Marie Freifrau

von Ebner-Eschenbach

 

Die schönsten Erzählungen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Cover: Gemälde "Freifrau Marie von Ebner-Eschenbach" von Karl von Blaas

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015

 

ISBN/EAN: 9783958705142

 

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

 

www.nexx-verlag.de

 

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Ihr Traum

 

Erlebnis eines Malers

 

Im Sommer 1879 hatte ich für einen hohen Kunstfreund eine Reihe von Bildern zu malen. Mährische Landschaften und Volkstypen. Je treuer und charakteristischer, je besser. Da ich meine Zeit gehörig ausnützen und auch ganz unabhängig bleiben wollte, vermied ich, von der Gastfreundschaft der Schlossbewohner Gebrauch zu machen, und nahm trotz der Liebenswürdigkeit, mit der sie mir fast überall angeboten wurde, mein jeweiliges Standquartier wohl oder übel (meistens übel) im Dorfwirtshaus.

 

Rasch ging die Arbeit mir von der Hand. Ende September waren alle meine Skizzen und sogar einige Bilder fertig. Mit gutem Gewissen und sehr heiterem Mute durfte ich wieder heimwärts fliegen nach Wien, wohin für den ersten Oktober eine Verabredung mich rief – mächtig rief ... Ich verrate nichts, ich sage nur: mein Herz, das heute noch von Winterfrost nichts weiß, befand sich damals im Drang der Herbst-Äquinoktialstürme.

 

Am Morgen des letzten Septembers erwachte ich zugleich mit dem Haushahn im Gasthof des Dorfes Willowic. Ein ganzer Tag war noch zu überwinden, bevor sie aufging, die Sonne des ersten Oktobers. Wenn ich heute meine Heimreise antrat, lagen noch ein paar Abendstunden, lag eine sicherlich schlaflose Nacht zwischen der Stunde meiner Ankunft und der meines Glückes. Ich entschloss mich, meine Ungeduld tagsüber zu verrennen und die Nacht lieber im Waggon als im Bett zu durchwachen. Einen Lokalzug verschmähend, der mich zur nächsten Nordbahnstation gebracht hätte, hing ich meinen Tornister um, steckte einigen Mundvorrat zu mir und trat die Wanderung an. Sonderliche Genüsse bot sie mir nicht. Die Gegend dort ist ebenso fruchtbar wie unmalerisch; sie erinnert mich immer an ein nichtssagendes, aber von Gesundheit strotzendes Gesicht. Der Menschenschlag aber ist nicht übel, und hie und da hatte ich doch Gelegenheit, mein Skizzenbuch herauszuziehen und während meiner kurzen Rast eine Kindergruppe und die schlanke Gestalt eines hübschen Mädchens oder eines jungen Burschen zu konturieren.

 

Die Sonne neigte sich schon zum Untergang, und ich schritt gemütlich weiter, überzeugt, dass ich die Richtung nach meinem Ziele innehielt. Um mich dessen jedoch zu vergewissern, holte ich von Zeit zu Zeit Erkundigungen bei Vorübergehenden ein. »Jen rovno«, hieß es anfangs, dann einmal »Ná levo«, einmal »Na pravo«, und je weiter ich kam, desto bedenklicher schüttelte der Angesprochene den Kopf und sagte: »Daleko! daleko!«

 

Also erst geradeaus, dann links, dann rechts, und endlich weit, weit!

 

Es begann zu dunkeln. Seit einer Weile schon rieselte ein dichter, kühler Regen mit großer Emsigkeit nieder. Die Abspannung, nach der ich mich so herzlich gesehnt hatte, war allmählich eingetreten, und meine Phantasie fing an, mir einen, wenn auch noch so langweiligen Aufenthalt im Wartezimmer der Bahnstation als etwas Wünschenswertes vorzuspiegeln.

 

Mein Weg, eine gut gehaltene Vizinalstraße, führte längs einer bewaldeten Anhöhe dahin, und plötzlich drang zwischen den vom Sturm gerüttelten Baumwipfeln ein funkelnder Glanz mir ins Auge. Etwas tiefer unten glaubte ich hellen Lichtschein durch das Dickicht schimmern zu sehen. Er verschwand, nachdem ich ein paar hundert Schritte weitergegangen war; dafür aber stieß ich am Ende des Wäldchens auf einen breiten Hohlweg, an dessen beiden Seiten sich zwei Reihen, soviel mir in der Dunkelheit wahrzunehmen möglich war, ziemlich ansehnlicher Bauernhäuser erhoben. Das Wirtshaus war unschwer zu finden, und bald trat ich, pudelnass und mit triefendem Regenschirm, in die von Tabaksqualm und Petroleumdünsten erfüllte Gaststube. An einem schmalen Tisch saßen einige Bauern, tranken, rauchten und spielten Karten. Der Wirt und ein junger Livree-Bedienter standen, dem Spiele zusehend, daneben. Ich lüftete den Hut vor der Gesellschaft, wandte mich an den Wirt, verlangte zu essen und zu trinken und forderte ihn auf, mir eine Fahrgelegenheit nach N., das nicht mehr weit sein könne, zu verschaffen.

 

Obwohl der Mann jedes meiner Worte verstand – ich sah es ihm an seiner stumpfen Nase an –, erwiderte er verächtlich: »Ne rozumim« (ich verstehe nicht) und kehrte mir den Rücken.

 

Die Bauern blinzelten einander verstohlen und schmunzelnd zu, der Bediente jedoch, der mich seit meinem Eintreten aufmerksam betrachtet hatte, sprang jetzt mit einem Schrei des Jubels auf mich los. Er rief: »Herr Professor!« – und ich rief: »Christel Mayerchen, vulgo Varus!«

 

»Jawohl, Varus, ich bin's, ich bin's! Eine Ehre für mich, dass Sie mich wiedererkennen!«

 

»Und auch ein Wunder«, sagte ich, denn mein Farbenreiber von einst, der gutmütige Knirps, den wir – niemand wusste, aus welchem Grund – Varus nannten, hatte sich gewaltig herausgemacht. Als ein prächtiger Bursche stand er vor mir; in all und jedem verändert, nur nicht in seiner großen Dienstbeflissenheit.

 

»Herr Professor«, sagte er, »Sie wollen zum Nachtzug zurechtkommen? Das geht nicht mehr, mit Bauernpferden schon gar nicht. Ja, wenn Sie nur um eine Viertelstunde früher gekommen wären, die unseren hätten Sie mit dem größten Vergnügen hingeführt.«

 

»Die unseren?«

 

»Die gräflichen mein ich, die aus dem Schloss, aber auch die bringen Sie jetzt nicht mehr hin.«

 

»Nicht mehr?« – ich hätte den Menschen prügeln mögen für diese Nachricht und schnaubte ihn an: »Wann kommt der nächste Zug nach N.?«

 

»Morgen acht Uhr früh. Um fünf steht der Wagen, der Sie hinführt, vor dem Schloss ... Aber kommen, Herr Professor, ins Schloss kommen müssen Sie.«

 

Ich schickte ihn zum Teufel samt allen Einladungen, die er in fremdem Namen machte.

