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THOMAS A. SEIDEL [HG.] mit Fotografien von JÜRGEN M. PIETSCH – EVANGELISCH? | 95 ANTWORTEN – 95 PORTRÄTS

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Die Herausgeber

  Thomas A. Seidel vor der mittelalterlichen Madonna in der Georgenburse zu Erfurt | DR.THOMASA. SEIDEL, Jahrgang 1958, ist evangelischer Theologe, Historiker, Autor, Beauftragter der Thüringer Landesregierung zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums ›Luther 2017‹ und Geschäftsführender Vorstand der Internationalen Martin Luther Stiftung. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, vier Enkelkinder und lebt in Weimar.
Thomas A. Seidel vor der mittelalterlichen Madonna in der Georgenburse zu Erfurt

DR. THOMAS A. SEIDEL, Jahrgang 1958, ist evangelischer Theologe, Historiker, Autor, Beauftragter der Thüringer Landesregierung zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums ›Luther 2017‹ und Geschäftsführender Vorstand der Internationalen Martin Luther Stiftung. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, vier Enkelkinder und lebt in Weimar.

   JürgenM. Pietsch, Spröda | JÜRGENM. PIETSCH, Jahrgang1957, ist Fotograf und Leiter des Verlags ›Edition Akanthus‹, der besonders Bildbände, Kalender und Kunstdrucke veröffentlicht. Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Delitzsch.
Jürgen M. Pietsch, Spröda

JÜRGEN M. PIETSCH, Jahrgang 1957, ist Fotograf und Leiter des Verlags ›Edition Akanthus‹, der besonders Bildbände, Kalender und Kunstdrucke veröffentlicht. Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Delitzsch.

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7271-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5607-3 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: info@scm-verlag.de

in Kooperation mit Edition Akanthus, Spröda,
www.edition-akanthus.de
und der Internationalen Martin Luther Stiftung,
www.luther-stiftung.org

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Lektorat: Andrea Cramer, Leipzig
Gesamtgestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Inhalt

Die Herausgeber

Vorwort – Fünfundneunzig (Thomas A. Seidel)

Weit wie das Meer (Torsten Albig)

Was für ein Glück (Eva Sophie Albrecht)

Geborgenheit im Unbegreifbaren (George Alexander Albrecht)

Horizont (Petra Bahr)

Im Zweifel für die Menschlichkeit! (Kurt Beck)

Grundsatztreu, nicht zeitgeistig (Günther Beckstein)

Der Goldgrund des Lebens (Gerhard Begrich)

Buddha und Christus (Frank Berendt)

Freiheit in Christus (Erhard Berneburg)

Widerspruch wagen (Georg Christoph Biller)

Das Sakrament des Hörens (Johannes Block)

Im Konzertsaal (Herbert Blomstedt)

Eine unverwechselbare Lebenshaltung (Jochen Bohl)

Evangelisch heut aus Wittenberg (Wolfgang Böhmer)

Carpe diem – Nutze den Tag (Volker Bouffier)

Angeklagt wegen neun Morden, verurteilt ein ganzes Leben? (Sarah Brendel)

Etwas, das mich umfing (Sabine Bublitz)

Evangelische Katholizität, Fehlanzeige? (Thibaut de Champris)

Den Leuten aufs Maul schauen (Ricarda Colditz)

Unendliche Energiequellen (Oskar Didt)

Du sollst nicht töten (Christoph Dieckmann)

Frische Luft (Michael Diener)

Bekenntnis und Weltverantwortung (Christian Dietrich)

Seine befreiende Liebe (Tabea Dölker)

Wir sind Papst (Stephan Dorgerloh)

Vergiss nicht, Gutes zu tun (Gertraud Drephal)

Lieber evangelisch als protestantisch (Hans-Joachim Eckstein)

Aufrechter Gang (Siegmund Ehrmann)

Glaube, Hoffnung – Liebe (Christine Eichel)

Mit Lust und Liebe singen (Gunther Emmerlich)

Gospelige Lobeshymne (Dieter Falk)

