Edgar Wallace

 

A.S. der Unsichtbare

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015

 

ISBN/EAN: 9783958704282

 

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

 

www.nexx-verlag.de

 

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1

 

Der Zufall und ein schnelles Auto brachten Andrew Macleod in die Gegend von Beverley. Die Stadt selbst liegt am Ende einer kleinen Nebenstrecke der Eisenbahn. Sie hat eigentlich keine ersichtliche Existenzberechtigung und auch keine nennenswerten Einnahmequellen. Aber trotzdem leben die Einwohner und sind bis jetzt noch nicht verhungert. Im Gegenteil, die Besitzer der kleinen, sauberen Läden, die an der einzigen breiten und schattigen Hauptstraße liegen, scheinen gute Geschäfte zu machen. Die Bewohner des vornehmen Vororts Beverley Green geben ihnen allerdings nichts zu verdienen, denn sie besorgen ihre Einkäufe in großen Warenhäusern und kommen höchstens herein, wenn sie etwas vergessen haben und eilig benötigen.

 

Andy brachte seinen großen Wagen vor dem Postgebäude zum Stehen und stieg aus. Fünf Minuten lang telefonierte er mit Scotland Yard über Alison John Wicker, der als ›Vieraugen-Scottie‹ bekannt war. Diesen Spitznamen hatte der Mann erhalten, weil er eine Brille trug.

 

Als der geschäftsführende Direktor des Agent Diamond Syndicate an einem Montagmorgen sein Büro betrat, entdeckte er, dass jemand in der Zwischenzeit dort gewesen war und ihm die Mühe abgenommen hatte, den großen, feuer- und diebessicheren Geldschrank zu öffnen. Es war allerdings nicht der Schlüssel, sondern Thermit und ein Sauerstoffgebläse dazu verwendet worden. Dieser Einbruch sah so unzweifelhaft nach Scotties Arbeit aus, dass er ebenso gut eine Quittung über die sieben gestohlenen Päckchen Brillanten hätte zurücklassen können. Alle Bahnhöfe und Überseehäfen des Landes wurden durch besondere Polizeibeamte scharf überwacht, die Fremdenlisten der Hotels und Gasthäuser wurden durchforscht und alle Polizeistationen alarmiert.

 

Andy Macleod war gerade auf Urlaub gewesen. Er hatte sich mit seinen Angelgeräten und einem großen Stoß Bücher aufs Land zurückgezogen. Ganz unerwartet hatte man ihn nun aus den Ferien zurückgeholt, um die Nachforschungen nach Scottie zu leiten.

 

Dr. Macleod war zuerst als Pathologe in die Dienste von Scotland Yard getreten, aber im Laufe der Zeit war ein Detektiv und Verbrecherfänger aus ihm geworden, ohne dass er selbst wusste, wie das eigentlich gekommen war. Offiziell war er jedoch immer noch Arzt und erschien bei Prozessen als Zeuge, um die Todesursache der Ermordeten zu bekunden. Inoffiziell aber nannte ihn auch der jüngste Polizist nicht ›Doktor‹, sondern nur ›Andy‹.

 

»Vor drei Tagen ist er zu Fuß durch Panton Mills gekommen. Ich bin ganz sicher, dass es Scottie war«, sagte er. »Ich durchsuche nun den Landstrich von hier bis Three Lakes. Die hiesigen Polizeibeamten schwören, dass er nicht in der Nähe von Beverley sei, was heißt, dass er sich direkt vor ihrer Nase herumgetrieben hat. Es sind überhaupt Leuchten; sie fragten mich allen Ernstes, ob er denn schon wieder etwas verbrochen habe, und dabei haben sie bereits vor einer Woche den Bericht über den Einbruch mit allen Einzelheiten sowie eine genaue Personalbeschreibung Scotties erhalten.«

 

In diesem Augenblick betrat eine junge Dame das Postamt. Andy betrachtete sie voller Bewunderung durch das seitliche Fenster der Telefonzelle. Anziehend – hübsch – schön? fragte er sich. Die meisten Frauen sehen in einem eleganten Kostüm am vorteilhaftesten aus. Sie war groß und schlank.

 

»Ja, ich glaube«, antwortete er seinem Vorgesetzten mechanisch, denn seine Gedanken und seine Aussagen waren jetzt bei diesem Mädchen.

 

Sie hob ihre Hand, und er sah einen Ring am vierten Finger ihrer linken Hand aufblitzen. Es war ein Goldreif mit eingesetzten Smaragden – oder sollten es etwa Saphire sein – nein, er sah deutlich den meergrünen Schimmer, es waren Smaragde.

 

Nachdem der geheime Teil seines Berichtes erledigt war, öffnete er die Telefonzelle ein wenig und lauschte mit einem Ohr auf den Klang ihrer Stimme.

 

Sie ist wirklich außerordentlich schön, entschied er und bewunderte ihr Profil.

 

Dann ereignete sich etwas Merkwürdiges. Auch sie musste ihn beobachtet haben, während er nicht hingesehen hatte. Vielleicht fragte sie jetzt, wer er sei. Andy hatte dem mitteilsamen Postbeamten seine Karte gezeigt, um schneller mit London verbunden zu werden. Der Mann würde ihr sicher bereitwillig Auskunft geben. Andy hörte, wie das Wort ›Detektiv‹ fiel. Er konnte jetzt ihr Gesicht deutlich sehen.

 

»Detektiv!« Sie flüsterte nur, aber er hörte es doch und sah sie an. Sie war blass geworden und musste sich an der Kante des Schalterbrettes festhalten.

 

Er war so bestürzt, dass er den Hörer vom Ohr nahm. In diesem Augenblick wandte sie sich ihm zu und begegnete seinem Blick. Er las Furcht, Entsetzen und Schrecken in ihren Augen. Ein gequälter Ausdruck lag auf ihren Zügen, als ob er sie irgendwie überrascht und gefangen hätte. Sie schaute verlegen fort und machte sich mit dem Geld zu schaffen, das sie herausbekommen hatte. Ihre Hände zitterten aber so sehr, dass sie schließlich ihre hohle linke Hand unter das Schalterbrett hielt und die Münzen mit der rechten hineinstrich. Dann verließ sie eilig das Postamt.

