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Rolf Neuhaus

Reisen nach Ophir

Von der Suche nach dem Glück in der Ferne

Von Humboldt bis Hesse, von Timbuktu bis Tahiti

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Inhalt

Ophir

I Auf Abwegen und Nebenschauplätzen

1. Verlaufen – Arthur Rimbaud diesseits von Aden

2. Abgetrieben – Alexander von Humboldt zwischen Südsee und Orient

3. Verfehlt – Hermann Hesse jenseits von Indien

II Meer der Träume, Meer der Verzweiflung

4. Das unentrinnbare Ich – Paul Gauguin in Polynesien

5. Zauber und Entzauberung – Das Ende der glücklichen Tage

6. Gefühlsleben eines Feldforschers – Bronislaw Malinowski im westlichen Pazifik

III Vom Sinn der Wüste

7. Diese Europäer! – Carsten Niebuhr im Glücklichen Arabien

8. Ein Faible für Beduinen – Ladies and Gentlemen im Vorderen Orient

9. Illusionen – Heinrich Barths Weg nach Mombasa (Timbuktu)

IV Verlorene Breiten

10. Die weiβen Wilden – André Gide im Kongobecken

11. Lust und Überdruss – Gustave Flaubert in Ägypten

12. Das Ende der Reisen? – Claude Lévi-Strauss in Brasilien

Nachbemerkung

Quellen

Ophir

Ophir ist das ferne verlockende Land im Süden, das geheimnisvolle Land des Alten Testaments, aus dem König Salomo Gold für seine Prachtbauten in Jerusalem bezog. Die Stadt Ophir war mit Steinen aus Gold erbaut, denn die Steine in den Bergen jenes Landes waren aus purem Gold. Die Schiffe König Salomos und des phönizischen Königs Hiram von Tyros kehrten nach drei Jahren zurück, voll beladen nicht nur mit Gold, auch mit Edelsteinen, Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen, wie das erste Buch der Könige berichtet. Schon die nächste Expedition nach Ophir, von der die Bibel spricht, scheiterte: Die Schiffe König Josaphats von Juda und des gottlosen Königs Ahasja von Israel zerbrachen, noch bevor sie auslaufen konnten. Ebenso scheiterten alle späteren Versuche, Ophir aufzufinden. Kolumbus, der auf seiner ersten Reise Kuba für Japan, auf der zweiten für eine chinesische Provinz, von der Marco Polo gesprochen hatte, und Jamaika für Saba hielt, erspähte Ophir an der Südwestecke Haitis. Die Portugiesen glaubten, Ophir in der goldreichen Hafenstadt Sofala (Mosambik) wiederentdeckt zu haben, Jahrhunderte danach meinte der deutsche Afrikareisende Karl Mauch, die Ruinen Groβ-Simbabwes im Hinterland der Sofala-Küste mit Ophir identifizieren zu können. Im Jahr 1568 stieβ der spanische Seefahrer Álvaro de Mendaña bei der Suche nach dem ominösen Südkontinent auf die Salomon-Inseln, die er so nannte, weil er in ihnen Ophir sah. Ophir ist an vielen Stellen des Erdkreises vermutet worden, in Nubien, Abessinien und Somalia, an der afrikanischen Küste des Roten Meeres, im Jemen und am Persischen Golf, nahe der Indus-Mündung, an der südindischen Malabar-Küste und auf Ceylon, auf der Malaiischen Halbinsel, Sumatra und den Philippinen, in Australien, Peru, Brasilien und an der Westküste Afrikas. Vielleicht existiert Ophir nur in den Köpfen, dort aber gewiss.

Das Traumland Ophir hat viele Verwandte. Aus dem Land Punt, das wahrscheinlich am Horn von Afrika lag, holten die Ägypter seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. Gold, Silber, Ebenholz, Elfenbein, Myrrhe, Weihrauch, Affen und Strauβenfedern. Die Gärten der Hesperiden, in denen die Töchter des Atlas und der Nacht die goldenen Äpfel des Lebens hüteten, lagen wie die Elysischen Gefilde, die Inseln der Seligen, im jeweiligen äuβersten Westen und wanderten mit den Jahrhunderten vom griechischen Arkadien über die Groβe Syrte Libyens zum marokkanischen Atlas, von wo sie sich auf den Atlantik hinausbegaben und vielleicht auf die Kanarischen oder Kapverdischen Inseln verpflanzten. Platons Atlantis mit seinen gold- und silberüberzogenen Mauern des Poseidontempels und des Königspalastes und den unzähligen goldenen Bildsäulen kann – bedenkt man das vielfältige Angebot an Hypothesen – in oder an fast jedem Meer gelegen haben, wenn es die Insel denn überhaupt gegeben hat. Das Märchenland Indien, an dessen Tore Alexander der Groβe klopfte wie an die Pforte des Paradieses, dieses Wunderland mit all seinen Märchenprinzen und zauberhaften Palästen, all seinen Göttern und Gewürzen, erstreckte sich zur Zeit seines christlichen Priesterkönigs, des Presbyters Johannes, der in einem Palast mit Wänden und Fuβböden aus Onyx, mit Gold und Edelsteinen allüberall residierte, nach Westen bis zum Turm von Babel, nach Osten bis zum Aufgang der Sonne, später schrumpfte dieses riesige asiatische Fantasiereich auf das christliche Abessinien in Ostafrika zusammen, dessen Kaisergeschlecht sich aus der Verbindung König Salomos mit der Königin von Saba herleitete, noch später wurde es an den Kongo verlegt, den man nun für einen Paradiesfluss hielt. Arabia felix, die blühende Heimat der Königin von Saba im südwestlichen Wüstenwinkel der Arabischen Halbinsel, war ebenso eine europäische Fata Morgana wie die an Gold und Salz und Sklaven, an islamischer Gelehrsamkeit und muslimischer Toleranz reiche Handelsstadt Timbuktu am Südrand der Sahara und wie jenes Goldland, das seit Kolumbus, Cortés und Pizarro in Amerika lag und Eldorado hieβ und nicht nur in den Anden, am Orinoko oder Amazonas aufgespürt werden wollte, sondern auch in Nordamerika; Hernando de Soto suchte es in Florida, Francisco Vázquez de Coronado in Arizona und Neu-Mexiko, er fand auch die legendären Sieben Städte von Cibolá und Quivira, doch sie waren kein Dorado, vielmehr Lehm-Pueblas armer Indianer. Auf der Suche nach der Terra Australis, dem verheiβungsvollen, aber unauffindbaren Kontinent im groβen Südmeer, entdeckte man lediglich den mickrigsten, obendrein wüstenartigen Erdteil und jede Menge kleiner und kleinster, aber üppiger, paradiesischer Inseln sowie den Edlen Wilden, der sie bewohnen durfte, wie einst nur Heilige auf der ebenfalls unauffindbaren Insel des irischen Mönchs St. Brendan hatten leben dürfen. Und seit der gewöhnliche Sterbliche die Wilden verdorben, wenn nicht ausgerottet hat, jagt er der Wildnis, den letzten Naturparadiesen nach.