Ungebundenheit und Verantwortung (Thomas Feist)

Aus Äthiopien (Mengiste Frehiwot Alemayehu)

Grenzgängerin der Ökumene (Gundula Gause)

Evangelisch in Altbayern (Peter Gauweiler)

Meine geistlichen Vorfahren (David Gill)

Leben als evangelische Ordensfrau (Christa Grau)

Vom Vorbild des Vaters (Gabriela Grillo)

Das Wunder der Frauenkirche (Ludwig Güttler)

Wie guter Filterkaffee (Juliane Hagen)

Etikettenschwindel (Peter Hahne)

Ohne WLAN oder Megabytes (Johannes Hartlapp)

Auch ohne Amtskirche (Michael Herold)

Rebellion und Neugier (Karla Holzheu)

Worauf ich mich verlassen kann (Ansgar Hörsting)

Reformation – (Michael J. Inacker)

Ein ehrbarer Kaufmann (Dirk Ippen)

Dem Denken viel Raum geben (Daniel Jundt)

Das Gewissen schärfen (Margot Käßmann)

Ich lebe gern (Steffen Kern)

Des Glaubens kleiner Bruder (Eckart von Klaeden)

St. Peter & Paul (Sebastian von Kloch-Kornitz)

Binde deinem Kamel die Füße! (Mihajlo Kolakovic)

Gewissheit (Stephan Krawczyk)

Blumen vor dem Fenster (Michael Kühn)

Wort, Argument, Diskurs (Nicola Leibinger-Kammüller)

Verantwortung übernehmen (Vera Lengsfeld)

Auf der Suche (Annette-Christine Lenk)

Gottes Gnadensignale (Christine Lieberknecht)

Offen für Gott und die Menschen (Inge Linck)

Evangelisch ist für mich … (Friedhelm Loh)

Anspruch und Zuspruch (Andreas Malessa)

Die Katholiken und die Erbse (Britta Martini)

Er nahm mich in den Arm (Helmut Matthies)

Schiffbruch (Eckart Meisel)

Gemeinschaftssinn im Bruderhof (Christin Messner)

Liebesschmerzen (Titus Müller)

Nach Hause kommen (Jonas Opp)

Das vierfache evangelische Motto (Ulrich Parzany)

Sonntags an der Orgel (Frauke Petry)

Griechisch-orthodox und ein bisschen dänisch-lutherisch (Damon Nestor Ploumis)

Der Duft der Freiheit (Christian Popp)

Glaube und Wissen (Bodo Ramelow)

Heimweh (Julia Roos)

Die Grenzen der Menschen-Welt (Ulrich Schacht)

Aus dem Ärmel (Ernestine Seidel)

Ein Privileg (Hermann Selderhuis)

Gerade und schnörkellos (Christine Senkbeil)

Widersprüche aushalten (Stephan Steinlein)

Reformationsbrötchen (Susanne Steppat)

Das Vaterunser (Gabriele Stötzer)

Gottes Ja zu mir (Corinne Trepte)

Diesseitigkeiten (Ellen Ueberschär)

Gestaltungshorizonte (Jörg Uhle-Wettler)

Keine klassische Pfarrfrau (Constanze Victor)

Keine Angst mehr (Annette Weidhas)

Prioritäten (Andreas Weigel)

What would Jesus do? (Frank-Jürgen Weise)

Wirklichere Wirklichkeit (Walter Weispfenning)

Frisch, fromm, fröhlich, frei (Roland Werner)

Ich gebe Gott das Sorgerecht (Jürgen Werth)

Alles klar (Sandra Wieschollek)

Lebenselixiere (Manfred Wilde)

Luther und die Ritter vom Glasbachgrund (Alexander von Witzleben)

Gegen den Strom (Isabel Wünsche)

Quellenangaben

Bildrechte

Die INTERNATIONALE MARTIN LUTHER STIFTUNG

Unterwegs zu Luther: Bücher von und mit Dr. Thomas A. Seidel

Evangelisch? Eine Ausstellung zum Mitmachen

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Fünfundneunzig

95 Thesen stehen am Beginn der Reformation. Martin Luther hat sie »aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bemühen, sie ans Licht zu bringen« verfasst. Jenseits der strittigen Frage »nailed or mailed?« (Hat Luther die Thesen an die Wittenberger Schlosskirchentür genagelt oder doch nur per Kurier verschickt?) ist unbestritten, dass mit diesen 95 Thesen ein Prozess angestoßen wurde, der die Welt verändert hat.

