EDGAR WALLACE

 

Der schwarze Abt

 

 

 

 

Roman

 

Apex Crime, Band 41

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

Der Mann in Schwarz 

Der schwarze Abt im Apex-Verlag 

Ein Vorwort von Christian Dörge 

 

DER SCHWARZE ABT 

 

Das Buch

 

In den Gewölben der verfallenen Abtei von Fossaway in England geht ein Gespenst um: der schwarze Abt. Vor vierhundert Jahren wurde auf den Ländereien des Grafen von Chelford ein Goldschatz vergraben. Lord Chelford ist geradezu besessen von der Idee, diesen Schatz in seinen Besitz zu bringen. Der Schatz wird gefunden, jedoch auch ein Toter: ein Mann in einer schwarzen Kutte. Er wurde ermordet...

 

Mit dem Roman Der schwarze Abt veröffentlicht der Apex-Verlag eine Wallace-typische Mischung aus Mordgeschichte und Gespensterstory, kombiniert mit der bewährten britisch-mysteriösen Atmosphäre. 

Der schwarze Abt erscheint als durchgesehene, teilweise neu übersetzte Neuausgabe in der Reihe APEX CRIME – ergänzt um ein Vorwort von Christian Dörge. 

Auch im 21. Jahrhundert bleibt es somit unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein!

 

 

Der Autor

 

Edgar Wallace.

(* 1. April 1875, † 10. Februar 1932).

 

Richard Horatio Edgar Wallace war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten und populärsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.

Wallace wurde in Greenwich bei London als unehelicher Sohn des Schauspielerpaares Mary Jane „Polly“ Richards und Richard Horatio Edgar geboren und unmittelbar nach seiner Geburt von dem Londoner Fischhändler-Ehepaar Freeman adoptiert. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und brach im Alter von 12 Jahren die Schule ab. Nach diversen Jobs ging er als 18-Jähriger zur Armee und arbeitete sich im Zweiten Burenkrieg in Südafrika bis zum Kriegsberichterstatter hoch.

Nach seiner Rückkehr nach London arbeitete er als Journalist und Sonderberichterstatter. 1901, noch in Südafrika, heiratete er Ivy Maude Caldecott (1880?–1926), Tochter eines Missionars. Mit ihr hatte er vier Kinder. 1918 wurde die Ehe geschieden. 1921 heiratete er seine Sekretärin Ethel Violet King (1896–1933), Tochter des Bankiers Friedrich König, mit der er eine Tochter hatte.

1905 erschien im Eigenverlag sein erster Kriminalroman Die vier Gerechten (The Four Just Men), der zwar ein Publikumserfolg war, aber für Wallace ein finanzielles Desaster bedeutete. Er hatte jedem, der die Lösung des Buches erraten würde, einen Preis in Höhe von 500 Pfund versprochen, für damalige Zeiten eine ungeheure Summe: Zu viele Menschen errieten das Ende des Romans, und er war damit finanziell am Ende. Nur dem Eingreifen von Lord Harmworth von der Daily Mail war es zu verdanken, dass Wallace diese Pleite überstand. Bekannt wurde er vor allem durch seine journalistische Arbeit und seine Afrikaromane, deren erster 1911 unter dem Titel Sanders vom Strom (Sanders Of The River) erschien.

Wallaces berühmtester Krimi war Der Hexer (The Ringer), der als Theaterstück am 1. Mai 1926 uraufgeführt wurde und ein riesiger Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Für die erste Verfilmung seines Romans The Squeaker (dt. Der Zinker, 1930) schrieb er nicht nur das Drehbuch, sondern führte auch selbst Regie.

Darüber hinaus verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Ebenfalls begann er noch mit der Abfassung des Drehbuches für den später mit Fay Wray in der weiblichen Hauptrolle gedrehten Filmklassiker King Kong und die weiße Frau (King Kong, 1932), doch er verstarb in Beverly Hills, Hollywood/Kalifornien an den Folgen einer Lungenentzündung vor dessen Vollendung. Seine Frau Violet überlebte ihren Mann um nur 14 Monate, sie starb im Alter von 37 Jahren im April 1933.

In der Nähe der Fleet Street erinnert am „Ludgate Circus“ eine Gedenktafel an Edgar Wallace mit dem Text: Er lernte Reichtum und Armut kennen – er verkehrte mit Königen und doch blieb er sich selbst treu. Seine Talente widmete er der Literatur, doch sein Herz gehörte der Fleet Street. 

Sein Sohn Bryan Edgar Wallace (Death Packs At Suitcase, 1961, dt. Der Tod packt seinen Koffer) und seine Tochter Penelope Wallace (Kensington Gore, 1985, dt. Eine feine Adresse, 1987) waren ebenfalls Kriminalschriftsteller.

Die Romane von Edgar Wallace wurden in vierundvierzig Sprachen übersetzt. Auch gab es nach dem 1959 gedrehten deutschen Spielfilm Der Frosch mit der Maske in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Edgar-Wallace-Boom in Deutschland mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele dieser Filme wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ eingeleitet. In den Filmen stellte Klaus Kinski oft den Verbrecher oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern der deutschen Serie gehörten auch Karin Dor, Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Siegfried Schürenberg und Heinz Drache. Auch in Großbritannien entstanden in dieser Zeit viele Romanverfilmungen, die jedoch in Deutschland kaum bekannt sind.

 

Der Apex-Verlag widmet Edgar Wallace eine umfangreiche Werk-Ausgabe.

Der Mann in Schwarz

Der schwarze Abt im Apex-Verlag

Ein Vorwort von Christian Dörge

 

 

»Hände hoch! Auch wenn Sie ein Geist sind.