Ophir ist das Land, wohin die Träume segeln, ist der Sehnsuchtsort der Ophiten, die Schlangen anbeten und beschwören, ihnen zu verraten, wo sich das Glück befindet, sei es in Form von Gold, Ruhm, Abenteuer, Erkenntnis, Weisheit, Liebe oder Freiheit. Reisen ist die Suche, die Jagd nach Glück in der Ferne, das Glück ist jedoch scheu, es lässt sich nicht zwingen, andernfalls wäre es nicht Glück.

I

Auf Abwegen und Nebenschauplätzen

1.

Verlaufen – Arthur Rimbaud diesseits von Aden

Charleville an der Maas war anderen Provinzstädtchen »an Idiotie klar überlegen«. Die Preuβen standen vor Sedan, und die Notare, Glaser, Steuereinnehmer, Schreiner, all die Dickwänste, scheinheiligen Spieβbürger und grässlichen Kleinbürger im Ruhestand zogen wieder Uniform an, fuchtelten mit den Waffen herum und spielten sich als Teufelskerle auf. Die Post brachte den Buchhändlern keine Bücher mehr, an Zeitungen gab es nur ein Lokalblättchen, dessen Eigentümer, Direktor, Geschäftsführer, Chefredakteur und einziger Mitarbeiter ein und dieselbe Person war und den Geist der Menge reproduzierte. »Ein schöner Dreck!« Der fünfzehnjährige Rimbaud bekam einen schauderhaft juckenden Ausschlag von Idiotie auf der Haut, fühlte sich krank, ausgestoβen, eingesperrt in dieser unbeschreiblichen Ardennengegend, verbannt mitten ins Vaterland, löste sich auf in der Banalität, der Böswilligkeit und der grauen Öde. Er träumte von Sonnenbädern, Reisen, Abenteuern, endlosen Wanderungen, Zigeunerleben, gleich heute müsste er losgehen, auf und davon, beide Hände in die Taschen und hinaus.

Geld hatte er keins in den Taschen. In Paris wird er auf dem Bahnhof wegen Schwarzfahrens verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, von seinem Rhetorik-Lehrer ausgelöst. Dann reiβt er wieder von zu Hause aus, diesmal zu Fuβ nach Belgien, wo er eine Anstellung bei einer Zeitung in Charleroi zu finden hofft, doch abgewiesen wird. Immer wieder zieht es ihn nach Paris, Paul Verlaine führt ihn bei seinen Dichterfreunden ein, die Rimbauds Poesie bewundern, von ihm aber so gut es geht vergrault werden. Er zerlumpt und verlaust, durchwühlt Müll nach Essbarem und flucht auf dieses »Scheiβ-Paris«. Nicht, dass er der Provinz nachtrauerte, wo man Mehlsachen und Dreck aβ, Bier aus der Gegend und Landwein trank. Doch in Paris war alles nur Destillation und Zusammensetzung, nichts Schöpferisches, alles Beschränktheit, und jedermann war ein Schwein. Wonach er sich zurücksehnte, das waren die klaren ardennischen und belgischen Flüsse, die kleinen wilden Quellen und dieses »grässliche Charlestown« mit seiner Bibliothek und dem Café Universum.

Er hielt es nirgendwo lange aus, und er kam immer wieder zurück nach Charleville oder zum Weiler Roche, wo seine Mutter einen Bauernhof hatte, schauerlich ist es auf dem Land in Frankreich, kein Buch, keine Kneipe. Im Juli 1872 geht er mit Verlaine, der Frau und Kind verlässt, nach Brüssel, dann nach London. Dort geben die »zwei gebildeten Herren aus Paris« – so die Annoncen – Französisch-Unterricht, leben zusammen und lieben sich, bis es zum Streit und zum Bruch kommt, als – abermals in Brüssel – Verlaine auf Rimbaud schieβt und ihn am linken Handgelenk verletzt. Verlaine wandert ins Gefängnis, Rimbaud nach Roche, Paris, England, wo er Unterricht gibt und sich zugleich in der Times als Reisebegleiter eines Herrn, vorzugsweise Künstlers, oder einer Familie in südlichen oder östlichen Ländern andient und als Pariser mit bedeutenden Kenntnissen in Literatur und Sprachen und mit besten Empfehlungen anpreist – ohne Erfolg. Vier Monate später lebt er als Hauslehrer in Stuttgart und lernt Deutsch, nach drei Monaten zieht es ihn in den Orient, zu Fuβ geht er durch Württemberg, die Schweiz, Italien, lernt Italienisch, will bis Brindisi laufen, von dort mit dem Schiff weiterfahren, bekommt unterwegs jedoch einen Sonnenstich und wird vom französischen Konsul in Livorno nach Marseille zurückgeschickt. Den Winter über beschäftigt er sich in Charleville mit Arabisch, Hindustani, Russisch, im nächsten Frühling will er nach Russland, unterwegs wird er in Wien ausgeplündert und wegen Landstreicherei abgeschoben. Er geht nach Brüssel, lässt sich für die holländische Kolonialarmee anwerben, desertiert auf Java drei Wochen nach seiner Ankunft in Batavia (Jakarta) und fährt auf einem englischen Segler zurück nach Europa. Neues Jahr, neues Glück: Er bewirbt sich folgenlos beim amerikanischen Konsulat in Bremen für den Dienst in der US-Navy, in Hamburg bekommt er eine Anstellung als Aufseher im Zirkus, mit dem er durch Dänemark und Schweden tingelt, dann wird er Hafenarbeiter in Marseille, nimmt ein Schiff nach Alexandria, erkrankt, schifft sich in Civitàvecchia aus und kehrt über Rom nach Charleville zurück, der Endstation ebenfalls im Jahr darauf, nachdem er in Hamburg vergeblich eine Mitfahrgelegenheit in den Orient gesucht hat.

Der geniale Rimbaud, der preisgekrönte Schmied lateinischer Verse, hochbegabte Überflieger ohne Schulabschluss, das mittellose Enfant terrible der Pariser Literaturszene ist jetzt 24 Jahre alt, hat die Dichtkunst vor Jahren bereits an den Nagel gehängt, lebt jedoch gewissermaβen sein poetisches Credo, durch die Entfesselung aller Sinne sehend zu werden und ins Unbekannte vorzustoβen. Im Herbst 1878 geht er zu Fuβ von den Ardennen über die Vogesen und den Gotthard nach Lugano, nimmt den Zug nach Genua, dort ein Schiff nach Alexandria und fährt nach kurzer Zeit weiter nach Larnaka. Auf Zypern wird er Aufseher in einem Steinbruch, erkrankt an Typhus, und nach einem halben Jahr kehrt er zurück in die Ardennen. Ein Jahr später ist er wieder in Ägypten, findet keine Arbeit, geht nach Zypern, seine alte Firma hat Pleite gemacht, doch die britische Verwaltung kann ihn als Aufseher beim Bau des Gouverneurspalastes brauchen. Er legt sich mit dem leitenden Ingenieur und dem Oberzahlmeister an, verlässt Zypern, fährt das ganze Rote Meer auf der Suche nach Arbeit ab und erreicht im Sommer 1880 das britische Aden, diesen »schrecklichen Felsen ohne einen einzigen Grashalm oder einen Tropfen trinkbaren Wassers«, auf dem der Ruhelose sich sogleich gefangen fühlt, weil er mindestens drei Monate wird bleiben müssen, bis er genug Geld verdient hat, um abhauen zu können. Es ist, als sei das lyrische Ich des Bateau ivre in die Haut seines Schöpfers geschlüpft, dessen ganzes Leben einer traumartigen Reise steuerlosen, trunkenen Dahintreibens gleicht.

