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Titel

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7263-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5627-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: info@scm-verlag.de

Originally published in English under the title: Moms’ Night Out
© der Originalausgabe 2014 by Night Out, LLC
Published by B&H Publishing Group in Nashville, Tennessee.
All Rights Reserved. This Licensed Work published under license.

Übersetzung: SuNSiDe
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: © 2014 CTMPG. All Rights Reserved.
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Illustrationen: shutterstock.com







Segen: Substantiv.
Eine positive Kraft, für die man dankbar ist; etwas, das wohltut

Inhalt

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Epilog

KAPITEL
EINS

Allyson setzte sich an ihr Notebook, ihre Finger schwebten über der Tastatur. Sie lauschte aufmerksam und ein Lächeln trat auf ihre Lippen. Im Zimmer herrschte eine himmlische Ruhe. Draußen zirpten die Grillen und taten damit das, was sie nach Gottes Ratschluss am besten konnten. Wenn sie doch nur das gleiche Gefühl von Richtigkeit, Sinnhaftigkeit, von einem lohnenden Ziel in ihrem Leben hätte!

Der leere Computerbildschirm vor ihr war weiß und blitzblank. Er war allerdings der einzige Gegenstand in ihrer Wohnung, von dem man das sagen konnte. Die Tasten klapperten unter ihren Fingern, als sie ihre Gedanken für ihren Blog niederschrieb. Eingerissene Fingernägel, die eine Maniküre dringend nötig hatten, wollten sie ebenso ablenken wie die Legosteine auf dem Läufer mit Fischgrätenmuster, doch Allyson befahl sich, sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Sie hatte ihrem Mann Sean versprochen, die Welt weiterhin an ihrer Weisheit teilhaben zu lassen. Sie war keine Mami-Bloggerin … noch nicht jedenfalls. Aber man durfte ja wohl noch Träume haben!

Es ist 5 Uhr morgens. Wisst ihr, wo eure Kinder sind? Meine sind im Bett. Ich sollte ebenfalls im Bett sein. Heute ist Muttertag. Doch ich bin nicht im Bett. Und wisst ihr, warum? Weil ich eine Ordnungsfanatikerin bin! Und zwar richtig krass verrückt.

Würde man mich in einer Zwangsjacke in einen weißen gepolsterten Raum stecken, würde mich das wahrscheinlich beruhigen – solange die Wände blitzsauber sind und niemand Schuhe trägt.

Ich kann förmlich spüren, wie das Haus schmutzig wird. Als wären meine Nervenenden mit dem Teppich verbunden. Und das hat Auswirkungen auf mich. Wollt ihr wissen, inwiefern? Zuerst werde ich davon abgelenkt.

»Abge … le …«, tippte Allyson. Sie blickte erneut zu den Legosteinen hinüber und zu der Haarklammer, die danebenlag. Und die Putzmittel … hatte sie die weggestellt oder nicht?

Sie schüttelte den Kopf und befahl sich, jetzt nicht daran zu denken. Was habe ich gerade geschrieben?

»Konzentrier dich, konzentrier dich«, murmelte sie und fing wieder an zu tippen.

Sogar jetzt, während ich schreibe, denke ich an die Putzmittel, die ich draußen stehen gelassen habe, und ich stelle mir vor, wie eines der Kinder aufsteht und Bleichmittel trinkt. Vor meinem inneren Auge ziehen Warnaufschriften vorüber.

GEFAHR

NICHT IN REICHWEITE VON KINDERN AUFBEWAHREN

GESUNDHEITSSCHÄDLICH BEI VERSCHLUCKEN

NICHT TRINKEN

KANN ZU BLINDHEIT FÜHREN

KONTAKT MIT SCHLEIMHÄUTEN VERMEIDEN

KANN LÄHMUNGEN VERURSACHEN

KANN VORZEITIGES ALTERN IM GESICHT VERURSACHEN

IHRE KINDER WERDEN NIE MEHR SO SEIN WIE VORHER

DIE VERGIFTUNGSZENTRALE KANN IHNEN AUCH NICHT MEHR HELFEN

SIE HABEN WIEDER EINMAL VERSAGT

DAS JUGENDAMT IST UNTERWEGS, UM IHNEN IHRE KINDER WEGZUNEHMEN

SIE SIND EINE VERSAGERIN

Meine Fantasie läuft Amok. Ich sehe das alles vor mir. Ich werde beim Giftnotruf anrufen müssen und sie werden sagen: »Tut uns leid, Mrs Field, aber das ist diesen Monat eindeutig zu oft passiert.« Und dann werden sie mir meine Kinder wegnehmen.

Ich sehe zwei Männer in weißen Oberhemden, schwarzen Anzügen, mit Krawatten. Der erste Mann trägt eine schwarz umrandete Brille und macht ein ernstes Gesicht. Der Mann hinter ihm wirkt wie ein ehemaliger WWF-Aktivist, der nicht sehr glücklich über seinen Berufswechsel ist und sich darauf freut, meine Kinder mit Gewalt von mir wegzuzerren. Ich schaudere, als er ein Paar Handschellen hochhält.

Ich habe mir alles bis ins Detail ausgemalt, was lustig, beängstigend und makaber zugleich ist. Aber das ist nur der Anfang. Jetzt, wo ich abgelenkt bin – von meinem chaotischen Haushalt, der mich nur verhöhnt –, bin ich gestresst.

GESTRESST!!!

Stellt euch einfach vor, ich stünde inmitten dieser stilisierten Blasen, die in den Fünfzigerjahre-Comics für eine Atombombenexplosion stehen, und zwar mit allem Drum und Dran, mit Atompilz und nuklearem Showdown, der auf die Explosion folgt. Nicht, dass ich mich wirklich damit vergleichen will – na ja, ein bisschen vielleicht schon.

Jedenfalls fühlt es sich so an. Letzte Woche zum Beispiel.

