Henning Köhler

Vom Rätsel der Angst

Wo die Angst begründet liegt
und wie wir mit ihr umgehen können

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe (5. Auflage)

Vorwort

I. Vom Wesen der Angst. Umriss der Fragestellung

1. Ist Angst etwas ‹Schlechtes›?

2. Angst vor der Angst

3. Wie erleben wir uns in der Angst?

4. Zusammenfassung

II. Die Un-heimlichkeit des Seins. Der Mut zur Niederlage

1. Ist ‹Leidensfreiheit› ein lohnendes Ziel?

2. Vom wahren Wohlstand oder: Jeder ist mal ein Feigling gewesen

3. Vom ‹inneren Gewissen›

4. Zusammenfassung

III. Angst – Schlaf – Kindheit

1. Ein Exkurs zur Frage nach Ursache und Schuld

2. Schiffbrüchige

3. Frau H. – ein Fallbeispiel

4. Angst und Schlaf

5. Die Belehrung des Wachbewusstseins durch das Schlafbewusstsein – ein Schlüssel

6. Angst und Sinne – ein kurzer Ausflug in die Sinneslehre

7. Überblick und pädagogisch-therapeutische Konsequenzen

Nachtrag

Anmerkungen

Fußnoten

Impressum

Leseprobe

Vorwort zur Neuausgabe
(5. Auflage)

Diese Schrift erschien zuerst 1992. Ich war 41 Jahre alt und hegte den Plan, eine neuartige, der veränderten Zeitlage angemessene, heilpädagogisch orientierte Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zu begründen. Ob mir dies wenigstens in Ansätzen gelungen ist, sollen andere entscheiden. Beurteilen kann es nur, wer sich mit meiner Denkweise wirklich vertraut gemacht hat.*

Ob der von mir und meinen MitarbeiterInnen entwickelte Ansatz samt dem Janusz-Korczak-Institut, wo er praktiziert und ständig weiterentwickelt wird, von der Bildfläche verschwindet, wenn ich mich eines Tages aus Altersgründen zurückziehe (als 64-Jähriger fängt man an, darüber nachzudenken), oder ob jüngere Menschen an unsere Arbeitsergebnisse anknüpfen, wird sich zeigen. Vom Rätsel der Angst ist ein Baustein aus der Zeit, als die Fundamente gelegt wurden. Nicht mehr und nicht weniger.

Das Thema Angst lässt mich nicht los. Ich hatte in Jugendjahren selbst damit zu tun, weiß aus eigener Erfahrung, was Panikattacken sind, was Paranoia ist, und als die Sache überstanden war, fiel irgendwo da oben der Beschluss, es sei fortan meine Aufgabe, anderen zu helfen, denen Ähnliches widerfährt. Man nennt so etwas einen «inneren Imperativ». Es gab kein Entkommen (obwohl mein Plan gewesen war, als Dichter Karriere zu machen). Ich wurde Heilpädagoge und als solcher eine Art «Spezialist» (ein schreckliches Wort!) für quälende Angstzustände im Kindes- und Jugendalter. Aber auch Erwachsene vertrauten sich mir an, baten mich, sie durch das Zwielicht ihrer unbewältigten, oft aus der Kindheit herrührenden Ängste zu begleiten. Und ich versuchte, ihnen zu erklären, dass auch Ängste ein Recht auf Achtung haben; dass Ängste keine Missgeschicke sind, sondern unerlöste Seelenanteile; Wesen gewissermaßen, die uns anflehen, nicht länger in den Keller gesperrt zu werden, ans Licht zu dürfen; die sich mit Hass aufladen, wenn wir sie ächten, statt uns ihrer anzunehmen.

Manfred Kyber hat das wundervolle Angst-Märchen Der Drache mit dem Kaffeekrug geschrieben. Dort heißt es: «Manche Wege im Leben führen an einem Drachen vorbei, und sehr oft sind es die Wege, die am allergeradesten nach Hause führen.» Sollten Sie das Märchen noch nicht kennen, liebe Leserin, lieber Leser – es sei Ihnen wärmstens empfohlen. Für angstgeplagte Kinder ist es ein großer Trost. Eine Ermutigung.