Aden, dieser Krater eines erloschenen und mit Meersand gefüllten Vulkans, dessen Wände verhindern, dass frische Luft hereinströmt, ist »der widerwärtigste Ort der Welt«, jedenfalls gleich nach Charleville. Rimbaud brät auf dem Boden dieses Lochs wie in einem Kalkofen, schwitzt täglich literweise Wasser, trinkt destilliertes Meerwasser und langweilt sich. Es gibt keine Zeitung, keine Bibliothek, an Europäern nur ein paar blöde kaufmännische Angestellte, die mit getrockneten Häuten, Gummi arabikum, Strauβenfedern, Weihrauch, Gewürznelken, hauptsächlich aber mit Kaffee handeln, mit Mokka aus dem jemenitischen Mokka. Sie bringen ihr Gehalt beim Billardspiel durch und verlassen Aden fluchend. Auβer diesem Gesindel hat man gar keine Gesellschaft, und so wird man in wenigen Jahren zum Trottel, so Rimbaud, laut Selbsteinschätzung der »einzige etwas intelligente Angestellte« in Aden. Er arbeitet im Kontor eines französischen Handelshauses, mit dem Kaffeehandel macht er sich schnell vertraut, alles geht durch seine Hände, er genieβt das volle Vertrauen seines Chefs, doch er fühlt sich schlecht bezahlt, obgleich die Firma neben dem Salär für Wohnung, Essen, Wäsche, Pferd und Wagen aufkommt. Im September schreibt er stolz nach Hause, er habe bereits 200 Francs in der Tasche, aber wenn die Firma ihn nicht bald deutlich besser entlohne, dann werde er am Ende seines zweiten Monats fortgehen, vielleicht nach Sansibar, vielleicht auch an die Küste Abessiniens, wo mehrere Handelsgesellschaften aus Aden sich niederzulassen beabsichtigen. Im November geht er für sein Haus über Zeila, den alten Sklavenhandelsplatz an der Somaliküste, nun in ägyptischer Hand, ins gleichfalls unter ägyptischer Verwaltung stehende Harar in den Ausläufern des abessinischen Hochlands. 26 Jahre vor Rimbaud war Richard Burton auf derselben Route nach Harar gelangt und als erster Europäer – soweit bekannt – in die für Nicht-Muslims verbotene heilige Stadt gedrungen.

Burton bereitete es offenbar ein sportliches Vergnügen, heilige Städte zu entweihen. Der exzentrische Offizier der britischen East India Company hatte sich nach sieben Jahren in Bombay vom Dienst beurlauben lassen, als er sah, dass er sich mit seinen Manien und Kapriolen die Karriere verbaute. Er reiste durch Indien, schrieb Bücher, unter anderem über das Gebiet von Goa und das Indus-Tal, und fasste den Plan, das unerforschte Innere der Arabischen Halbinsel zu durchstreifen und die heiligen Stätten von Mekka und Medina zu besuchen. Mit Unterstützung der Royal Geographical Society in London ging er nach Kairo, belegte Kurse an der Al-Azhar-Universität, perfektionierte sein Arabisch, vertiefte seine Kenntnis der islamischen Glaubenslehre und der muslimischen Sitten und lieβ sich beschneiden. Zuerst gab er sich als reicher Perser aus, doch als er merkte, dass die schiitischen Perser in Arabien unbeliebt waren, verwandelte er sich in einen britischen Untertan afghanischer Herkunft, der im birmanischen Rangun zum Arzt ausgebildet worden war. Unter dem Namen Abdullah der Derwisch, wegen seines imposanten Schnauzers Abu Schawarib genannt, Vater der Schnurrbärte, begab er sich im Pilgergewand und in Begleitung seines indischen Boys und arabischer Weggefährten nach Medina und Mekka, nahm dort an allen Zeremonien teil, vollzog die vorgeschriebenen rituellen Verrichtungen und durfte sich fortan Hadschi nennen. Wäre seine wahre Identität aufgeflogen, hätte er sich auch nur durch ein Detail verraten, so hätte ihm die Todesstrafe oder Lynchjustiz geblüht. Burton war bei Weitem nicht der erste, aber einer der bis dahin an zwei Händen abzuzählenden europäischen Christen, die Mut und Unverschämtheit genug besaβen, das Risiko einzugehen, und das Spiel gewannen.

Ein halbes Jahr nach seiner Hadsch, im Frühjahr 1854, befand sich Burton in Aden, dem Gibraltar des Orients, und bereitete einen neuen Trip vor, wiederum im Auftrag der Royal Geographical Society. Sein Plan war, von der gegenüberliegenden Somaliküste über Harar ins östliche Afrika südlich des Äquators vorzudringen, wenn möglich die groβen Seen zu finden, von denen man durch arabische Reisende gehört hatte, und schlieβlich Sansibar zu erreichen. Das Somaliland war bis auf ein paar Handelsplätze an der Küste noch Terra incognita, über Harar gab es nur unbestimmte Nachrichten, man wusste, dass die Stadt ein Stapelplatz für Kaffee und dieser Kaffee noch besser als der von Mokka war. Harar sollte ein Hort strenggläubiger Muslims und islamischer Gelehrsamkeit sein, jede Menge Moscheen besitzen und viele Heilige hervorgebracht oder angezogen haben. Einige Europäer hatten vergeblich versucht, dieses Timbuktu des östlichen Afrikas zu erreichen, den Gerüchten zufolge wurde jeder Franke (Christ), der Harar betrat, getötet. Nach alter Überlieferung hing das Heil Harars davon ab, dass die Stadt von Ungläubigen rein blieb, besonders die Engländer waren verhasst, weil sie dem Sklavenhandel Steine in den Weg legten. Doch nicht Harar, sondern der Weg dorthin erwies sich als Problem.