Es war nur ein kleiner Ausflug und ich wollte einfach nur ein Gespräch mit meinem Mann Sean führen. Wenn ihr zu meinen 3,7 Blogleserinnen gehört (nein, nicht 3,7 Tausend, nur 3,7), wisst ihr, wie durch und durch liebenswert und gut aussehend Sean ist.

Ich wollte also ein ganz normales Gespräch mit Sean führen, über nichts Weltbewegendes, als ich plötzlich spürte, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufrichteten. Der Lärm in unserem Van war nervtötend.

Es fing damit an, dass der zweijährige Beck sein Windrad rhythmisch gegen das Fenster des Minivans schlug, wieder und wieder und wieder. (Liebe Mami-Freundinnen, eins wissen wir Mütter sehr gut: Wenn etwas keinen An-/Aus-Knopf und keinen Lautstärkeregler hat, heißt das noch lange nicht, dass es ein ›leises‹ Spielzeug ist!)

Das Klopfen von Aluminium auf Glas hatte meinen Herzschlag bereits beträchtlich beschleunigt, als es von der Stimme unserer vierjährigen Bailey übertönt wurde.

»Mama! Mama!!« Die Stimme steigerte sich rasch zu ohrenbetäubender Lautstärke, durchdrang das Innere des Vans und dröhnte mir in den Ohren.

In meinem Magen krampfte sich etwas zusammen und explodierte – ein Schwall Frustration stieg in mir auf, mit ungeahnter Beschleunigung.

Mein Kopf fuhr zur Sitzbank hinter Sean herum, sodass mein Haar noch heftiger mitflog als das von Willow Smith.

Mit furienhaft aufgerissenen Augen schnauzte ich sie an: »Ich rede gerade mit Daddy!« Die Worte schossen aus meinem Mund wie eine kochende Lavafontäne.

Ja, das war ich bei einem ›Anfall‹ wegen meiner Tochter. Kommt euch dabei vielleicht die Diagnose ›Stress‹ in den Sinn? Und angefangen hatte alles mit den Teppichfransen, die sich in meinem Kopfkino lauthals über die Schlammklümpchen beschwerten, von denen ich sie noch hatte befreien wollen, bevor wir losfuhren.

Der wohlgemeinte Rat »Denk nicht an zu Hause, an das Chaos, die Arbeit, die dort auf dich wartet« funktioniert in der Regel nicht. Wir wissen es nur zu genau. Wir wissen, wie das Haus ausgesehen hat, als wir es verlassen haben – geputzt oder ungeputzt – und es scheint uns zu verhöhnen, ganz gleich, wohin wir fahren.

Ich versuchte, mir das wild blickende, rothaarige Mami-Monster vorzustellen, das meine Kinder in diesem Moment sahen. Es war keine schöne Vorstellung. Doch es war nun einmal entfesselt, unfähig, sich zu beherrschen – und auch gar nicht willens. Es fühlte sich gut an, auf diese Weise ein wenig Dampf abzulassen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Sean die Hände fester um das Lenkrad schloss. Ich starrte ihn an, fast drohend. Er sollte es nur wagen, etwas zu sagen! Man sollte doch annehmen, dass er nach acht Jahren Ehe gelernt hätte, wann er schweigen muss, doch offensichtlich war dies nicht der Fall, denn plötzlich hörte ich:

»Schatz, denk an dein Stresslevel. Es ist ein bisschen hoch und du weißt doch, die Psychotante, bei der du kürzlich warst …«

»Soll das heißen, du hältst mich für verrückt?«, schnaubte ich. »Verrückt!« Eine brillante Antwort, ich weiß. Irgendwie schon ein bisschen verrückt. Dabei war das erst der Anfang gewesen.

Wenn diese kleine Mami-Offenbarung noch nicht schlimm genug war, dann war es auf jeden Fall der Ausbruch fünf Minuten später, beim Anblick eines hilflosen, frisch verheirateten Pärchens.

Ich konnte nicht anders. Ich sah die beiden in dem hübschen Cabrio, das völlig unschuldig heranfuhr und an der roten Ampel hielt. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass ich früher auch ein hübsches Cabrio besessen habe, das wir nach der Geburt von Brandon, unserem ersten Sohn, verkaufen mussten, um ein ›Familienauto‹ anzuschaffen. War das wirklich erst sechs Jahre her?

Das Cabrio war makellos. Keine Ketchupflecken auf den Sitzen. Keine zusammengedrückten Orangensaft-Packungen unter den Fußmatten. Und auf den glänzenden Türen stand in abwaschbarer Farbe »frisch verheiratet«.

Von Herzchen umrahmt. HERZCHEN!

Seans Fenster war heruntergelassen. Ich spürte, wie ich mich hinüberbeugte, als hätte ein anderes Wesen von mir Besitz ergriffen. Ich lehnte mich hinüber, wobei ich beinahe auf Seans Schoß zu sitzen kam, so dicht wie möglich an das offene Fenster.

»Wir möchten nur gratulieren!«, rief ich und sah das honigsüße Lächeln in ihren Gesichtern. »Genießen Sie diesen Moment in Ihrem Leben!«

Die beiden warfen einander Welpenblicke zu. Blicke der Zufriedenheit und des Vertrauens. Ich befahl mir, es dabei zu belassen. Es mit der Gratulation gut sein zu lassen … doch ich hörte nicht auf mich.

Als ich anfing zu reden, dachte ich noch, es würde mir helfen. Doch die Worte kamen immer schneller, wie ein durchgehendes Pferd. Ganz eindeutig hatten meine Gefühle das Reden übernommen.

»Genießen Sie den Augenblick«, hob ich erneut an. »Denn im Nu ist er vorbei und an seine Stelle treten Stimmen, laute Stimmen!«

»Mama!« Brandon versuchte, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, veranschaulichte dadurch aber lediglich, was ich gesagt hatte.

»Mami! Mami!«, fielen wie auf Bestellung die beiden anderen Stimmen ein.