Das Gesetz, das heißt sein Arm, steht vor Ihnen!«

 

- Eddi Arent als Kriminalassistent Horatio W. Smith

in Der schwarze Abt (Rialto-Film, 1963)

 

 

 

Mitunter fragt man sich, welche literarische oder filmische Grusel-Gestalt wohl den größten Eindruck im eigenen Leben hinterlassen hat - oder kurz gesagt: Welcher sinistre Lump lauerte nachhaltig unterm Bett, wenn die Lichter gelöscht wurden?

Meine Nemesis dans cette catégorie ist - daran darf aber auch nicht der geringste Zweifel bestehen! - der schwarze Abt. Und das kam so:

Es waren die späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, ich war jung (und ich meine: wirklich jung!) und hatte offenkundig bereits die Information verinnerlicht, die Bücher eines gewissen Edgar Wallace und insbesondere die Verfilmungen dieser Schmöker mussten etwas ganz und gar Besonderes sein. Nun, in besagten 70ern wurden diese Kino-Adaptionen gelegentlich im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, zur geradezu nachtschlafenden Uhrzeit 20.15 - wie gesagt, ich war jung und hätte zu dieser Zeit bereits brav und gottesfürchtig an der Matratze horchen sollen; somit hatte ich, was derlei Straßenfeger anbelangte, definitiv schlechte Karten.

Weil's damals noch kein Internet gab - herrliche Zeiten, fürwahr! - , versorgte man sich hinsichtlich der TV-Programm-Details via sogenannter Fernsehzeitschriften; für Kinder eine wahre Fundgrube mitunter reizvoller, aber - altersbedingt - denkbar ferner TV-Ereignisse. Eines Tages - es muss im Sommer 1978 gewesen sein, sofern mich die Erinnerung nicht trügt - entdeckte ich ein Schwarz-Weiß-Bild in Großmutters Fernseh-Illustrierten: Das Photo einer komplett schwarz vermummten Gestalt (ohne Frage ein Mann, denn schwarz vermummte Frauen existierten in meiner Kinderwelt nicht), die sich als Sichthilfe zwei Sehschlitze in die Kapuze geschnitten hatte. Und hinter jener Gestalt ein irgendwie lustig dreinblickender Herr, der mit einer Pistole auf den Vermummten anlegte. Darunter der Text: Der schwarze Abt - ZDF, 20.15 Uhr.

Fortan versuchte ich, meine Oma und meinen Opa von der Notwendig zu überzeugen, dass ich diesen Film trotz meines zarten Alters von neun Jahren wirklich dringend anschauen musste. Je näher der Abend - und damit die magische Uhrzeit 20.15 - rückte, umso eindrucksvoller wurden mein Bitten und Flehen. Und obwohl meine Großeltern mir für gewöhnlich keinen Wunsch ausschlugen blieben sie felsenfest bei einem Nein und dem Hinweis, ich sei für derartig Gruseliges eindeutig noch zu jung. Mit dieser Einschätzung lagen sie - wie sich erweisen sollte - goldrichtig (Lord Chelford, weghör'n!).

Es kam wie es kommen musste: Gegen 19.30 Uhr trollte ich mich - geradezu pathetisch mürrisch - ins Bett. Selbstverständlich gesellte sich zu meiner Übellaunigkeit alsbald noch jene fröhliche Uneinsichtigkeit hinzu, die Kindern gottlob mitunter zueigen ist. Ich dachte gar nicht daran, mir diesen vielversprechenden schwarzen Abt entgehen zu lassen! Also schlich ich mich auf Zehenspitzen und schlafanzuggewandet aus meinem Schlafgemach ins großelterliche Wohnzimmer, wo sich der beeindruckende Fernsehapparat sowie die nicht minder beeindruckenden Fernsehsessel von Oma und Opa befanden, in denen meine Großeltern bereits rechtschaffen Platz genommen hatten. Omas Sessel stand direkt neben jener Tür, die ins Wohnzimmer führte, folglich galt es leise zu sein wie Pierre Brice auf dem Schleich- und Kriegspfad. Und ich bildete mir freilich ein, mir wäre dies Kunststück des Anschleichens bravourös gelungen.

Pünktlich war ich indes nicht: Der ersehnte Film hatte bereits Fahrt aufgenommen. Ich machte es mir just in dem Augenblick hinter Omas Sessel gemütlich, als Eva-Ingeborg Scholz (in der Rolle der ziemlich durchtriebenen Mary Wenner) und der unvergessene Werner 'Herr Mistelzweig' Peters (als nicht minder verschlagener Fabrian Gilder) in dunkler Nacht unter der Abtei von Fossaway einen Geheimgang entdecken und ebendort - derweil sie gierig nach dem Chelford-Schatz suchen - vom schwarzen Abt überrascht werden. Frau Scholz dreht vor Schreck fast durch, obwohl der Abt eigentlich gar nichts tut außer schweigsam-mysteriös im Gewölbe herumzustehen.

Jung-Christian fuhr erwartungsgemäß ein Schrecken ins Gebein, welcher dem der armen Mary Wenner in absolut nichts nachstand.

Natürlich war es der Aufmerksamkeit meiner Großeltern nicht entgangen, dass ich mich ins Wohnzimmer geschlichen hatte, und getreu dem Motto: Wer nicht hören will, den soll das Grauen packen ließen sie mich gewähren. Und so saß ich da, vermutlich weiß wie die Wand, und ließ mich vom schwarzen Abt zu Tode erschrecken. Merkwürdigerweise schien ich's zu genießen.

Diese Intensität eines solchen - obgleich elegant-trivialen - Schauderns sollte ich nie wieder erleben: weder angesichts eines Film-Werkes noch eines Romans; gegen den schwarzen Abt hatten sie alle keine Chance: ob sie nun Pennywise, Jason Vorhees, Freddy Krueger oder gar Annie Wilkes heißen mochten. Und wann immer sich die Frage stellte: Wer hat Angst vor'm schwarzen Mann? musste fortan die Antwort lauten: Ich. Was durchaus im Sinne des Erfinders gewesen sein mochte.