 

Da brach er in ein freudiges Gelächter aus: »Wenn sich's nur darum handelt, eine Einladung von der Frau Gräfin, noch dazu eine sehr dringende, will ich gleich bringen.« Sprach's – und war draußen mit einem Satz.

 

Ich hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als mein ganzes, auf meiner Künstlerfahrt erbeutetes Tschechisch zusammenzuraffen, um einige Fragen an die Anwesenden zu stellen: Wie die Frau Gräfin heiße, ob sie alt oder jung, verheiratet oder verwitwet, ob sie eine gute Dame und beliebt im Dorf sei.

 

Den Namen erfuhr ich. Es war der eines alten Landadelsgeschlechtes, und ich entsann mich einer in Paris lebenden russischen Fürstin, einer berühmt und berückend schönen Frau, die aus demselben Haus stammte. Meine weiteren Erkundigungen blieben fruchtlos. Der Wirt und seine Gäste schnitten geheimnisvolle Gesichter und antworteten ausweichend.

 

Ich erhielt von alledem den Eindruck, die Schlossherrin gelte für eine brave, aber etwas absonderliche Frau, der man in Anbetracht vieler edler Eigenschaften ihre Schrullen verzieh.

 

Nach einiger Zeit war mein Christel wieder da und verkündete mit wichtiger Miene, die Frau Gräfin heiße mich sehr willkommen und erwarte mich in einer halben Stunde zum Diner.

 

Diner? – Diner auf dem Land um sieben Uhr abends? – ganz englisch, aber viel zu nobel für mich in meinen beschmutzten Reisekleidern. Ich deprezierte auf das eifrigste – es war umsonst. Der Tyrann aus Dienstbeflissenheit hatte sich schon meines Tornisters bemächtigt und lief voran, und ich – nun ich lief ihm, das heißt meinen Skizzen nach.

 

Draußen heulte der Sturm, lehnte sich gegen uns wie eine unsichtbare Wand, machte das Vorwärtskommen zum atemraubenden Kampf. Wir waren, nachdem wir die Straße überschritten hatten, in einem, soviel ich sehen konnte, sehr ausgedehnten und sehr verwilderten Park angelangt und gingen vorwärts, immer bergan. Plötzlich, bei einer jähen Krümmung des Weges erblickte ich ein Schlösschen, ein Stockwerk hoch, mit dreizehn Fenstern Front und alle erleuchtet, sowohl die des ersten Geschosses wie des Hochparterres. Daher war der helle Glanz gekommen, den ich vorhin durch das Geäst hatte schimmern sehen. Hinter dem Schloss zog eine bewaldete Höhenkette sich hin und war gekrönt von einem weißen tempelartigen Bau, aus dem das einsame Licht, das mich zuerst begrüßt hatte, mir wieder entgegenblickte.

 

»Ist das die Kirche, dort oben?« fragte ich meinen Führer.

 

»Die Gruft«, erwiderte er kurz und wurde immer einsilbiger, je näher wir dem Herrenhaus kamen; ich hingegen immer neugieriger. Zuletzt gestaltete sich unser Gespräch folgendermaßen:

 

»Sind viele Gäste da?«

 

»Oh nein.«

 

»Wird das Schloss von einer großen Familie bewohnt?«

 

»Oh nein.«

 

»Wem zu Ehren also diese Beleuchtung?«

 

»Das ist immer so.«

 

Wir traten in den Hof, der vom Hauptgebäude und von zwei Seitenflügeln gebildet wurde. Tiefe Ruhe herrschte. Kein Laut außer dem Geplätscher des Springbrunnens, der aus einem kleinen Becken emporstieg, ließ sich vernehmen. Im Innern des Hauses dieselbe Stille. Unter der Einfahrt lagen zwei Doggen auf einem Kissen. Uralte Hunde. Sie erhoben die Köpfe – ihre halb erloschenen Augen richteten sich auf mich. Die eine kam sogar heran, beschnupperte meine Hand und – schlich enttäuscht davon. Sie streckte sich, dass ihr Bauch den Boden berührte, öffnete den zahnlosen Rachen zu einem Jammergeheul und kehrte erschöpft zu ihrer Lagerstätte zurück.

 

Ich habe ein ähnliches Gebaren an einem Hund beobachtet, der seinen Herrn verloren hatte und nach Jahren noch nicht vergessen konnte.

 

Christel führte mich in ein Zimmer des Hochparterres und half mir meinen Anzug in den bestmöglichen Stand setzen. Dabei begann er wieder zu sprechen oder vielmehr zu flüstern:

 

»Ja, Herr Professor, den Dienst hier im Haus verdank ich Ihnen. Wie die Frau Gräfin das Zeugnis gesehen hat, das Sie mir ausgestellt haben, war ich gleich aufgenommen. Ich bin zwar dem Doktor zugeteilt, dem aufgeblasenen Gelehrten, aber es ist doch ein guter Dienst, und was die Bezahlung betrifft ... Gott erhalte die Frau Gräfin! ... Aber jetzt«, unterbrach er sich, »wird's gleich Zeit sein, und ich muss mich noch umkleiden .... Bitte, Herr Professor, gehen Sie allein hinauf, oben wenden Sie sich rechts; im Gang die vierte Tür, die ist's. Bitte nur eintreten; Sie werden empfangen werden wie die Heiligen Drei Könige.«

 

Mit dieser Versicherung verließ er das Zimmer, und ich dachte dabei: Möge mir der zu erhoffende Empfang an einer gut besetzten Tafel zuteilwerden. Mein Magen knurrte gewaltig, und meine ganze Neugier war jetzt darauf gerichtet, ob man in diesem stillen Haus eine dem Menschen ersprießliche Küche führe.

 

So ging ich denn erwartungsvoll die Treppe empor, kam in einen breiten, hübsch dekorierten Gang und befand mich bald vor der Tür, die Christel mir bezeichnet hatte. Eine Doppeltür, ein Meisterwerk der Kunsttischlerei, reich geschmückt mit anbetungswürdiger Marquetterie, – meine Liebhaberei. Oh, wie gern hätte ich dieses Prachtstück ausheben und nach Wien in mein Atelier spedieren lassen. Das ging aber nicht an, – ewig schade! So sagt ich denn zu mir selbst: Vorbei, vorbei, du wünsche-reicher Sterblicher, und trat alsbald in den Speisesaal oder vielmehr in ein Paradies – ein Paradies im Zopfstil. Die anmutigen Stuckaturen an der Decke, die schwungvollen Draperien an Fenstern und Türen, die reiche Einrichtung, alles zusammen machte im Glanz der Lichter, die vom kristallenen Kronleuchter niederstrahlten, einen ungemein harmonischen und heiteren Eindruck. Vortrefflich erhaltene Fresken bedeckten die Wände und brachten die ländlichen Vergnügungen der ehemaligen Schlossbewohner zur Darstellung. Herren und Damen in der Tracht des achtzehnten Jahrhunderts fuhren im Schlitten dahin, hielten eine Obstlese ab, tanzten im Grünen, jagten auf ramsnasigen Pferden dem Hirsch nach.