»Unvorstellbar laute Stimmen!« Meine Hände zitterten, während ich den Frischvermählten meine Prophezeiung zurief. Inzwischen stand ihnen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Wer ist diese Frau?, schienen ihre weit aufgerissenen Augen zu fragen.

Ich sah flüchtig zu den Kindern auf dem Rücksitz, die zum ersten Mal an diesem Tag still waren. Vielleicht genossen sie die Show, die die Irre auf dem Vordersitz vor ihnen abzog.

Doch ich war noch nicht fertig – obwohl ich mir heute wünsche, ich hätte nicht weitergesprochen.

Ich räusperte mich. Und dann drang ein zitternder Rest von Stimme aus meiner Kehle. »Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht!«

Die Braut rümpfte die Nase und sah mich an, als sei mir ein zweiter Kopf gewachsen. Ich konnte förmlich ihre Gedanken lesen. Eine Verrückte in einem Minivan. Doch plötzlich wandelte sich ihr Schrecken in reine Panik. Panik ist wirklich das beste Wort dafür.

Die Frau in dem Cabrio sah mich an, doch jetzt sah sie nicht mehr mich. Ihr Schock war ein anderer, ein völlig neuer … als sähe sie plötzlich in ihre eigene Zukunft. Ein Albtraum schien vor ihr aufzutauchen.

Als ich ihren Gesichtsausdruck sah, biss ich mir auf die Unterlippe. Es war der Ausdruck eines Mädchens, dessen Märchen gerade ein jähes Ende gefunden hatte. Ich hatte es ermordet. Ich bin eine Märchen-Mörderin!

Und da, meine Freundinnen, erkannte ich die bittere Wahrheit. Mein Alltag macht mehr mit mir, als mir lieb ist. Wenn ich denke, ich hätte alles in mir und um mich herum bestens sortiert, wie Tetris-Bausteine herumgeschoben und jeden an seinen Platz gestellt, bis ich mich einigermaßen bewegen kann, dann passen die Bausteine plötzlich nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, und die Gefühle türmen sich höher und höher, bis es »Peng!« macht.

Ich bin so etwas wie der Hulk, der Bruce Banner der nicht berufstätigen Mütter. Er will sich nicht in den Hulk verwandeln, doch es passiert einfach. Genau so fühle ich mich.

Im einen Augenblick bin ich noch ein ganz normaler Mensch. Im nächsten wächst das große grüne Monster in mir heran, breitet sich in alle Richtungen aus. Ich wachse und verwandle mich in etwas nicht mehr Wiederzuerkennendes, ja Bedrohliches. In eine Verrückte vielleicht, bis ich so riesig bin, dass ich die Wände sprenge. Dass nichts mich stoppen kann.

Und obwohl ich den Grund für mein unberechenbares Alter Ego kenne, weiß ich nicht, wie ich mit diesem Zustand umgehen soll. Wie kann es mir gut gehen angesichts eines Hauses, das ich ständig putze, das aber nie sauber ist? Oder angesichts meiner Kinder, denen es Spaß macht zu sehen, wie ihre verrückte Mutter sich beim Anblick der kleinsten Unordnung und des unbedeutendsten Fehlverhaltens verzweifelt die Haare rauft? Kann ich mich ändern? Kann ich in Ordnung bringen, was zuallererst, vor allem anderen, in Unordnung ist – mich selbst?

Ich liebe meine Kinder. Ich liebe auch meinen Mann und den Minivan. Mein Minivan ist wundervoll. Ich führe ein unglaublich tolles Leben, also … wieso fühle ich mich dann so?

Weiß das jemand? Irgendjemand?

Allyson las das Geschriebene noch einmal durch, korrigierte ein paar Tippfehler und klickte auf »Veröffentlichen«, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Die meisten ihrer klugen und witzigen Blog-Beiträge stellten keine Fragen, sondern lieferten Antworten, doch im Moment war sie völlig ratlos. Immerhin gab es heute trotzdem ein paar Dinge, auf die sie sich freuen konnte. Heute war Muttertag und heute würde Sean nach Hause kommen, der beruflich ein paar Tage unterwegs gewesen war. In seiner Abwesenheit fiel ihr alles immer noch schwerer. Sie lächelte beim Gedanken daran, wie er durch die Tür kommen würde – mit weit geöffneten Armen. Ob er wohl wusste, wie sehr sie ihn brauchte?

Sie warf noch einen kurzen Blick auf die Zahl der Seitenaufrufe ihres Blogs seit letztem Monat: 18. Drei für jeden Beitrag, den sie geschrieben hatte. Sean, ihre Mutter und Izzy (ihre beste Freundin), kein Zweifel. Allyson war allerdings nicht ganz sicher, ob Izzy den letzten Beitrag wirklich gelesen hatte; ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie ihn zwei Mal gelesen hatte, und sie dabei auf drei Grammatikfehler hingewiesen.

Wir alle fangen klein an, tröstete ihr Verstand ihr Herz. Ihr Wert hing schließlich nicht von Seitenaufrufen ab, richtig? Das jedenfalls sagte sie sich, während sich in ihrem Bauch ein Gefühl der Anspannung ausbreitete. Aber sie konnte ja immer noch ihr Haus putzen – das war doch etwas Greifbares! Wenn sie geputzt hatte, konnte sie den glänzenden Fußboden bewundern, den sauberen Kiefernduft einatmen. Es war ein kleines Gefühl der Kontrolle in ihrer Nicht-Berufstätigen-Welt. Es war etwas, auf das sie zeigen und wofür sie sich einen imaginären goldenen Stern verleihen konnte. Es bewies, dass sie ihr Leben nicht verschwendete. Dass ihre lauten, überfüllten, ermüdenden Tage einen Sinn hatten.

Doch sie verweilte nicht allzu lange bei diesem Gedanken. Es war Zeit zu handeln. Allyson klappte ihr Notebook zu und stand auf. Nach wenigen Minuten war ein weiteres Geräusch zu dem Grillenzirpen hinzugekommen: das Schaben des Besens auf dem Boden. Das Klappern des Spielzeugs, das sie auf einen Haufen warf.

