten Bärten, Bücher untergeklemmt, parlierend. Einer von ihnen bückt sich, reißt eine Pflanze aus dem Boden, sagt auf Englisch: »Das wächst hier in der Stadt, ohne Wettbewerb – riech mal! Hast du so etwas schon je gerochen?« Mag sein, denke ich, dass es irgendwo in Israel oder sonst wo auf der Welt einen Platz gibt, der noch unverwechselbarer jüdisch ist als dieser – ich jedenfalls kenne keinen.

Vom Ziontor aus sind Moabs Berge im Abendsonnenschein so klar zu erkennen, als erhöben sie sich gleich hinter der Stadt. Dabei beträgt die Entfernung, über die gewaltige Senke des Toten Meeres hinweg, in Luftlinie mehr als dreißig Kilometer.

Ich schaue über das Hinnomtal zu der stummen, unbeweglichen Windmühle von Sir Moses Montefiore. Plötzlich hinter, neben mir Stimmen. Eine Schulklasse, Jungen, Sieben-, Achtjährige, lachend, scherzend, fluchend. Der Lehrer als Letzter – mit Gewehr.

Als ich nach Mischkenot Scha’ananim zurückkehre, sitzen auf der Treppe dem Gästehaus gegenüber zwei zauberhafte Teenager, Schmelz der Jugend, ein Junge und ein Mädchen – malend: das alte Jerusalem, wie sie es von hier sehen. Sie kommen, wie ich auf meine Frage hin erfahre, aus der Sowjetunion und leben seit einem Jahr hier. Sie blicken auf, zurückhaltend und doch sprechbereit, tastend, witternd, schmetterlingshafte Erscheinungen. Ob sie glücklich seien? Da nicken sie beide heftig mit dem Kopf, sagen »Da! Da!« und verbessern das russische Ja dann schnell ins israelische »Ken! Ken!«.

Über die Maalot Rabbi Yehuda Ha-Levy im Jüdischen Viertel hinunter zur Klagemauer.

Hier war ich zuletzt vor zwanzig Jahren gewesen, im Juni 1971, als ich einen Fernsehfilm über Soldaten in aller Welt drehte. Das Team hatte Quartier bezogen in Tel Aviv, und wir waren nach Jerusalem gefahren, weil an dieser symbolischen Stätte eine feierliche Vereidigung stattfinden sollte. Sie dauerte bis spät nach Mitternacht, und ich erinnere mich nicht, in meinem Leben je so gefroren zu haben wie damals vor der Klagemauer. In Tel Aviv hatte brütende Hitze geherrscht, und ich war im Hemd geblieben. Jerusalem aber liegt 800 Meter hoch, und nachts wird es, auch im Sommer, empfindlich kühl.

Die freie Fläche vor den rechteckigen Quadern, die sich übereinandertürmen: Teil der westlichen Grundmauer des Tempels, den König Herodes auf dem Berg Moriah hatte errichten lassen (deshalb auch western wall genannt). Nachdem Titus, später römischer Kaiser, im Jahr 70 das größte jüdische Heiligtum zerstört hatte, kamen die Besiegten zu den Trümmern, um ihr Schicksal zu beklagen. Und wenn es in den Jahrtausenden der Diaspora, der Zerstreuung der Juden über die ganze Erde, hieß: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«, so war dabei vor allem an die Klagemauer gedacht. Bis zur Einnahme Ostjerusalems durch die israelische Armee 1967 ohne Zugang zu der heiligen Stätte, stürzten gleich hinter den Panzern Tausende von Juden hierher, Bilder von unvergesslicher Inbrunst. An ihr hat sich nichts geändert.

Ich setze die meine auf und nähere mich der Mauer – gewaltige Steine, an der Seitenfläche oft unbehauen, das Ganze porös, zernagt von Licht und Luft und von der Zeit, hoch aufragend, wie eine aufgeschnittene Geologie. Es ist genau erkennbar, wo eine neue Steinlage aufgesetzt wurde. Aber das geht nicht nur aufwärts, das steigt auch tief hinab in die Erde. Ich hatte da hineingeschaut, in die soeben aufgedeckten Eingeweide der Klagemauer, damals, im Dezember 1967, ein halbes Jahr nach der Einnahme Jerusalems, während meines ersten Aufenthalts in Israel. Nach 1900 Jahren fremder Verfügungsgewalt waren Archäologen noch in den Schwaden der Panzerabgase der Truppe auf dem Fuß gefolgt, hatten gegraben und bloßgelegt, und da hatte ich sie gesehen – die Tempelfundamente, die Wurzeln Israels, ungeheure Quader aus einem Felsstück, bei deren atemverschlagendem Anblick man sich fragt, wie ein nur auf Muskelkraft angewiesenes Zeitalter sie dorthin transportieren konnte!

Nun an der Mauer.

Ein Vater hebt sein Kind auf den Arm, drückt es sanft gegen den Stein, lange und mit geschlossenen Augen. Ein anderer Israeli, etwa dreißig Jahre alt, hat die Wange an die Wand

Die Ritzen der Mauer sind vollgepfropft, übersät mit kleinen Zetteln – Botschaften, Bittschriften, Hilfeschreie an Jahwe den Ewigen.

An der metallenen Scheidewand zwischen den Sektoren drängen sich Männer und Frauen, auf die Brüstung gelehnt, gestikulierend.

Ich verlasse den Platz, trete zurück. Tauben nisten in Lücken und kleinen Höhlen der Klagemauer, fliegen auf, kommen zurück, aufgeregt und doch vertrauensvoll – nie wurde ihnen hier auch nur eine Feder gekrümmt.

Darüber, auf dem Tempelberg, der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee. Aber das Tor dahin, oben rechts, ist geschlossen.