 

Es waren brav gemalte, zierliche Bilder, die meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, nicht genug aber, um mich den Hunger vergessen zu machen, der mich quälte und durch einen klassisch gedeckten kleinen Speisetisch mit zwei Kuverts noch gereizt wurde. Ich begann mit wachsender Ungeduld im Saale auf und ab zu pendeln und bemerkte erst jetzt, dass ich nicht allein war. Am Kredenzschrank in der Ecke stand regungslos ein weißhaariger, schwarzbefrackter Kammerdiener, den Blick unverwandt auf eine der Seitentüren gerichtet. Nun öffneten sich beide Flügel, der Alte machte eine tiefe, ehrerbietige Reverenz, und gefolgt von zwei Dienern erschien die Herrin des Hauses und kam mit leisen raschen Schritten auf mich zu.

 

Ich sah sie an, und mein Herz erbebte – mein Künstlerherz. Was ich so oft gesucht und nie gefunden, nicht im Leben und nicht in der Kunst, da stand es glorreich in der größten Vollkommenheit vor mir – das Urbild einer schönen Greisin.

 

Beschreiben kann ich sie nicht – wie ich denn jetzt auch weiß, dass mein vielgepriesenes Bild, das ich mit solcher Liebe, mit so begeistertem Vertrauen zu meiner Kunst gemalt, nur einen schwachen Abglanz der sanften Hoheit ihres wunderbaren Wesens wiedergibt .... Und wenn ich auch sage: Die Züge ihres blassen Gesichts waren fein und edel, aus ihren dunklen Augen leuchteten Verstand und Güte, ihre schlanke Gestalt erhob sich über die Mittelgröße – was wisst ihr dann? Die Gräfin trug ein enganliegendes, graues Kleid mit breitem, weißem Spitzenkragen und eine ebenfalls weiße Spitzenhaube über den schneeweißen glattgescheitelten Haaren.

 

Ich hatte nicht einen Schritt ihr entgegen gemacht, war plump wie ein Tölpel stehengeblieben und muss sehr albern und verblüfft dreingesehen haben, als sie mir ihre Hand reichte, ihre merkwürdigen Augen voll Wohlwollen auf mir ruhen ließ und sprach:

 

»Welche Freude, Sie bei uns zu sehen, Herr Professor, wie glücklich werden meine Kinder sein!«

 

Ohne Ahnung, wen sie meinte, murmelte ich etwas Unverständliches.

 

»Allerdings hat der Zufall Sie hierher führen müssen«, sagte sie mit leichtem Vorwurf, »den Einladungen meines Iwan haben Sie kein Gehör geschenkt.«

 

Auch darauf wusste ich nichts zu antworten und entschuldigte mich ins Blaue hinein. Sie lächelte – ihre Erwiderung war stumm, mir jedoch höchst angenehm, denn sie bestand in einem freundlich auffordernden Wink, ihr gegenüber am Tisch Platz zu nehmen.

 

Der Kammerdiener hatte den Sessel der Gräfin gerückt, Christel, der in ihrem Gefolge gekommen war, den meinen. Wir setzten uns, und die Schlossfrau fuhr fort, mich zu behandeln wie einen alten Freund, der sich nach kurzer Abwesenheit am wohlbekannten Herde wieder eingefunden hat.

 

Die Gräfin las mir mein Erstaunen vom Gesicht ab und sagte: »Sie sind nicht in einem fremden Haus, Herr Professor, Sie sind bei Ihren treuesten und wärmsten Bewunderern. Mein Iwan hat die Ehre, Sie persönlich zu kennen. – Iwan T.«, beantwortete sie meinen fragenden Blick.

 

Dieser Name brachte mir, nach kurzem Besinnen, einen jungen Mann in Erinnerung, der mich vor mehreren Jahren aufgesucht. Er hatte Skizzen mitgebracht, die viel Talent verrieten, meine Ratschläge erbeten und mir die »Abessinier« abgekauft, die von so vielen reichen Leuten für unerschwinglich erklärt worden waren.

 

»Fürst Iwan T.? Was ist aus ihm geworden? Pflegt er sein Talent?«

 

»Getreulich und immer unter Ihrem Einfluss. Ihre freundliche Aufnahme hat ihn völlig berauscht, und kürzlich ist er nach London gereist, einzig und allein um die Ausstellung Ihrer Orientbilder zu sehen.«

 

Ei, dacht ich, dieser Dame muss die Zeit schnell vergehen! »Vor kurzem? – wie man's nimmt; ich habe seit sechs Jahren in London nicht mehr ausgestellt«, erwiderte ich, und – die Augen erhebend, begegnete ich denen des Kammerdieners, der hinter seiner Gebieterin stand. Drohend zugleich und flehend glotzte der alte Bursche mich an. Um was er flehte, wovor er mich warnte, konnte ich allerdings nicht erraten.

 

»Seit sechs Jahren?« wiederholte die Gräfin ungläubig, »das ist nicht möglich ....« Sie senkte den Kopf und schaute ernst und sinnend vor sich hin. –

 

An wen mahnte sie mich in dieser Haltung, mit diesem Schauen ohne zu sehen? Diesem wehmütigen, träumerischen Schauen … an wen mahnte sie mich doch?

 

Langsam richtete die Gräfin sich empor und machte mit der Hand eine Bewegung in der Luft, dieselbe, die der Zeichner macht, der eine licht gebliebene Stelle auf seinem Bild verschummert. »Ja, lieber Professor, das Rechnen habe ich verlernt, zehn Jahre sind mir zwei, und zwei wie zehn. Das aber ist gewiss, Sie sind meines Iwan leuchtendes Vorbild. Die Sehnsucht, Ihnen nachzustreben, trieb ihn fort. – Er wollte malen wie Sie .... Ein hohes Ziel, das er sich da gesteckt, – ein hohes Ziel .... Meinen Sie nicht?«

 

Was sollte ich darauf antworten? – ›Ja‹ wäre gar zu aufrichtig gewesen und ›nein‹ gar zu falsch. So half ich mir, indem ich das Gespräch von neuem auf den jungen Fürsten brachte und fragte: »Wo ist er jetzt?«

 

»Verreist … aber er wird bald wiederkommen, nicht wahr, Leonhard?« wendete sie sich an den Kammerdiener.

 

Der, mit tiefer Verbeugung, antwortete: »Zu dienen, hochgräfliche Gnaden.« Dazu machte er Zeichen, die mir galten, und die ich dieses Mal verstand. Sie hießen: – Hörst du, man sagt ›ja‹, so ist's Brauch bei uns, halte dich daran!