Wie kam das? Weil die Fragen, um die es ging, akademisch interessant waren und (kirchen-)politischen Zündstoff boten? Das auch. Doch das allein erklärt die enormen Folgewirkungen nicht. In und mit diesen 95 Thesen hat ein Christenmensch klar und deutlich Position bezogen – »aus Liebe zur Wahrheit« und aus Sorge um die Glaubwürdigkeit der Kirche und um die Vitalität des Christentums seiner Zeit. Martin Luther war sich sicher: »Gott will seine christliche Kirche erhalten. Wenn schon alle von Christus abfallen: Kaiser, König, Papst, Bischöfe, die Mächtigsten und Gelehrtesten auf Erden, so will doch Gott ein Häuflein behalten, das seinen Geist haben und ihn vor der Welt bekennen soll.«

95 Texte stehen im Zentrum dieses Buches. 95 Männer und Frauen, jung und alt, prominent und weniger prominent, kirchliche Profis und theologische Laien, 95 Personen aus sehr unterschiedlichen Berufen geben kurz und prägnant Auskunft auf die Frage: »Was ist evangelisch – für dich, ganz persönlich?«

Sie tun dies 500 Jahre nach dem Thesenanschlag zu Wittenberg. In einer bundesrepublikanischen Wohlstandswelt, in der das Christentum – gänzlich ohne nationalsozialistische oder SED-staatliche Verfolgung – immer schwächer zu werden scheint. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, inmitten einer Zeit, in der es schick geworden ist, mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten oder möglichst nur das zu sagen, was man für politisch korrekt hält.

In diesem weltanschaulichen und zeitgeistigen Gelände lassen sich 95 Personen auf etwas ein, das an die Haltung Martin Luthers erinnert: Sie beziehen klar und deutlich Position. Sie öffnen ihr Herz. Sie geben auf berührende Weise einen Blick frei auf ihren Glauben und ihre Zweifel, auf prägende Lebensmomente. Sie lassen uns teilhaben an Erfahrungen, die für sie selbst die Welt oder zumindest ihre Sicht auf die Welt wesentlich verändert haben. Sie offenbaren sich als Gottesfreundinnen und -freunde, als Liebhaber der Wahrheit. Sie zeigen Gesicht.

95 künstlerische Fotoporträts geben diesen 95 Bekenntnistexten jeweils ein unverwechselbares Bild. Der Fotograf Jürgen Maria Pietsch hatte die Idee zu diesem Band, die von der Internationalen Martin Luther Stiftung und dem SCM Verlag aufgegriffen wurde. Jürgen M. Pietsch hat unsere Autorinnen und Autoren eingeladen, sich an einem Ort fotografieren zu lassen, der mit ihrem Text, ihrem Lebenszeugnis, ihrem »Bekenntnis vor der Welt« korrespondiert. In dieser konzeptionellen Komposition entstanden 95 lebendige, farbenfrohe Wort-Bild-Profile.

95 Antworten und 95 Porträts repräsentieren nicht nur die beachtliche Bandbreite evangelischer Dialekte und Glaubensformen von lutherisch-konservativ, freikirchlich-evangelikal bis linksprotestantisch-liberal. Wir sind auch außerhalb des deutschen Protestantismus unterwegs gewesen. Wir haben katholischen, orthodoxen, buddhistischen Zeitgenossen oder Menschen, die keiner Kirche angehören, die Frage gestellt: »Was ist evangelisch – für dich, ganz persönlich?« Auch diese Blicke von außen sind spannend. Sie befragen, beleben und bereichern das von Luther so genannte »Häuflein, das seinen Geist haben und ihn vor der Welt bekennen soll«. Gehören Sie (schon) dazu?