 

 

Christian Dörge

- München, im März 2017

 

 

 

 

 

DER SCHWARZE ABT

 

 

 

1

 

 

»Thomas!«

»Mylord!«

Der Lakai - angespanntes Interesse in seinem gewöhnlichen, wenig einnehmenden Gesicht - wartete, während der blasse Mann hinter dem großen Schreibtisch einen kleinen Stapel Papiergeld sortierte.

Den abgenutzten Stahlkasten, dem sie entnommen waren, füllte bis zum Rande ein hoffnungsloses Durcheinander von Banknoten und Rentenscheinen.

»Thomas!« erklang es zerstreut von neuem.

»Mylord!«

»Stecken Sie dies Geld in jenes Kuvert... das nicht, Sie Dummkopf! Das graue. Ist es adressiert?«

»Jawohl, Mylord. An Herrn Lubitz, Leipzig, Frankfurter Straße 35.«

»Kleben Sie es zu und lassen Sie es einschreiben. Wo ist Mr. Richard? In seinem Arbeitszimmer?«

»Nein, Mylord. Er ging vor einer Stunde fort.«

Harry Alford, der achtzehnte Graf von Chelford, seufzte. Er war in der ersten Hälfte der Dreißig, hatte das zarte, blasse Gesicht des geistigen Arbeiters und pechschwarzes Haar, das diese Blässe noch unterstrich. Die Bibliothek, in der er arbeitete, war ein ungewöhnlich hoher Raum, an drei Seiten von einer Galerie umgeben, zu der eine eiserne Wendeltreppe in einer Ecke des Zimmers hinaufführte. Von der Decke bis zum Fußboden war jeder Zoll der Wände mit Bücherregalen bedeckt, abgesehen von dem Platz über dem mächtigen offenen Kamin, wo in Lebensgröße das Bild einer wunderschönen Frau hing. Und niemand, der Seine Gnaden sah, konnte auch nur einen Augenblick verkennen, dass diese wildäugige Schönheit seine Mutter war. Dieselben feinen Gesichtszüge, das gleiche rabenschwarze Haar und dieselben dunklen, grundlosen Augen. Da Lady Chelford einst als die berühmteste Debütantin der Gesellschaft gegolten hatte, gehörte ihr tragisches Ende zu den großen Sensationen der neunziger Jahre. Sonst schmückte kein weiteres Bild die Bibliothek.

Harry Alfords Blicke streiften das Porträt. Ihn dünkte das alte Herrenhaus von Fossaway trotz all seiner Schönheit und all seines Charmes ein armseliger Rahmen für solch ein Juwel!

Der Lakai in seiner nüchternen schwarzen Livree und dem weißgepuderten Haar zögerte an der Tür.

»Weiter nichts, Mylord?«

»Das ist alles«, entgegnete Seine Gnaden, doch als der Mann sich anschickte, geräuschlos zu verschwinden, kam ein neues: »Thomas!«

»Mylord?«

»Ich hörte zufällig die Worte Ihrer Unterhaltung, als Sie heute Morgen mit einem der Reitknechte unter meinem Fenster vorbeigingen. Ah...«

»Filling erzählte mir von dem schwarzen Abt.«

In dem bleichen Gesicht zuckte es krampfhaft. Sogar am hellen Tage, während die Sonnenstrahlen durch die bunten Fenster strömten und rote, blaue und amethystfarbene Arabesken auf das Parkett malten, ließ nur die Erwähnung des schwarzen Abtes das Herz Harry Alfords schneller schlagen.

»Jeder, der über den schwarzen Abt spricht, wird sofort entlassen. Teilen Sie das der gesamten Dienerschaft mit, Thomas. Ein Gespenst? Großer Gott, seid ihr denn alle verrückt?«

Sein Gesicht war jetzt gerötet, die Schläfenadern schwollen an, und unter dem Einfluss des Ärgers schienen die dunklen Augen in den Kopf zurückzuweichen.

»Kein Wort darüber, verstehen Sie? Es ist eine Lüge, eine niederträchtige Lüge, zu behaupten, dass es in Fossaway spukt! Irgendein Lümmel hat sich einen schlechten Scherz erlaubt.« Er winkte dem Diener, sich zu entfernen, und widmete sich wiederum dem Studium des alten Bandes, der am Morgen von Deutschland eingetroffen war.

Hinter der Bibliothekstür verzerrte sich des Dieners glattes Gesicht sekundenlang zu einem hämischen Grinsen. In jener Geldkassette mussten wenigstens tausend Pfund liegen, und für den zehnten Teil dieser Summe hatte Thomas einst drei Jahre abgesessen. Aber hiervon ahnte sogar Mr. Richard Alford, der sonst so ziemlich alles wusste, nichts.

Thomas hatte einen Brief zu schreiben, denn er unterhielt eine gewinnbringende Korrespondenz mit jemandem, der an Fossaway ein ganz besonderes Interesse nahm; vorher jedoch drängte es ihn, Mr. Glover, dem Butler, das eben Erlebte mitzuteilen.

»Mich kümmert’s nicht, was Seine Gnaden sagt - das Gespenst existiert, und alle möglichen Leute haben es gesehen!« Der würdevolle Mann schüttelte den silbergrauen Kopf. »Ich würde nachts nicht für fünfzig Millionen allein durch die Ulmenallee gehen. Und Seine Gnaden glaubt im Geheimen auch daran... Ich wollte, er heiratete. Dann würde er sichtlich umgänglicher werden.«

»Und wir würden den verflixten Mr. Alford los, was, Mr. Glover?«

Der Butler schnüffelte.