Das Projekt, bei dessen Ausführung Burton von drei weiteren Offizieren der Ostindischen Kompanie begleitet werden sollte, musste wegen der Feindseligkeit der Eingeborenen und akuter Stammesfehden zunächst aufgeschoben werden. Im Herbst 1854 gingen die Teilnehmer der Expedition dann zur Sondierung des Terrains an verschiedene Stellen der Somaliküste: Lieutenant Herne nach Berbera, wo Lieutenant Stroyan später zu ihm stieβ, Lieutenant Speke, der zuvor in Tibet und im Himalaya herumgestiefelt war, nach Kuyarat, von wo er ins Hinterland zog, Burton selbst nach Zeila, wo er erfuhr, dass zwischen dem Emir von Harar und dem Gouverneur von Zeila, Statthalter des türkischen Paschas von Westarabien, offene Feindschaft ausgebrochen und der Weg nach Harar unpassierbar war. Zeila wies ein Dutzend steinerne Häuser und einige hundert Hütten auf, Burton verbrachte dort 26 eintönige Tage, wartete auf bessere Nachrichten, kaufte Kamele und Maultiere, suchte einen guten Führer und Beschützer, warf sich in die Robe eines arabischen Kaufmanns und zog Ende November mit seinem Tross aus Lastkamelen und Reittieren, Kameltreibern und zwei munteren, wohlbeleibten Köchinnen, die er Scheherazade und Dinharazade nannte, in die somalische Wüste.

Nach 202 englischen Meilen, häufigem Wechsel des Führers je nach Stammesgebiet, einigen Umwegen und Ausweichmanövern, Eifersüchteleien zwischen Angehörigen verschiedener Clans, Verzögerungen wegen Blutfehden, nach vielen Palavern, Schutzgeldzahlungen und Geschenken an verdiente Würdenträger und der ständigen Austeilung von Tabak an aufdringliche Beduinen, nach übergebührlichem Genuss verdorbenen Wassers und einem schmählichen Durchfall ritt Burton am 3. Januar 1855 in Harar ein. Kurz vor Erreichen der Stadt beschloss er, entgegen seiner ursprünglichen Absicht als Europäer aufzutreten, da man ihn wegen seines weiβen Gesichts für einen Türken gehalten hätte und die Türken hier noch schlechter gelitten waren als die Europäer. Von Weitem sah die Stadt wie eine lange dunkle Linie mit zwei Minaretten aus, Burton wurde vom Stadttor zum Palast geleitet, der nichts weiter war als ein groβer, einstöckiger Schuppen aus rohem Stein und roter Tonerde ohne Fenster. Der Emir oder – wie er sich selbst betitelte – Sultan von Harar gewährte Burton eine Audienz, er sah aus wie ein kleiner indischer Radscha, fragte Burton nach dem Grund seines Kommens, Burton antwortete wie auch später in einer Audienz beim Wesir, er sei als Emissär des englischen Gouverneurs von Aden gekommen, die Engländer von Aden wünschten mit dem Sultan von Harar in freundschaftliche Handelsbeziehungen zu treten. Der Emir nahm ihn gnädig auf und wies ihm und seinem Gefolge einen zweiten »Palast« als Wohnhaus an. In den Straβen staunte das Volk Burton an und war überrascht, dass er den Kopf noch auf dem Rumpf trug.

Harar bestand aus langen, steinernen Wohnhäusern mit flachen Dächern, die ärmeren Leute lebten in Hütten wie im Kral, es gab keine Gärten und nur wenige Bäume, die engen Gassen liefen bergauf und bergab und waren voller Schmutzhaufen. Die lange Stadtmauer mit ihren fünf Toren, die abends geschlossen und deren Schlüssel dem Emir ausgehändigt wurden, war einige Jahre zuvor ausgebessert worden, weil durch die Löcher im Mauerwerk des Nachts Hyänen krochen und die Stadt unsicher machten. Die Mauern und Türme waren »ohne alle Kunst« gebaut, so Burton, an Moscheen herrschte kein Mangel, es waren aber nur ganz schlichte, kleine, unauffällige Gebäude ohne Minarette. Das gröβte Bauwerk war die Hauptmoschee, ein langer Schober von ärmlichem Aussehen, dessen zwei Minarette türkische Baumeister aus Mokka und Hodeida errichtet hatten. Harar war stolz darauf, Sitz der Gelehrsamkeit und Heiligkeit zu sein, ganze Scharen bettelhafter Beflissener der Gottesgelehrtheit trieben sich in der Stadt herum und überschwemmten das Land, aber wissenschaftliche Einrichtungen waren nicht vorhanden und Bücher selten und teuer. Die Studenten wurden nur theologisch und natürlich sehr dürftig »abgerichtet«, und der Fanatismus, besonders Christen gegenüber, stand in Blüte. Harar war im Wesentlichen Handelsstadt, doch die Bürger waren ungemein träge und lebten hauptsächlich davon, dass sie die Beduinen betrogen. Nach zehn Tagen Aufenthalt bat Burton den Emir um Entlassung, und als er die Stadt verlassen durfte, fiel eine zentnerschwere Last von ihm. Sobald er in Sicherheit war, legte er ein kleines Wörterbuch der Harari-Sprache an, in der Stadt war er so scharf überwacht worden, dass er es sich nicht hatte erlauben können zu schreiben. Von Burton heiβt es, dass er alle paar Monate ein neues Idiom erlernte und am Ende 29 Sprachen und zwölf Dialekte sprach, die er sich manchmal unter widrigen Umständen angeeignet hatte: Persisch, Hindustani, Amhara-Äthiopisch, Kisuaheli … Sogar die Sprache oder den Dialekt der Affen, die er sich in Indien gehalten und die bei ihm zu Tisch gesessen, hatte er zu verstehen und nachzuahmen gehofft. Spätestens auf seiner Pilgertour nach Mekka hatte er gelernt, nicht mit Federhalter oder Bleistift in der Hand gesehen und beim Schreiben oder Zeichnen ertappt zu werden, um nicht Verdacht zu erregen und als Spion oder Zauberer angesehen und erschlagen zu werden. Nichts machte den Leuten mehr Kopfzerbrechen als die fränkische Gewohnheit, alles auf Papier zu bannen.

Burtons Ausflug nach Harar zeigte, dass dieses kleine Emirat weder ein Hindernis auf dem Weg nach Äquatorialafrika, noch auf dem Höhenflug zum Entdeckerruhm darstellte und nicht permanente irdische Zwischenstation auf dem Weg ins himmlische Paradies bleiben musste. Über Berbera ging Burton zurück nach Aden, zwei Monate später, im April 1855, setzte er wieder nach Berbera über, um eine britische Handelsstation anzulegen und zusammen mit seinen Offizierskollegen von dort über Harar weiter nach Süden vorzustoβen. Berbera war von den Briten offenbar übersehen worden, als sie Aden in Besitz nahmen, Berbera hatte ein viel besseres Klima und wäre jetzt eine blühende Stadt gewesen, so aber war es eine Anhäufung schmutziger Hütten geblieben und wegen der Müllberge »im höchsten Grade ekelhaft«. Seit November herrschte in Berbera Markt, zuletzt war die groβe jährliche Karawane aus Harar mit 3000 Tieren und 3000 Menschen eingetroffen. Wenige Tage nach Ankunft Burtons und seiner Mitstreiter begann der Monsunregen, daraufhin zogen die Karawanen ab, weil nun für den Rückweg kein Wassermangel zu befürchten stand. Mitte April stach das letzte der Kauffahrtschiffe, die von Indien und Arabien zu kommen pflegten, in See, und die 42 Mitglieder der britischen Expedition blieben mit ihren 56 Kamelen allein am Strand von Berbera zurück. Vier Tage später wurden sie nachts von etwa 350 Bewaffneten überfallen.

