Die volle Wahrheit über diese sonderbaren Ereignisse hat die
Welt lange erwartet, und die öffentliche Neugier wird sie sicher
willkommen heißen. Es fügte sich, daß ich auf das innigste mit den
letzten Jahren und mit der Geschichte des Hauses verknüpft war, und
es lebt kein Mensch, der gleich mir imstande wäre, diese Dinge
klarzustellen, und gleichzeitig so begierig, sie wahrheitsgemäß zu
erzählen. Ich kannte den Junker; über viele Einzelheiten seines
Lebenslaufes habe ich authentische Berichte zur Hand; ich segelte
mit ihm fast allein auf seiner letzten Reise; ich machte jene
Winterfahrt mit, von der so manche Gerüchte ins Ausland gelangten,
und ich war anwesend beim Tode des Mannes. Was meinen verstorbenen
Lord Durrisdeer anlangt, so diente ich ihm ungefähr zwanzig Jahre
und liebte ihn. Ich schätzte ihn um so mehr, je genauer ich ihn
kennenlernte. Alles in allem glaube ich, daß es nicht richtig wäre,
wenn so viele persönliche Zeugnisse verlorengingen; die Wahrheit
ist eine Schuld, die ich dem Andenken meines
Lords abzutragen habe, und ich glaube, meine alten Tage werden
ruhiger dahinfließen und mein weißes Haar wird leichter auf den
Kissen ruhen, wenn diese Dankespflicht erfüllt ist.
Die Duries von Durrisdeer und Ballantrae waren eine angesehene
Familie im Südwesten seit den Tagen Davids I. Ein Vers, der noch
jetzt in dem Lande bekannt ist:
Die Duries waren ein tapfres
Geschlecht,
Sie ritten mit Speeren in manches Gefecht!
trägt das Kennzeichen des Alters. Und der Name erscheint auch in
einer anderen Strophe, die man allgemein Thomas von Ercildoune
selbst zuschreibt. Ich weiß nicht, wie weit das stimmt und mit
welchem Recht manche diese Verse auf die Ereignisse meiner
Erzählung beziehen:
Zwei Duries von Durrisdeer –
Der eine ins Feld, der andre getraut:
Ein böser Tag für den Freiersmann,
Ein grausiger für die Braut.
Auch ist die amtliche Geschichtsschreibung voll von ihren Taten,
die nach unserer heutigen Denkungsweise nicht sehr lobenswert
erscheinen. Die Familie hatte ihren vollen Anteil an den Glücks-
und Unglücksfällen, denen die berühmten Häuser Schottlands von
jeher unterworfen waren. Aber alles das überschlage ich, um zu
jenem bemerkenswerten Jahre 1745 zu gelangen, in dem der Grund zu
dieser Tragödie gelegt wurde.
Zu jener Zeit lebte im Hause von Durrisdeer
nahe St. Bride am Ufer des Solway eine Familie von vier Personen.
Das Haus war der Hauptsitz des Geschlechtes seit der Reformation.
Mein alter Lord, der achte seines Namens, war noch nicht
hochbetagt, aber er litt frühzeitig unter den Unzuträglichkeiten
des Alters. Sein Platz war an der Seite des Kamins, wo er in einem
gefütterten Hausrock lesend saß. Er richtete wenige Worte an die
Menschen und niemals ein verletzendes an irgend jemand, er war das
Vorbild eines alten zurückhaltenden Hausherrn. Und doch war sein
Geist wohlgenährt mit Studien, und man schätzte ihn in dem ganzen
Gebiet für klüger ein, als er sich den Anschein gab. Der Erbe oder
Junker von Ballantrae, in der Taufe James genannt, erbte von seinem
Vater die Liebe zu ernsthaften Büchern und daneben auch einiges von
seinem Taktgefühl; aber was beim Vater wirkliche Klugheit war,
wurde beim Sohn schwarze Heuchelei. Sein Benehmen nach außen kann
man nur als gemein und wüst bezeichnen: er saß bis in die späte
Nacht bei Wein und Karten und hatte in der ganzen Gegend den Ruf
eines Mannes, der jungen Mädchen gefährlich sei. Bei allen
Zusammenstößen war er an erster Stelle, aber wenn er auch immer in
der vordersten Front war, zog er sich doch immer vorteilhaft aus
der Affäre, und seine Genossen bei losen Streichen mußten
gewöhnlich die ganze Zeche bezahlen. Dies Glück oder vielmehr diese
Verschlagenheit trug ihm manches Übelwollen ein, aber bei dem Rest
der Bevölkerung erhöhte es sein Ansehen, so daß man große Dinge von
ihm erwartete in der Zukunft, wenn er reifer
geworden wäre. Er hatte einen recht schwarzen Fleck auf seinem
Namen, aber die Sache wurde damals vertuscht und durch
Legendenbildung so entstellt, bevor ich dorthin kam, daß ich mich
scheue, sie hier zu erzählen. Es ist wahr, für einen so jungen
Menschen war es eine verabscheuungswürdige Tat, und wenn die
Gerüchte falsch sind, war es eine niedrige Verleumdung. Ich
betrachte es als bemerkenswert, daß er sich stets brüstete, er sei
unversöhnlich. Man nahm ihn beim Wort, so daß er zu allem Überfluß
unter seinen Nachbarn bekannt war als ein Mann, mit dem schlecht
Kirschen essen sei. Ein junger Edelmann also, der im Jahre 1745
noch nicht vierundzwanzig Lenze zählte und doch bereits weit über
seine Jahre hinaus im weiten Umkreis berüchtigt war.