Thomas A. Seidel

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Weit wie das Meer

Schleswig-Holstein ist das Land zwischen den Meeren. Vielleicht liegt es an der Weite des Meeres, dass wir aus dem Norden uns da heimisch fühlen, wo Freiheit herrscht.

In meiner Kirche darf ich mich frei fühlen, so wie jeder andere Gläubige auch. Frauen und Männer zum Beispiel haben dieselben Möglichkeiten, sich in ihrem Glauben zu engagieren. Meine Gemeinde ist eine Gemeinschaft, egal ob Mann oder Frau, arm oder reich, Deutscher oder Ausländer. Wir bestimmen selbst, wer uns im Kirchengemeinderat leiten soll. Diese Menschen sind leidenschaftlich engagiert, meist ehrenamtlich. Ich werde von ihnen gut vertreten.

Ich fühle mich in meiner Kirche heimisch. Mehr als das: Ich fühle mich geborgen. Auch das hat mit Freiheit zu tun. Gott hat uns die Freiheit gegeben, zwischen Gut und Böse zu wählen. Und vielleicht manifestiert sich in diesem Geschenk am nachdrücklichsten, welch grenzenloses Zutrauen er zu uns, zu seiner Schöpfung hat. Was, wenn wir uns einmal irren? Wenn wir vom rechten Weg abkommen? Wird Gott uns strafen? Wie Martin Luther glaube ich, dass wir keine Angst vor Hölle und Teufel haben müssen. Gott ist gnädig und liebt uns. Sein Erlösungswille ist unendlich. Wir sollten in seinem Sinne leben, in Liebe und in Frieden.

Ich bemühe mich, dies jeden Tag zu tun, so gut ich es kann. Das Vertrauen auf Gott macht mich frei in meinem Handeln, privat und in meiner Arbeit für die Menschen in Schleswig-Holstein. Mein Gott wird mich in all meiner Schwäche schützen, er will mich nicht für meine Fehler strafen. Wie heißt es in einem meiner liebsten Kirchenlieder: »… und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand«. Damit komme ich gut durch mein Leben.

Torsten Albig – im Kieler Hafen vor Großseglern
Torsten Albig – im Kieler Hafen vor Großseglern

Torsten Albig (geb. 1963); Studium der Rechtswissenschaften, Tätigkeit in der Steuerverwaltung Schleswig-Holstein, Sprecher mehrerer Bundesfinanzminister, Stadtrat und später Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Kiel, seit 2012 Ministerpräsident und Mitglied des schleswig-holsteinischen Landtages.

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Was für ein Glück

Was ist evangelisch? – Als konvertierte Katholikin denke ich da weniger an eine von der katholischen Konfession getrennte evangelische Kirche – nein. Vielmehr sehe ich einen Raum der Offenheit vor mir, in dem ich mich als Christin stets wohlfühle, wo ich mich abseits jedes strengen Rituals bewegen kann, mit meinen Fragen willkommen bin und auch den lebendigen Austausch über den Glauben und die Kultur erlebe. Ich verknüpfe damit nicht zuletzt meine Erfahrungen im schönen Kloster Mariensee, einem der evangelischen Frauenklöster in Norddeutschland, wo ich bei meiner Großmutter, der Altäbtissin, oft zu Besuch war. Es ist ein Ort, an dem mehr als 800 Jahre lang Frauen die klösterliche Gemeinschaft pflegen; zunächst als Nonnen nach den Regeln der Zisterzienser, seit der Reformation als evangelischer Konvent mit besonderer Widmung dem Gebet, dem Bildungsauftrag und der Hilfe in Notlagen.

Mir als Musikerin steht aber vor allem Johann Sebastian Bach vor Augen, der die evangelische Kirche durch seine herrlichen Werke reich beschenkte und bis heute das Wort Gottes durch seine Musik verkündigt. Was für ein Glück, dass auch die katholische Kirche von diesem Schatz ernten kann. Ein Schatz, der den Menschen allzeit – egal ob gläubig oder nicht, ob evangelisch oder katholisch – Kraft und Glaubenstiefe spenden wird!