 

Andy kam es gar nicht zum Bewusstsein, dass am anderen Ende der Leitung ein erstaunter Beamter saß, der dauernd auf den Haken drückte und weitersprechen wollte. Andy hängte einfach den Hörer an und trat an den Schalter.

 

»Wer war die Dame?« fragte er, während er die Gebühr für sein Gespräch bezahlte.

 

»Das war Miss Nelson aus Beverley Green. Ein herrlicher Platz, Sie müssten sich ihn einmal ansehen. Es wohnen viele reiche Leute dort, zum Beispiel Mr. Boyd Salter – haben Sie schon von dem gehört? Und dann Mr. Merrivan, auch sehr wohlhabend, aber ein wenig geizig – na –, und dann leben noch allerlei Herrschaften da. Es ist eine Art – wie soll ich sagen – Villenkolonie – eine Gartenstadt! Das ist der richtige Ausdruck. Da gibt's einige der größten und schönsten Häuser der ganzen Grafschaft. Die Familie Nelson ist schon seit Jahren dort ansässig, lange bevor die Gartenstadt gegründet wurde. Ich kann mich noch deutlich an Nelsons Großvater erinnern, das war ein netter Mann.«

 

Der Postbeamte war im besten Zuge, Andy genaue Biographien der bekannten Leute von Beverley Green zu geben, aber der Detektiv wollte das junge Mädchen noch sehen und beendete seine Unterhaltung etwas schroff.

 

Er sah sie draußen eilig davongehen und vermutete, dass der Bahnhof ihr Ziel war.

 

Sein Interesse und seine Verwunderung waren geweckt. Wie sollte er sich ihre Aufregung und Bestürzung erklären? Was hatte sie denn von einem Detektiv zu fürchten? Warum hatte sie ihn mit solchem Entsetzen angesehen?

 

Es war Zeitverschwendung, sich darüber Gedanken zu machen. In diesen malerischen kleinen Städten, die dem großen Weltgetriebe so fern lagen, schien der Strom des Lebens so idyllisch und sanft dahinzugleiten, unberührt von den leidenschaftlichen Stürmen, die die großen Städte in Aufruhr versetzen.

 

Das kleine Wörtchen ›Detektiv‹ hatte doch nichts Schreckliches für Leute, die das Gesetz achten!

 

»Hm!« sagte Andy und rieb sich nachdenklich das glattrasierte Kinn. »Auf diese Weise werde ich Scottie wohl nicht fangen!«

 

Er verließ den Ort in seinem Auto, um erst die Hauptstraße ein Stück entlangzufahren und dann mit der systematischen Durchsuchung der vielen kleinen Nebenwege zu beginnen.

 

Er war etwas mehr als zwei Kilometer von Beverley entfernt, als er langsamer fuhr, um eine scharfe Kurve zu nehmen. In dem Augenblick sah er zu seiner Rechten eine breite Öffnung in der Hecke, die die Straße einfasste. Ein bequemer Weg, der zu beiden Seiten mit Bäumen bestanden war, zweigte hier ab; er war von wohlgepflegten Rasenstreifen eingefasst, schlängelte sich weithin und verschwand dann im hügeligen Gelände. Ein Wegweiser trug die Aufschrift ›Privatweg nach Beverley Green‹.

 

Andy hatte die Abzweigung schon hinter sich und fuhr nun ein Stück rückwärts. Nachdenklich betrachtete er die Aufschrift und bog dann in die Straße ein. Es war kaum anzunehmen, dass Scottie diesen Weg eingeschlagen hatte. Allerdings war er ein Mann, der jede günstige Gelegenheit wahrnahm. Und in Beverley Green wohnten viele reiche Leute. Auf diese Weise versuchte Andy, seinen Abstecher vor sich selbst zu entschuldigen, obwohl er sehr gut wusste, dass ihn nur seine persönliche Neugierde vom Weg abführte. Er wollte das Haus sehen, in dem sie lebte. In welchen Verhältnissen mochte sich ihr Vater befinden?

 

Der Weg beschrieb viele Windungen, und endlich brachte ihn eine ungewöhnlich scharfe Kurve zum Ziel. Beverley Green breitete sich in all seiner sommerlichen Schönheit plötzlich vor ihm aus. Andy fuhr jetzt so langsam, dass ein Fußgänger neben dem Wagen hätte hergehen können. Vor ihm lag ein ausgedehnter Platz, der von einer ununterbrochenen Reihe blühender Sträucher eingefasst war. Etwa zehn Meter von der Straße entfernt begann ein Golfplatz, der sich wahrscheinlich das ganze Tal entlang zog. Mitten im Grünen, halb verdeckt durch die umgebenden Bäume, standen mehrere Villen. Hier schaute ein Giebel aus den Bäumen hervor, dort schimmerte ein Fensterkreuz durch das Laub. Anderswo sah er kunstvolles Fachwerk.

 

Andy schaute sich um, ob er nicht jemand um Auskunft fragen könne, denn die Straße teilte sich jetzt ... An der Ecke lag ein sauber mit Schindeln verkleidetes Gebäude, das den Eindruck eines Clubhauses machte. Er stieg eben aus, um die Ankündigungen am Torpfosten zu lesen, als ein Herr um die Ecke bog.

 

Ein wohlhabender Kaufmann, der sich zur Ruhe gesetzt hat, dachte Andy. Trägt schwarze Alpakajacke, breite Schuhe, hohen steifen Kragen, doppelte goldene Uhrkette. Sehr von sich eingenommen und äußerst verwundert über mein Eindringen in diese elysischen Gefilde.

 

Der Herr sah Andy ernst an, aber es war keine Ablehnung in seinem Blick.