Um so weniger war es zu verwundern, daß man von dem zweiten
Sohn, Mr. Henry, meinem verstorbenen Lord Durrisdeer, bisher wenig
gehört hatte. Er war weder sehr schlecht noch sehr begabt, sondern
ein ehrenhafter und anständiger junger Mann wie viele seiner
Nachbarn. Ich sagte, man hatte wenig von ihm gehört, aber man kann
es besser so ausdrücken: es wurde wenig von ihm gesprochen. Unter
den Lachsfischern im Firth war er gut bekannt, denn er liebte den
Fischsport außerordentlich. Dann war er auch ein ausgezeichneter
Pferdearzt und bekümmerte sich fast von Jugend auf lebhaft um die
Bewirtschaftung der Ländereien. Wie schwer das war angesichts der
Umstände, in denen sich die Familie befand, weiß niemand besser als
ich. Mit allzu wenig Berechtigung kann ein solcher Mann in den Ruf eines Tyrannen und Geizhalses
geraten. Die vierte Person im Hause war Miß Alison Graeme, eine
nahe Verwandte, eine Waise, die Erbin eines großen Vermögens, das
ihr Vater durch Handelsgeschäfte erworben hatte. Dies Geld wurde
dringend benötigt zur Aufbesserung der Finanzen meines Lords. Der
Besitz war mit Hypotheken hoch belastet, und infolgedessen wurde
Miß Alison bestimmt zur Gattin des Junkers, worüber sie sehr froh
war. Eine andere Frage ist es, wie er sich dazu stellte. Sie war
ein hübsches Mädchen und für jene Zeit sehr beherzt und
eigenwillig, denn der alte Lord hatte selbst keine Tochter, und da
die Lady schon lange tot war, wurde sie aufgezogen, so gut es eben
ging.
Zu diesen vier Menschen gelangte eines Tages die Nachricht von
der Landung des Prinzen Charlie, und sie gerieten sofort heftig
aneinander. Mein Lord als alter Ofenhocker war durchaus fürs
Abwarten. Miß Alison war gegenteiliger Ansicht, weil ihr alles
romantisch erschien, und der Junker, der, wie ich hörte, nicht oft
mit ihr übereinstimmte, war diesmal ganz ihrer Meinung. Das
Abenteuer reizte ihn, soweit ich verstehe, er sah allerlei
Möglichkeiten, das Vermögen seines Hauses zu vergrößern, und trug
sich mit der Hoffnung, seine persönlichen Schulden auszugleichen,
die weit größer waren, als man vermutete. Was Mr. Henry anbelangte,
so sagte er anscheinend zunächst sehr wenig, seine Rolle begann
erst später. Die drei stritten sich einen ganzen Tag lang, bevor
sie sich entschlossen, einen mittleren Kurs zu steuern. Der eine
Sohn sollteausreiten, um König Jakob
beizustehen, der alte Lord und der zweite Sohn sollten zu Hause
bleiben, um die Partei König Georgs zu ergreifen. Das war ohne
Zweifel der Entschluß des alten Lords und, wie man weiß, die Rolle,
die viele angesehene Familien damals spielten.