»Manche haben ihn gern, andere nicht«, lautete sein Orakelspruch. »Mir hat er noch nie ein grobes Wort gesagt. Thomas, es schellt!«

Der Lakai hastete zur Halle und öffnete die schwere Haustür. Im Portal stand eine junge Dame. Hübsch, keck, sehr teuer gekleidet.

Thomas schenkte ihr ein halbvertrauliches Lächeln.

»Guten Morgen, Miss Wenner! Das nenne ich eine angenehme Überraschung!«

»Ist Seine Gnaden zu Hause, Thomas?«

»Das wohl; aber ich darf Sie nicht anmelden. Ich kann nichts dafür, Miss. Mr. Alfords Befehl!«

»Mr. Alfords Befehl!«, wiederholte sie bissig. »Soll das heißen, dass ich den ganzen Weg von London nach hier umsonst gemacht habe?«

Aber Thomas’ Hand gab die Klinke nicht frei. Er selbst hegte zwar Sympathie für die frühere Sekretärin Seiner Gnaden, die niemals vornehm getan hatte - das unverzeihlichste Vergehen für die Dienerstube! - und würde sie gern eingelassen haben, um so mehr, als er mutmaßte, dass auch seinem Herrn der Besuch nicht unwillkommen sei. Indes dräute irgendwo im Hintergrunde Dick Alford, ein kurz angebundener Mann, nicht allein fähig, ihm die Tür zu weisen, sondern ihn auch durch dieselbe hindurch zu befördern.

»Tut mir sehr leid, Miss. Aber Befehl ist Befehl!«

»So, so...« nickte sie unheilvoll. »Ich werde also von der Schwelle des Hauses fortgeschickt, das mein eigenes hätte werden können, Thomas!«

Er versuchte, eine teilnahmsvolle Miene zu ziehen, wodurch seine Züge den Stempel der Blödheit bekamen. Nichtsdestoweniger lächelte sie ihn freundlich an, beehrte ihn mit einem Händedruck und wandte sich zum Gehen.

»Miss Wenner«, berichtete er in der Dienerstube, »die Alford an die Luft setzte, weil er dachte, dass sie Seiner Gnaden zu sehr gefiele. Und...«

Ein Klingelzeichen rief ihn in die Bibliothek.

»Wer war die Dame, die ich, durchs Fenster blickend, Weggehen sah?«

»Miss Wenner, Mylord.«

Eine Wolke zog über Harry Alfords Gesicht.

»Baten Sie sie, näherzutreten?«

»Nein, Mylord. Mr. Alford befahl...«

»Ach, natürlich. Das hatte ich vergessen. Danke.«

Den grünen Schutzschirm auf die Augen herabziehend - auch tagsüber arbeitete er bei künstlichem Licht -, nahm er die Lektüre wieder auf. Doch seine Gedanken weilten nicht restlos bei dem Inhalt des Folianten. Plötzlich erhob er sich und ging, die Arme verschränkt und das Kinn auf die Brust gesenkt, eine Weile hin und her, bis er vor dem Bilde seiner Mutter haltmachte. Dann kehrte er mit einem Seufzer zum Schreibtisch zurück. Dort lag ein Artikel, den er aus einer Londoner Zeitschrift ausgeschnitten hatte und den er, teils nicht unangenehm berührt durch die ungewöhnliche Tatsache, der Gegenstand von Pressekommentaren zu sein, teils erzürnt über das Thema, zum dritten Male las.

 

»Chelfordbury, ein verschlafenes Dorf in Sussex, frönt dem aufregenden Sport der Gespensterjagd. Der schwarze Abt von Fossaway hat sich nach einer längeren Ruhepause wieder gezeigt. Die Legende besagt, dass vor siebenhundert Jahren Hubert von Redruth, Abt von Chelfordbury, auf Befehl des zweiten Grafen von Chelford ermordet wurde. Seitdem hat man von Zeit zu Zeit seinen Geist gesehen. Während der letzten Jahre liefen in der Gegend grausige Gerüchte von einem Wesen um, das auf dämonische Art schrie und heulte, aber ansichtig geworden ist man des lärmenden Gespenstes erst in der vergangenen Woche.

An Fossaway knüpfen sich außer jenen Geistergeschichten auch andere Legenden. Vor vierhundert Jahren wurde auf der Besitzung irgendwo ein Goldschatz vergraben, so gut, dass man ihn niemals entdeckte, obwohl die Grafen Chelford aller Zeiten eifrige Nachforschungen nach dem Hort der Ahnen angestellt haben.

Der gegenwärtige Graf von Chelford, der mit Miss Leslie Gine, der einzigen Schwester des bekannten Rechtsanwalts und Notars, verlobt ist, teilte unserem Korrespondenten allerdings mit, dass das Auftauchen des schwarzen Abtes auf einen sehr taktlosen Scherz junger Leute aus der Nachbarschaft zurückzuführen sei.«

 

Er machte eine Bewegung, als wollte er den Ausschnitt zerreißen, besann sich dann jedoch eines anderen und legte ihn unter einen Briefbeschwerer.

Der letzte Passus des Artikels klang beruhigend und mochte ihm vielleicht helfen, wenn die Nacht kam und er der Ermutigung bedurfte. Denn wie sehr Lord Chelford auch immer seinen Skeptizismus beteuerte - im geheimen war er felsenfest von der Existenz des schwarzen Abtes überzeugt!

Nervös drückte er auf die elektrische Klingel.

»Ist Mr. Richard zurück?«

»Nein, Mylord.«

Ärgerlich pochte er mit der Hand auf die Schreibtischplatte.

»Wohin, zum Kuckuck, geht er nur jeden Vormittag?« nörgelte er.

Doch Thomas - sehr weise - tat, als hätte er nichts gehört.