 

Sein Alter konnte zwischen fünfundvierzig und sechzig liegen. Sein großes, glattes Gesicht zeigte keine Falten, sein Gang war lebhaft und seine Haltung ausgezeichnet, so dass Andy zuerst nichts von seiner Anlage zur Korpulenz wahrnahm.

 

Ein freundlicher Gruß zeigte Andy, dass er hier gut aufgenommen werden würde.

 

»Guten Morgen, Sir«, begann der Herr. »Sie scheinen hier jemand zu suchen? In Beverley kann sich ein Fremder nur schwer zurechtfinden. Es gibt hier nämlich weder Straßennamen noch Hausnummern.« Er lachte behaglich.

 

»Ich wollte eigentlich niemand aufsuchen«, entgegnete Andy. »Ich bin aus reiner Neugierde hierhergefahren. Es ist ein herrliches Fleckchen Erde. Ich habe in Beverley schon viel davon gehört.«

 

Der andere nickte geschmeichelt. »Es kommen nur selten Fremde hierher zu Besuch – beinahe hätte ich gesagt, glücklicherweise. Der Grund und Boden hier gehört mir und meinen Freunden und Nachbarn. Es gibt kein Hotel, das Fremde in Versuchung führen könnte, sich hier aufzuhalten. Aber wir haben unser Gästehaus.« Er zeigte auf das von Grün umsponnene Gebäude, das Andy für einen Club gehalten hatte. »Wir unterhalten es gemeinsam für Besucher. Manchmal können wir nicht alle unsere Freunde unterbringen, und dann wohnt auch wieder nur eine einzige Person dort, die dann gewissermaßen Gast unseres kleinen Gemeinwesens ist. Augenblicklich hält sich zum Beispiel ein bedeutender kanadischer Geologe bei uns auf.«

 

»Ein glücklicher Mann – und eine glückliche Gemeinde. Sind alle Häuser hier bewohnt?«

 

Andy stellte diese Frage, obwohl er sich die Antwort darauf selbst geben konnte.

 

»Aber natürlich! Das letzte Haus dort links gehört dem großen Architekten Pearson, der sich jetzt allerdings zur Ruhe gesetzt hat. Das nächste mit dem spitzen Giebel bewohnt Mr. Wilmot, ein Herr – nun, ich kann Ihnen leider nicht genau sagen, welchen Beruf er hat, obwohl er mein eigener Neffe ist. Ich weiß nur, dass er eine Stellung oder ein Geschäft in der Stadt hat. Das Haus nebenan mit den Kletterrosen ist das Eigentum von Mr. Nelson – Kenneth Leonard Nelson –, Sie haben sicher schon von ihm gehört.«

 

»Der bekannte Maler?« fragte Andy interessiert.

 

»Ja, ein großer Künstler. Er hat hier sein Atelier, aber Sie können es von hier aus nicht sehen, es liegt auf der Nordseite. Künstler bevorzugen sie zur Arbeit, soviel ich davon verstehe. Dann das Gebäude dort hinten an der Ecke – dort zweigt ein ziemlich breiter Weg zu den Tennisplätzen ab – ist mein Heim«, sagte er zufrieden.

 

»Was ist denn das für ein großes Gebäude an der Seite des Hügels?« fragte Andy – und überlegte schnell: Ihr Vater war also der Maler Nelson. Was hatte er doch über ihn erfahren? Der Name rief irgendeine unangenehme Erinnerung in ihm wach.

 

»Das Haus auf dem Hügel? Das gehört leider nicht zu unserer Gemeinde. Das ist der hochherrschaftliche Adelssitz, um den wir anderen bescheidenen Landbewohner unsere Hütten gebaut haben.« Der Vergleich schien ihm so zu gefallen, dass er noch einmal sagte: »Unsere kleinen Hütten.« Dann fuhr er fort: »Das Schloss dort wird von Mr. Boyd Salter bewohnt, dessen Familie in dieser Gegend seit Jahrhunderten ansässig ist. Die Salters stammen aus – aber ich will Sie nicht mit ihrer Geschichte belästigen. Mr. Boyd Salter ist ein sehr reicher Mann, aber leider Invalide.«

 

Andy nickte höflich.

 

»Sehen Sie, dort kommt unser Gast, Professor Bellingham. Nebenbei bemerkt, mein Name ist Merrivan.«

 

Das war also Mr. Merrivan. Der Postbeamte hatte ihn ›sehr wohlhabend, aber ein wenig geizig‹ genannt.

 

Andy betrachtete den näher kommenden kanadischen Geologen – einen hageren Mann mit bauschigen Breeches. Seine Haltung war etwas gebeugt, was wohl von seiner Arbeit am Studiertisch kommen mochte.

 

»Er war wieder draußen in den Bergen und hat Versteinerungen gesammelt. Er hat schon eine ganze Menge hier gefunden«, erklärte Mr. Merrivan.

 

»Ich glaube, ich kenne ihn sehr gut«, erwiderte Andy, der plötzlich großes Interesse für den Fremden zeigte.

 

Er ging dem Professor entgegen. Als er nur noch einige Schritte von ihm entfernt war, schaute der Gelehrte auf und stutzte.

 

»Peinliche Sache, Scottie«, sagte Andrew Macleod mit schlecht gespieltem Bedauern. »Wollen Sie hier eine Szene machen, oder soll ich Sie irgendwohin zum Mittagessen mitnehmen?«

 

»Wenn Sie gestatten, dass ich eben noch auf mein Zimmer gehe und mein Gepäck in Ordnung bringe, so werde ich Sie begleiten. Ich sehe, Sie haben ein Auto, aber ich möchte lieber zu Fuß gehen.«

 

Andy sagte nichts, bis sie zu Merrivan kamen.

 

»Professor Bellingham will mir einige interessante Funde zeigen«, erklärte er dann liebenswürdig. »Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihre Freundlichkeit.«

 

»Vielleicht kommen Sie wieder einmal hierher – ich würde Sie dann gerne in Beverley Green herumführen.«

 

»Das wäre mir ein großes Vergnügen.« Es war keine Höflichkeitsphrase, sondern Andys wirkliche Meinung.