Aber nachdem der erste Streit beigelegt war, erhob sich sofort
ein zweiter. Der Lord, Miß Alison und Mr. Henry waren alle der
Meinung, daß es Aufgabe des jüngeren Sohnes sei, hinauszuziehen,
aber der Junker, ruhelos und eitel, war unter keinen Umständen
bereit, zu Hause zu bleiben. Der Lord flehte ihn an, Miß Alison
weinte, und Mr. Henry brauchte sehr deutliche Worte: alles
vergeblich.
»Der direkte Erbe von Durrisdeer muß mit dem König reiten!«
sagte der Junker.
»Wenn wir ein männliches Spiel trieben«, antwortete Mr. Henry,
»hätte es Sinn, so zu sprechen. Aber was tun wir? Wir spielen mit
falschen Karten!«
»Wir retten das Haus von Durrisdeer, Henry«, sagte der
Vater.
»Und siehe«, sagte Mr. Henry, »wenn ich gehe, und der Prinz
gewinnt die Oberhand, kannst du leicht mit König Jakob Frieden
schließen. Aber wenn du gehst, und die Expedition erleidet einen
Fehlschlag, reißen wir Besitz und Titel auseinander. Und was wird
dann aus mir?«
»Du wirst Lord Durrisdeer sein«, sagte der Junker, »ich setze
alles auf eine Karte.«
»Ich liebe ein solches Spiel nicht!« rief Mr.
Henry. »Ich werde in einer Lage sein, die kein Mann von Vernunft
und Ehre ertragen kann. Ich werde weder Fisch noch Fleisch sein!«
rief er aus. Und etwas später drückte er sich noch deutlicher aus,
als er vielleicht beabsichtigte. »Es ist deine Pflicht, hier bei
deinem Vater zu bleiben«, sagte er. »Du weißt sehr wohl, daß du der
Lieblingssohn bist.«
»Wie?« sagte der Junker. »So spricht der Neid! Willst du in
meine Fußtapfen treten, Jakob?« fragte er und legte einen häßlichen
Nachdruck auf dies Wort.
Mr. Henry ging ohne Antwort zu geben am unteren Ende der Halle
auf und ab, denn er wußte ausgezeichnet zu schweigen. Plötzlich kam
er zurück.
»Ich bin der Jüngere, und ich muß gehen«, sagte er. »Mein Lord
hier ist der Herr, und er sagt, daß ich gehen muß. Was sagst du
dazu, mein Bruder?«
»Ich sage dies, Harry«, antwortete der Junker, »daß es nur zwei
Wege gibt, wenn hartnäckige Leute aneinandergeraten: Zweikampf –
ich denke, daß keiner von uns Lust hat, so weit zu gehen – oder
Entscheidung durch den Zufall. Hier ist ein Goldstück. Wollen wir
es entscheiden lassen?«
»Ich will dadurch stehen und fallen«, sagte Mr. Henry. »Kopf:
ich gehe; Wappen: ich bleibe.«
Die Münze wurde hochgeworfen. Die Münze fiel und zeigte die
Wappenseite.
»Das ist eine Lehre für Jakob«, sagte der Junker.
»Wir alle werden das bereuen«, antwortete Mr. Henry und stürzte
aus der Halle.
Miß Alison ergriff das Goldstück, das soeben
ihren Geliebten ins Feld gesandt hatte, und schleuderte es durch
das Familienwappen in dem großen bemalten Fenster.
»Wenn du mich so liebtest, wie ich dich liebe, wärst du
geblieben!« rief sie aus.
»Ich könnte dich, Liebste, nicht lieben so sehr, liebt' ich
Kampf und Ehre nicht mehr!« sang der Junker.
»Ach!« rief sie. »Du hast kein Herz, ich hoffe, du wirst
getötet!«
Sie eilte aus dem Raum und lief weinend auf ihr Zimmer.
Es scheint, daß der Junker sich in heiterster Haltung zum Lord
wandte und sagte: »Sie muß ein Teufel von einem Weib sein!«
»Ich glaube, du bist ein Teufel von einem Sohn«, rief der Vater
aus. »Du, der du immer mein Lieblingssohn gewesen bist, zu meiner
Schande sei es gestanden! Niemals habe ich eine gute Stunde mit dir
erlebt, seit du geboren bist, nein, niemals eine gute Stunde«, und
er wiederholte es zum dritten Male. Ob es die Leichtsinnigkeit des
Junkers oder sein Ungehorsam oder Mr. Henrys Wort vom Lieblingssohn
war, was den alten Lord so aufbrachte, weiß ich nicht, aber ich
neige zu der Ansicht, daß es das letztere war, denn nach allen
Berichten, die mir zur Verfügung stehen, begann er von dieser
Stunde an, Mr. Henry mehr zu beachten.