Natürlich habe ich mit den Jahren dazugelernt. Ein Autor, der Lernender bleibt, wird jedes seiner Bücher nach einiger Zeit als unzureichend betrachten, damit muss er leben. Seltsam: Je länger man sich mit der menschlichen Seele beschäftigt, desto unbefriedigender erscheint einem das ganze Sprachspiel akademischer Psychologie. Jedenfalls geht es mir so. Über Angst müsste gedichtet werden. Oder musiziert. Oder gemalt. Die Psychologie hat ihre eigene Sprache noch nicht gefunden.

Ich habe seither nichts mehr zum Thema Angst geschrieben, es jedoch beständig vertieft und in zahlreichen Vorträgen und Fortbildungen gründlich behandelt. Gesprochene Sprache erlaubt mehr Musikalität, mehr Ober-, Zwischen- und Untertöne als gedruckte. Ein mehrstündiges Seminar erschien beim Hörbuch-Verlag Auditorium Netzwerk, ebenfalls unter dem Titel Vom Rätsel der Angst.

Gleichwohl kann ich die fünfte Auflage des vorliegenden Buches guten Gewissens unverändert durchwinken. Das hier Gesagte ist, wenn man so will, ein Proseminar zur Entwicklungspsychologie der Angst: grundlegend, aber bei Weitem nicht erschöpfend, gut geeignet als Einstieg in die Thematik. Wobei ich schon im Vorwort zur ersten Auflage warnte: Allgemeinverständlich heißt nicht unbedingt einfach.

Nürtingen im Sommer 2015

Henning Köhler

Wer die Angst einfach beseitigen,
ignorieren, betäuben oder von
vermeintlich höherer Warte als ‹unreif›
abtun will, gerät zwangsläufig auf Abwege.

I.Vom Wesen der Angst.
Umriss der Fragestellung

1. Ist Angst etwas ‹Schlechtes›?

Angst ist uns allen bekannt. Sie «gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode», stellt Fritz Riemann mit Recht fest.1 Als seelisches Ereignis ist Angst zunächst etwas ebenso Selbstverständliches, wie als äußere Ereignisse Regen, Wind, Nebel oder Gewitter selbstverständlich sind. Und es wäre in Hinsicht auf unsere innere Natur ebenso absurd, die Angst ‹abschaffen› zu wollen, wie es in Hinsicht auf die äußere Natur absurd wäre, widrige Witterungsverhältnisse abschaffen zu wollen.

Was daraus wird, wenn Mittel gesucht werden, die Angst zu beseitigen, statt ihr standhalten und sie verwandeln zu lernen, sehen wir zum Beispiel an der Tragödie des immer mehr um sich greifenden Drogen-, Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs, aber auch am wachsenden Einfluss von Sekten, Satanskulten und kultähnlichen Bühnen- oder Leinwandspektakeln, die alle, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln, die Sehnsucht nach Angstüberwindung ausbeuten.2

Wer die Angst einfach beseitigen, ignorieren, betäuben oder von vermeintlich höherer Warte als ‹unreif› abtun will, gerät zwangsläufig auf Abwege. Wer Entsprechendes propagiert, lockt andere, die mit ihrer Angst umgehen lernen wollen, in fatale Sackgassen. Ebenso wenig wie beispielsweise gegenüber der Scham, dem Zorn oder der Sexualität dürfen uns die Schwierigkeiten, die wir mit der Angst haben, zu der falschen Schlussfolgerung verleiten, wir müssten uns ihrer entledigen; denn dies wäre, wie wir sehen werden, erstens unmöglich und zweitens, selbst wenn wir es könnten, ein großer Fehler. Angst ist ein existenzielles Problem, ein Problem also, das durch die Konditionen unseres In-der-Welt-Seins naturgemäß auftritt und in die Lebensbewältigungsschritte, die wir auf diesem oder jenem Gebiet tun, positiv einbezogen werden muss. Anderenfalls, wenn wir die Rolle der Angst leugnen, verdrängen oder geringschätzen, ihr einfach keinen Platz in unserer Seelenwelt und Kultur zubilligen wollen – was alles von einer zwar verständlichen, aber voreiligen, negativen Bewertung dieser Rolle herrührt –, geraten wir, um mit Erich Fromm zu sprechen, in die Gefahr, «das Existenzproblem dadurch lösen (zu wollen), dass man vorgibt, nicht menschlich zu sein» – ein Versuch, der, wie Fromm fortfährt, «die Tendenz zeigt, im Laufe des Lebens des Betroffenen immer schlimmer zu werden».3 Diese Verschlimmerung kann darin bestehen, dass die nicht einbezogene Angst sich gleichsam ansammelt, bis sie irgendwann katastrophenartig hervorbricht und alle Befestigungswälle, die sich der Mensch innerlich und äußerlich aufgebaut hat, hinwegspült; oft vollzieht sich die Verschlimmerung oder Chronifizierung des unbewältigten Angstproblems aber auch ‹maskiert›: als krampfhaftes Streben nach Macht, Einfluss, Ansehen, materieller Sicherheit; als Neigung, sich stets auf die Seite der Stärkeren zu schlagen; als herrisches Auftreten und Beanspruchung einer Führungsrolle; und nicht zuletzt als intellektuelle Verachtung der Angst beziehungsweise derer, die ihr nicht ausweichen wollen oder können. «Unsere Angst vor dem Leben ist an der Art zu erkennen, wie wir ständig etwas tun müssen, um nicht zu fühlen, wie wir ständig weglaufen», schreibt Alexander Lowen.4 Man trifft diesen angstbetäubenden Aktionismus bisweilen auch als argumentativen Aktionismus an – als auffällig engagierte Bemühtheit, zu beweisen, dass Angst unangebracht, unnötig, schädlich, kulturzersetzend, unreif und so weiter sei.