Da, nimm das, dachte sie, während ihre roten Locken flogen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie etwas wahr, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Das erste leichte Morgendämmern drang durchs Küchenfenster, wie ein Spot fiel ein Sonnenstrahl auf eine kleine rosa Socke. Die Socke schien sie zu verhöhnen. »Siehst du mich? Willst du mich etwa hier liegen lassen? Da, wo ich herkomme, gibt es noch mehr Unordnung, das wirst du ja wohl wissen!«

Entschlossen schob sie den Besen auf die Socke zu. Ihre Augen wurden groß, als sie den Legostein dahinter sah. Und das Spielzeugauto. Weg damit. Ein Dutzend Buntstifte, zerbrochen, überall verstreut. Sie fegte sie zusammen. Es war, als hätten Hänsel und Gretel – oder in ihrem Fall Brandon, Bailey und Beck – eine Spur von Brotkrümeln beziehungsweise Spielzeug hinterlassen, die sie finden musste.

Alles Gute zum Muttertag.

Eine Strähne roten Haares löste sich aus ihrem achtlos zusammengedrehten Dutt und lockte sich auf ihrer Wange. Sie blies sie aus dem Gesicht. Ihre Hände umklammerten den Besen noch fester.

Kinder sind ein Segen, sagte sie sich, während sie sich vorarbeitete. Sie ging in das Familienzimmer und sortierte das Spielzeug in beschriftete Kästen. Als Nächstes war das Spülbecken dran und wurde kräftig geschrubbt. Dann öffnete sie die Spülmaschine. Zitronenduft stieg auf, Balsam für ihre Seele. Ein sauberer, frischer Duft.

Ihre Hände bewegten sich mit Ninja-Geschwindigkeit, während sie Tassen in den Schrank stellte.

»KEEP COOL AND MOMMY ON«, stand auf dem Mini-Poster an der Innenseite der Schranktür und Allyson schob entschlossen das Kinn vor.

Ich möchte gern glauben, dass das Muttersein ein Segen ist. Ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Sie fuhr sich über die Augen. Aber irgendwie endet es immer damit, dass ich das Gefühl habe, es müsste noch etwas anderes im Leben geben. Das Zimmer um sie herum verschwamm ganz leicht vor ihren Augen.

Was spielt es schon für eine Rolle?, dachte sie, als sie den Besen wieder auf seinen Platz im Wäscheschrank stellte. Das Haus war jetzt sauberer. Nicht perfekt, aber besser.

Doch das nagende Gefühl in ihrem Bauch war immer noch da. Werde ich je das Gefühl haben, dass es genug ist? Wird es je genug sein? Und die Frage, die sie in ihrem Blog gestellt hatte, hallte weiterhin in ihr nach.

Wieso fühle ich mich so?

KAPITEL
ZWEI

»Mama!« Die Stimme weckte sie unsanft auf. Allyson erinnerte sich an Aufräumen, Fegen und Wischen und daran, dass die Küche irgendwann endlich sauber gewesen war. War sie danach wieder eingeschlafen?

»Mama, Mama!«

Ihre Augen schlossen sich wieder. Vielleicht konnte sie noch eine Minute dösen. Nur eine Minute. Eine einzige Minute.

»Mama!!!« Sie riss die Augen auf, hob den Kopf und schaute auf die Uhr. 8:15.

»Oh nein!«

Sie stolperte aus dem Bett. Desorientiert. Von unten herauf drangen Stimmen, denen sie folgte. Geschirr klapperte. Geschirr! Das letzte Mal, als ihre drei sich selbst Frühstück gemacht hatten, war eine halbe Schachtel Müsli auf dem Boden gelandet und zu feinem Staub zertreten worden.

Sie hoffte, dass es diesmal nicht so schlimm war, und lief mit klopfendem Herzen die Treppe hinunter.

Unten angekommen, schlich sie um die Ecke, blieb stehen und spähte in die Küche. Bei dem Anblick blieb ihr beinahe das Herz stehen. Es war noch schlimmer. Ein Fall für den Katastrophenschutz.

Alle drei Kinder standen auf Stühlen an der Küchentheke und hatten sämtliche Teller, die sie besaßen, vor sich aufgereiht. In der Mitte stand ihre große Punschschale, gefüllt mit …

Oh nein, nein, nein. Allyson kniff die Augen zusammen. Dann rieb sie sie hektisch. Sie wollte nicht glauben, was sie sah.

»Überraschung!«, brüllte Brandon in höchster Lautstärke. »Wir haben dir Rührei gemacht!«

»Mit Zucker!«, fiel Bailey ein. Sie trug ein silbernes Krönchen auf dem Kopf.

Und mit allem anderen, was in der Küche zu finden war, wollte Allyson hinzufügen, denn sie sah, dass der Inhalt ihrer Schränke über das gesamte Haus verstreut war. Ihr fast perfektes, sauberes Haus.

Drei strahlende Gesichter. Brandon rührte die rohen Eier immer schneller und schneller und verspritzte dabei den Inhalt der Schüssel über die gesamte Theke.

Allyson presste die Lippen zusammen bei diesem Anblick. Stunden. Sie hatte auf Stunden ihres kostbaren Schlafs verzichtet … nur um jetzt sehen zu müssen, wie alle ihre Bemühungen zunichtegemacht wurden.

»Herzlichen Glückwunsch zum Muttertag!«, quiekte Bailey.

Allysons Mund öffnete sich, doch sie blieb stumm und versuchte, keinen Panikanfall zu bekommen. Sie wusste, dass es eine aufmerksame, liebevolle Geste ihrer Kinder war. Doch alles, was sie sehen konnte, waren Salmonellen.

Salmonellen auf der Küchentheke.

Salmonellen auf dem Treppengeländer.

Salmonellen auf dem Flur und auf den Kindern. Und die Angst vor Salmonellen war Allysons schlimmste Phobie überhaupt.