Alles in allem ritt der Junker in ziemlich böser Stimmung gegen
seine Familie nordwärts, woran sich die anderen mit großem Kummer erinnerten, als es zu spät
schien. Durch Drohungen und Begünstigungen hatte er ungefähr ein
Dutzend Leute um sich versammelt, zumeist Söhne von Pächtern. Sie
waren alle ziemlich betrunken, als sie
aufbrachen und den Hügel bei der alten Abtei lärmend und singend
hinaufritten, die weiße Kokarde am Hut. Es war ein verzweifeltes
Abenteuer für eine so kleine Schar, fast ganz Schottland ohne
Unterstützung zu durchqueren. Man glaubte das um so mehr, als
gerade damals, da dies Dutzend Leutchen den Hügel hinaufkletterte,
ein großes Schiff aus der Flotte des Königs mit flatterndem Wimpel
in der Bucht lag und sie durch die Mannschaft eines einzigen Bootes
hätte aufreiben können. Am nächsten Nachmittag mußte Mr. Henry
abreisen, nachdem der Junker einen genügenden Vorsprung gewonnen
hatte. Ganz allein ritt er von dannen, um der Regierung König
Georgs sein Schwert zur Verfügung zu stellen und ein Handschreiben
seines Vaters zu überreichen. Miß Alison wurde in ihrem Zimmer
eingeschlossen, bis beide fortgezogen waren. Sie weinte fast
ununterbrochen, nur nähte sie die Kokarde an des Junkers Hut, die
(wie John Paul mir erzählte) von Tränen durchtränkt war, als er sie
ihm hinuntertrug.
In der ganzen nächsten Zeit blieben Mr. Henry und der alte Lord
ihrem Plan treu. Daß sie jemals etwas unternommen hätten, ist mehr,
als ich weiß, und ich glaube auch nicht, daß sie sich sehr
energisch um die Sache des Königs bemühten. Sie hielten sich an
ihren Treuschwur, wechselten Briefe mit dem Lord-Präsidenten,
weilten ruhig zu Hause und hatten wenig oder keine Verbindung mit
dem Junker, solange die Zwistigkeiten dauerten. Auch war er
seinerseits nicht sehr mitteilsam. Miß Alison sandte ihm zwar stets
Stafetten, aber ich weiß nicht, ob sie
jemals eine Antwort erhielt. Einst ritt Macconochie für sie hin und
fand die Hochländer vor Carlisle, wo der Junker in hoher Gunst
stand beim Prinzen. Er nahm den Brief, wie Macconochie erzählte,
öffnete ihn, überflog ihn, den Mund gespitzt wie ein Mann der
flötet, und steckte ihn in seinen Gürtel. Als das Pferd aufbäumte,
fiel er unbeachtet zur Erde. Macconochie hob ihn auf und nahm ihn
an sich, und ich selbst habe ihn in seinen Händen gesehen.
Selbstverständlich kamen Nachrichten nach Durrisdeer, wie sich eben
Gerüchte im Lande verbreiten, eine Sache, die mir immer wunderbar
vorkam. Auf diese Weise erfuhr die Familie allerlei von der Gunst,
in der der Junker beim Prinzen stand. Man behauptete, das habe
seinen Grund in einer höchst sonderbaren Kriecherei eines so
stolzen Mannes, der allerdings noch mehr Ehrgeiz besaß. Er soll
sich zu seiner hohen Stellung hinaufgearbeitet haben, indem er den
Irländern schmeichelte. Sir Thomas Sullivan, Oberst Burke und alle
andern waren sein täglicher Umgang, wodurch er seinen eigenen
Landsleuten entfremdet wurde. Bei allen kleinen Intrigen hatte er
seine Hand im Spiel, stellte Lord Georg tausendmal Fallen, fügte
sich immer den Ansichten des Prinzen, ob sie nun gut oder schlecht
waren, und scheint wie ein Spieler, der er sein ganzes Leben lang
war, weniger bedacht gewesen zu sein auf die Durchführung der
Kämpfe, als auf die Gunst, die er bei glücklichem Ausgang erlangen
konnte. Im übrigen benahm er sich im Felde sehr tapfer, was niemand
anzweifelte, denn er war kein Feigling.