Eva Sophie Albrecht – im Park Belvedere Weimar
Eva Sophie Albrecht – im Park Belvedere Weimar

Eva Sophie Albrecht (geb. 1996); Abitur 2014 an der katholischen Edith-Stein-Schule in Erfurt, spielte in ihrer Jugend viel Cello und war Jungstudentin an der Hochschule für Musik ›Franz Liszt‹ Weimar, derzeit studiert sie Cello in Karlsruhe.

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Geborgenheit im Unbegreifbaren

Alles freie Beten – »Betet ohne Unterlass!« (1. Thessalonicher 5,17) – bedarf immer von Neuem der Rückversicherung, der Erdung durch das Evangelium, um nicht in Beliebigkeit, in Subjektivismus oder ins Sentimentale abzugleiten.

Für mich umfasst ›evangelisch‹ alles geistliche Leben, das auf dem Evangelium beruht. Mit dem Evangelium leben – die Psalmen inbegriffen – heißt, am Anfang und am Ende eines jeden Tages das Neue Testament zu uns sprechen zu lassen. Daher brauchen wir dringend eine verlässliche Treue zur Liturgie, wie ich sie in der katholischen Messe antreffe. Das ist für mich einer der Gründe für meine Konversion, die ich vollzog, obwohl mir die evangelische Kirche von jeher heimatlich war und ist.

Weitere Gründe meiner ›Untreue‹: die Gottesmutter Maria. Das Rosenkranzgebet nimmt neben dem Herzensgebet einen festen Platz in meinem Tageslauf ein. Ich brauche spürbare körperliche Zeichen: das Kreuzschlagen und das Knien – beides hat Luther ja selbst sein Leben lang praktiziert.

Und schließlich: die Präsenzerfahrung Gottes im Allerheiligsten, durch die der Kirchenraum selbst geheiligt wird. Eine Kirche ist eben mehr als ein religiöser oder gemeindepraktischer Versammlungsraum! Sie birgt das Geheimnis Gottes, vor dem wir erschauern. Dieser Schauer ist nicht Angst, sondern das Gegenteil: Geborgenheit meiner kleinen Existenz im heiligen Unbegreifbaren, das alles umfasst. Kein Intellekt kann und darf uns durch seine kühle Sachlichkeit die Wärme des Glaubens nehmen. Wir müssen nicht alles verstehen und erforschen. Aber wir dürfen unser Leben als fortwährendes Gebet führen und an IHN zurückgeben.

George Alexander Albrecht – Weimar, in seiner Bibliothek
George Alexander Albrecht – Weimar, in seiner Bibliothek

Prof. George Alexander Albrecht (geb. 1935); ab 1965 Generalmusikdirektor in Hannover, ab 1993 Dirigent der Semperoper Dresden, 1996–2009 Generalmusikdirektor des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, Honorarprofessor an der Hochschule für Musik ›Franz Liszt‹ Weimar; zählt zu den vielseitigsten Dirigenten seiner Generation, tritt seit 2010 öffentlich als Komponist hervor; engagiert sich in der Hospizarbeit.

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Horizont

Die Konfession ist für mich keine Frage der Wahl. Sie wurde mir mitgegeben wie die Haarfarbe, die Liebe zur Musik und die unumstößliche Überzeugung, dass Zahlen schön sein können. Eine Mischung aus Prägung und Abstoßung von dem, was im Elternhaus eingeübt und vorgelebt wurde. In einer Zeit, in der nur das Selbstgewählte relevant ist und das, was der Entscheidung entzogen bleibt oder vorgefunden wird, zum Grund für Befragungen wird, ist das ein nüchternes Eingeständnis.