Sie dachte an letzte Woche. Da hatte sie die gleiche Panik gepackt, als Baileys Barbie in eine Schüssel mit rohen Eiern gefallen war. Sie hatte sie verbrannt, ohne Rücksicht darauf, dass es Baileys Lieblingspuppe war. Hinterher hatte sie sich schlecht gefühlt. Doch das war letzte Woche gewesen. Das hier war jetzt.

Allyson griff nach dem Pumpspender mit Desinfektionsmittel, der auf dem Tisch stand. »Okay. Wir … wir machen jetzt ein kleines Spiel. Keiner bewegt sich!«

Sie gehorchten. Sechs Hände hoben sich in die Luft. Rohes Ei lief an ihren Armen hinunter. Die Ketchupflasche, die Bailey in der Hand gehalten hatte, fiel in die Schüssel mit den rohen Eiern. Die Kinder kicherten.

Dann schaute Beck sie an, ein Blitzen in den Augen. Wie in Zeitlupe tauchte er seine Finger in die Masse aus rohem Ei und …

… hob ihn zum Mund.

»Beck, steck nicht den Finger … nein!« Allysons Stimme gellte durch die Küche.

Oh nein, nein, nein. Er wird das essen. Er wird es in den Mund stecken und einer von schätzungsweise vierhundert Menschen sein, die an Salmonellenvergiftung sterben. Ihr Magen verkrampfte sich. »Ach kommt schon, Kinder! Oh … Salmonellen!«

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Allyson riss Beck die Kleider vom Leib. Erst dann fiel ihr ein, dass seine Windeln im Obergeschoss waren. »Zieht euch an, alle. Wir ziehen uns jetzt alle was Richtiges an.« Sie klemmte sich ihren Sohn unter den Arm und stürmte die Treppe hinauf.

Sie glaubte, das Telefon im Wohnzimmer klingeln zu hören. Dies und das Geräusch, wie Bailey auf dem Dreirad fuhr … im Haus.

Dann hörte sie es. Den Laut, mit dem Bailey mit dem Dreirad gegen den Mülleimer prallte. Den Laut, mit dem der Mülleimer umfiel und sein Inhalt herausquoll … die Eierschalen. Dutzende von Eierschalen, die sie gerade aufgesammelt hatte, ergossen sich über den Fußboden. Dann herrschte Stille.

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Sean hastete durch die Doppeltüren auf dem Flughafen, die Reisetasche in der Hand, die Aktentasche über die Schulter gehängt. Dabei überlegte er fieberhaft, was er als eine Entschuldigung anführen könnte, doch ihm fiel keine ein. Er hatte Allyson gesagt, er würde versuchen, einen früheren Flug zu bekommen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass er am Muttertag zu Hause war.

Er hatte es nicht explizit versprochen, fühlte sich aber trotzdem schlecht, weil es ihm nicht gelungen war.

Er hatte versucht, seine Arbeit schneller zu schaffen, doch einige Probleme mit dem Design hatten zu Verzögerungen geführt. Und dann waren auch noch ein paar Flüge ausgefallen. Aber immerhin würde er heute noch nach Hause kommen. Vielleicht erst nach dem Essen, wenn die Kinder schon schliefen, aber das zählte schließlich immer noch als ›heute‹. Mit dem Daumen drückte Sean den Kurzwahlknopf für Allysons Nummer, während er sich durch die Menschenmenge im Terminal kämpfte.

Er schob sich weiter voran und wartete, dass Allyson endlich den Anruf annahm. Dabei stellte er sich seine Familie vor. Seine schöne Frau. Womit hatte er sie überhaupt verdient? Und die Kinder. Vielleicht lagen sie ja alle noch im Bett. Eine glückliche kleine Familie an einem schönen Sonntagmorgen. Jetzt rannte er beinahe. Er durfte diesen Flug auf keinen Fall verpassen. Ein Lächeln trat auf seine Lippen.

Ich komme heute noch nach Hause. Nach Hause zu meiner Frau. Nach Hause zu meiner Familie.

Als er gerade eine Nachricht auf Allysons Anrufbeantworter hinterlassen wollte, meldete sich ein Stimmchen.

»Hallo. Kann ich … Field? Hallo Fields. Hallo Field-Haus, bitte?«

Sean lief eine Rolltreppe hoch und eilte auf die lange Schlange vor der Sicherheitskontrolle zu. Die schwere Tasche zerrte an seinem Arm. Er klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und lief schneller. Die Stimme seiner Tochter. Die Stimme seiner Tochter zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.

»Wie wäre es damit: ›Hier ist das Zuhause der Fields. Wie kann ich Ihnen helfen?‹«

»Daddy!«, kreischte Bailey.

»Hallo, mein Baby! Ist Mami da?«

»MAMI!!! TELEFON!!!« Baileys Stimme gellte durchdringend, direkt in sein Ohr. Plötzlich wusste er, dass sie die Stimmbänder ihrer Mutter geerbt hatte. Er krümmte sich und hielt das Handy ein Stückchen vom Ohr weg. Laut. So laut.

Doch als er hörte, wie sie die Treppe hinaufpolterte, musste er wieder lächeln. Er stellte sich das engelhafte Gesicht seiner Frau vor und dachte an das Heim und die Kinder, für die er so hart arbeitete.

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Wenn es einen Grund gab, nicht an die Richtigkeit der Evolutionstheorie zu glauben, dann den, dass Mütter nur zwei Hände hatten. Allyson brauchte ganz entschieden mehr als zwei Hände, um Beck in seine guten Kleider für den Kirchgang zu zwängen.

Sie hörte ihre kleine Tochter unten kreischen und lachen.

»Daddy!«, schrie Bailey ins Telefon. Es war schwer, wenn Sean fort war. Die Vorfreude auf seine Rückkehr wurde von Tag zu Tag größer. Heute würde er kommen. Sie hätte nicht aufgeregter sein können. Andererseits hatte ihr Mann keine Ahnung, was ihn zu Hause erwartete. Das hatten Eltern übrigens nie. Vom ersten Tag an war es nicht so gelaufen, wie sie geplant hatte.