 

 

 

2

 

 

Die Schnitter hatten die letzten goldenen Häupter umgelegt, und gleich gelben Grabsteinen standen die Garben auf dem kahlen Boden. Jenseits der Felder, dort, wo die alte, graue Kirchturmspitze aus einer samtenen Baumkuppel hervorlugte, lag Chelfordbury; hinter ihm begannen die grünen und weißen Dünen von Sussex, an deren Fuß sich die Eisenbahn entlangschlängelte.

Dick Alford saß auf einem Zauntritt auf der Spitze eines kleinen Hügels, der ihm einen fünfzehn Meilen weiten Ausblick ins offene Land gewährte. Eine kleine Kopfwendung, und er konnte den Gutshof sowie die grünen Dächer und Kuppeln von Fossaway mit seinen breiten Rasenflächen und sorgfältig gestutzten Eibenhecken überschauen. Doch weder Kornfelder noch Dünen, weder Herrenhaus noch Lustgarten interessierten ihn im Moment. Seine Augen hafteten an einer jungen Dame, die hurtig den sich windenden Pfad emporstieg, der sie zu seinem Sitzplatz bringen musste.

Sie sang, wobei ihre Reitpeitsche wie der Stab eines Tambourmajors im Takt auf- und niedertanzte. Seine Lippen kräuselten sich zu dem Anflug eines Lächelns. Gleich würde sie ihn bemerken! Vielleicht auch Ärger verraten, wenn ihr bewusst wurde, dass er sie beobachtet hatte? Bisher war er Leslie Gine nur begegnet, wenn ihr Gesicht eine gefällige Maske trug und ihr Benehmen die konventionelle Liebenswürdigkeit zeigte.

Der Gesang brach ab. Sie hatte ihn erblickt, stutzte aber nicht, sondern kam im selben Tempo auf die Anhöhe, unterwegs noch schnell eine hohe Brennnessel köpfend.

»Duckmäuser!« begrüßte sie ihn vorwurfsvoll.

Obwohl nicht so groß wie die Durchschnittsengländerin, wirkte sie durch ihre schlanke Figur größer, als sie in Wirklichkeit war. Ihr fein modelliertes Gesicht zeugte von Rasse. Kleine Hände und Füße, ein gut getragener Kopf, tiefgraue Augen und ein roter Mund, der gern lächelte - kurz, Leslie Gine würde auch in Lumpen schön gewesen sein.

Dick hatte sie reiten sehen. Jockeymäßig klemmte sie sich mit den Knien an den Widerrist und wurde ein Teil des Pferdes. Er hatte sie auf dem spiegelnden Tanzparkett beobachtet - geschmeidige Grazie in jeder Linie. Und wenn er mit ihr tanzte, hielt er ein duftiges Etwas in den Armen, das viel mehr Inhalt und Charakter besaß, als er sich träumen ließ.

Jetzt stellte sie sich vor ihm auf, den kleinen schwarzen Reithut ein wenig schief, die beiden Füße in hohen Stiefeln gespreizt, eine Hand auf die Hüfte gestützt, während die andere mit der Reitpeitsche fuchtelte.

Dick Alford schob einen Grashalm zwischen seine weißen Zähne und blickte von seinem vorteilhaften Platz auf der obersten Zaunlatte wohlwollend auf sie herab.

»Ritten Sie ein wenig, Leslie?«

»Ich ritt«, sagte sie feierlich, und nach einer Sekunde: »ein Pferd.«

Er schaute mit unschuldigen Augen umher.

»Wo ist das liebe Tier?«

Ein argwöhnischer Blick streifte sein wettergebräuntes Gesicht, in dem jedoch kein Muskel zuckte.

»Als ich abstieg, um ein paar Blumen zu pflücken, rannte das Tierchen fort... Sie sahen es!« klagte sie ihn plötzlich an.

»Etwas, das einem Pferde glich, sah ich in der Richtung zum Willow Haus laufen«, beichtete er ruhig. »Ich dachte, es hätte Sie abgeworfen!«

»Wegen dieser Vermutung werden Sie es jetzt suchen; ich erwarte Ihre Rückkehr hier.« Und als er mit einem Seufzer vom Zaun herunterstieg, fügte sie hinzu: »Diesen Auftrag wollte ich Ihnen ohnehin geben. Dort sitzt ein Müßiggänger, der Bewegung braucht, sagte ich mir, sobald ich Sie gewahr wurde. Im Übrigen wissen Sie wohl, dass künftige Schwägerinnen Vorrechte genießen.«

Bei den letzten Worten verzog er ein wenig das Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie diese Wolke bemerkt, denn sie hielt ihn mit ausgestreckter Hand auf.

»Nein, lassen Sie es, Dick. Mein Reitknecht kann das Pferd suchen. Es ist ein solch verfressenes Biest, dass es sicher zum Stall gelaufen ist... Setzen Sie sich, ich möchte mit Ihnen reden.«

Ein Schwung brachte sie auf den Platz, den er verlassen hatte.

»Richard Alford, mich deucht, dass Ihnen die Aussicht, mich als Herrin von Fossaway einziehen zu sehen, nicht gerade angenehm ist?«

»Oh, ich zähle die Tage«, versicherte er leichthin.

»Antworten Sie vernünftig!«

Er zog ein verbeultes silbernes Etui aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an.

»Meine liebe Leslie...«

Sie schüttelte den Kopf, sehr ernst geworden.