 

»Matja, ein großer Jäger vor dem Herrn«, fuhr die Gräfin fort, »Matja hätte ihn gar zu gern begleitet nach Afrika –«

 

»Wer?« fiel ich zagend ein, ungewiss, ob in diesem Haus die Frage nicht ebenso verpönt sei wie der Zweifel. Die Gräfin jedoch versetzte gelassen:

 

»Sein älterer Bruder. Aus dieser Reise ist aber nichts geworden – die Kinder haben eine andere angetreten.« Sie griff sich an die Stirn, ein schmerzlicher Ausdruck flog über ihr Angesicht. »Matja musste zu seinem Vater nach Wolhynien«, nahm sie wieder das Wort. »Iwan blieb allein in Marseille. Er hat mir von dort Bilder geschickt, die sogar mich – die ihm doch viel zutraut – überraschten.«

 

Sie beschrieb diese Bilder mit großer Anschaulichkeit und legte dabei ein tüchtiges und selbständiges Kunsturteil an den Tag.

 

Trotzdem hörte ich ihr nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu, ich vergaß die weise und liebenswürdige Rede über den Mund, aus dem sie floss. Unter anderem sprach die Gräfin von einer meiner älteren Arbeiten, lobte sie fein und klug und begründete das gespendete Lob. Sie tat es mit innigem Wohlwollen, mit echter Freude am Erfreuen und dem Gewürdigten gegenüber mit einer Bescheidenheit, die an Demut grenzte.

 

Da durchblitzte mich's: – An die alte Frau mahnt sie, die meine Mutter war – an die arme Bewohnerin einer Hütte in unseren Tiroler Bergen .... Im nächsten Augenblick freilich sagte ich mir schon: Ach nein! mit der Ähnlichkeit ist's nichts. Aber dass sie, wenn auch im Fluge, vor mir aufgetaucht, dass ich nur meinte, sie zu finden, hatte mir gutgetan, mir das Herz erwärmt. Die Befremdung, die mich im Banne gehalten, seitdem ich das Schloss betreten, war verschwunden, und ich wurde gesprächig.

 

Auf die schweren Weine, die mir zu Anfang der Tafel serviert worden, hatte ich bereits eine Flasche Veuve Cliquot gesetzt. Die Gräfin ermunterte mich, den Anfang mit einer zweiten zu machen.

 

»Es ist der Lieblingswein meiner Kinder und wird deshalb immer im Keller gehalten.«

 

Auf meine Bitte gestattete sie, die bisher nicht einen Tropfen Wein genommen hatte, dass auch ihr Champagnerglas gefüllt werde. Schon hatte sie es an die Lippen geführt, als ich ausrief: »Auf die Gesundheit der Fürsten Matja und Iwan!«

 

Merkwürdigerweise musste, was ich da getan, dem Alten mir gegenüber nicht recht sein, denn ich fühlte, ja fühlte ohne aufzublicken, obwohl ich wahrlich kein Sensitiver bin, dass seine Augen mich zornig angrollten. Doch machte ich mir umso weniger Sorgen darüber, als die Gräfin sowohl diesen ersten Toast, wie einen zweiten, den ich auf sie ausbrachte, sehr gnädig aufnahm. Meine Stimmung wurde immer heiterer. Die Atmosphäre der Schönheit und der Pracht, die mich umgab, die vorzüglichen Weine, die ich getrunken hatte, die Freundlichkeit, mit der meine edle Wirtin mich behandelte, versetzten mich in einen köstlichen Rausch. Ich empfand ein himmlisches Behagen, eine große Dankbarkeit und Vertrauensseligkeit und erzählte der Gräfin meine Lebensgeschichte von A bis Z. Sie hörte teilnehmend zu, unterbrach mich nur manchmal mit dem Ausspruch: »Das hätten meine Kinder auch«, oder »das hätten sie nicht getan.«

 

Und während ich sprach und aß und trank, hörte ich nicht auf, ihre Züge, den wechselnden Ausdruck ihres Gesichtes zu studieren. Ja, wer dich malen könnte! hatte ich anfangs gedacht, jetzt dacht ich schon – du wirst gemalt, und wenn es gelingt, dann gibt's ein Bild ohnegleichen.

 

Rembrandt hat ein unvergesslich liebes Mütterchen auf die Leinwand gezaubert, andre haben wohlerhaltene alte Frauen verewigt; den Adel des Alters, eine Greisin als Greisin schön, hatte, soviel ich wusste, noch niemand gemalt. Ich hoffte der erste zu sein.

 

Die Mahlzeit war zu Ende, der schwarze Kaffee wurde gebracht; mein Christel, der seinen Dienst als dritter Aufwärter feierlich wie ein Theaterkönig, unhörbar und lautlos wie ein Schatten versehen hatte, erhielt von der Gräfin den Befehl, Zigarren und Zigaretten aus dem Zimmer des Fürsten Matja zu bringen. Nachdem dieser Auftrag besorgt war, verließ die Dienerschaft das Zimmer. Oh wie ungern ging der alte Leonhard! An der Tür wandte er sich noch, und hinter dem Rücken seiner Gebieterin streckte er die Hände gegen mich aus, faltete sie und presste dann mit vielsagender Gebärde die Rechte an seine Lippen.

 

Die Gräfin schob mir die Zigarrenkiste zu, deren Inhalt fast unwiderstehlich lockend duftete. »Bitte, nehmen Sie – nichts da, es muss sein«, sprach sie gebieterisch, als ich aus Höflichkeit eine heuchlerische Ablehnung vorbrachte. »Matja wäre gekränkt, wenn er erführe, dass Sie seine Imperiales verschmäht haben ... Wie? – noch immer Komplimente? Da bleibt mir nichts übrig, als Ihnen mit gutem Beispiel voranzugehen.« Sie nahm eine winzige Zigarette und zündete sie an. »Sehen Sie, wozu meine unartigen Kinder mich verleitet haben?« sagte sie lächelnd und – rauchte aus Gastfreundschaft, aber ohne Übung, denn sie blies in ihr Zigarettchen hinein, bis es ausging. Ich sekundierte diskret. Ein famoses Kraut, das ich zwischen den Zähnen hielt, aber doch gar zu trocken für meinen Geschmack.

 

Eine kurze Pause, und die Gräfin begann: »Wenn sie jetzt kämen, die Kinder, und Sie hier träfen, Herr Professor, und mich in Ihrer Gesellschaft rauchend wie ein Student, das wäre ein Jubel – das wäre ...«

 

Sie legte die längst erloschene Zigarette weg und sah in die Luft, wieder wie vorhin, so träumend, so verloren ... Und ich – immer mein Bild im Kopf – betrachtete sie mit heißer Aufmerksamkeit, bewunderte den milden silbernen Glanz ihrer weichen Haare, – die Stirn um einige Linien höher, als Praxiteles mit seinem Schönheitsideal vereinbar gefunden hätte, aber edel geformt und geistvoll, eine Stirn, die nie andre als reine Gedanken geborgen. Die Augen ... Gott steh mir bei! wie könnt ich doch nur zweifeln, an wen sie mich erinnerten. Hatte ich nicht hundertmal versucht, ihnen sehr ähnliche aus dem Gedächtnis nachzupinseln, ohne dass es mir gelang ... denn sie waren unergründlich und seicht, sie konnten in einer und derselben Minute ein tödliches Ermatten widerspiegeln und vor Lebenslust sprühen.