 

Er stieg hinter Scottie die Treppe des Gästehauses hinauf und folgte ihm in das hübsche Zimmer, das ›Professor Bellingham‹ zwei Tage lang bewohnt hatte.

 

»Misstrauen ist der Fluch unserer Zeit«, beklagte sich Scottie bitter. »Glaubten Sie etwa, dass ich nicht wieder zu Ihnen hinuntergekommen wäre, wenn Sie mich allein gelassen hätten?«

 

Scottie war mitunter kindisch, und Andy gab sich gar nicht die Mühe, auf diese Frage zu antworten.

 

Ein Ausdruck gekränkter Unschuld lag auf den Zügen des großen Mannes, als er in den Wagen stieg.

 

»Es gibt zu viele Autos jetzt«, beschwerte er sich. »Durch unvorsichtiges Fahren kommen täglich Hunderte um. Was wollen Sie eigentlich von mir, Macleod? Was Sie auch gegen mich vorbringen mögen, ich habe in jedem Fall ein Alibi.«

 

»Wo haben Sie das her? Haben Sie es auch bei den Versteinerungen gefunden?« fragte Andy.

 

Scottie hüllte sich in würdevolles Schweigen.

 

2

 

Nachdem man in Beverley angekommen war, musste Andy erst noch einige Formalitäten erledigen, bevor der Gefangene nach London überführt werden konnte.

 

Es wurde ihm auf der Polizeistation mitgeteilt, dass die Überführung erst noch von einem lokalen Justizbeamten genehmigt und angeordnet werden müsse.

 

»Wo kann ich denn einen finden?« fragte Andy.

 

»Da ist zunächst Mr. Staining, Sir«, sagte der Polizeisergeant gemütlich, »aber der ist gerade krank. Dann Mr. James Bolter, aber der ist auf Urlaub. Mr. Carrol – gut, dass ich daran denke, der ist zur Pferdeschau gegangen. Er züchtet nämlich ...«

 

»Es scheint hier etwas in der Luft zu liegen«, unterbrach ihn Andy, »das die Leute schwatzhaft macht, Sergeant. Aber vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich wollte nicht die Leute wissen, die nicht zu sprechen sind. Gibt es hier in der Nähe denn niemand, der das Amt eines Friedensrichters verwaltet?«

 

»Ja, wir haben hier einen solchen Herrn«, erwiderte der Sergeant mit Nachdruck. »Mr. Boyd Salter. Der wird Ihnen den Schein ausstellen.« Er fügte aber vorsichtig hinzu: »Wenn er zu sprechen ist.«

 

Andy musste lachen, machte sich aber doch auf, um sein Heil bei Mr. Boyd Salter zu versuchen.

 

Er fand, dass der nächste Weg zu dessen Haus nicht über Beverley Green führte. Mr. Salters Ländereien grenzten an Beverley, man konnte am Ende der Stadt durch ein großes Parktor zu seinem Besitz kommen. Andy hatte es schon vorher bemerkt und war neugierig gewesen, wer da wohnen mochte.

 

Beverley Hall, der Sitz Mr. Boyd Salters, war ein stattliches Gebäude, das im Stil des berühmten Iñido Jones erbaut war.

 

Hier herrschten Schweigen und Ruhe. Das Ticken einer Standuhr war das einzige Geräusch, das Andy vernahm, als er in die geräumige, mit Steinfliesen ausgelegte Halle geführt wurde. Der Diener, der Andys Karte hineintrug, ging völlig geräuschlos, und Andy bemerkte zu seinem Erstaunen, dass der Mann Gummischuhe trug. Als dieser nach einiger Zeit zurückkehrte, bat er den Detektiv, näher zu treten.

 

»Mr. Salter ist leidend. Wenn Sie in seiner Gegenwart recht leise und ruhig sprechen wollten, würde er Ihnen sicher sehr dankbar sein.«

 

Andy erwartete nun, einen schwerkranken, zitternden, alten Herrn zu finden, der in einem Sessel saß und von vielen Kissen gestützt wurde. Aber er trat einem gesund aussehenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der lebhaft aufschaute, als sein Besucher den Raum betrat.

 

»Guten Tag, Mr. Macleod. Was kann ich für Sie tun? Ich sehe, dass Sie Polizeibeamter sind«, sagte er und betrachtete die Karte noch einmal.

 

Andy erklärte ihm die Ursache seines Besuches.

 

»Es ist nicht nötig, dass Sie so leise sprechen«, meinte Mr. Salter lächelnd. »Tilling hat Sie wahrscheinlich darum gebeten? Manchmal bin ich allerdings sehr nervös, aber heute habe ich einen guten Tag.«

 

Er las das Schriftstück durch, das Andy ihm vorlegte, und unterschrieb es.

 

»Unser Freund ist der Diamantenräuber, nicht wahr? Wo hat er sich denn versteckt gehalten?«

 

»In Ihrer Gartenstadt«, erwiderte Andy.

 

Ein Schatten legte sich über Mr. Salters schöne Gesichtszüge.

 

»Sprechen Sie von Beverley Green? Er war natürlich im Gästehaus?«

 

Andy nickte.

 

»Haben Sie einen der Villenbesitzer getroffen?«

 

»Ja – Mr. Merrivan.«

 

»Es sind merkwürdige Leute!« sagte Mr. Salter nach einem kurzen Schweigen. »Wilmot, sein Neffe, ist ein sonderbarer Mensch. Ich weiß nicht, was ich aus ihm machen soll. Mir ist schon öfters der Gedanke gekommen, dass er ein Gentleman-Verbrecher ist. Wirklich, ein merkwürdiger Kerl! Und dann dieser Nelson – ein heruntergekommener Bursche! Trinkt wie der Teufel!«

 

Andy erinnerte sich jetzt an die Geschichte, die er von dem Künstler gehört hatte.

 

»Er hat ja wohl eine Tochter«, warf Andy hin.