Beck wand sich, versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. In all den Jahren, in denen sie von einem Ehemann und einer Familie geträumt hatte, hatte Allyson nicht an so etwas gedacht. An das Chaos und Durcheinander, das eine Familie mit sich brachte.

»Bailey! Ich bin hier oben!« Sie hatte sich nur kurz umgedreht, doch als sie sich wieder zum Bett umwandte – sah sie nur noch das zerknäulte Laken. Beck war fort. Wie hatte er so schnell verschwinden können? Er hatte sich in Luft aufgelöst.

»Beck, Beck, wo bist du?« Sie blickte sich suchend im Zimmer um.

Ein leises Kichern schlug ihr vom anderen Ende des Bettes entgegen und eine kleine Gestalt schoss an ihr vorüber – fast zu schnell, um sie noch zu packen. Sie warf sich Beck entgegen, hielt aber inne, als Bailey mit dem Telefon hereingetänzelt kam und es ihr hinstreckte. »Daddy ist dran.«

Beck oder das Telefon?

Sie griff nach dem Telefon, voller Sehnsucht, Seans Stimme zu hören, und noch sehnsüchtiger nach seiner Zusicherung, dass er bald zu Hause wäre.

»Sean?«

»Hallo. Schatz?«

»Sean? BITTE sag mir, dass du schon im Flugzeug sitzt.« Doch sie konnte hören, dass das nicht der Fall war. Durchs Telefon drang der Flughafenlärm an ihr Ohr.

»Es ist Muttertag. Alles Gute zum Muttertag. So hätte unser Gespräch eigentlich anfangen müssen.«

»Ja, danke, du hast recht«, unterbrach Allyson ihn. »Es ist nur … na ja, ich hätte dich lieber schon im Flugzeug.«

»Das wird klappen, keine Sorge. Sie haben drei Flüge gestrichen, aber ich habe bei einer anderen Fluggesellschaft gebucht. Ich kriege das schon hin. Ich habe einen Direktflug erwischt.«

Zu Hause. Er wird bald zu Hause sein. Allyson stieß erleichtert die Luft aus; sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sie angehalten hatte.

Bailey kam wieder ins Zimmer. Mit ausgestreckten Armen hielt sie ein Bild, das sie gemalt hatte. Allyson packte sie mit ihrer freien Hand am Arm.

Ihre Augen glitzerten seltsam. War es Freude? Aufregung? Schalk? Allyson wusste es nicht, doch sie nahm das Telefon vom Ohr und sah Bailey aufmerksam an. »Ja, Baby?«

Baileys Grinsen wurde breiter. »Hallo Mami. Das habe ich dir gemacht.«

Allyson nahm ihrer Tochter das Bild ab. Blumen und Strichmännchen, die ihre Familie darstellten. Für eine Vierjährige war das ein Rembrandt.

»Das hast du für mich gemacht?« Allyson beugte sich herunter, ein Lächeln im Gesicht. Die Sache mit den Eiern hatte nicht funktioniert, doch das hier war … wirklich sehr lieb und aufmerksam von ihrer Tochter. Voller Freude betrachtete sie die Gestalten – ihren großen Strichkörper und drei kleine Männchen mit runden Köpfen und drei Fingern an jeder Hand.

»Willst du wissen, warum ich dich so groß gemacht habe?« Baileys Stimme klang beinahe engelhaft. »Weil du uns am allermeisten lieb hast.«

Trotzdem – irgendetwas stimmte nicht. Allyson runzelte die Stirn. Jetzt sah sie auch, was fehlte – wer fehlte. »Wo ist Daddy?«, fragte sie.

Bailey deutete auf eine orangefarbene Form mit Flügeln links oben auf der Seite. »In der Luft im Flugzeug, da, wo er immer ist.« Bailey sah sie mit großen, ernsten Augen an.

»Autsch, das ist nicht gut«, erklang Seans Stimme aus dem Telefon und Allyson tat das Herz weh.

Bailey bückte sich und hob einen Filzstift auf, den sie fallen gelassen hatte; dann lief sie hinaus. Allyson wollte sie gerade zurückrufen und ihr sagen, dass sie alle ihre Filzstifte aufräumen sollte, und sie daran erinnern, dass sie sie nicht allein hervorholen durfte, als Brandons Stimme an ihr Ohr drang.

»Mama! Beck spielt wieder in der Toilette!«

»Oh nein, nein, nein! Nicht das Töpfchen! Nicht das Töpfchen!« Das war Sean im Telefon. Laut, richtig laut, als erwartete er, dass Beck ihn hörte. Allyson lächelte, als sie sich die neugierigen Blicke der anderen Fluggäste im Flughafen vorstellte.

»BECK!« Allyson rannte los und packte ihn. Sein Haar war tropfnass. Er tropfte sie voll. Er tropfte den Boden voll.

Tu einfach so, als sei er in der Wanne gelegen, ja, genau, tu einfach so, befahl sie sich. Einen kurzen Moment schloss sie die Augen und versuchte, nicht darüber nachzudenken.

Und du willst eine Mutter sein?

Allyson klemmte sich Beck unter den Arm und lief die Treppe hinunter, entschlossen, Bailey die Stifte wegzunehmen, bevor ein größeres Unglück geschah. Dabei drückte sie sich erneut das Telefon ans Ohr. Beck auf ihrer Hüfte versuchte zu hüpfen.

»Sean, ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich möchte nie wieder Muttertag feiern.«

Er schnappte nach Luft. »Warum sagst du so was?«

Sie ging weiter die Treppe hinunter und sah sich im Wohnzimmer und der Küche um, die völlig verwüstet waren. Die Räume, die sie erst vor ein paar Stunden geputzt hatte. Dieses Haus – und diese Kinder – in den Griff zu bekommen, überstieg offenbar ihre Kräfte.