 

In einer lustigen Männergesellschaft, deren feurige Beherrscher diese Augen waren, habe ich sie, eines Momentes Dauer, gesehen wehmütig ins Leere schauen mit dem Blick, mit dem Ausdruck der Augen meiner verehrungswürdigen Gastfreundin ... Und da, in der Freude über meine Entdeckung, erhitzt vom Wein, glühend von Schöpferwonne – schon tauchte es vor mir empor, das Bild, das mein bestes werden sollte– vergaß ich, dass ich im Begriffe stand, einen Namen zu nennen, der in diesem Haus nicht hätte ausgesprochen werden dürfen, und rief: »Fürstin T. in Paris – stammt sie nicht aus Ihrer Familie?«

 

Die Gräfin senkte die Augen, ein Schauer lief durch ihre Glieder, sie richtete sich noch gerader auf und sprach mit eisiger Miene und Stimme: »Fürstin T. war meine Tochter. Sie ist tot.«

 

Ihre Tochter! ... Teufel, Teufel! was hatte ich da getan? ... Die schmerzlichste Fiber im Herzen der edlen Frau berührt, in meiner verfluchten Gedankenlosigkeit. Ich wurde sogleich nüchtern vor Leid und Reue und stammelte bestürzt: »Tot? – Die Fürstin tot? ... Seit wann?«

 

»Seit vielen Jahren«, erwiderte sie mit einer Bestimmtheit, die den Widerspruch ausschloss.

 

Mir aber hatte man vor drei Tagen den Brief eines Freundes nachgeschickt, in dem von der Fürstin als von einer sehr Lebendigen die Rede war.

 

Und dennoch: – »Sie ist tot?« – Erschütternd hallte der Klang dieser Worte in mir nach. »Sie ist tot«, das hieß: tot für mich, ihre Mutter, ausgestrichen aus den Reihen derer, die noch fähig sind, mir weh zu tun. – Diese alte Frau, deren ganze Erscheinung eine Verkörperung der Lauterkeit war, musste einen Trost darin finden, das verlorene Kind als ein totes zu betrauern. Mit Recht ...

 

Ich hatte vor Jahren die Fürstin in Pariser Künstlerkreisen kennengelernt, in denen sie lebte, seitdem die Kreise, denen sie der Geburt nach angehörte, sich ihr verschlossen hatten. Sie sehen und mich leidenschaftlich in sie verlieben, das war – nicht wie es in veralteten Romanen heißt, das Werk eines Augenblicks – aber das Werk eines Abends. Es war eine heftige Leidenschaft, denn sie raubte mir den Schlaf – den Appetit hat mir eine Leidenschaft nie geraubt. Ich missfiel der Fürstin nicht und wiegte mich schon in süßen Hoffnungen, als ich erfuhr, dass die Gunst der entzückenden Frau zurzeit vergeben sei. Ein junger Maler befand sich in ihrem Besitz, der die Berühmtheit des Tages war, weil er ein freches Gemälde in seinem Atelier ausgestellt hatte, mit freiem Eintritt für das Publikum. Ich habe es auch gesehen, und sofort hat mir gegraut vor der Schmiererei, vor dem Schmierer und vor des Schmierers Geliebten.

 

Nicht lange nachher begegnete einem meiner Freunde das Unglück, bei der Fürstin Glück zu haben und in ernsthafter Liebe für sie zu entbrennen. Sie wurde schlecht belohnt. Trotz alledem und alledem konnte der arme Schwärmer seine Ungetreue nicht vergessen und war auf die außerordentlich gut erhaltene, aber nicht mehr junge Frau eifersüchtig wie ein Türk. Er hatte mir neulich jenen Brief geschrieben.

 

Die Gräfin, die lange in tiefem Schweigen verharrt hatte, erhob jetzt die Stimme: »Sie haben die Fürstin gekannt, Herr Professor?«

 

»Nur vom Sehen«, antwortete ich überstürzt.

 

Sie fasste mich schärfer ins Auge, mit so angstvoller Spannung und zugleich mit so gebieterischer Frage, dass mir altem Sünder das Blut in die Wangen stieg und ich fast kleinlaut erwiderte:

 

»Nur vom Sehen. Völlig genügend aber, um einen unvergesslichen Eindruck zu empfangen ...«

 

»Welchen?«

 

»Den einer wunderbar schönen Frau.«

 

»Ja, schön ist sie gewesen ... Schon als Kind – und schon als Kind ...« Sie brach ab, eine peinliche Erinnerung schien in ihr aufzuleben. – »Oh Herr Professor! Sie war ihres Vaters Glück und Stolz und seine nagende Sorge. Wohl ihm, dass er ruhte im ewigen Frieden, als seine furchtbarsten Ahnungen sich erfüllten ... Wohl ihm, dass er die höllische Marter nicht geteilt, die ich erduldet habe, als sie heranwuchs, als sie blühte und prangte im Glanze ihrer sechzehn Jahre – entzückend für alle, die ihr nahten – nur für eine nicht...«

 

Die Gräfin war unheimlich blass geworden, und unheimlich auch war der Blick, mit dem sie mich ansah, und der Ton, in dem sie sprach: »Unvergesslich der Eindruck, den sie in Ihnen hervorrief, dem Maler der Seelen. – Sagten Sie nicht so vorhin? In welcher Weise unvergesslich? Aufrichtig, aufrichtig! – Ich bin gefeit.«

 

»Nun, Frau Gräfin«, versetzte ich – und war damals sehr zufrieden mit dem Einfall, der mir später ziemlich roh erschien, – »kennen Sie die Nachbildung des Porträts, das Furino von Maria Stuart malte, als sie noch Dauphine von Frankreich war? Die englischen Verse, die darunter stehen, die kamen mir in den Sinn, als ich das Glück hatte ...« »Sie lauten«, fiel die Gräfin ein:

 

If to her lot some human errors fall

Look to her face and you'll forget them all.

(Hat sie irdische Schwächen besessen,

Blick in ihr Antlitz, sie sind alle vergessen.)