 

»Ja, ein hübsches Mädchen. Wilmot soll mit ihr verlobt sein. Mein Sohn erzählt mir alle diese Neuigkeiten, wenn er zu Hause ist. Der bringt alles heraus. Er müsste eigentlich Detektiv werden – er ist aber noch auf der Schule.«

 

Er schaute auf den Haftbefehl, löschte die Unterschrift ab und reichte Andy das Schriftstück über den Tisch.

 

»Mr. Merrivan scheint ein sehr liebenswürdiger Herr zu sein«, setzte Andy die Unterhaltung fort.

 

»Ich weiß nichts Genaueres über ihn. Ich habe noch nicht mehr als ›Guten Tag‹ zu ihm gesagt. Er scheint harmlos zu sein, ein wenig langweilig, aber harmlos, und er redet zuviel – wie alle Leute in Beverley.«

 

Um diese lokale Eigenart zu bestätigen, sprach er dauernd weiter und erzählte die Geschichte von Beverley und seinen Bewohnern. Plötzlich brachte er das Gespräch auf den Herrensitz.

 

»Es ist ein schöner, ruhiger Platz, aber es ist auch sehr teuer, ihn zu unterhalten. Ich wäre nicht imstande gewesen, für alles aufzukommen, wenn ...«

 

Er sah schnell fort, als ob er fürchtete, der Besucher könnte seine Gedanken lesen. Erst nach einiger Zeit begann er wieder zu sprechen.

 

»Haben Sie jemals mit dem Teufel zu tun gehabt, Mr. Macleod?« Er scherzte nicht, sein Blick war ernst und fest.

 

»Ich bin schon einer ganzen Anzahl kleinerer Teufel begegnet«, erwiderte Andy lächelnd, »aber ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, ihr Oberhaupt in Person kennenzulernen.«

 

Mr. Salter schaute Andy mit abwesendem Ausdruck an, obwohl eine sonderbare Bestimmtheit in seinem Blick lag. »In London lebt ein gewisser Albert Selim«, sagte er dann langsam, »dieser Kerl ist ein Teufel. Ich erzähle Ihnen das nicht, weil Sie Polizeibeamter sind. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich davon spreche. Ich habe schon so manchen Verhaftungsbefehl unterzeichnet, aber niemals habe ich die Feder aufs Papier gesetzt, ohne an diesen größten aller Verbrecher zu denken. Er ist ein Mörder – ein Mörder!« Andy war bestürzt.

 

»Er hat Menschen getötet, er hat ihre Herzen gebrochen und sie vorzeitig unter die Erde gebracht. Einen meiner Freunde hat er fast erdrosselt!« Bei diesen Worten presste er seine Hände so krampfhaft zusammen, dass die Knöchel weiß wurden.

 

»Albert Selim?« Andy wusste nichts anderes zu sagen.

 

Mr. Salter nickte.

 

»Wenn er, wie ich hoffe, eines Tages doch einen Fehler macht und in Ihre Hände fällt, wollen Sie mir dann den Gefallen tun und mich benachrichtigen? Aber dazu wird es wohl nie kommen – der lässt sich nicht fangen!«

 

»Ist er arabischer Herkunft?«

 

Boyd Salter schüttelte den Kopf: »Ich habe ihn nie gesehen. Ich habe auch noch niemand getroffen, der persönlich mit ihm. zusammengekommen wäre«, sagte er zu Andys größtem Erstaunen. »Nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten, Mr. Macleod. Was haben Sie eigentlich für einen Rang, wenn ich fragen darf?«

 

»Die Frage habe ich mir auch schon öfters vorgelegt. Ich habe Medizin studiert.«

 

»Sie sind Arzt?«

 

Andy nickte: »Ich führe viele Untersuchungen und Obduktionen aus. Ich bin eigentlich Pathologe.«

 

Boyd Salter lächelte: »Dann hätte ich Sie mit ›Doktor‹ anreden sollen. Sie haben sicher in Edinburgh studiert?«

 

Andy bejahte die Frage.

 

»Ich habe eine Vorliebe für Ärzte. Meine Nerven quälen mich entsetzlich. Gibt es dagegen nicht ein Heilmittel?«

 

»Psychoanalyse. Mit ihrer Hilfe kann man krankhafte Komplexe erkennen und aus dem Denken ausschalten. – Leben Sie wohl.«

 

Ein Gespräch über Medizin war das sicherste Mittel, Andy zum. Aufbruch zu veranlassen.

 

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Sie sehen noch sehr jung aus für Ihre Stellung – Sie sind doch nicht älter als dreißig oder einunddreißig?«

 

»Sie haben es richtig getroffen,« erwiderte Andy lachend und verabschiedete sich.

 

3

 

Stella Nelson verließ das Postamt in Bestürzung und Schrecken. Obgleich sie sich nicht umsah, wusste sie doch, dass ihr der Herr mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen aus der Telefonzelle nachschaute. Was würde dieser Mann denken, für den wahrscheinlich schon das kleinste Zucken eines Augenlides Bedeutung hatte?

 

Sie war beinahe schwach geworden, als sie das Wort ›Detektiv‹ hörte; er hatte auch sicher gesehen, wie sie schwankte und blass wurde, und er musste sich über ihr Benehmen gewundert haben.

 

Am liebsten wäre sie davongelaufen; und es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, ihre Schritte nicht noch mehr zu beschleunigen. Sie ging rasch den Abhang zum Bahnhof hinunter. Dort erfuhr sie, dass sie noch eine halbe Stunde bis zum Abgang des Zuges zu warten hatte. Sie war so frühzeitig von zu Hause fortgegangen, weil sie noch einige Besorgungen machen wollte. Aber konnte sie zurückkehren? Durfte sie sich seinen forschenden Blicken, die sie so erschreckt hatten, noch einmal aussetzen?

 

Schließlich ging sie zurück. Ihr Selbstbewusstsein zwang sie dazu. Und sie atmete erleichtert auf, als sie sah, dass der dunkelblaue Wagen verschwunden war. Sie eilte von einem Geschäft zum anderen, um so schnell wie möglich fertig zu werden. Nach kurzem Zögern wandte sie sich wieder zum Postamt und kaufte noch einige Marken.