»Wahrscheinlich denken Sie, dass ich mich überall einmischen werde. In die Leitung des Gutes - ich weiß, dass Harry nicht einmal mit einer kleinen Farm fertig würde - in... alle möglichen Sachen. Aber Ihre Annahme ist falsch.«

Dick Alford blies drei blaue Ringe in die Luft, bevor er entgegnete:

»Ich wünschte im Gegenteil, Sie würden die Leitung übernehmen! Für mich wäre das ein Segen. Wenn das Gut Ihr Geld hinter sich hat - verzeihen Sie das rüde Wort! - kann irgendein Angestellter die geschäftlichen Sachen ebenso gut erledigen wie der zweite Sohn des Hauses!«

 

 

 

3

 

 

Er sprach ohne Bitterkeit, ohne eine Spur von Selbstbedauern, und sie lauschte ihm stumm. Er entstammte einer zweiten Ehe, und als der alte Lord Chelford starb, ging das Vermögen, der Titel, ja selbst der Wagen, den Dick als sein eigen benutzte, auf den ältesten Sohn über; der Jüngere musste sich mit einem kleinen Hof in Hertfordshire, der jährlich zweihundert Pfund abwarf, mit etlichem altem Schmuck seiner verstorbenen Mutter und tausend Pfund bescheiden. Und selbst diese tausend Pfund erhielt er nie. Auf mysteriöse Weise waren sie verschluckt worden, damals, als Arthur Gine den Nachlass ordnete.

Dick fühlte sich wohler, wenn er an diese tausend Pfund nicht dachte. Dennoch kamen sie ihm jetzt irgendwie in den Sinn. Und als ob Leslie Gine seine Zurückhaltung instinktiv mit ihrem Bruder in Verbindung brächte, meinte sie:

»Sie mögen Arthur wohl nicht?«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er in ehrlicher Überraschung, denn nie hatte er seine Abneigung gegen den stutzerhaften Anwalt zu erkennen gegeben.

»Ich spüre es.« Ihr Köpfchen nickte weise. »Auch mich bringt er manchmal zur Verzweiflung, und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er einem Mann wie Ihnen unausstehlich erscheinen muss.«

Dick lächelte.

»Harry findet ihn keineswegs unausstehlich, und er ist der Mann, auf den es ankommt.«

»Harry... Es mutet mich so unwirklich an, dass ich ihn heiraten soll. Seine Werbung war so komisch, Dick, so höflich, so überaus formell...«

Dick versuchte sich auszumalen, wie sein Bruder, dieser Neuling in Liebessachen, sich ausgedrückt haben mochte. Einst, an einem warmen Juniabend, hatte Dick ein Tête-à-tête unterbrochen, das in einem Antrag seitenss der unternehmenden jungen Sekretärin gipfelte, und der verwirrte Harry würde ihren Einflüsterungen bestimmt unterlegen sein, wenn nicht der Zufall seinen Bruder des Weges daher geführt hätte, der die spekulierende Miss Wenner zu einer überstürzten Abreise von Fossaway zwang.

»Ich habe Harry sehr gern«, fuhr Leslie Gine fort, »aber ich frage mich oft, ob seine Wahl auf mich gefallen sein würde, wenn...« Sie stockte.

»Wenn Sie nicht so schrecklich reich wären«, vollendete Dick den Satz. »Sie machen mit dieser Auffassung Ihrem Verlobten nicht gerade ein Kompliment!«

Sie streckte die Arme aus, und er hob sie von ihrem Sitz herunter, obgleich bei ihrer Behändigkeit hierfür kein Grund vorlag.

»Dick«, begann sie, als sie nebeneinander den Hügel hinabstiegen, »was soll ich tun?«

»Inwiefern?«

»In Bezug auf Harry. Mein Bruder ist sehr erpicht auf diese Heirat, und auch ich bin nicht gerade abgeneigt - wenigstens scheint es mir so.«

»Schlimme Affäre, eine reiche Erbin zu sein!« neckte er.

Ihre Stirn krauste sich.

»Bin ich’s denn?«

Er machte halt und sah sie so bestürzt an, dass sie lachen musste.

»Etwa nicht?«

»Ich weiß nicht; mein Onkel hinterließ mir vor vielen Jahren eine Menge Geld. Wieviel, kann ich nicht sagen - Arthur hat mein Vermögen von jeher verwaltet. Jedenfalls habe ich immer alles, was ich brauche.«

»Dann nörgeln Sie nicht!« verwies sie ihr Begleiter etwas derb.

»Wahrscheinlich kommen die Ehen der meisten vermögenden Mädchen auf die gleiche Art zustande wie die meinige, und bis vor kurzer Zeit schickte ich mich auch darein als in etwas Unvermeidliches.«

»Und warum haben Sie Ihre Meinung geändert?«, erkundigte er sich und sah, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

»Das weiß ich nicht« - fast schroff klang ihre Antwort.

Und dann gewahrte sie in seinen Augen ein großes, hoffnungsloses Sehnen, und blitzesgleich überkam sie die Erkenntnis ihrer selbst.

Mühsam holte sie Atem. Sie wähnte, dass er das rasende Pochen ihres Herzens hören müsse, und rang verzweifelt nach Fassung. Lebhaft erstand vor ihrem Auge das Bild ihres Verlobten, dieses dürren, so leicht reizbaren jungen Mannes, der alles hatte, ausgenommen Männlichkeit. Ein Schwächling mit gefolterten Nerven, der bald bat, bald durch lärmende Worte einzuschüchtern versuchte, unbekümmert um den Eindruck, den er auf die Frau, die sein Leben teilen sollte, machte. Und von dieser Vision glitten ihre Augen mechanisch zu dem Mann an ihrer Seite: ernst, beherrscht, voller Kraft und Selbstvertrauen.

Zehn Minuten später, auf dem Rückweg nach dem Willow Hause, quälte sie sich ab mit einem Problem, das gleichwohl unlösbar erschien...

Dick Alford, langsam heimwärts schlendernd, bemerkte die schmächtige Gestalt seines Bruders an dem Ende der Ulmenallee.

Der Wind hob die Schöße seines Gehrocks, und wie er so dastand, leicht vornüber geneigt und seiner Gewohnheit getreu den Kopf vorgestreckt, glich er einem großen, plumpen Vogel. Mit zornverzerrter Miene kam er Dick entgegen.