Aber auf solche Beweisführungen kommt es gar nicht an. Sie zielen am Wesentlichen vorbei. Denn die Angst ist natürlich als solche weder unangebracht noch unnötig, weder schädlich noch kulturzersetzend, und auch als Unreife kann sie nur mit vielen Einschränkungen bezeichnet werden. Es ist immer unproduktiv, einen Tatbestand zu denunzieren, der schlechterdings zur Grundausstattung des Menschen und der Welt gehört. Die genannten negativen Attribute können allenfalls für diese oder jene Art des falschen Umgangs mit der Angst gelten, nicht aber für die Angst an sich.

Dies kann durch einfache Beispiele deutlich werden: Es wäre ohne die Grundkraft der Angst nicht möglich, dasjenige zu entwickeln, was wir Vorsicht nennen, die Fähigkeit also, die den überstürzt-unbedachten vom maßvollmutigen Tatendrang unterscheidet, aber andererseits doch auch, wenn sie zu stark in den Vordergrund tritt, entmutigend wirken kann. Oder nehmen wir die kostbare soziale Errungenschaft des zartfühlend-behutsamen Umgangs mit anderen Wesen, die wir ebenfalls in nicht geringem Maße der Angst verdanken, denn auch die Angst, jemanden zu verletzen, zählt zu den ‹echten› Ängsten. Sie kann, wie jede Angst, in Handlungsunfähigkeit umschlagen, ihre positive Seite jedoch verhilft zu einer der reifsten Ausprägungen von Handlungskompetenz.

Was folgt daraus? Wir sehen an diesen Beispielen zunächst, dass es uns im Bemühen um ein Verständnis des Angstphänomens keinen Schritt weiterbringt, wenn wir das Vorurteil in die Untersuchung hineintragen, Angst sei grundsätzlich etwas Schlechtes. Sie ist, wie so vieles andere, zunächst eine Seelenkraft, die wir als Teil der conditio humana ‹mitbringen›.5 Wir sollten ihr nicht mit der Frage gegenübertreten, ob sie gut oder schlecht ist, sondern wie wir sie in unsere Persönlichkeitsentwicklung so einbeziehen können, dass sie uns vorwärtsbringt. «Leider wagen wir es zu wenig, das Problem der Angst, das … hinter vielen Zwängen, hinter Überfürsorge wie hinter Misstrauen und Vermeidung steckt, beim Namen zu nennen», schreibt Margrit Erni und fährt fort: «Aus Angst vor der Angst verpassen wir manche Auseinandersetzung, die unser Leben im Endeffekt reicher und ehrlicher werden ließe.»6