 

»Ein sehr angreifbarer Ausspruch. Das Entzücken, das die Schönheit erweckt, kann sich in Abscheu verwandeln, wenn wir das Lügnerische der Hülle erkennen, in der eine makelvolle Seele sich birgt.«

 

Sie verwirrte sich, schwieg, begann von gleichgültigen Dingen zu reden, kam aber immer und immer wieder auf ihre Tochter zurück. »Wer trägt die Schuld?« fragte sie plötzlich. »Ihre Eltern, ihre Vorfahren waren brave Leute ... Woher in ihr dieser angeborene, unüberwindliche Hang zum Schlechten? Welche grässliche Erbschaft hatte sie angetreten?«

 

Die Stimme der Gräfin wurde leiser und beklommen, sie sprach in abgebrochenen Sätzen und wie aus schwerem Traum: »Der Mann, der sie liebte und heimführte, war gewarnt, ich, ihre Mutter, warnte ihn. Aber sein Glaube stand felsenfest... Unselig ist, die ihn erschüttert hat. Unselig ...«

 

Sie hielt inne – der laute Wehruf, der ihrer Brust entstieg, verriet die Qual einer tiefen, grausam aufgerissenen Herzenswunde. Aber größer noch als ihr Schmerz war die Stärke dieser Frau ... Eine gewaltige Selbstüberwindung, abermals die verschummernde Bewegung mit der Hand, und sie zwang sich eine heitere Miene ab und sagte: »Noch ein Gläschen Chartreuse, Herr Professor. Meine Kinder behaupten, ein Diner ohne Chartreuse sei die höchste Unvollkommenheit in der kulinarischen Welt.«

 

Ihr Angesicht hatte sich wieder freudig verklärt, ein holder, anbetungswürdiger Zug umspielte ihren welken Mund. »Lauter schlechte Späße, aber sie beglückten die alte Großmutter, und deshalb wird mit ihnen nicht gespart. Ach, diese Kinder waren immer gut und liebevoll, wahrhaftig und treu. Was ich für sie tat und tue, ist nichts, ihre Dankbarkeit ist unendlich. So stehe ich denn immer in ihrer Schuld.«

 

Forderten diese Worte nicht einen Widerspruch heraus? – Ich meinte, ja, und brachte ihn vor, so schön und fein, als ich nur immer konnte. Aber meine aufrichtige Huldigung wurde nicht zur Kenntnis genommen.

 

Die Gräfin nickte zerstreut und begann ohne direkten Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen: »Niemand kann sich vorstellen, was ich empfand in der Stunde, in der ihr Vater mit ihnen zu mir kam. Nach der Scheidung war's: ›Nimm sie, sie sind dein‹, sprach der um sein höchstes Gut betrogene Mann – und sie waren mein.

 

Paul, mein Schwiegersohn, blieb bei uns, überwachte die Erziehung seiner Söhne, sagte manchmal zu mir: ›Seien Sie nicht zu nachsichtig, liebe Mutter.‹ Ich war es nicht. Mit stiller Angst beobachtete ich die Kinder, lauerte auf Fehler – auf Keime von Fehlern in diesen Anfängen von Menschen und entdeckte nichts, das mich beunruhigen konnte. Sie sind beide reinen Herzens und, wenn auch voneinander ganz verschieden, doch beide edlen Sinnes wie ihr Vater, und ihr Streben ist, wie das seine, nach hohen Zielen gerichtet. Eine Stimme, die nicht trügt, sagt mir, sie sind zu Großem bestimmt.«

 

Sie teilte mir viele herzgewinnende Züge aus der Kindheit und Jugend ihrer Enkel mit. Nebenbei erfuhr ich, dass Fürst Paul alljährlich den Sommer auf seinen Gütern in Wolhynien zubrachte. Sein Erstgeborener, Matja, hatte ihn vor einigen Monaten dahin begleitet. Wo Fürst Iwan sich gegenwärtig aufhalte, davon machte die Gräfin keine Erwähnung.

 

»Sie werden bald heimkommen«, sprach sie, »aber ich darf noch nichts davon wissen, sie werden mich überraschen wollen, wie sie es schon einmal getan haben, – morgen – heute vielleicht...«

 

Ihre Augen öffneten sich weit und erglänzten in rührender Hoffnungsseligkeit. Vom Gang herüber schallte durchdringenden Klanges der Schlag einer Uhr. Die Gräfin horchte. »Halb zehn, – in zwei Stunden könnten sie da sein ... Iwan und Matja und ihr Vater, der mir geschrieben hat – ich weiß nicht genau wann … die Zahlen – ja die Zahlen, mein lieber Herr Professor! – Doch habe ich den Brief bei mir, Sie können sich selbst überzeugen...«

 

Sie entnahm ihrer Gürteltasche eine kleine Mappe, in der eine Anzahl wohlgeordneter, aber schon etwas vergilbter Briefe lag. Eine geweihte Hostie hätte sie nicht mit mehr Andacht berühren können, als diese Blätter. Wie auf einem Heiligtume ließ sie ihre schmale, feingeäderte Hand auf dem Päckchen ruhen. Dann reichte sie mir den zuoberst liegenden Bogen und sagte: »Lesen Sie, Herr Professor! Laut, wenn ich bitten darf.«

 

Nun, ich nahm den durch zahlloses Falten und Entfalten ganz zerschlissenen Brief und sah, dass er vor drei Jahren auf der Besitzung des Fürsten geschrieben worden war. So gut ich konnte, das heißt: nicht sehr gut, weil ich von Natur ein gerader Kerl bin, verbarg ich mein Staunen und fragte einfach: »Ist dieser Brief wirklich der letzte, den Sie, gnädigste Gräfin, von einem der Ihren erhalten haben?«

 

»Der letzte«, bestätigte sie rasch und sichtlich unangenehm berührt. »Bitte, lesen Sie.«

 

Ich las denn, und sie hörte mir mit höchster Spannung zu.

 

Teure Mutter!

 

Ich komme bald. Ich habe Ihnen eine Botschaft zu bestellen, einen letzten Dank, teure Mutter, ein Abschiedswort. Gott stärke Sie und mich. – Ich komme bald ... Wir wollen ein großes Leid mit vereinten Kräften zu tragen suchen ...

 

Die Gräfin flüsterte nach: »Ein großes Leid? ... was er so nennt mit seiner Kunst, jede Widerwärtigkeit als Unglück zu empfinden. Er ist nicht immer so gewesen«, seufzte sie und verwahrte ihre Briefe mit ehrfürchtiger Liebe.

 

Abermals entstand eine Pause, und abermals fiel die seltsame Stille mir auf, die über dem Haus lag und eines verwunschenen Schlosses würdig gewesen wäre. Ich erlaubte mir eine Bemerkung darüber zu machen, und die Gräfin erklärte:

 

»Ja, mein lieber Professor, ich will es so. Wer in meinem Dienst zu bleiben wünscht, muss ein Schweiger und Sachtetreter sein. Jeder Mensch hat seine Marotte; die meine ist: Ruhe, ungestörte Ruhe schaffen um mich her. In diesen Räumen wohnen die Stimmen meiner Kinder, – ich höre manchmal ihren leisen Gruß. Das Geschwätz und Getrippel der Leute, das Geräusch der Arbeit soll sie mir nicht übertönen ... Still! –« sprach sie plötzlich, stand auf und wendete sich der Tür zu, durch die ich vorhin eingetreten war.

 

Ich hatte mich gleichfalls erhoben, und ihrem Winke gehorchend, folgte ich ihr. Mitten im Saale hemmte sie ihren Schritt, neigte den Kopf vor und lauschte. Ihr schöner, leuchtender Blick flammte – ihre Lippen öffneten sich wie zu einem Ausruf des Entzückens – doch entstieg er ihnen nicht.