»Ich überlasse dir vieles, Richard; aber meine Liebesaffären regle ich allein!« Lord Chelfords Stimme schrillte vor kindischer Wut. »In meine Privatangelegenheiten hast du dich nicht zu mischen, verstanden? Ein Mädchen hast du schon von mir fortgeschickt - nimm dich in acht mit Leslie!«

»Wie kommst du nur...«

»Du willst nicht, dass ich heirate«, schnitt ihm der Altere das Wort ab. »Ich bin kein Dummkopf, Dick! Du bist der nächste Erbberechtigte... Jedoch diese Verlobung wirst du nicht hintertreiben!«

Im ersten Augenblick verjagte die Brutalität, die Ungerechtigkeit der Anklage, alles Blut aus dem Gesicht des jüngeren Mannes. Dann lachte er, sich mit aller Willenskraft meisternd, laut auf. Szenen dieser Art spielten sich fast täglich ab; nie zuvor war Harry Alford indes so weit gegangen. In zehn Minuten würde der Sturm sich ausgetobt haben und Harry wieder der liebenswürdige Mensch sein; trotzdem war es im Moment bitterschwer zu ertragen.

»Warum diese Vorwürfe?« verteidigte er sich. »Ich ließ die Wenner gehen, weil sie keine Frau für dich war.«

»Ich soll überhaupt nicht heiraten, das willst du!« keifte der Erstgeborene. »Du wartest darauf, in meine Schuhe zu treten. Eine neue Gräfin Chelford ist das letzte auf der Welt, das du sehen möchtest!«

Dick Alford blieb stumm. Weiß Gott, sein Bruder sprach die Wahrheit!... Ein grauenhafter Tag, an dem Harry Alford in dieses große Haus eine Frau bringen würde, die das wie eine Wolke über Fossaway hängende entsetzliche Geheimnis teilen musste.

 

 

 

4

 

 

Dick Alford saß in dem kleinen Raum, in dem er meistens zu arbeiten pflegte und dem Mappen und Briefordner ein geschäftsmäßiges Aussehen gaben. Die auf den Garten hinausgehenden französischen Fenster standen weit auf, denn trotz des Septembers war die Nacht so warm, dass er den Rock ausgezogen hatte. Wenn zwischen Lord Chelford und seiner Mutter eine große Ähnlichkeit herrschte, so hätte auch der schärfste Beobachter nicht die Spur einer solchen zwischen Dick Alford und seinem Halbbruder entdecken können. Ein breitschultriger Athlet, dessen braunes Gesicht von einem Leben in freier Luft sprach. Seine blauen Augen musterten den Diener mit einem spöttischen Lächeln, als er jetzt die alte Schreibmaschine beiseiteschob und sich die Pfeife wieder ansteckte.

»Der Schwarze Abt? Oh, Göttchen! Haben Sie ihn gesehen, Thomas?«

»Ich nicht, Sir. Aber Mr. Cartwright.«

Und Thomas lieferte einen anschaulichen Bericht über das gräuliche Erlebnis des Dorfkrämers.

»Wer weiß, ob der schwarze Abt nicht auch an dem Feuer schuld ist, das während der Erholungsreise des Vikars im Pfarrhaus ausbrach!«, meinte er nachdenklich.

»Das genügt, Thomas. Was Mr. Cartwright anbelangt, so war er entweder betrunken oder er sah einen Schatten.« Er blickte hinaus auf den Rasen, den die bläulich-weißen Strahlen des Vollmondes übergossen. »Bei solchem Mondlicht bildet man sich häufig ein, seltsame Dinge zu sehen... Hat Lord Chelford übrigens nicht jede Diskussion über den schwarzen Abt verboten?«

»Jawohl, Sir.«

»Dann halten Sie also den Mund.«

Seine Pfeife im Mund, schlenderte Dick durch die Halle zur Bibliothek.

Die Kerzen der drei Kronleuchter waren nicht angedreht. Nur die beiden grün beschirmten Lampen rechts und links auf dem Schreibtisch brannten und verstärkten noch die Düsterkeit des Raums.

Beim Anblick seines Bruders furchte Lord Chelford die Stirn.

»Wirklich, Dick, mir wäre es sehr lieb, wenn du im Hause nicht in Hemdsärmeln und Breeches herumlaufen möchtest! Es sieht scheußlich aus.«

»Ist aber hübsch kühl«, versicherte Dick und ließ sich nieder. »Können deine Nerven den Geruch von anständigem Tabak vertragen?«

Der Altere rutschte unbehaglich hin und her. Dann öffnete er ein goldenes Etui und holte eine Zigarette hervor.

»Lieber einen Pfeifenkopf Shag als hundert deiner Stänker«, lächelte Dick. »Gegen Zigaretten will ich nichts sagen, aber parfümierte!...«

»Wenn sie dir nicht gefallen, kannst du ja das Zimmer verlassen«, murrte sein Bruder. Und dann in seiner abrupten Weise: »Hast du diesen Zeitungsartikel gelesen? Er atmet zwar keine Unfreundlichkeit gegen mich. Doch wie ist das Ganze überhaupt zur Kenntnis der Reporter gelangt?«

Dick überflog die Zeilen.

»Weiß ich’s?... Unser Spuk verhilft uns jedenfalls zur Berühmtheit in der Presse!«

»Kannst du die Sache nicht ernsthaft auffassen?« erboste sich Harry. »Siehst du nicht, wie sie mich aufregt? Du kennst den Zustand meiner Nerven, aber was schert’s dich? Hart wie Stein bist du, und jeder scheint deinen Anblick zu hassen.«

Dick zog traurig an seiner Pfeife.