Für mich war es eine eindrucksvolle Erfahrung, wie nach dem Kernkraftwerksunglück in Tschernobyl ausgerechnet in den Kreisen, wo man sich zugute hält, mit esoterischer Ehrlichkeit an die Probleme heranzutreten, ein merkwürdiger Verdrängungsmechanismus auftrat. Allenthalben war zu lesen und zu hören, die Angst sei eine unproduktive und egoistische Reaktion, die auf mangelnder erkenntnismäßiger Durchdringung der Ereignisse beruhe. Ähnliches hatte man schon während der Auseinandersetzungen der Siebzigerjahre um die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie gehört und hörte man wieder im Zusammenhang mit dem Golfkrieg. Die Verdrängung besteht darin, dass man die Angst, weil sie eben ein unangenehmes Gefühl ist, reflexartig negativ bewertet und diese Bewertung, die eine reine Gefühlsangelegenheit ist wie die Angst selbst, anschließend rational absichert. Die Angst wird, mit anderen Worten, hinwegargumentiert, man könnte auch sagen: denunziert, bevor man sich wirklich auf sie eingelassen hat. Da spricht für mein Dafürhalten aus dem Titel und den Beiträgen des kurz nach dem ersten Golfkrieg erschienenen Sammelbandes ‹Ich will reden von der Angst meines Herzens›7 eine größere geistige Reife und wohl auch ein größerer esoterischer Mut, obwohl sich die Autoren allesamt gegen das Etikett ‹esoterisch› verwahren würden.

Ich will es einmal religiös ausdrücken: Gott hat den Menschen wohl kaum mit einer Seelenkraft von solch daseinsprägendem Gewicht, wie es der Angst zweifellos zukommt, ausgestattet, um ihm damit auf der ganzen Linie Schaden zuzufügen. Der Versuch, dieses Problem dadurch zu lösen, dass man sagt, Angst sei zwar etwas prinzipiell Schlechtes, aber in ihrer Überwindung liege eine große Entwicklungschance, ist nur mit Vorbehalt einleuchtend. Was ist unter ‹Überwindung› zu verstehen? Wenn ich, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, einen grippalen Infekt überwunden habe, meine ich damit, dass die Symptome verschwunden sind. Etwas ist über mich gekommen, was mich beeinträchtigt hat, und jetzt bin ich davon erlöst. Darin, die Angst gewissermaßen wie eine Infektionskrankheit zu behandeln, von der ich, um im Bild zu bleiben, aufgrund meines schwachen Abwehrsystems bei allen möglichen Gelegenheiten befallen werde und deren Überwindung bedeuten würde, nicht mehr anfällig für sie zu sein, sehe ich gerade den entscheidenden Irrtum. Diese Sichtweise schließt aus, dass in der Angst selbst positive Entwicklungskräfte liegen könnten. Wir deklarieren die Angst zum Erzfeind und verhalten uns ihr gegenüber entsprechend. Alois Hicklin sagt in diesem Zusammenhang mit Recht, dass jede psychologische, philosophische, (volks-)pädagogische oder anderweitige «Zielvorgabe, (die) inner- oder außerhalb eines therapeutischen Rahmens mit der allgemeinen Tendenz des Menschen ‹mitagiert›, … Angst zu umgehen, abzulehnen, aus dem Bewusstsein auszuschalten», falsch ist.8

Die Hindernisse, vor denen wir als Menschen von Kindesbeinen an stehen, sind, sehr allgemein gesprochen, die physisch-materiellen, natur- und milieuhaften, dann auch gesamtgesellschaftlich-kulturellen Bedingungen, insoweit sie unserer geistig-seelischen Entwicklung – oder genauer gesagt: unserem Anspruch, diese Entwicklung in größtmöglicher Freiheit zu gestalten – entgegenwirken. Was wir als seelische Grundausstattung mitbringen, setzt sich, bildhaft gesprochen, aus ‹Rohstoffen› zusammen, die uns gegeben sind im Sinne einer «dem Menschen immanenten Zugehörigkeit» (Hicklin), um in der genannten Auseinandersetzung bestehen zu können. Mit anderen Worten: Genau genommen geht es gar nicht darum, ‹die Angst zu überwinden›, jedenfalls nicht im Sinne von ‹austilgen› oder ‹hinter uns lassen›. Wenn wir einmal von allen Reminiszenzen an den gewohnten Sprachgebrauch absehen und die Sache redlich betrachten wollen, müssen wir anders fragen: Welchen Sinn hat die Angst?

Wie kann sie uns dienen – oder dient sie uns längst schon – bei der Auseinandersetzung mit den eigentlichen, objektiven Lebenshindernissen? Zu diesen, das sagt uns der gesunde Menschenverstand, kann nichts gehören, was den ‹Grundriss› unserer Befindlichkeit so entscheidend mitkonfiguriert, wie es die Angst in ihren zahlreichen Varianten und Legierungen mit anderen, positiven, oftmals erst durch die Verbindung mit der Angst positiven Eigenschaften und Ausdrucksformen der Menschlichkeit tut.