 

»Welchen Beruf hatte der Herr, von dem wir vorhin sprachen?« Es kostete sie einige Mühe, ruhig zu fragen.

 

»Er war Detektiv, mein Fräulein«, sagte der alte Postbeamte wichtig. »Ich weiß nicht, hinter wem er her ist.«

 

»Wohin ist er denn gegangen?« Sie fürchtete schon die Antwort.

 

»Er wollte nach Beverley Green fahren, wie er mir sagte.«

 

Der Postbeamte schien nicht das beste Gedächtnis zu haben, sonst hätte er sich darauf besinnen müssen, dass Andy eine solche Absicht nicht geäußert hatte.

 

»Nach Beverley Grenn?« wiederholte sie langsam.

 

»Er heißt Macleod!« rief er plötzlich. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich!«

 

»Wissen Sie, ob er hier wohnt?«

 

»Nein, mein Fräulein, er ist nur auf der Durchreise. Banks, der Fleischermeister, wollte es nicht glauben, dass wir einen richtigen Detektiv in der Stadt hatten – einen Beamten von Scotland Yard. Macleod machte die entscheidende Zeugenaussage in dem Marchmont Giftmord-Prozess. Erinnern Sie sich nicht ...? Das war eine aufregende Geschichte! Ein Mann vergiftete seine Frau, weil er eine andere heiraten wollte, und durch Macleods Aussage kam er an den Galgen. Für Mordprozesse habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«

 

Sie ging jetzt langsam zum Bahnhof und löste ihre Fahrkarte. Ungewissheit, Zweifel und Furcht quälten sie. Der Gedanke, auch nur ein paar Stunden abwesend zu sein, während dieser Mann hier herumspionierte, erschien ihr unerträglich. Der Himmel mochte wissen, welche Absichten er hatte.

 

Wieder wandte sie sich der Stadt zu, aber dann hörte sie den Zug pfeifen. Kurz entschlossen ging sie zum Bahnhof zurück. Sie wollte ihren ursprünglichen Plan ausführen. Sie hasste Macleod. Sie hasste und fürchtete ihn zugleich. Sie zitterte bei der Erinnerung an seinen durchdringenden, prüfenden Blick, der so deutlich sagte: ›Du hast etwas zu fürchten.‹ Sie versuchte im Zug zu lesen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Zeitung, und obwohl ihre Blicke den Zeilen folgten, sah und las sie doch nichts.

 

Als sie sich ihrem Ziel näherte, wunderte sie sich, dass ihr jemals der Gedanke gekommen war umzukehren. Sie hatte doch nur noch eine Woche Zeit, um diese schreckliche Sache zu ordnen – nur noch eine Woche, und jeder Tag zählte. Vielleicht hatte sie Erfolg und kehrte am Nachmittag glücklich zurück, jauchzend vor Freude. Wie schön wäre es, wenn sie durch dieselben Felder und über dieselben Brücken mit ruhigem Gemüt nach Hause fahren könnte.

 

Mechanisch betrachtete sie durch das Fenster die Landschaft, an der sie ihr Zug vorbeiführte.

 

Ihre Träumereien waren zu Ende, als sie ausstieg. Sie eilte durch die drängende Menschenmenge. Ein Taxi kam auf ihren Wink heran.

 

»... Ashlar Building?« sagte der Chauffeur überlegend. »Ja, ich weiß, was Sie meinen, Fräulein.«

 

Ashlar Building war ein großes Bürohaus; sie hatte es noch nie gesehen und wusste auch nicht, wie sie den Mann finden sollte, den sie sprechen musste. In der Eingangshalle sah sie jedoch die Firmentafeln, die die zwei einander gegenüberliegenden Wände bedeckten. Sie las eine nach der anderen, bis sie plötzlich anhielt.

 

»309, Albert Selim.«

 

Seine Geschäftsräume lagen im fünften Stock.

 

Es dauerte einige Zeit, bis sie das Büro gefunden hatte, denn es lag am Ende eines langen Flügels. Sie sah zwei Türen. Die eine trug die Aufschrift ›Privat‹, die andere ›Alb. Selim‹.

 

Sie klopfte an, und jemand rief: »Herein!«

 

Eine kleine Schranke trennte den eigentlichen Büroraum von dem schmalen Gang, in dem sich die Besucher im Allgemeinen aufhalten durften.

 

»Nun, Miss?«

 

Der Herr, der auf sie zutrat, sprach barsch, beinahe feindselig.

 

»Ich möchte Mr. Selim sprechen«, sagte sie, aber der junge Mann schüttelte den Kopf.

 

»Das ist unmöglich, wenn Sie nicht eine Verabredung mit ihm haben. Und auch dann würde er nicht persönlich verhandeln.« Plötzlich unterbrach er sich und sah sie groß an. »Aber Sie sind doch Miss Nelson«, sagte er dann erstaunt. »Ich hatte nie erwartet, Sie hier zu sehen.«

 

Sie wurde über und über rot und versuchte vergeblich, sich zu besinnen, woher er sie kennen konnte.

 

»Sie erinnern sich sicher – Sweeny ist mein Name.«

 

Sie errötete noch mehr.

 

»Ja, natürlich – Sweeny.«

 

Sie war bestürzt und fühlte sich gedemütigt, als sie ihn erkannte.

 

»Sie haben seinerzeit Ihre Stelle bei Mr. Merrivan sehr schnell verlassen?«

 

Nun wurde es ihm ungemütlich, als das Gespräch diese Wendung nahm.

 

»Ja, das stimmt.« Er räusperte sich verlegen. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Mr. Merrivan. Ein geiziger Mensch! Und schrecklich misstrauisch!« Er räusperte sich wieder. »Haben Sie damals nichts darüber gehört?«

 

Sie verneinte. Die Dienstboten blieben nicht lange genug im Nelsonschen Haus in Stellung und wurden nicht so vertraut mit ihrer Herrschaft, dass sie über Klatsch sprechen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten.