Lieutenant Stroyan fiel gleich zu Beginn des Kampfes, die anderen drei Offiziere sprangen aus dem Zelt, als es von den Angreifern niedergerissen wurde. Burton schlug sich durch das Gewühl vor dem Eingang, bekam mehr als einen Keulenschlag ab, ein Somali rammte ihm einen Speer in den Mund, es gelang ihm noch, sich abzusondern, als der Tag anbrach, wurde er auf ein kurz vorher eingelaufenes Schiff aus Aden getragen. Lieutenant Herne hatte lediglich ein paar Keulenschläge einstecken müssen, Lieutenant Speke war verwundet und gefangen worden, hatte sich aber befreien können und ans Ufer geschleppt, ein Teil der Mannschaft und der Dienerschaft hatte sich aufs Schiff gerettet. Am Morgen, als die Somali mit der Beute abgezogen waren, fand man Stroyans Leiche, am Vorderkopf wies sie das Zeichen eines fürchterlichen Säbelhiebs auf, am ganzen Leib die Spuren von Keulenschlägen, ein Speer hatte den Unterleib, ein anderer das Herz durchbohrt. Nach diesem Debakel wurde die Expedition abgebrochen, im folgenden Jahr gingen Burton und Speke nach Sansibar und von der Suaheliküste auf die Suche nach den groβen Seen und der Nilquelle, sie entdeckten den Tanganjika-See und Speke danach den Viktoria-See, während Burton krank zurückkehrte.

Rimbaud rechnet nicht damit, lange in Harar zu bleiben, schreibt er zwei Monate nach seiner Ankunft, was er vermutete, hat er nicht angetroffen. Im Winter ist es viel zu kalt für ihn auf 1800 Metern Höhe, von März bis Oktober regnet es unaufhörlich, er verabscheut Kälte und Regen. Es ist ein ungesundes Klima und bei jeder Art von Krankheit heimtückisch, eine Wunde heilt nie, ein kleiner Schnitt am Finger eitert monatelang und geht leicht in Brand über, dass er sich die Syphilis eingefangen hat, schreibt er seiner Familie nicht. Er geht mit dem Wetter um, wie es ihm gerade passt, später ist das Klima von Harar und Abessinien ausgezeichnet, besser als in Europa, es gibt weder Frost noch die maβlose Hitze von Aden, die Luft ist frisch und die Vegetation wunderbar. Dann wieder liebt er das Klima von Aden, wo es nie regnet und man auch im Winter unter offenem Himmel schlafen kann, schlieβlich verträgt er fast jedes Klima, sagt er, ob feucht oder trocken, kalt oder heiβ, er läuft nicht mehr Gefahr, Fieber zu bekommen, aber er spürt, dass er sehr schnell altert, kein Wunder »bei dieser idiotischen Beschäftigung und in Gesellschaft von Wilden oder Trotteln«. Dieses scheuβliche Land von Harar ist eine Wildnis, aber nicht vollkommen wild dank des ägyptischen Militärs und der Zivilverwaltung, das Ganze ist so wie in Europa, »nur mit einem Haufen Hunde und Banditen«.

Rimbaud handelte mit Kaffee, Tierhäuten, Elfenbein, Moschus, unternahm von Harar aus Handels- und Erkundungsreisen, stieβ dabei auch in Gebiete vor, die Europäern bis dahin unzugänglich geblieben waren. Solche Expeditionen waren nichts weniger als ungefährlich, das zeigte der Tod des französischen Forschungsreisenden Pierre Sacconi, der zur gleichen Zeit in das von muslimischen Somali-Nomaden bewohnte Ogaden im Südosten von Harar zog, als Rimbaud dort eine Karawane laufen hatte. Sacconi machte – nach Darstellung Rimbauds – aus Unwissenheit und Leichtsinn eine ganze Reihe von Fehlern. Sacconi trieb unbekümmert seine verdächtigen Feldmesserkünste, stellte an allen Ecken des Weges seine Sextanten ein, kaufte nichts, wollte sich ausschlieβlich mit geografischem Ruhm schmücken, trug europäische Kleidung und hüllte sogar die ihn begleitenden Somali in Gewänder, wie sie von äthiopischen Christen getragen wurden, und er aβ seinen Schinken und trank seinen Schnaps bei den Festessen, zu denen ihn die Scheichs einluden. Als er sich weigerte, Führer von einem Stamm zu engagieren, durch dessen Gebiet er ziehen wollte, und auf seinem mitgebrachten Führer eines anderen Stammes beharrte, kam es zum Streit und zum Gemetzel. Rimbaud hingegen war bestrebt, die Sitten, religiösen Bräuche und die Rechtsordnung der Eingeborenen zu respektieren und sich von Stammesfehden fernzuhalten, vermied es, sich mit Attributen des Europäers wie dem Tropenhelm zu schmücken, pflegte vielmehr in mohammedanischer Kluft und unter arabischem Namen zu reisen. In Harar vervollkommnete er nicht nur sein Arabisch, er studierte auch Harari und in der Umgebung Harars gesprochene Sprachen wie Somali, Oromo und Amhari. Er plante, eine Arbeit über Harar und das Galla-Volk (Oromo) zu erstellen, sie der Société de Géographie in Paris vorzulegen und diese um Förderung weiterer Forschungen anzugehen; fürs Erste veröffentlichte sie 1884 einen Bericht Rimbauds über das Ogaden. Ihn reizte das Unbekannte, nach Auffassung seines Patrons in Aden war es Rimbauds gröβter Wunsch, sich einen Namen als Forscher zu machen. Die Routine hingegen, seine stumpfsinnige Arbeit, der tägliche blödsinnige Ärger widerten ihn an und bereiteten ihm Langeweile und Überdruss bis zur existenziellen Müdigkeit, »ich lege nicht im Geringsten Wert auf das Leben«.