 

»Was fällt mir ein«, sagte sie mit wehmütigem Scherze, »ich träume wieder, es ist noch viel zu früh. Aber dafür, dass sie es nicht machen wie neulich, dafür wollen wir sorgen... Denken Sie, Herr Professor, als sie zurückkamen von ihrer ersten Reise, ganz unerwartet, da war es Nacht, ich schlief bereits, und sie, die Kinder, erlaubten nicht, dass man mich wecke. Morgens trete ich nun ins Frühstückszimmer und sehe, und traue meinen Augen nicht, drei Tassen auf dem Tisch ... Warum drei Tassen, Leonhard? ... Was soll das heißen? – ›Dass wir da sind, Großmutter‹, und sie stürzen auf mich zu, und ich halte sie in meinen Armen, und ich sehe wieder in ihre guten, fröhlichen, blauen Augen ... Es war eine schöne Überraschung, und dennoch, eine Wiederholung verbitte ich mir, deshalb komme ich ihr allabendlich zuvor. Begleiten Sie mich, Herr Professor!«

 

Wir gingen durch den taghell erleuchteten Gang, an der Treppe vorbei, und betraten, um die Ecke biegend, einen Seitenflügel des Schlosses. Auch hier ein breiter Gang, den viele tüchtige Bilder und Trophäen aus Waffen des Orients und des Okzidents schmückten. »Ich führe Sie jetzt in die Arbeitsstube Iwans; die Wohnungen der Kinder liegen gegenüber«, sprach die Gräfin und trat durch eine gewölbte Halle mir voran ins Atelier.

 

Respekt! – Das war eine Arbeitsstube, die man sich gefallen lassen konnte. Etwas gar zu prunkvoll vielleicht – vielleicht eine zu große Vorliebe für Rot und Gold verratend in der Wahl der Teppiche, Gewebe, Draperien – aber wohl befand man sich inmitten dieser Reichtümer, weil sich in der Art ihrer Anordnung ein eigentümlicher und echt künstlerischer Geschmack kundgab. Über den ganzen Raum ergoss eine vielarmige Hängelampe ein reines, ruhiges Licht und brachte seinen schönsten Schmuck, die Skizzen und Bilder, zur vollen Geltung. Sämtlich Arbeiten des jungen Fürsten und sämtlich Talentproben. Man lügt mir nach, dass ich ungern lobe, ich aber tu's umso lieber, als mir so verteufelt selten Gelegenheit dazu gegeben wird. Hier fand ich sie und beutete sie gehörig aus. Die Gräfin schwamm in Glückseligkeit und fragte ganz besonders nach meinem Urteil über einige Gemälde, die auf den Staffeleien in der Nähe des Fensters standen. Ich entdeckte sogleich unter ihnen einen alten Bekannten, eine prächtige Hafenszene, und rief: »Das ist das beste!«

 

»Sein bestes, nicht wahr? und auch sein letztes. Von diesen Bildern habe ich Ihnen gesprochen; es sind die, die er mir kürzlich aus Marseille geschickt hat.« Kürzlich? da hatte die Gräfin wieder einen Irrtum in der Zeitrechnung begangen. Das Bild war ja schon vor mehreren Jahren in der Pariser Exposition, als unverkäuflich und einfach mit Iwan signiert, ausgestellt gewesen. Damals hatte es mir einen außerordentlichen Eindruck gemacht und machte ihn mir jetzt von neuem.

 

»Das ist das beste«, wiederholte ich, »das steht mir höher als manches vielgerühmte Werk der neuen Schule ... Möchte wissen, in welche Kategorie die Alleskönner und Nichtskönner den einreihen, der das gemalt hat? ... Ein Idealist? Ihr Herren! seht nur die Wahl des Stoffes: Eine Balgerei zwischen einem Soldaten und einem Matrosen – ein neugieriges Publikum, das sich um die beiden schart ... Und nun, die Ausführung! wessen ist die? – Eines Realisten? Nein, eines Künstlers, dem das Hässliche und Rohe widerstrebt, und der dennoch die Wahrheit darstellt, die höchste, in den Gluten seiner Feuerseele geläuterte Wahrheit. Der macht aus einer Prügelei, die wir in der Wirklichkeit schwerlich mit ansehen möchten, ein unvergessliches Kunstwerk. Alles gut dran, jede einzelne Figur sowohl wie der Schauplatz, der Himmel, die Luft, wie das Ganze. Ich bewundere alles, sogar manche Kühnheit, die ich mir nicht mehr erlauben würde – wir wollen sicher gehen, wir Alten.«

 

Die Gräfin unterbrach mich: »Kühnheit, Herr Professor? die hätte der Schüler dem Meister abgelauscht.«

 

»Was, Schüler«, versetzte ich, »den Schüler könnt ich beneiden.«

 

»Sie haben keine Ursache«, erwiderte sie und zog den Vorhang von einem auf der Staffelei nebenan stehenden Bild, und ich sah meine »Abessinier« nach sieben Jahren wieder. – Nicht übel, gar nicht übel waren sie, und sehr freudig meine ersten Empfindungen bei ihrem Anblick. Aber gleich kam der hinkende Bote nach: So viel hast du damals schon gekonnt ... Um wieviel mehr kannst du denn heute? ... Wo bleibt der Fortschritt? ... Höhe ist Wende – bist du nicht auf der deinen angelangt? – Eine Ahnung unausbleiblichen Versiegens der sprudelnden Quellen in meinem Innern durchfröstelte mich ... Was dann? ... dann trag's oder stirb – nur sinke nicht. Und ich schwor mir's zu: Du wirst dich hüten vor Selbsttäuschung, wirst nicht für Schaffenskraft halten, was nichts mehr ist als Schaffenslust ... Wieder trat ich vor die »Hafenszene« hin und versenkte mich in ihren Anblick ... Oh wie tüchtig, wie genial und – wie jung! ...

 

»Herr Professor«, sagte die Gräfin, »es ist spät geworden, glaube ich – wollen wir nicht hinübergehen zu den Kindern?«

 

Sie näherte sich bereits der Halle, als ihr aus derselben ein junger Mann, groß, breitschultrig, bärtig, mit dunkelblonder zurückgeworfener Mähne, entgegentrat. »Noch auf, Frau Gräfin?« fragte er. »Es ist elf Uhr.«

 

»Elf Uhr«, stieß sie erschrocken hervor – »wirklich? ... Dann«, eine grausame Enttäuschung drückte sich in ihrem Ton aus, »dann werden sie heute nicht mehr kommen.«

 

»Oh nein«, bestätigte er, und die Gräfin legte die Arme übereinander, richtete den Blick fest auf ihn und sprach mit gelassener Würde:

 

»Woher des Weges, Doktor?«

 

»Ich war –Ihrem Befehl gehorchend, beim Amtmann in Reiß. Er ist ganz wohl.«

 

»Umso besser.« Sie wandte sich zu mir: »Herr Professor Moser, ich bitte Sie, Ihnen meinen Hausarzt Doktor Schmitt vorstellen zu dürfen.«

 

»Professor Moser? Durch welchen Zufall? Ah! das freut mich ...« Er eilte auf mich zu und reichte mir die Hand.