Ich bin evangelisch geworden, weil meine Eltern es so wollten. Ich bin evangelisch geblieben, weil sie mir vermittelten, dass evangelisch sein das Gegenteil einer Unterwerfung, eines Erziehungsprogramms oder eines Repertoires an protestantischen Sprachgesten ist. Nichts gegen Luther, Gerhardt und Bach, aber der Geist der Freiheit, der da weht, wo Einsicht in das unbedingte Angenommensein Gänsehaut macht, liegt jenseits konfessionalistischer Sprache. Mein lebensbestimmendes, wenn auch nicht unbezweifeltes Grundgefühl im Leben ist evangelisch im biblischen Sinne des Wortes. Keine Macht der Welt entscheidet über mein Gewicht, meine Würde, meinen Sinn – als Gott allein. Diese Vorgabe ist eher ein Horizont als ein fester Grund. Wie eine unsichtbare Linie ordnet dieser Horizont das, was vorne und hinten, unten und oben ist. Dieser Horizont ist unmittelbar mit meinem Standort in der Welt verbunden. Er wandert mit und läuft mir voraus, ohne dass ich je hinter ihn kommen kann. Er ist immer schon da.

Petra Bahr – in ihrem Büro in der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin
Petra Bahr – in ihrem Büro in der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin

Dr. Petra Bahr (geb. 1966); journalistische Ausbildung, Studium der Theologie und Philosophie, Unternehmensberaterin, bis 2005 Referentin für Theologie an der FEST in Heidelberg, Pfarrerin der Evangelischen Kirche, ab 2006 Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leiterin der Hauptabteilung ›Politik und Beratung‹ der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, Autorin und Kolumnistin.

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Im Zweifel für die Menschlichkeit!

Christ sein, die persönlichen und die allgemeinen Ereignisse in einen Wertekanon einzuordnen, bleibt eine stetige Herausforderung. Gerade die furchtbaren Erfahrungen in Israel und auf palästinensischer Seite, in Syrien, im Irak oder in der Ukraine schreien geradezu nach einer Positionierung. Einer klaren Haltung, die man selber einnimmt, und einer klaren, verantwortlichen Politik. Und dann? Wie beantwortet man selber die Fragen, die anstehen?

Humanitäre Hilfe, ja klar, ein Gebot der Menschlichkeit, der christlichen Gebote. Um ein humanes Flüchtlings- und Asylrecht ringen, europäisch abgestimmtes Verhalten einfordern, ja klar – zweifelsfrei ein Gebot des christlichen Wertegerüstes. Aber was ist mit der Verteilung der finanziellen Mittel? Natürlich muss für die zu uns kommenden Menschen die Gemeinschaft der Bürger auch finanziell geradestehen. Auch für manchmal entwurzelte, traumatisierte Menschen und für solche, die die Hilfe ausnutzen wollen. Die Städte und Gemeinden dürfen mit diesen Aufgaben nicht alleingelassen werden. Da braucht es das klare Wort der Orientierung: ›Im Zweifel für die Menschlichkeit!‹

Was ist mit Waffen – oder gar Militärhilfen? Ja, Krieg ist keine Lösung. Aber was ist, wenn die einen – hochgerüstet, mit Petrogeldern bezahlt – ein Kalifat errichten wollen und einen Massenmord exekutieren?

Für Gewaltfreiheit sein, die eigene Seele rein halten und wegschauen, oder sich mit differenzierten Gedanken quälen und helfen? Ich bin mir sicher, letzterer Weg ist christlich, evangelisch: mit immer neuen Fragen und Zweifeln und immer wieder aufs Neue prüfen, hinschauen und Position beziehen. Evangelisch also.

Kurt Beck – im Garten des Gästehauses der Landesregierung, Mainz
Kurt Beck – im Garten des Gästehauses der Landesregierung, Mainz

Kurt Beck (geb. 1949); ab 1979 Mitglied des rheinland-pfälzischen Landtages, 1993–2012 Vorsitzender der SPD Rheinland-Pfalz und zweieinhalb Jahre Vorsitzender der Bundespartei, 1994–2013 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, Ehrenvorsitzender der SPD Rheinland-Pfalz und Inhaber mehrerer Ehrenämter; lebt in Steinfeld.