Ist am Ende die Angst selbst, wenn wir sie richtig verstehen und einbeziehen, der Möglichkeit nach eine positive menschliche Eigenschaft – also durchaus nicht nur eine Unpässlichkeit, aus deren ‹Überwindung› wir die Kraft des Kriegers schöpfen, der einen Feind zur Strecke gebracht hat?

Kann ein Versuch, vorurteilslos nach den Ursprüngen beziehungsweise Entstehungshintergründen der Angst zu forschen, dazu beitragen, ihr den Sinn wiederzuverleihen, den sie verloren hat, weil wir ihn ihr nicht zubilligen; weil wir ständig bemüht sind, sie zum Schweigen zu bringen, bevor wir sie überhaupt ‹angehört› haben?

Kann es bis in die Lebenspraxis beziehungsweise persönliche Lebenshygiene hinein fruchtbar werden, solchen Fragen nachzugehen?

Wo die Angst einen Menschen trifft, «welcher in ihrer Bewältigung überfordert ist, weil er weder (ihren) Sinn versteht, noch (ihrem) Aufforderungscharakter nachzukommen vermag», schreibt Hicklin, geraten wir «in einen Bereich, den wir aufgrund dieser Unlösbarkeit als pathologisch bezeichnen können». Ich plädiere, um der größtmöglichen Genauigkeit willen, dafür, dass wir mit Hicklin9 als Zielvorgabe den Begriff ‹Bewältigung› demjenigen der ‹Überwindung› vorziehen und nicht die Angst als solche a priori negativ bewerten, sondern uns darauf beschränken, dass ihr Auftreten als unlösbares, das heißt auch: aufgrund der Unauffindbarkeit ihres Sinns nicht positiv einbeziehbares Problem dem betroffenen Menschen zum Schaden gereicht. Bewältigung heißt im seelischen Bereich niemals ‹Ausmerzung›, sondern immer ‹Einfügung›, in gewisser Hinsicht auch ‹Befreundung›. Wenn ich von tiefer Trauer ergriffen bin und die Trauer bewältige, habe ich sie nicht beseitigt oder hinter mir gelassen, sondern mein Verhältnis zu ihr positiv verändert, ihr einen Platz zugewiesen und nicht sie, sondern meine Verfeindung mit ihr ‹überwunden›. Liegt es nicht nahe, Ähnliches auch im Umgang mit der Angst anzustreben?

Wenn Victor-Emil von Gebsattel die Vermutung aussprach, «dass die Fähigkeit zu Angsterlebnissen im westlichen Menschen dauernd zugenommen hat während der letzten … Generationen»,10 drängt sich die Frage auf, welche Entwicklungsdissonanz sich darin ausspricht, dass eine bestimmte Seelenverfassung immer stärker, immer fordernder hervortritt, während wir offenbar noch nicht oder nur selten die Fähigkeit besitzen, produktiv darauf zu antworten. Alexander Lowen11 gibt in seinem Buch Angst vor dem Leben einen schlichten Hinweis, der uns vielleicht auf eine wichtige Spur führen kann: «Wenn man sein Herz der Liebe öffnet, wird man verletzlich. Mehr Leben oder Gefühl als das Gewohnte ist erschreckend. Wir möchten lebendiger sein und mehr spüren, aber wir haben Angst davor» (Hervorhebung H. K.). Ist die wachsende Angst in unserer Zivilisation nicht nur eine Folge der kränkenden Lebensverhältnisse und als solche schädlich, sondern auch Vorzeichen einer neuen sozialen und spirituellen Sensibilität und in dieser Hinsicht eine positive Herausforderung? Wir werden, nachdem wir uns mit dem Wesen der Angst auseinandergesetzt haben, auf diese bewusstseinsgeschichtliche Frage zurückkommen.