Die nächste Nachricht kam von Culloden und
wurde von einem der Pächtersöhne nach Durrisdeer gebracht, dem
einzig Überlebenden, wie er erklärte, von allen denen, die damals
singend den Hügel erklommen hatten.
Durch einen unglückseligen Zufall hatten gerade an jenem Morgen
John Paul und Macconochie das Goldstück gefunden, das die Ursache
alles Übels war, und das in einem Gebüsch versteckt lag. Sie waren
vor der Tür gewesen, wie die Leute von Durrisdeer es nennen,
nämlich in der Schenke, und so war wenig von dem Goldstück
übriggeblieben und noch weniger von ihrem Verstand. Was konnte John
Paul also anderes tun, als in die Halle zu stürzen, wo die Familie
bei Tisch saß, und die Nachricht herauszubrüllen, daß Tam
Macmorland soeben an der Pforte erschienen sei, und wehe! niemand
mit ihm?
Sie hörten das Wort wie Menschen, die zum Tode verurteilt
werden. Nur Mr. Henry führte die Hand zum Gesicht, und Miß Alison
legte den Kopf auf die Hände. Der alte Lord war grau wie Asche.
»Ich habe noch einen Sohn«, sagte er. »Und, Henry, ich will dir
Gerechtigkeit widerfahren lassen – der bessere ist mir
geblieben.«
Eine sonderbare Sache, das in einem solchen Augenblick zu sagen,
aber mein Lord hatte Mr. Henrys Rede niemals vergessen, und er trug
Jahre der Ungerechtigkeit auf seinem Gewissen. Trotzdem war es eine
sonderbare Sache, und mehr, als Miß Alison hingehen lassen konnte.
Sie wurde heftig und tadelte den Lord wegen seiner unnatürlichen Worte und Mr. Henry, weil er hier
in Sicherheit säße, während sein Bruder erschlagen läge, sich
selbst aber, weil sie ihrem Geliebten beim Abschied böse Worte
gegeben hatte. Sie nannte ihn den Besten von allen, rang die Hände,
bekannte laut ihre Liebe und rief seinen Namen aus, so daß die
Dienerschaft erstaunt dreinblickte.
Mr. Henry stand auf und hielt sich am Stuhl fest. Nun war er
grau wie Asche.
»Oh«, schrie er plötzlich, »ich weiß, du hast ihn geliebt!«
»Die Welt weiß es, so wahr mir Gott helfe!« rief sie, und dann
sagte sie zu Mr. Henry:
»Aber ich allein weiß, daß du ihn in deinem Herzen verraten
hast!«
»Gott weiß«, murmelte er, »es war verlorene Liebesmühe auf
beiden Seiten.«
Die Zeit floß nun in diesem Hause dahin ohne viel Ereignisse,
nur waren jetzt drei statt vier, was immer wieder an den Verlust
erinnerte. Das Geld Miß Alisons war, wie man vor Augen halten muß,
für das Besitztum dringend erforderlich, und da der eine Bruder tot
war, wurde es bald zu einer Herzensangelegenheit des alten Lords,
den anderen Sohn mit ihr verheiratet zu sehen. Tagein, tagaus
versuchte er auf sie einzuwirken. Er saß zur Seite des Kamins, den
Finger in seinem lateinischen Buch, die Augen mit einer Art
liebenswürdigen Eindringlichkeit auf ihr Gesicht gerichtet, wie es
dem alten Herrn so gut stand. Wenn sie weinte, tröstete er sie wie ein bejahrter Mann, der schlimmere
Zeiten erlebt hat, und nun auch über Kümmernisse ruhiger denkt.
Geriet sie in Zorn, begann er wieder in seinem lateinischen Buch zu
lesen, aber immer mit einer höflichen Ausrede. Bot sie ihm, wie es
öfter geschah, ihr Geld zum Geschenk an, bewies er ihr, wie wenig
das mit seiner Ehre zu vereinen sei, und gab ihr zu bedenken, wenn
sie darauf beharrte, daß Mr. Henry dies ohne Zweifel ablehnen
würde. Sein Lieblingswort war: non vi sed saepe
cadendo, und seine ruhige Beharrlichkeit verringerte ohne
Zweifel allmählich ihren Widerstand. Gewiß hatte er großen Einfluß
auf das junge Mädchen, da er beide Eltern bei ihr vertreten hatte,
weshalb sie auch mit dem Geist der Duries erfüllt war und große
Zugeständnisse an das Wohlergehen von Durrisdeer machen wollte,
wenn sie sich auch nicht dazu verstanden hätte, glaube ich, meinen
armen Herrn zu heiraten. Aber sonderbarerweise kam ihm der Umstand
zu Hilfe, daß er außerordentlich unbeliebt war.