»Meine unglückselige Veranlagung! Ich befürchte, dass ich zu tüchtig werde. Nur so vermag ich mir meine Unbeliebtheit, die mir schlaflose Nächte bereitet, zu erklären!«

»Um des Himmels willen, lass den Blödsinn!«

»Gut, ich bin jetzt ganz ernst. Stell mich auf die Probe mit einem Kirchenlied.«

Sichtlich verdrossen, wandte sich Harry ab, spielte nervös mit den Seiten des vor ihm liegenden Buches und warf dann einen bezeichnenden Blick zur Tür.

»Du siehst total erschöpft aus. Hast du für heute nicht genug gearbeitet?« mahnte der Jüngere aufstehend und beugte den Kopf über das aufgeschlagene Buch. Aber der Text war altdeutsch, und Dicks Sprachenkunde beschränkte sich auf Restaurantfranzösisch.

Lord Chelford lehnte sich mit einem Seufzer in seinen gepolsterten Sessel zurück.

»Wahrscheinlich hältst du mich für einen Narren, weil ich meine Zeit hierauf verwende« - seine Hand wies auf die Bücherregale -, »anstatt mich mit Leslie zu vergnügen?«

»Stimmt«, nickte Dick. »Vom Bräutigam merkt man blitzwenig bei dir.«

Harry Chelford lächelte überlegen.

»Zum Glück weiß Leslie, dass sie einen Bücherwurm und keinen Sportler heiratet... Und was würdest du sagen, wenn ich dir erklärte, dass ich auf halbem Wege bin, den Chelford-Schatz aufzuspüren?«

»Das wären so etwa dreiviertel Wegs zur Entdeckung des Steins der Weisen.«

Aber der Spott glitt an seinem Bruder ab. Er zog eine Schublade auf, um ihr ein in Pergament gebundenes Bändchen zu entnehmen, dessen Schriftzüge grünlich verblasst waren.

»Hör zu!

 

»Am fünfzehnten des Monats, dem Tage des Heiligen Jacobus, kehrte Sir Walter Hythe von seiner Kreuz- und Querfahrt in den spanischen Meeren, für deren Unkosten ich erstmalig dreitausendachthundert Pfund und dann nochmals achttausend Pfund bei dem Lombarden Bellitti aufgenommen hatte, zurück. Mit sich brachte Sir Walter Hythe auf zehn Wagen eintausend Barren Gold, jeder fünfunddreißig Pfund schwer, die von den spanischen Schiffen Esperanza und Escorial stammten. Diese Barren soll er, wenn die Trockenheit andauert, an den sicheren Platz schaffen, da es mich unklug deucht, den Lordkanzler über das Geld in Kenntnis zu setzen - wegen der Habsucht der Königin.

Des Weiteren brachte er das Kristallfläschchen voll Lebenswasser mit sich, das ein Priester des Aztekenvolkes dem Don Fernando Cortez überreichte und von dem ein Tropfen auf der Zunge genügt, um sogar Tote zu erwecken, wie Pater Pedro von Sevilla geschworen hat. Dieses Fläschchen will ich selbst mit großer Sorgfalt im Schatzlager verstecken. Sir Walter Hythe erlaubte ich, einhundert Barren für sich zu behalten, was er mit höflichem Dank tat; sodann stach er von Chichester auf seinem Schiff Guter Vater in See. Das Schiff scheiterte jedoch an der Küste von Kent, wobei Sir Walter Hythe, sein Kapitän und die ganze Besatzung ertranken. So war sein schreckliches Unglück. Da ich selbst mich in einiger Gefahr befinde wegen meiner Sorge für das Wohlergehen meines wahren Souveräns, Mary...« 

 

Hier endet die Niederschrift«, sagte Lord Chelford. »Nichts rechtfertigt die Vermutung, dass er beim Verstauen des Schatzes durch die Ankunft der Soldaten Elisabeths, die ihn der Teilnahme an der Verschwörung zugunsten Marys für verdächtig hielt, gestört wurde. Wo ist nun das Kristallfläschchen?«

»Wo ist das Gold?«, fragte der praktisch veranlagte Dick. »Was ich über die Königin Elisabeth weiß, macht es sicher, dass sie es einheimste. Sonst hätten unsere Vorfahren nicht seit vierhundert Jahren vergeblich danach...«

Sein Bruder unterbrach ihn mit einer ärgerlichen Handbewegung.

»Gold!... Gold! Zum Teufel mit dem Golde! Wenn du es findest, kannst du es behalten. Ich will das Fläschchen!« Sein Antlitz war feucht geworden, und im Flüstertöne fuhr er fort: »Dick, ich habe Angst vor dem Tode. Diese Angst würgt mich Tag und Nacht. Wenn ich hier sitze, zähle ich die Stunden und frage mich zitternd, wann er mich holen mag!... So lach doch! Lache!«

Dicks Miene blieb jedoch Ernst.

»Ich lache nicht, Harry. Aber siehst du nicht ein, dass der Glaube an ein Lebenselixier absurd ist?«

»Warum?« Lord Chelfords Augen glänzten fiebrig. »Warum sollten die Alten es nicht entdeckt haben? Wäre das etwa wunderbarer als drahtlose Telegraphie oder Atomzertrümmerung? Noch vor dreißig Jahren betrachtete man das Fliegen als ein Wunder. Ich will die Flasche - den Lebenstrank! Das Gold?... Wirf es auf die Straße, gib es den armen Teufeln, denen es fehlt. Ich will das Leben -, verstehst du? - das Leben und das Ende der Angst.«

Und seine nasse Stirn trocknend, keuchte er nochmals:

»Das Ende der Angst!«

Dicks Augen hafteten die ganze Zeit über an seines Bruders Gesicht. Das sollte Leslie Gines Gatte werden?... Er schüttelte sich.

 

 

 

5

 

 

Lebensinhalt Pflege und Wartung des Chelford-Besitzes