 

Die Gräfin hatte Platz genommen. Wir folgten ihrem Beispiel. Der Doktor entfaltete eine lebhafte Beredsamkeit und teilte mir seine Ansichten über Maler und Malerei sehr unbefangen mit.

 

Ich hätte wahrscheinlich viel lernen können aus seinem Vortrag, wenn er nicht mitten darin unterbrochen worden wäre. Aber dies geschah, und zwar durch Freund Christel, der mit verstörtem Gesicht herbeigeschlichen kam und dem Doktor einige Worte ins Ohr sagte.

 

»Tut mir leid«, erwiderte dieser mit einer entlassenden Handbewegung.

 

»Was gibt es?« fragte die Gräfin, und Schmitt antwortete:

 

»Etwas Unangenehmes, Frau Gräfin. Im Meierhof scheint sich ein Pferd losgerissen und einen der Knechte verletzt zu haben.«

 

»Verletzt?«

 

»Es hat ihn geschlagen, hierher«, wagte Christel vorzubringen und griff an die Hüfte.

 

»Der Chirurg ist gerufen worden; er waltet bereits seines Amtes. Ich bitte, der Sache keine zu große Wichtigkeit beizulegen, es ist hoffentlich überflüssig«, suchte der Doktor zu beruhigen – erfolglos jedoch.

 

»Davon will ich mich selbst überzeugen«, sprach die Gräfin und erhob sich.

 

Auf ihren Befehl lief Christel voran, um Hut und Mantel bringen zu lassen. – Ich bot meine Begleitung an, die Gräfin dankte mit der Versicherung, dass sich immer Begleiter genug bei ihren Dorfgängen einfänden. In der Tat trafen wir beim Hinaustreten auf den Gang einige Diener und Dienerinnen schon dort versammelt, an ihrer Spitze Leonhards schattenhafte Gestalt. Aus dem Hintergrund stürzte, so schnell sie konnte, eine tonnenrunde Kammerfrau mit den verlangten Kleidungsstücken herbei.

 

Im Begriff fortzueilen, richtete die Gräfin noch die Frage an ihren Arzt: »Sie kommen also nicht?«

 

»Ich bitte, mich gnädigst zu entschuldigen«, erwiderte er, und sie ging.

 

Beim Doktor hatte ein rascher Übergang von guter in schlechte Laune stattgefunden. Trotzdem lud er mich ein, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen, und ich nahm an, weil meine Absicht war, die Rückkehr der Hausfrau zu erwarten, um mich bei ihr zu empfehlen. Unterwegs beobachtete Doktor Schmitt ein verdrießliches Schweigen und ließ seinem Unmut erst freien Lauf, als wir in seiner Gelehrtenstube saßen und dampften.

 

»Es ist unglaublich«, brummte er, »wie oft die gute Gräfin mich in Kollision mit dem Dorfbader brächte, wenn ich mich nicht zur Wehre setzen würde.« Er hatte sich in einem ungeheuren Lehnstuhl so schlangenmäßig zusammengerollt, dass man nicht wusste, wo der Mensch anfing und wo er aufhörte, und sprach, und sprach! – Allerdings recht gescheit und witzig, aber alles, was er sagte, war mehr oder minder – Selbstverherrlichung.

 

So eitel, dachte ich im Stillen, kann ein verständiger Mensch nur auf dem Land werden, wo er vermutlich der einzige seiner Art ist. Und als er eine seiner Auseinandersetzungen mit dem grollenden Ausruf schloss:

 

»Ich bin hier nicht an meinem Platz«, entgegnete ich:

 

»Warum bleiben Sie?«

 

»Das ist es ja – ich kann nicht anders, ich bin angeschmiedet auf Lebensdauer – nämlich der Gräfin.

 

Ihre Verwandten haben mich engagiert.«

 

»Unter guten Bedingungen natürlich?«

 

»Unter vortrefflichen. Und dennoch – ich hätte nicht annehmen sollen. Das Leben hier ist doch gar zu ärmlich. Indessen – was ist zu tun? Vor geistigem Verkommen bewahre ich mich nach Kräften durch häufig erbetenen und immer gern erteilten Urlaub. Ich bedarf seiner zu wissenschaftlichen Reisen, zur Aufrechterhaltung meiner zahlreichen Verbindungen. Die Gräfin sieht das ein, kleinlich ist sie nicht.«

 

»Das glaube ich Ihnen gern, dass diese Frau nicht kleinlich ist.«

 

»Sie sind begeistert von ihr; kein Wunder. Mit welcher Liebenswürdigkeit wird sie das ›leuchtende Vorbild‹ ihres Iwan aufgenommen, Ihnen ihr ganzes Vertrauen geschenkt haben ... Aber, Herr Professor, die Geschichten, die Ihnen neu waren, wachsen mir zum Halse heraus.«

 

»Die Gräfin hat mir keine Geschichten erzählt.« »Keine einzige aus der Kindheit ihres Matja und ihres Iwan? Das setzt mich in Erstaunen.«

 

»Wie mich, aufrichtig gestanden, die Art und Weise, in der Sie, Herr Doktor, von der Gräfin reden.«

 

»Ich? – ich habe die höchste Achtung vor ihr, ich sage jedem, der's hören will, dass ich, ein Psychiater, in diesem Haus überflüssig und im Besitz einer Sinekure bin.«

 

»Als Psychiater sicherlich.«

 

»Jawohl, und trotzdem ... Ist Ihnen gar nichts Seltsames an ihr aufgefallen?«

 

Ich antwortete ausweichend, und er begann gelehrt zu werden und berief sich auf Tod und Teufel, unter anderem auch auf Schopenhauer.

 

»Diese Frau«, sagte er, »führt ein Traumleben, in dem es jedoch an wachen Momenten nicht fehlt. Schopenhauer sagt in seinem Versuch über Geistersehen: Bei der Tätigkeit aller Geisteskräfte scheint im Traum das Gedächtnis allein nicht disponibel. Längst Verstorbene figurieren darin noch immer als Lebende ...«

 

Mich überlief's – »Was heißt das? ... was wollen Sie damit sagen?« Ich ahnte wohl, was jetzt kommen würde, und war doch voll Angst, es aussprechen zu hören. – »Wo ist Fürst Iwan?« stieß ich plötzlich hervor.

 

Der Doktor schlug auf den Tisch. »Herr Professor! so sind Sie ihr wirklich aufgesessen? Haben nicht bemerkt ...« Er hielt inne und rief, einem Geräusch von Stimmen und Schritten, das sich vernehmen ließ, lauschend: »Der Tausend, da kommt sie schon zurück von ihrem Krankenbesuch.«

 

»Hat sie den auch im Traum gemacht?« fragte ich. »Nein«, erwiderte er, »und ich will Ihnen erklären ...«