Das war das Werk Tam Macmorlands. Tam war ein harmloser Bursche,
aber er hatte eine große Schwäche: eine lose Zunge, und da er der
einzige Mensch in der Gegend war, der mit draußen gewesen oder
vielmehr wiedergekommen war, fand er leicht Gehör. Wer im Kampf
unterlegen ist, will mir scheinen, ist immer geneigt, andern zu
erzählen, daß er verraten wurde. Nach Tams Bericht waren die
Rebellen bei jeder Gelegenheit und von jedem ihrer Offiziere
betrogen worden, sie waren verraten worden bei Derby, sie waren
verraten worden bei Falkirk. Der Nachtmarsch war ein Verräterstück von Lord Georg, und die Schlacht von
Culloden ging verloren durch den Verrat der Macdonalds. Die
Gewohnheit, stets von Verrat zu reden, bemächtigte sich dieses
Narren so sehr, daß er schließlich Mr. Henry auch nicht mehr
schonte. Nach seiner Ansicht hatte Mr. Henry die Burschen von
Durrisdeer verraten, er hatte versprochen, mit mehr Leuten zu
folgen, und statt dessen war er zum König Georg geritten.
»Ach, und am nächsten Tage!« pflegte Tam auszurufen. »Der arme
gute Junker und die armen feinen Kerle, die mit ihm ritten, waren
kaum jenseits der Klippe, als er sie im Stich ließ, der Judas! Nun,
er hat seinen Weg gemacht, er ist Lord, trotz allem, aber unter der
Hochlandheide liegt mancher kalte Leichnam!«
Bei diesen Worten pflegte Tam, falls er betrunken war, in Tränen
auszubrechen.
Wenn einer lange genug redet, findet er Glauben. Die schlechte
Meinung vom Benehmen Mr. Henrys verbreitete sich allmählich in der
ganzen Gegend. Leute, die das Gegenteil wußten, aber keine genauen
Einzelheiten kannten, sprachen darüber, und man hörte und glaubte
es. Unwissende und Übelwollende verbreiteten es als Evangelium. Mr.
Henry wurde allmählich gemieden. Kurze Zeit darauf begann das
gemeine Volk zu murren, wenn er vorüberging, und die Frauen, die
immer am kühnsten sind, weil sie sich am sichersten fühlen,
begannen ihm Vorwürfe ins Gesicht zu schleudern.
Der Junker wurde zum Heiligen erklärt. Man entsann sich, daß er
die Pächter niemals bedrückt hatte, was er tatsächlich auch nie
tat, es sei denn, daß er viel Geld ausgab.
Er war vielleicht ein wenig wüst, sagte das Volk, aber wieviel
besser war ein natürlicher und wilder Kerl, der bald ruhiger
geworden wäre, als ein dürrer Geizhals, der seine Nase in die
Abrechnungsbücher steckte, um die armen Pächter zu bedrücken. Eine
Dirne, die ein Kind vom Junker hatte und nach allen vorliegenden
Berichten sehr schlimm von ihm behandelt worden war, machte sich
sogar zur Vorkämpferin seiner Ehre. Eines Tages schleuderte sie
einen Stein gegen Mr. Henry.
»Wo ist mein guter Junge, der dir vertraute?« schrie sie.
Mr. Henry hielt sein Pferd an und sah sie mit weißen Lippen an.
»Nun, Jeß«, sagte er, »auch du? Du solltest mich besser kennen!«
Denn er hatte ihr mit seinem Gelde ausgeholfen.
Das Weib ergriff einen zweiten Stein, als wollte sie ihn werfen,
und er riß die Hand, die die Reitpeitsche hielt, nach oben, um sein
Gesicht zu schützen.
»Was? Du willst ein Mädel schlagen, du dreckiger … ?«
schrie sie und lief heulend von dannen, als ob er sie gezüchtigt
hätte.