Kürzlich wurde ein Vortrag mit dem Titel angekündigt: ‹Angst und Furcht – Feinde der Seele›. (Unterzeile: ‹Wege zu ihrer Überwindung›). Die Frage, ob man es sich so nicht zu einfach macht, muss erlaubt sein. Eine angemessenere Wortwahl wäre etwa: ‹Angst und Furcht – Kräfte der Seele, die zu Feinden werden können. Wege zu ihrer Bewältigung›. Michaela Glöckler erwähnt in ihrem Aufsatz ‹Vom Umgang mit der Angst› einen entscheidenden förderlichen Aspekt der Angst, der uns noch beschäftigen wird: «Das Erleben und Aushalten der Angst stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbsterfahrung am Andersartigen. Daher ist auch die Entwicklung des … Selbstbewusstseins nicht zu trennen von dem Erleben und dem Umgehen mit der Angst» (Hervorhebung H. K.).12

2. Angst vor der Angst

Wir haben eingangs den Vergleich zwischen Angst als einem ‹inneren Naturereignis› und äußeren Naturereignissen wie Regen, Wind, Nebel oder Gewitter gebraucht und damit auf die Vorfindlichkeit der Angst hinweisen wollen: Sie gehört zu den seelischen Lebensverhältnissen, in die wir hineingeboren werden, sie «liegt im Blute», wie sich Helmut Hessenbruch ausdrückte,13 und das ist die Feststellung, die uns einen zunächst wertungsfreien Umgang mit ihr abverlangt.

Bleiben wir noch einen Augenblick in diesem Bild. Sturm und Gewitter sind, für sich genommen, weder ‹gut› noch ‹schlecht›, auch keine ‹Naturkrankheiten› – die Angst wurde in einer anthroposophischen Publikation, allerdings mit Fragezeichen, als ‹Kulturkrankheit› bezeichnet –, sondern einfach naturgegeben und – wie alles Naturgegebene – notwendig. Wenn aber die Häuser, in denen wir wohnen, nicht fest genug gebaut sind und keinen ausreichenden Schutz vor den Naturgewalten bieten, werden diese uns zu Feinden. Andererseits ermöglicht uns erst der sichere Zufluchtsort, das Heim (ein Begriff, der uns noch gründlich beschäftigen wird), dass wir die naturgegebene Notwendigkeit der – wie man so treffend sagt – ‹unwirtlichen› Witterungsverhältnisse als ihr wichtigstes Charakteristikum anerkennen und auf dieser Grundlage ein immer besseres Gespür auch für ihre schönen Seiten entwickeln können. Denn anderenfalls würde uns das feindselig-angstbestimmte Verhältnis den Blick für das Wesentliche versperren.

Ich sage mit Bedacht: Der sichere Zufluchtsort ermöglicht uns, auf die beschriebene Weise unser Verhältnis zu den Naturgewalten ins Positive zu wenden. Denn es kann ja auch anders sein. Das Problem, das im Entfallen der unmittelbaren Bedrohtheit, des unmittelbaren Genötigtseins zur Auseinandersetzung liegt, ist der Interesseverlust, die Entfremdung, das Erlöschen der Urbilder. Als Blitz und Donner noch als Ausdruck von Wotans Zorn erlebt und zur Beschwichtigung Opfer dargebracht wurden, war auch dies eine Art des verstehenden Umgangs. Psychologisch gesprochen: Durch Verdrängung und Beziehungslosigkeit, was zuletzt auf eine Schwächung hinausläuft, werden wir unfähig, in der Gefahr, wenn sie möglicherweise doch einmal wieder auf uns zukommt, zu bestehen.14

Wir sehen also, dass Kapitulation vor der Angst auch darin bestehen kann, sich einfach nicht mehr auf das Beängstigende einzulassen. Dann gleichen wir dem Kranken, der sich durch Einnahme schmerzbetäubender Mittel in eine Illusion von Gesundheit begibt, die ihm zuletzt zum Verhängnis werden kann. Wir gleichen diesem Kranken auch insofern, als es ein bestimmtes Licht auf sein Verhältnis zur Krankheit wirft, dass er den Weg ‹Betäubung (Verdrängung) statt Heilung (Auseinandersetzung)› wählt. Er betrachtet die Krankheit als seinen Feind, und einen Feind muss man zum Schweigen bringen. Heilung dagegen, die bisweilen durchaus unterstützt werden kann durch Maßnahmen der symptomatischen Schmerzlinderung, hat immer etwas mit einem Freundschaftsangebot an die Krankheit zu tun (‹Freund› = germanisch ‹fri-ond› hat dieselbe Wortwurzel wie ‹Freiheit›). Wir müssen auf sie zugehen, um frei von ihr zu werden. Wer nur schmerzbetäubende Mittel einnimmt, übersieht etwas Wichtiges: Die Substanzen haben in Wahrheit gar keinen Einfluss auf dasjenige, was sich durch den Schmerz mitteilen will. Sie schirmen nur das Bewusstsein gegen diese Vorgänge ab. Der Kranke begibt sich gewissermaßen in eine künstlich erzeugte, innere Isolierzelle, eine pervertierte Spielart des Motivs der ‹festen Burg›, des ‹sicheren Zufluchtsorts›. Denn die sinnbezogene, konstruktive Zufluchtsuche zielt immer darauf ab, einen Ort der relativen Geborgenheit zu finden beziehungsweise sich zu schaffen, um von dort aus mit größerer Besonnenheit in Beziehung zu treten zu dem, was vorher nur Gefühle der Hilflosigkeit und Angst auslöste. Deshalb liegt, um es zu wiederholen, die Chance des sicheren Zufluchtsortes in einer neuen, gerechteren Beurteilung und Einbeziehung dessen, was wir bislang, weil wir ständig fliehen oder abwehren mussten, nie wirklich anschauen, nie eigentlich würdigen konnten. Bei der Dichterin Christa Reinig findet sich ein wunderbarer Vers über das Geheimnis des ‹Sich-Befreundens› – Saint-Exupéry verwendet in seinem Buch vom kleinen Prinzen das Wort ‹Zähmung› in diesem Sinne – mit den Dingen, Wesen und Ereignissen, denen wir zunächst abwehrend und feindselig gegenüberstehen:

Ich danke allen starken Dingen,

mein Herz ging strahlend in sie ein,

es ging als Wucht, sie zu bezwingen,

und kam als Weisheit, sie zu sein.15

Halten wir fest, dass es eines gewissen Maßes an Sicherheit und Abstand bedarf, um uns so mit den ‹starken Dingen› – in uns, um uns – ins Einvernehmen zu setzen, dass sich ihre nützlichen, förderlichen und schönen Eigenschaften offenbaren. Diese bleiben uns sowohl dann verhüllt, wenn wir, schutzlos preisgegeben, nur mit Abwehr- und Fluchtreflexen reagieren können, als auch dann, wenn wir uns in die ‹Isolierzelle› zurückziehen. Das Haus, die sprichwörtliche ‹sichere Burg›, kann ein Ort der Verbarrikadierung sein, aber auch eine Pflegestätte für anteilnehmendes Interesse, von wo aus, im Idealfall, Liebe ausströmt zu allem, womit Gott die Welt, in der wir leben, ausgestattet hat.

Die Poesie einer stürmischen Gewitternacht ist für den, der fürchten muss, vom Blitz getroffen zu werden, völlig unzugänglich, und es wäre absurd, ihm, während er verzweifelt einen Unterschlupf sucht, Belehrungen über den Segen zu erteilen, den Frühlingsgewitter für Natur und Mensch bedeuten. Wir brauchen das ‹Heim›, brauchen «fremde oder durch eigenes Vermögen gesetzte Grenzen», durch die erst «die verfügbare Handlungsfähigkeit» (Hicklin) und, wie ich hinzufügen möchte, Erkenntnisfähigkeit ausgeschöpft werden kann. Erst dann können wir unser Verhältnis zu dem Fremden schlechthin, zu den jenseits unseres Gutdünkens einfach mit ‹rücksichtsloser› Eigenmächtigkeit waltenden Kräften, in Richtung größerer Ruhe, Urteilssicherheit und Empfindungstiefe bereinigen. Was den Umgang mit der äußeren Natur betrifft, ist ‹Heim› ganz wörtlich zu verstehen. Aber was ist damit gemeint, wenn wir uns jetzt der ‹inneren Natur› zuwenden?

Die Übertragung unseres Beispiels auf die menschliche Innenwelt scheint uns zunächst vor ein Paradoxon zu stellen. Hier sind ja auch ‹Naturkräfte› beheimatet, mit denen sich der souveräne, von bewussten Entschlüssen gesteuerte Eigenwille verfeinden oder befreunden kann, das heißt, er kann ihnen entweder auf die eine oder andere Art unterliegen oder den Widerspruch auflösen und sie integrieren. Die Übertragung unseres Beispiels namentlich auf die Angst als Ausdruck einer solchen Naturkraft zeigt dieses Paradoxon sehr deutlich: Wir reihen damit die Angst selbst unter die angsterzeugenden Ereignisse ein. Aber wer im Umgang mit angstgeplagten Menschen einigermaßen kundig ist, weiß, dass dies nicht nur berechtigt ist, sondern geradezu den Kern der Sache trifft.