 

»Nun, die Sache verhielt sich so.« Mr. Sweeny war ein wenig erleichtert, dass er Gelegenheit hatte, ihr die Geschichte zuerst von seinem Standpunkt aus zu erzählen. »Mr. Merrivan vermisste einige Stücke seines Tafelsilbers, die ich unglücklicherweise meinem Bruder geliehen hatte, der sie kopieren wollte. Er interessierte sich sehr für altes Silber, da er selbst gelernter Juwelier und Goldschmied ist. Als nun Mr. Merrivan die Stücke vermisste ...« Er hustete wieder, wurde sehr verwirrt und sagte, er sei bezichtigt worden, das Silber gestohlen zu haben! Mr. Merrivan hatte ihn fristlos entlassen! »Ich hätte damals verhungern können, wenn nicht Mr. Selim von mir gehört und mir diese Stellung gegeben hätte. Sie ist nicht gerade glänzend«, fügte er entschuldigend hinzu, »aber es ist doch wenigstens etwas. Ich wünsche oft, ich wäre wieder dort in dem hübschen Tal von Beverley Green.«

 

Sie unterbrach ihn: »Wann kann ich denn Mr. Selim sprechen?«

 

Aber er schüttelte wieder energisch den Kopf.

 

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Miss Nelson. Ich habe ihn selbst auch noch nicht gesehen.«

 

»Wie?« Sie starrte ihn verwirrt an.

 

»Das ist eine Tatsache. Er ist Geldverleiher – aber das brauche ich Ihnen doch nicht zu erzählen.«

 

Er sah sie mit einem wissenden Blick an, und sie wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken.

 

»Er wickelt alle seine Geschäfte brieflich ab. Ich empfange hier die Besucher und bespreche mit ihnen die Angelegenheit. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass er sich daran hält«, erklärte er. »Die Kunden füllen dann die Formulare aus – Sie verstehen mich schon –, sie geben an, welche Summe sie brauchen, welche Sicherheiten sie bieten können und dergleichen Dinge – und ich lasse dann die Schriftstücke hier im Geldschrank für Mr. Selim, bis er kommt.«

 

»Wann kommt er denn?«

 

»Das weiß Gott allein«, erwiderte Mr. Sweeny. »Auf jeden Fall kommt er hierher, denn die Briefe werden zwei- bis dreimal wöchentlich abgeholt. Er setzt sich dann schriftlich mit den Leuten in Verbindung. Ich erfahre niemals, welches Darlehen sie erhalten oder wieviel sie zurückzahlen.«

 

»Gibt er Ihnen seine Aufträge auch schriftlich?« fragte Miss Nelson, deren Neugierde im Augenblick über ihre Enttäuschung siegte.

 

»Nein, er telefoniert mit mir, ich weiß aber niemals, woher. Es ist überhaupt eine sonderbare Stellung. Ich bin nur je zwei Stunden an vier Tagen der Woche beschäftigt.«

 

»Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, ihn zu sprechen?« fragte sie noch einmal verzweifelt.

 

»Nein, nicht die geringste«, entgegnete Mr. Sweeny, der wieder überheblich wurde. »Es ist nur ein Weg vorhanden, mit Albert Selim geschäftlich zu. verkehren – man muss ihm schreiben.«

 

Sie dachte eine Weile nach.

 

»Geht es Mr. Nelson gut?«

 

»Danke, sehr gut«, antwortete sie hastig, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sich nach meinem Vater zu erkundigen. Ich ...« Es war ihr unerträglich peinlich, einen Angestellten ins Vertrauen ziehen zu müssen. »Sie sagen doch nichts davon, dass Sie mich hier gesehen haben?«

 

»Aber bestimmt nicht«, meinte Sweeny zuvorkommend. »Großer Gott, wenn Sie wüssten, welche Leute hierherkommen, Sie würden erstaunt sein. Berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen, Leute, deren Namen ein Begriff sind. Minister, Geistliche ...«

 

»Leben Sie wohl, Sweeny.«

 

Sie schloss die Tür hinter sich.

 

Ihre Knie wankten, als sie die Treppe hinunterstieg. Sie zog es vor, den Fahrstuhl nicht zu benützen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie sich auf eine Unterredung mit Mr. Selim verlassen hatte. Verzweifelt sah sie sich nun der unerbittlichen Wirklichkeit gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr. Was konnte den Untergang jetzt noch aufhalten? Nichts – nichts! Der Mann, den sie hatte sprechen wollen, der einzige, der ihr helfen konnte, war unerreichbar für sie:

 

Sie stieg um und kam um fünf Uhr nachmittags in Beverley an. Der erste, den sie sah, als sie aus dem Zug stieg, war der ruhige, kluge Detektiv mit den grauen Augen. Er hatte sie auch erkannt, und ihre Blicke trafen sich, als sie das Abteil verließ. Einen Augenblick stand ihr Herz still, dann sah sie an seiner Seite einen Mann mit Handschellen – es war der kanadische Professor! Den hatte er also verhaften wollen – den freundlichen Gelehrten, der sich mit ihr so interessant über Versteinerungen unterhalten hatte.

 

Scottie wusste sehr viel über Fossilien und Gesteinsformationen. Es war sein Steckenpferd. An Scotties anderer Seite stand ein Polizist. Der Verbrecher selbst erwiderte ihren erschrockenen Blick durch ein liebenswürdiges Lächeln. Sie vermutete, dass solche Menschen allmählich abstumpften und hart wurden.

 

Sie sah schnell zu Andy hinüber, ging an ihm vorbei und atmete dann erleichtert auf. Ihre schreckliche Befürchtung hatte sich also nicht bewahrheitet. Sie konnte getrost zurückkehren. Und sie war beinahe in froher Stimmung, als sie den mit Rosenstöcken eingesäumten Gartenweg entlangging.

 

4

 

Wenn man in Nelsons Haus eintrat, kam man in eine große Eingangshalle, die auf drei Seiten von einer Galerie umgeben war, zu der man auf einer breiten Treppe emporsteigen konnte.