»Sag mir nichts Nettes, ich bin nicht gut in meinem Job. Ich bin eine Versagerin, eine völlige Versagerin.« Unten an der Treppe blieb sie stehen; Beck auf ihrer Hüfte fühlte sich an, als wöge er fünfzig Kilo. Aber vielleicht war es auch ihr Herz, das sie herunterzog. »In jeder Hinsicht. Du darfst mich nicht loben.«

»Was? Komm schon.« Sean schien gar nicht zu hören, was sie sagte. »Du bist eine fantastische Mutter. Kinder machen sich nun mal schmutzig. Kinder sind chaotisch.«

Aus dem Augenwinkel nahm Allyson eine Bewegung wahr. Ihre Tochter. Die Wand. Filzstifte. Und zwar keine Filzstifte für Kinder.

Als hätte sie gemerkt, dass sie beobachtet wurde, hob Bailey ihre Hände wie ein Bankräuber, der gerade ertappt worden war. Ihre hohe Stimme übertönte Seans Stimme am Telefon. »Ich hatte kein Papier mehr, deshalb …«

Allyson blieb der Mund offen stehen, als sie das Bild sah, das Bailey gemalt hatte.

»… deshalb habe ich den Rest auf die Wand gemalt«, fuhr Bailey fort. Inzwischen saß ihr Krönchen schief.

»Auf die Wand. Auf die Wand?«, kam Seans Stimme durchs Telefon. »Was für Filzstifte hat sie benutzt? Die abwaschbaren?« Dann hörte Allyson, wie er etwas zu einem anderen Fluggast sagte, der offenbar mit ihm zusammen auf die Sicherheitskontrolle wartete. »Haben Sie Kinder?«, fragte er. »Möchten Sie meine haben?« Doch sie hörte seine Stimme nur wie durch einen langen Tunnel.

Langsam ließ sie die Hand mit dem Telefon sinken. Ihr Kinn sank auf ihre Brust, das Haar fiel ihr übers Gesicht. Beck zog an ihrem Ohr. Sie ließ ihn gewähren.

Wohin kann eine Mutter gehen, um die Friedensfahne zu schwenken? Um sich zu ergeben?

KAPITEL
DREI

Allyson bog mit ihrem Van in eine der letzten Parklücken vor der Kirche ein und seufzte erleichtert auf. Die Familien gingen gemeinsam zum Eingang, die Mädchen in hübschen Kleidern, die Jungen in Hosen mit passenden Oberteilen. Die Kinder hüpften fast vor Freude, während sie lachend und plaudernd auf die Kirchentür zugingen. Ihre Mütter …

Allyson beobachtete eine kleine Gruppe Frauen, die in der Nähe der Vordertreppe beisammenstanden. Ganz bestimmt sprachen sie über das wundervolle Muttertagsfrühstück, das ihnen ans Bett gebracht worden war, ganz ohne Eierschalen und Salmonellen.

Die Sonne warf Glanzlichter auf die perfekten Frisuren, die die Gesichter vorteilhaft umrahmten. Diese Mütter wirkten ausgeruht, glücklich und beherrscht. Allyson bezweifelte, dass eine von ihnen heute schon mit einem in der Toilette tauchenden Kleinkind gerungen oder einen kleinen künftigen Rembrandt beim Erschaffen eines unvergänglichen Wandbilds unterbrochen hatte.

Vor allem eine der Frauen – sie hatte langes, blondes Haar, das sie in lässig-perfekten Wellen trug – fiel ihr auf. Sie lachte und warf dabei ihr Haar über die Schulter. Was für eine Mutter! So sieht also perfekt aus.

Ich wette, sie hat ein Kindermädchen.

Was stimmt bloß nicht mit mir? Warum kriegen alle anderen es hin, nur ich nicht? Sie hatte sich noch nicht einmal mehr schminken können. Immerhin hatte sie die Umsicht besessen, die nötigen Utensilien noch in ihre Handtasche zu stecken, bevor sie losfuhren.

Bailey kletterte aus dem Auto und stellte sich neben Allyson.

Allyson nahm ihre Mascara aus der Tasche. »Hört mal zu, alle. Dass ihr euch heute auch ja benehmt! Es ist Muttertag!« Sie schaute in den Rückspiegel und tuschte rasch ihre linken Wimpern.

»Mami, lass mich das machen«, sagte Bailey und beugte sich zu ihr.

»Nein, Baby, wir sind spät dran.«

»Lass miiiiiiiich!«, kreischte Bailey. »Lass miiiiiiiiiiiiiiiiich!«

Allyson seufzte. Sie war sicher, dass die anderen Mütter das Gekreische ihrer Tochter hören konnten.

»Schhhh …« Sie gab Bailey die Mascara. »Aber nur ganz wenig, okay?«

Später würde sie vielleicht über diesen Morgen lachen. Vielleicht würde sie sich in Sondras Gesellschaft ein wenig entspannen können. Sondra war die Frau von Pastor Ray. Sie war die Erste gewesen, die sie vor sechs Jahren in ihrer Gemeinde begrüßt hatte.

Schon bei der ersten Begegnung wusste Allyson, woran sie mit ihr war, und hatte sie seither unzählige Male um Hilfe gebeten. Sondra war ihr Fänger im Roggen, ihr Halt und ihre Stütze, Dr. Phil, Oprah und Gandalf in einer Person, der gütigste Mensch, den sie kannte. Sondras einziger Fehler war, dass sie nicht wusste, wie die automatische Rechtschreibkorrektur ihres Handys funktionierte.

Allyson unterdrückte ein Lachen, als sie sich an den letzten SMS-Austausch von Sondras sechzehnjähriger Tochter Zoe mit ihrer Mutter erinnerte. Wenigstens konnte sie an etwas Lustiges denken, während Bailey Mascara auf ihre Wimpern auftrug – zumindest größtenteils auf die Wimpern:

Zoe / 7:31

Mami, ich fühle mich krank.