Handels- und Forschungsreisen wurden indes nicht einfacher, Land und Wege nicht sicherer, im Gegenteil. Die Schwäche Ägyptens, das in den 1870er-Jahren unter osmanischer Oberhoheit nach dem Sudan und Abessinien gegriffen und Harar von Zeila aus erobert hatte, zeigte sich auch in Harar. Rimbaud hält es für möglich, dass die Briten, nachdem sie in Ägypten eingegriffen und das Land unter ihren Schutz gestellt haben, in den Sudan vorgestoβen sind und Zeila eingenommen haben, demnächst auch Harar besetzen werden. Er wirft ihnen vor, mit ihren Unternehmungen den Handel in der gesamten Region zu lähmen und zu ruinieren. Rimbauds Geschäfte gehen schlecht, der Ertrag deckt die Kosten nicht mehr, die Gesellschaft in Aden schreibt Verluste. Mit dem Zusammenbruch der ägyptischen Herrschaft und der Machtübernahme durch den Sohn des letzten Emirs, der Harar nach auβen und besonders gegen Christen erneut abschottet, wird Rimbauds Agentur in Harar aufgehoben, das Kontor in Aden geschlossen, das Handelshaus vollständig liquidiert, später unter neuem Firmennamen wieder eröffnet. Rimbaud findet sich »in diesem schrecklichen Loch von Aden« und in derselben Bude von Kontor wieder, hangelt sich von Kurzzeitvertrag zu Kurzzeitvertrag, hängt in der Luft, weiβ nicht was wird. Er lebt so bescheiden wie möglich, ist äuβerst sparsam, er hat jetzt 13 000 Francs zusammengekratzt – Rimbaud, der ehemalige Bürgerschreck und Kommunarde. Sein Kapital könnte ihm eine kleine Rente einbringen, doch in Aden nimmt die Bank bloβ zinslose Einlagen an, und die Handelshäuser sind alles andere als zuverlässig, man kann niemandem auch nur das Geringste anvertrauen, also trägt er sein Geld andauernd mit sich herum. »Was für eine trostlose Existenz ich in diesen blödsinnigen Breiten (…) weiterschleppe.« Er sieht, dass er auf die Dreiβig zugeht – die Hälfte des Lebens, meint er –, dass seine Haare bereits grau werden, weil man in dieser Gegend fünfmal so schnell altert wie anderswo, er hat sich mühsam in der Welt herumgeschlagen und nichts erreicht. Trost findet er bei einer Äthiopierin, eine der acht Beziehungen zu Eingeborenen, die man ihm nachsagte, und von denen er Mutter und Schwester nie schrieb.

Mit ihrem Expansionsdrang machten sich die Engländer ganz Europa zum Feind, so Rimbaud. Ihre hirnverbrannte Politik hatte nur weitere Sinnlosigkeiten und Verheerungen zur Folge. England vereinigte Zeila mit dem ebenfalls besetzten Berbera zu Britisch-Somaliland, rückte jedoch nicht ins Landesinnere nach Harar vor. Die Italiener nisteten sich im vormals ägyptischen Massaua ein und breiteten sich in Eritrea aus. Frankreich beging in dieser Gegend ebenfalls Dummheiten und besetzte die Küste des Golfs von Tadschura, um sie mit Obok zur Französischen Somaliküste (Dschibuti) zu verbinden und die Ausgangspunkte der Karawanenwege nach Abessinien zu kontrollieren. Obok hatten die Franzosen schon während des Baus des Suezkanals den Ägyptern abgekauft, um über eine Bekohlungsstation und ein Gegengewicht zu Aden zu verfügen, von dem aus britische Schiffe die Einfahrt zum Roten Meer blockieren konnten. Faktisch besetzte Frankreich Obok aber erst 1883, als die Engländer Zeila kassierten. Die Kolonie Obok war nichts als Wüste, eine verbrannte Küste, wo die kleine französische Verwaltung sich laut Rimbaud damit beschäftigte, ein gutes Leben zu führen und die Gelder der Regierung zu verschleudern, die nicht die geringste Aussicht hatte, auch nur einen Sou aus dieser fürchterlichen, vorher von zehn Seeräubern beherrschten Kolonie herauszuholen, solange man nicht in die Hochebenen des Innern vordrang. Keine Nation trieb eine so unfähige Kolonialpolitik wie Frankreich, keine zweite Macht verstand es so gut, ihr Geld ohne allen Nutzen an unmöglichen Orten zu vergeuden. England machte Fehler und verschwendete gleichfalls Geld, aber es hatte wenigstens ernsthafte Interessen und handfeste Aussichten. In Aden stellte man sich bereits auf kriegerische Auseinandersetzungen ein und erneuerte das ganze Befestigungssystem. »Vielleicht bombardiert man uns demnächst. (…) Das würde mir Spaβ machen, wenn dieser Platz zu Staub verwandelt würde, – aber nicht, wenn ich da bin!«

Rimbaud überlegt, wie er sich aus dem Staub machen kann. Aber wohin soll er sich wenden? Falls die Engländer sich doch noch in Harar festsetzen, könnte er dort von seinem Ersparten ein paar Pflanzungen – Kaffee, Bananen – kaufen und versuchen, einen kleinen Handel zu betreiben. In Indien würfe sein Kapital – nun 16 000 Francs – genug Zinsen ab, um dort davon leben zu können, in Aden ist alles sehr viel teurer, und auβerdem ist Indien angenehmer als Arabien. Er könnte auch ins französische Protektorat Tongking (Vietnam) gehen, nach dem Krieg gegen China müsste es dort wohl ein paar Stellen geben, und wenn da nichts zu machen sei, könnte er weiter nach Panama ziehen, der Kanal ist noch lange nicht fertiggebaut. Aber letztendlich sind das alles grässliche Länder und klägliche Geschäfte, »es vergiftet einem das Leben«. Wie immer klagt er in seinen Briefen nach Hause, aber er sagt auch, seine Klagen seien »irgendwie so eine Art zu singen«. Später setzt er auf die Liste seiner möglichen Fluchtpunkte oder Sehnsuchtsorte noch den Sudan, Abessinien, Arabien, China und Japan. Sansibar, von wo er lange Reisen ins Innere Afrikas unternehmen könnte, ist nach wie vor eine ernsthafte Option. Doch am liebsten möchte er »Schluss machen mit all diesen verflixten Ländern«, schreibt er, »was soll dieses Hin und Her, diese Anstrengungen und Abenteuer bei fremden Rassen und diese Sprachen, mit denen man sich das Gedächtnis vollstopft, und diese unbeschreiblichen Plackereien, wenn ich nicht nach ein paar Jahren mich eines Tages an einem Ort, der mir einigermaβen gefällt, niederlassen und eine Familie gründen (…) kann«. – Rimbaud und eine Familie gründen? Sich zur Ruhe setzen? Familienvater und Spieβbürger spielen?