 

Nelson stand an einer Staffelei und betrachtete ein Gemälde, sein Gesicht war nicht zu sehen. Aber Stella brauchte es auch nicht zu sehen, seine Haltung sagte ihr schon genug. Er wandte sich jetzt um und betrachtete seine Tochter mit einem gewissen Unmut. Er hatte ein schmales Gesicht und war ziemlich kahlköpfig. Seine Nase war fein und aristokratisch, Mund und Kinn waren ohne Energie. Ein dünner, brauner Schnurrbart, der grau zu werden begann, gab ihm ein fast militärisches Aussehen, das augenblicklich auch zu seiner kriegerischen Stimmung passte.

 

»Nun, endlich zurück?«

 

Er kam langsam auf sie zu. Seine Hände lagen auf dem Rücken, die Schultern waren zurückgezogen.

 

»Weißt du auch, dass ich kein Mittagessen hatte?« fragte er düster.

 

»Ich sagte dir doch heute Morgen, dass ich in die Stadt fahren würde. Warum hast du nicht Mary gefragt?«

 

Sie fürchtete schon seine Antwort.

 

»Mary habe ich entlassen«, erklärte er hochfahrend.

Stella seufzte.

 

»Du hast doch nicht etwa auch die Köchin fortgeschickt?«

 

»Die habe ich auch hinausgeworfen.«

 

»Hast du ihnen denn auch ihren Lohn gegeben?« fragte sie zornig. »Vater, warum machst du immer so schreckliche Geschichten?«

 

»Ich habe sie entlassen müssen, weil sie unverschämt wurden«, entgegnete Mr. Nelson würdevoll. »Das genügt doch wohl. Ich bin Herr in meinem eigenen Hause.«

 

»Ich wünschte, du wärst etwas mehr Herr deiner selbst«, sagte sie müde, ging zum Kamin, nahm eine dort stehende Flasche und hielt sie gegen das Licht. »Immer wirfst du die Dienstboten hinaus, wenn du betrunken bist!«

 

»Betrunken?« fragte er beleidigt.

 

Sie nickte. In solchen Augenblicken sagte sie ihre Meinung frei heraus. »Morgen wirst du mir wieder erzählen, dass du dich an nichts erinnern kannst, und dann tut dir alles leid. Ich muss aber wieder nach Beverley und zwei neue Dienstboten auftreiben. Sie werden sehr schwer zu finden sein.«

 

Nelson hob die Augenbrauen. »Wie, du hältst mich für betrunken?!« rief er vorwurfsvoll.

 

Aber sie achtete nicht weiter auf ihn, ging in die Küche und machte sich daran, etwas zu kochen. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufstieg und immer wieder vor sich hinsagte: »Betrunken?« Dann lachte er höhnisch.

 

Sie saß am Küchentisch, trank eine Tasse Kakao und aß eine Schnitte Brot mit Butter. Sie sah sich auch nach einem Stückchen Käse um, aber sie wusste im Voraus, dass nichts da sein würde. Mr. Nelson hatte eine Vorliebe für Käse, wenn er trank. Hätte er doch nur etwas gearbeitet! Sie ging in das Atelier, das auf der Rückseite des Hauses lag. Die Leinwand, die sie ihm am Morgen aufgespannt hatte, war unberührt, kein Kohlestrich war darauf zu sehen.

 

Stella seufzte.

 

»Es hat ja doch alles keinen Zweck«, sagte sie traurig und betrachtete wehmütig die vielen halbvollendeten Studien, die an der Wand hingen.

 

Sie ließ sich an einem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Ateliers nieder und machte Eintragungen in ihr Wirtschaftsbuch, als die Hausglocke läutete. Sie stand auf und ging in die Halle. Draußen dämmerte es schon. Der Herr, der geklingelt hatte, war einige Schritte von der Tür zurückgetreten, so dass sie ihn zuerst nicht erkennen konnte.

 

»Ach, du bist es, Artur? Komm bitte herein. Vater ist schon nach oben gegangen.«

 

»Das habe ich vermutet.«

 

Mr. Artur Wilmot wartete, bis sie das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, bevor er nähertrat.

 

»Du warst heute in der Stadt?«

 

»Hast du mich gesehen?« fragte sie schnell.

 

»Nein, jemand hat es mir erzählt – ich glaube, es war Merrivan. Hast du schon die Geschichte von dem kanadischen Professor gehört? Er ist in Wirklichkeit ein so bekannter Einbrecher, dass sich ein Mann wie Andrew Macleod mit ihm beschäftigt. Macleod ist eigentlich ein Arzt.«

 

Sie wusste sofort, dass er von dem Mann mit den grauen Augen sprach, aber sie wollte Gewissheit haben.

 

»Wer ist Andrew Macleod?«

 

»Ein Detektiv, aber eigentlich ist er Arzt. Man vertraut ihm alle schwierigen, wichtigen Fälle an, und unser Professor ist ein Muster von einem Einbrecher. Er hat den Spitznamen Scottie, wenigstens hat ihn Mr. Macleod so angeredet.«

 

»Ich muss ihn auf dem Bahnhof gesehen haben, Ein hübscher Mensch mit eigentümlichen Augen.«

 

»Ich würde Scottie kaum als einen hübschen Mann bezeichnen«, erwiderte Wilmot.

 

Sie war so verwirrt, dass sie seinen Irrtum nicht korrigierte.

 

»Ich kann dich leider nicht bitten, heute Abend länger zu bleiben; wir haben kein Personal im Hause.«

 

»Schon wieder einmal kein Personal?« fragte er erstaunt. »Das ist aber doch zu schlimm! Dein Vater benimmt sich wirklich unmöglich! Nun musst du wieder Köchin und Dienstmädchen spielen, bis du neue Leute gefunden hast.«

 

»Und mein zerknirschter Vater will mir dabei helfen und steht mir dabei dauernd im Wege. Es ist eine Not mit ihm, und dabei ist Vater doch ein so guter, liebenswürdiger Charakter, wenn ...«