Gerade als ich gehen will, zurück in die versteckten und verschwiegenen Winkel des Jüdischen Viertels, sehe ich die »Miami-Leute« auf die Klagemauer zukommen – und kehre um.

 

Ich war ihnen schon auf dem Weg hierher begegnet, auf dem Areal zwischen der Stadtmauer und der Batei Mahasse Street: etwa hundert Männer und Frauen mit Schildern und Transparenten, auf denen immer wieder das Wort »Miami« auftauchte und die Versicherung: »Israel, we are with you« – Juden aus den USA.

Die Menge war in Blau gekleidet, sie sang, klatschte in die Hände, wiegte sich rhythmisch, das Gesicht der Stadtmauer zugewandt. Dort standen, auf einem Podest erhöht, Soldaten, keine Bewacher, sondern Teilnehmer. Über allem ein Transparent: »One people – one desire« (»Ein Volk – ein Begehren«). Und dann erklang aus einer Musikbox, aber von allen mitgesungen, die wunderbare Melodie des Jeruschalajim-Lieds. Die

Einer von ihnen sagte es: Hier hätten immer Juden gelebt, hier hätten sie gelitten, Sorgen gehabt und Tränen vergossen, des Leids und der Freude. Der Mann sprach ein gutturales Englisch, unbefangen und unprätentiös, auch wenn er von der Heiligkeit Jerusalems redete – da war kein falsches Timbre. Die Blauen hörten zu, man spürte ihre Ergriffenheit, sie hielten Schilder hoch – »Miami loves Israel« –, und einige weinten.

Dennoch wirkten die Amerikaner in ihrer lässigen Kleidung und in ihrem touristischen Habitus fast schmerzhaft unterschieden von den vielen Zuschauern, die sich aus dem Jewish Quarter eingefunden hatten – in Schwarz, mit Bärten, hochgeschlossen trotz der schon spürbaren Hitze, Pelzmützen oder Hüte auf dem Kopf, schweigend, ohne eine Empfindung zu äußern, fremdartig gegenüber den bunten, zwanglosen, leicht bekleideten Besuchern. Ich habe diesen Gegensatz ganz stark gespürt.

Nun kommen die Miami-Leute hier herunter, setzen die Kippa auf und gehen über den Platz zum western wall, dem Hakotel Hama’aravi. Einige von ihnen greifen in die Tasche, holen Zettel heraus, stopfen sie in die Ritzen zwischen den Riesenblöcken, Botschaften an den Ewigen, recken sich dabei hoch. Ihre blauen Jacken wehen. Vier von ihnen halten die israelische Fahne hoch, jeder mit einer Hand am Schaft. Dann gehen sie auf die Mauer zu. Einer von ihnen lehnt sich mit dem linken Arm gegen die Wand, neben ihm drückt ein Orthodoxer – schwarze Schuhe, weiße Strümpfe, schwarzer Mantel, Hut – seine Wange gegen die Wand, verbeugt sich unzählige Male und küsst die Mauer dann wieder und wieder. Da stellen die Blauen die Fahne ab und pressen ihre Lippen ebenfalls auf den Stein, wiegen sich, wie der Orthodoxe, murmeln, beten, werden Teil der Szene. Neben ihnen, die Augen geschlossen, ein Soldat mit herunterhängender Waffe. Plötzlich ist der Wall besetzt von

Es ist ein Wind aufgekommen, ich muss meine Kippa festhalten, dass sie mir nicht vom Kopf weht.

Die Männer aus Miami stehen jetzt zusammen, bilden einen Kreis, singen – viele, wie herauszuhören ist, auf Iwrith, Neuhebräisch –, schwenken die Fahne Israels, tanzen. Dann, auf einmal, sind ihre Reihen durchsetzt mit den Schwarzen, denen mit Bart und Pelzmützen, den Chassidim oder anderen Orthodoxen. Sie alle zusammen schaukeln hin und her, einmal in die Richtung, dann in die andere. Die Fahne Israels wird hochgehoben, mal von diesem, mal von jenem – ein ungeheurer Trubel an der heiligen Stätte, die seit einer Stunde von der Farbe Blau aus Amerika beherrscht wird.

Ich sitze, links vom Eingang, auf einem noch sonnenwarmen Stein und denke: Donnerwetter, bei diesem Anblick würde wohl so mancher daheim in Florida erstaunt gucken.

Die Klagemauer ist nur noch oben beschienen, am Rand, ein ungleichmäßiger Schatten. Über ihm auf dem Tempelberg, vom Standort des nahen israelischen Militärpostens klar zu erkennen, die glänzende Kuppel des Felsendoms und die Al-Aksa-Moschee.

 

Auf der Terrasse von Mischkenot Scha’ananim macht sich eine Katzensippe von furchterregender Fruchtbarkeit immer bemerkbarer. Die frei umherschweifenden Fellknäuel werden offenbar von niemandem versorgt, müssen sich also ihre Nahrung selbst suchen, und da sie sehr scheu sind, vermute ich, dass sie dabei mit Menschen keine guten Erfahrungen gemacht haben. Meine Einschmeichelungsversuche jedenfalls waren bisher vergeblich. Heute Abend aber ist es mir durch sanftes Zureden immerhin gelungen, sie bei meinem Anblick von der bis dahin selbstverständlichen Flucht abzuhalten. Als es dunkel wird, öffne ich die Tür zur Terrasse, und nun sitzt eine der Katzen, offenbar die Mutter der zahlreichen Würfe, auf der Stufe vor dem Eingang, kneift mit den Augen, den Schwanz elegant um die Vorderpfoten gelegt, und harrt der Dinge, die da kommen. Aber bei der ersten Bewegung auf sie zu ist sie auf und davon.