Am nächsten Tage breitete sich das Gerücht wie Lauffeuer in der
Gegend aus, Mr. Henry habe Jessie Broun fast zu Tode geprügelt. Ich
erzähle das, um klarzumachen, wie die Lawine wuchs, und wie eine
Verleumdung die andere hervorbrachte, bis mein armer Herr so
verschrien war, daß er das Haus zu hüten begann gleich dem alten
Lord. In der ganzen Zeit beklagte er sich
selbstverständlich daheim niemals. Der Urgrund des Skandals war
eine zu heikle Angelegenheit, und Mr. Henry war sehr stolz und ein
außergewöhnlich hartnäckiger Schweiger. Der alte Lord muß
schließlich durch John Paul, falls durch niemand sonst, davon
gehört oder wenigstens die Änderung in der Lebensweise seines
Sohnes beobachtet haben. Wahrscheinlich aber war auch er nicht
unterrichtet, wie stark die Feindschaft war, und was Miß Alison
betrifft, so kümmerte sie sich überhaupt nicht um Gerüchte und
brachte ihnen keinerlei Interesse entgegen, wenn man sie ihr
zutrug.
Als die Empörung ihren Höhepunkt erreicht hatte (später
verringerte sie sich, und niemand wußte warum), fand eine Wahl
statt in der Stadt St. Bride, die ganz nahe bei Durrisdeer liegt,
am Swiftsee. Irgendeine Unruhe machte sich unter den Leuten
bemerkbar, aber ich vergaß, was es war, wenn ich es jemals gewußt
habe. Man erzählte allgemein, es würde vor Anbruch der Nacht
blutige Köpfe geben, der Sheriff habe sogar Soldaten angefordert
von Dumfries. Der alte Lord war dafür, daß Mr. Henry anwesend sein
solle, er stellte ihm vor, es sei notwendig für das Ansehen des
Hauses, sich einmal wieder zu zeigen. »Man wird bald behaupten«,
sagte er, »daß wir die Führung in unserem Gebiete verlieren.«
»Eine merkwürdige Führung, die ich übernehmen soll«, sagte Mr.
Henry, und als sie ihn um eine Erklärung baten, fügte er hinzu:
»Ich will euch die volle Wahrheit sagen, ich darf mein Gesicht
draußen nicht blicken lassen.«
»Du bist der erste dieses Hauses, der das
sagt«, rief Miß Alison.
»Wir wollen alle drei gehen«, sagte der alte Lord, und
tatsächlich zog er seine Stiefel an, das erstemal seit vier Jahren,
und ein schwieriges Geschäft für John Paul. Miß Alison erschien im
Reitkleid, und alle drei machten sich auf den Weg nach St.
Bride.
Die Straßen waren voll vom Pöbel aus der ganzen Gegend. Kaum
hatten die Leute Mr. Henry erblickt, als sie zu zischen begannen.
Dann fingen sie an zu brüllen, und man hörte Schreie wie Judas! und
»Wo ist der Junker?« und »Wo sind die armen Kerle, die mit ihm
hinausritten?« Selbst ein Stein wurde geschleudert, aber die
meisten verurteilten das, zum Glück für den alten Lord und Miß
Alison. Nach zehn Minuten wußte der Lord, daß Mr. Henry recht
gehabt hatte. Er sagte kein Wort, warf sein Pferd herum und ritt
heim, das Kinn auf der Brust. Auch Miß Alison sprach nicht. Ohne
Zweifel dachte sie aber um so mehr nach, und ohne Zweifel war ihr
Stolz verletzt, denn sie war eine gebürtige Durie, und ebenso gewiß
rührte es an ihr Herz, ihren Vetter so unwürdig behandelt zu sehen.
In jener Nacht legte sie sich nicht schlafen. Ich habe meine Lady
oft getadelt. Aber wenn ich mich jener Nacht erinnere, verzeihe ich
ihr gern alles. Am nächsten Morgen kam sie in aller Frühe zum alten
Lord, der an seinem gewohnten Platz saß.
»Wenn Henry mich noch will«, sagte sie, »kann er mich jetzt
haben.« Zu Henry selbst redete sie anders: »Ich bringe dir keine Liebe entgegen, Henry, aber,
Gott weiß es, alles Mitleid der Welt.«
Der erste Juni 1748 war der Tag ihrer Hochzeit. Im Dezember
desselben Jahres langte ich an den Toren des großen Hauses zum
erstenmal an, und von diesem Zeitpunkt an berichte ich über die
Ereignisse, die unter meinen eigenen Augen geschahen, wie ein Zeuge
vor Gericht.