Diese Anwandlung war vielleicht nichts weiter als eine freundliche Geste, eine Liebenswürdigkeit gegenüber der Mutter. Sogleich dämpft er die Hoffnung, eine Rückkehr nach Europa kommt für ihn nicht infrage. Solange er Sklave des elenden Verhängnisses ist, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, ist er dazu verurteilt, noch lange, unter Umständen für immer in diesen Gegenden zu leben, wo er jetzt bekannt ist und immer Arbeit finden kann, wohingegen er in Frankreich, wo man ihn vollständig vergessen hat und er ganz von vorn anfangen müsste, ein Fremder wäre, ohne Anstellung, ohne Einkommen, Unterstützung, Beziehungen, Kenntnisse und Beruf. Er muss bleiben, wo er ist, solange er nichts hat, wovon er in Ruhe leben kann. Um sich zur Ruhe zu setzen und zu heiraten, braucht es eine Rente, braucht er 50 000 Francs Kapital, freilich ist es mehr als wahrscheinlich, dass er das nie zusammenkriegen und er weder in Ruhe leben noch in Ruhe sterben wird. Auβerdem könnte er den europäischen Winter nicht mehr ertragen, er würde an irgendeiner Lungenkrankheit verrecken. Er hat den Geschmack am Klima und an der Lebensweise und sogar an der Sprache Europas verloren, überhaupt kann er nicht mehr sesshaft leben, er hat sich zu sehr an das unstete Leben gewöhnt, es ist ihm ganz unmöglich, fest ansässig zu sein, »was soll ich in Frankreich? (…) Zurückkehren hieβe mich begraben«. Er könnte sich nur mit einer Frau verheiraten, die ihn auf Reisen begleitete, ihm überallhin folgte. Dazu hätte er Lust: durch die Welt zu streifen. Wenn er die Mittel zum Reisen hätte, würde man ihn keine zwei Monate am selben Ort finden. »Die Welt ist sehr groβ und voll herrlicher Länder, das Dasein von tausend Menschen würde nicht genügen, um sie alle zu besuchen.« Er will nicht im Elend herumvagabundieren, sondern von einer kleinen Rente und ein paar kleinen Geschäften leben und das Jahr in zwei oder drei verschiedenen Ländern verbringen, ständig am selben Ort zu leben, ist jämmerlich. Leider jedoch »ist es am wahrscheinlichsten, dass man eher hinkommt, wo man nicht hin will, und eher tut, was man nicht möchte, und dass man ganz anders lebt und stirbt, als man jemals wollte«.

Im Herbst 1885 gibt Rimbaud seine Stelle in Aden auf und geht nach Tadschura an der Somaliküste. Der Ort war seit einem Jahr als Protektorat der französischen Kolonie Obok angegliedert. Im ehemaligen ägyptischen Fort lagen sechs französische Soldaten unter dem Befehl eines Sergeanten. Alle drei Monate wurde die Besatzung ausgewechselt und auf Erholungsurlaub nach Frankreich geschickt, kein Posten hielt drei Monate durch, ohne vollzählig vom Fieber gepackt zu werden. Hauptgewerbe Tadschuras war der von den Franzosen tolerierte Sklavenhandel, Rimbaud wird aber nun nicht Sklavenhändler, sondern Waffenhändler. Er hat sich vertraglich verpflichtet, für den französischen Waffenhändler Pierre Labatut eine Karawane mit 2000 Gewehren zum koptisch-christlichen König Menelik von Schoa im zentralen Hochland zu bringen, einem tributpflichtigen Vasall des Kaisers Johannes IV. von Abessinien. Es handelt sich um antiquierte, seit 40 Jahren überholte Perkussionsgewehre, die bei den Altwaffenhändlern in Lüttich und Frankreich sieben oder acht Francs das Stück kosten und sich in Afrika für 40 Francs verkaufen lassen. Rimbaud rechnet nach Abzug der Transportkosten mit einem Profit von 25 000 bis 30 000 Francs in weniger als einem Jahr, drei Monate später reduziert er sein Gewinnkalkül auf 10 000 Francs, immer noch so viel, wie er sonst in drei Jahren nicht verdienen würde. Allerdings ist der Weg nach Ankober, der Hauptstadt von Schoa, sehr lang und gefährlich: zwei Monate Marsch durch Wüsten, deren Bewohner – Beduinen und fanatische Muslims – allen Europäern feindlich gesinnt sind, seit ein britischer Admiral dem Kaiser Johannes die Unterschrift unter einen Vertrag abgetrotzt hat, der den Menschenhandel verbietet, das einzige ein wenig florierende Geschäft der Eingeborenen. Alle Karawanen werden angegriffen, allerdings haben die Beduinen nur Lanzen. Wenn alles gut geht, schreibt Rimbaud nach Hause, ist er im Herbst 1886 in Frankreich, aber nicht, um sich zur Ruhe zu setzen, sondern um noch mehr alte Knarren aufzukaufen. Erst wenn er in diesem Geschäft 100 000 Francs zusammenbekommt, will er diese hoffnungslose Gegend verlassen.

In Tadschura stellt Rimbaud seine Karawane auf. Anfangs nahm er an, im Januar 1886 aufbrechen zu können, doch der Abmarsch verzögert sich. Erst heiβt es, der Weg sei unpassierbar, dann müssen lokale Kleinpotentaten geschmiert und die europäischen Behörden an der französischen Somaliküste und in Aden, über dessen Hafen aller Import läuft, überzeugt werden, dann hält ein diplomatisches Gerangel zwischen Frankreich und England, das den Waffenimport über die Somaliküste unterbinden will, Rimbaud auf. Später erkrankt sein Kompagnon Labatut – dessen Waffen in Tadschura liegen –, dieser kehrt zurück nach Frankreich und stirbt. Rimbaud, der Vollmacht über Labatuts Ware hat, will sich nun der Karawane Soleillet anschlieβen, die in Tadschura ebenfalls auf Abzug wartet. Paul Soleillet, der französische Sahara-Reisende, Propagandist einer Transsahara-Eisenbahnlinie von Algerien zum Senegal und gescheiterte Timbuktu-Pilger, war 1881 im Auftrag einer französischen Handelsgesellschaft nach Obok gekommen und in den folgenden Jahren über Schoa nach dem Kaffeeland Kaffa im Südwesten Abessiniens gezogen, kannte also die Verhältnisse ein wenig. Doch in Tadschura erkrankt auch Soleillet, setzt nach Aden über und stirbt dort im September 1886 im Alter von 44 Jahren; seine Waffenladung für König Menelik bleibt in Tadschura liegen.

Nach Angaben des italienischen Forschungs- und Handelsreisenden Ugo Ferrandi, der Mitte 1886 nach Tadschura gelangte, bewohnte Rimbaud eine Hütte im Dorf, kam aber oft in den Palmenhain, in dem die verschiedenen Karawanen lagerten, auch die des französischen Journalisten Agosto Franzoj, zu dessen Treck Ferrandi gehörte. Mit Franzoj führte Rimbaud lange Gespräche über Literatur, mit Ferrandi über die Geografie des Gebiets und den Islam, in seiner Hütte hielt Rimbaud den lokalen Honoratioren regelrechte Vorträge über den Koran, den er überzeugend in seinem eigenen Interesse auszulegen verstand. Rimbaud beherrschte das Arabische vollkommen, die Eingeborenen hielten ihn für einen konvertierten Muslim, unter Kameltreibern war er geschätzt und gesucht, in Überzahl boten sie ihm ihre Dienste an, und er musste viele abweisen. Wie sie marschierte er zu Fuβ, obwohl er ein Reittier hatte, wie sie trotzte er Sonne, Hunger und Durst, wie sie hockte er sich zum Urinieren hin, im Biwak unterhielt er sich mit ihnen und schlief zwischen den Lasttieren, Rimbaud, dieser hochgebildete Geist und Erneuerer der französischen Literatur, der eines Tages in Obok ein Gespräch mit einem gelehrten griechischen Popen führte, der Mühe hatte mitzuhalten; die Unterredung fand auf Altgriechisch statt.