Sondra / 7:31

Nimm eine Aspik.

Zoe / 7:31

WAS??

Sondra / 7:32

Und eine Schüssel Hühnerpuppe.

Zoe / 7:32

Mama, lass es sein!

Ach, diese Technik.

Ornament

Sondra griff in den Wandschrank, ohne das Licht anzumachen, und nahm die Ersatzschlüssel vom Haken an der Wand. Dann lief sie rasch durch den Flur. Wenn sie gewusst hätte, dass Ray ihr zum Muttertag ein rotes Anstecksträußchen schenken würde, hätte sie ihre roten Pumps angezogen. Aber egal, sie eilte mit ihrem Klemmbrett in der Hand den Gang entlang. Wie eine Pfarrersfrau ohne dieses Hilfsmittel überleben sollte, war ihr ein Rätsel.

Ihre Tochter Zoe, sechzehn Jahre alt, intelligent und attraktiver, als gut für sie war, hielt mit ihr Schritt. Sondra hatte angenommen, dass Zoe, wenn sie erst ins Teenageralter käme, aufhören würde, hinter ihr herzulaufen. Irrtum. Auch jetzt noch konnte sie nicht durch diese Flure gehen, ohne dass Zoe ihr nachlief. Dabei pflegte sie sie mit Fragen zu bombardieren, ob sie nach der Kirche essen oder in den Park gehen dürfe. Die Fragen hatten nicht aufgehört, nur der Inhalt hatte sich geändert. Zoe konnte sehr beharrlich sein.

»Mama, mach doch langsam!«

»Komm mit, Zoe, komm einfach mit und sprich.«

Zoe schnaubte. »Mama, warum rennst du eigentlich die ganze Zeit?«

Sondra schloss die Tür auf und lief ins Büro ihres Mannes. Jeder Zentimeter Ablagefläche war mit Bücher- und Papierstapeln bedeckt. Sie wusste nicht, wie Ray hier den Überblick behielt. Wie er jemals etwas wiederfand. Aber das tat er ja auch nicht. Dafür brauchte er sie.

Sie nahm eine blaue Krawatte, die über der Stuhllehne hing. Dabei fiel ihr Blick auf seine Predigtnotizen, die auf einer Schreibtischecke lagen, und sie griff nach ihnen.

»Mama, ehrlich, es geht doch nur ums Tanzen. Es gibt ein bisschen Laserlicht und ein paar Glitzereffekte und damit hat sich's.«

Sondra schüttelte den Kopf und wandte sich zu der Tür, durch die sie gerade hereingekommen war. »Eine Fete ist kein Tanz. Hör auf deine Mutter.«

Glaubte Zoe vielleicht, dass sie von gestern war? Wenn die wüsste!

Sondra schob die Gedanken, die ihr in den Kopf kamen, weit von sich. Sie wollte nicht daran denken … nicht jetzt. Nicht hier. Sie stopfte ihre weiße Bluse mit der freien Hand tiefer in ihren Rockbund und ging hinaus.

»Aber, Mama, sogar aus unserer Gemeinde gehen ganz viele hin und …« Zoe sah sie mit ihrem Welpenblick an. Das hatte funktioniert, als Zoe fünf war und einen Donut wollte, aber nicht jetzt. Nicht diesmal.

Sie winkte ab. »Nein, keine Chance.«

Damit lief sie weiter den Gang hinunter, zum Hintereingang des Altarraums. Als sie im Flur an den Johnsons vorbeikam, lächelte sie und winkte ihnen zu – liebe, treue Gemeindeglieder.

»Komm schon, sei doch nicht so.« Die Verzweiflung in Zoes Stimme war nicht zu überhören, aber es war ihre Aufgabe, vernünftig zu bleiben, wenn ihre Tochter es nicht war.

Sie schüttelte den Kopf. »Zoe …«

»So bist du immer. Du erstickst mein ganzes Sozialleben.« Zoes große Augen und ihr keckes Näschen erinnerten an die Dreijährige, die sie einst gewesen war. Wo war nur die Zeit geblieben?

Sondra stieß die Luft aus. Sie hatte jetzt keine Zeit dafür – für dieses Gespräch. Ihre innere Uhr spürte, wie die Minuten verstrichen, bis ihr Mann auf die Kanzel steigen musste. Sie lief schneller. »Vielleicht verdient dein Sozialleben es ja, zu sterben. Du weißt, dass du nicht mit einem Jungen gehen darfst, bis du siebzehn bist. Unsere Tochter soll auf der Gewinnerseite stehen.«

Zoe neben ihr blieb stehen und warf die Hände hoch. »Aber sie steht auf der Verliererseite!« Sie deutete auf ihren Kopf. »Ich trage die Aufschrift ›Pfarrerstochter‹ auf die Stirn tätowiert.«

Sondra eilte ins Atrium, wo Ray von einem der Techniker mit einem Mikro ausgestattet wurde. »Ah, da bist du ja.«

Er lächelte. »Warst du in meinem Büro und hast du meine Notizen gefunden?«

»Hier.« Sie gab sie ihm. »Warte noch kurz …« Sie band ihm die karierte Krawatte ab und stattdessen die blaue um.

»Wo waren sie denn? Ich habe überall gesucht …« Dann, als er merkte, was sie tat, blinzelte er auf seine Krawatte hinunter. »Und was war falsch an der anderen?«

»Die Bildtechniker sagen, sie sei nicht so günstig, die hier ist besser.« Sondra knotete sie geschickt und trat zurück, um ihr Werk zu begutachten. Dann sah sie ihm ins Gesicht und lächelte. »Und die Notizen lagen auf deinem Schreibtisch. Der Eckstapel.«

»Oh.« Ray erwiderte ihr Lächeln. Er war der geachtetste Mann in der Gemeinde und ein begnadeter Prediger, aber ihr Herzschlag setzte noch immer aus, wenn er sie auf diese Art ansah.