Im Oktober 1886 bricht Rimbaud allein mit seiner Karawane von 100 Kamellasten und einer Eskorte von 34 Abessiniern nach Schoa auf. Über fürchterliche, katastrophale Wege, die gefährlichsten dieses Teils von Afrika, so Rimbaud, kommt er nur langsam voran – aus zwei Monaten werden vier –, aber er kommt durch. In Ankober trifft er König Menelik jedoch nicht an, dieser befindet sich auf einem Feldzug gegen Harar, auβerdem hat er seine Residenz auf den Antoto-Berg verlegt, wo er bald darauf unter Fanfarenklängen aus erbeuteten ägyptischen Trompeten an der Spitze seines Heeres und der umfangreichen Beute, darunter zwei Krupp-Kanonen, von je 20 Männern gezogen, siegreich Einzug hält; in der Nähe von Antoto wird er später als Kaiser Menelik II. von Abessinien Addis Abeba gründen. Rimbaud zieht weiter nach Antoto, Menelik zahlt nicht den erwarteten Preis für die veralteten Gewehre; während Rimbaud in Tadschura festsaβ, hat ein anderer Europäer dem König ein neueres Modell geliefert. Im Übrigen gibt sich Menelik als Gläubiger Labatuts aus und zieht dessen angebliche Schulden vom Kaufpreis ab. Von allen Seiten stürmen vermeintliche Gläubiger seines verstorbenen Teilhabers auf Rimbaud ein. Als er die Hinterlassenschaft Labatuts in Augenschein nimmt, hat dessen äthiopische Witwe alle bewegliche Habe bereits in Sicherheit gebracht, Rimbaud findet nur eine alte Hose und ein Dutzend schwangere Sklavinnen vor. Er hat Mühe zu retten, was er in das Geschäft reingesteckt hat, er hätte 30 000 Francs eingeheimst, wäre sein Kompagnon nicht gestorben, jetzt ist er nach zwei Jahren Quälerei sogar ärmer als vorher. »Ich habe kein Glück!«

Mit Erlaubnis Meneliks und in Begleitung des französischen Geologen Jules Borelli zieht Rimbaud von Antoto durch das bis dahin unerforschte Gebiet der Ittu-Stämme in das nun von Abessinien beherrschte Harar. Hier fühlt er sich maβlos erschöpft, klagt über Rheumatismus in Schulter, Hüften, linkem Oberschenkel und über Gelenkschmerz im linken Knie. Er ist vollkommen ergraut, glaubt – jetzt 32 Jahre alt –, dass sein Leben ernstlich in Gefahr ist, und findet, dass er nach sieben Jahren unvorstellbarer Anstrengungen und fürchterlicher Entbehrungen zwei oder drei Monate Erholung braucht. Am Roten Meer ist es ihm zu heiβ – andauernd 50 bis 60 Grad –, er geht nach Kairo, trägt dort ständig 16 000 Francs in Gold in seinem Gürtel mit sich herum, was ihm Diarrhöen verpasst. Er schreibt für eine Kairoer Zeitung einen Bericht über seine Reise nach Schoa, die Eroberung Harars durch Menelik und dessen Politik und Pläne, verfasst für die französische Geografische Gesellschaft einen Bericht über den neuen, von Borelli vermessenen Weg von Schoa nach Harar; Arbeiten, die in geografischen Fachzeitschriften Englands, Italiens und Deutschlands zitiert werden. Einen Antrag Rimbauds auf Finanzierung einer neuerlichen Forschungsreise lehnt die Société de Géographie jedoch ab. Im Herbst 1887 ist er wieder in Aden, bittet beim Ministerium für Marine und Kolonien in Paris um Erlaubnis, Material und Ausrüstung zur Waffenfabrikation in die französischen Besitzungen in Ostafrika zu bringen. Der Minister lehnt den Antrag zunächst ab, genehmigt ihn jedoch nach einer Übereinkunft mit England, zieht die Genehmigung wegen neuer Verhandlungen mit England aber wieder zurück. Unterdessen bringt Rimbaud für den bedeutendsten Waffenhändler der Küste »dieses dreckigen Roten Meeres« ein Kontingent Gewehre illegal nach Schoa.

Im Mai 1888 lässt sich Rimbaud erneut in Harar nieder, eröffnet als Partner des »sehr ehrenhaften Handelsherrn« César Tian, der seit Jahrzehnten in Aden lebt, ein Kontor, schickt Karawanen mit Kaffee, Elfenbein, Gummi, Gewürzen und Gold an die Küste, importiert Seide, Baumwolle, Mariatheresientaler – ein im Land gebräuchliches Zahlungsmittel –, kassiert bei seinen gemeinsamen Geschäften mit Tian die Hälfte des Gewinns, macht aber auch auf eigene Rechnung Geschäfte, unter anderem mit kleineren oder gröβeren Posten Waffen. Er ist viel unterwegs, allerdings sind die Wege nach Sturzregen häufig unbegehbar oder infolge von Aufständen und Kriegen versperrt, man »massakriert und plündert nicht schlecht in diesem Gebiet«, gleichwohl hält Rimbaud die Schwarzen weder für niederträchtiger noch für dümmer als »die weiβen Neger in den sogenannten zivilisierten Ländern«, sie sind es nur auf andere Art, das ist alles. Sie sind sogar weniger boshaft, können dankbar und treu sein, es kommt darauf an, menschlich mit ihnen umzugehen. Sein Profit steht in keinem Verhältnis zu dem Ärger und den Scherereien, die er hat, wer nach Harar kommt, läuft auf keinen Fall Gefahr, Millionär zu werden – auβer an Läusen. Wenigstens hat Rimbaud hier seine Freiheit, und das Klima ist gut. Gesundheitlich geht es ihm wieder bestens, nur langweilt er sich viel, eigentlich immer, in ganz Abessinien sind kaum 20 Europäer ansässig, die meisten von ihnen in Harar, ungefähr zehn, er ist der einzige Franzose. »Und ist es denn nicht ein Elend«, schreibt er nach Hause, was man zu Hause hören möchte, »dieses Dasein ohne Familie, ohne geistige Beschäftigung, verloren inmitten von Negern, deren Los man verbessern möchte und die ihrerseits versuchen, einen auszubeuten, und die es einem unmöglich machen, Geschäfte in kurzer Frist abzuwickeln? Genötigt, ihr Kauderwelsch zu reden, ihr dreckiges Essen zu nehmen, tausend Ärger über sich ergehen zu lassen, die von ihrer Faulheit, ihrer Verräterei, ihrer Stumpfsinnigkeit kommen!« Und das ist nicht einmal das Traurigste, vielmehr die Furcht, nach und nach selbst zu verrohen, zu vertieren, vereinsamt wie er ist und weit entfernt von aller vernünftigen Gesellschaft, »ich habe (…) nie jemand gekannt, der das Leben so satt hatte wie ich«.