Arthur Zajonc

Aufbruch ins Unerwartete

Meditation als Erkenntnisweg

Aus dem Englischen von Brigitte Elbe

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Einführung

Wach sein und innere Ruhe finden

Individuelles Üben und die Suche nach Gemeinschaft

Kontemplatives Forschen heute

1 Der Pfad im Überblick

Kontemplatives Forschen in unserer Zeit

Die Ausbildung von Tugend

Inneres Wohlbefinden

Die Geburt des stillen Selbst

Meditation und kontemplatives Forschen

Die Rückkehr

Kontemplative Erfahrung

2 Die Tür entdecken

Das Innere pflegen

Rhythmus, Tempo und Haltung

Vom Körper ausgehende Kontemplationsübungen

Meditieren in Gemeinschaft

Am Anfang steht das Staunen

Das Gebet

Offenheit für das Unerwartete

3 Ruhe finden, Wachheit pflegen

Die Aufmerksamkeit stärken

Einem Entschluss folgen

Gelassenheit ausbilden

Positivität

Offenheit

Gleichgewicht und Geburt

Mehr als Glückseligkeit

4 Licht atmen: Ein Yoga der Sinne

Kognitives Atmen

Der Klang der Glocke

Jenseits der Erwartung

Die sprachliche Vermittlung kontemplativer Erfahrungen

Sinnesmeditation

Die Elemente

Licht

Vom Licht zur Liebe

Von der Liebe zum Leben

Wärme: Dies bin ich

Von den Steinen zu den Sternen

5 Worte, Bilder und Begegnungen

Die Wortmeditation

Das Wort in der christlichen Meditation

Die Bildmeditation

Weltliche Bilder

Situationsmeditation

Kontemplative Begegnungen

6 Kontemplatives Erkennen

Annäherungen an eine Phänomenologie meditativer Erfahrungen

Die Ausbildung der Urteilskraft

Nach Einsicht streben

Über die Objekte hinaus

Auf halbem Weg zum Himmel

Geometrie als Transformation

Peripher denken

Von Ganzen und Teilen

Quanten-Holismus

7 Kontemplatives Forschen

Annäherungen an eine Erkenntnistheorie der Liebe

Vom Bild zur Einsicht

Die Praxis kontemplativen Forschens

Die Pflanze als Proteus

Denkendes Leben

Zum anderen werden

In der Weisheit

Früchte

Anmerkungen

Impressum

Für Heide

Einführung

Wir müssen lernen, wieder aufzuwachen und uns wach zu halten – nicht durch den Einsatz mechanischer Hilfsmittel, sondern durch eine beständige innere Erwartung der Morgendämmerung, die auch im tiefsten Schlaf erhalten bleibt.

Henry David Thoreau

Wach sein und innere Ruhe finden

In den eindrucksvollen Aufzeichnungen seiner zwei Jahre am Waldensee schrieb Thoreau über den Morgen: «Wenig haben wir von dem Tag zu erwarten – falls er diesen Namen überhaupt verdient –, in den wir nicht von unserem Genius gerufen, sondern durch einen mechanischen Diener gestoßen werden, einen Tag, an dem uns nicht die neu erlangten Kräfte und Impulse aus unserem eigenen Inneren wecken, sondern das Schrillen der Fabrikglocke … Die Masse der Millionen ist wohl wach genug für körperliche Arbeiten; doch wird sich unter einer Million ein Einziger nur finden, der über die nötige Wachheit verfügt, um eine wirksame geistige Tätigkeit zu entfalten, und nur einer unter hundert Millionen vermag ein dem Poetischen oder Göttlichen geweihtes Leben zu führen. Wach sein bedeutet leben. Bis auf den heutigen Tag ist mir noch kein einziger wirklich wacher Mensch begegnet. Wie hätte ich seinem Blick standhalten können?»1

Ja, wach zu sein bedeutet wirklich zu leben. Doch wie können wir uns angesichts von Angst und Zweifel und eingebunden in das Räderwerk abstumpfender Routine zu einem «dem Poetischen oder Göttlichen geweihten Leben» erwecken? Wenn nicht mittels Fabrikglocken oder anderer äußerer Hilfsmittel – wie dann? Thoreau verweist uns auf das jedem Menschen innewohnende hohe Prinzip des Genius als jener Kraft, die zu erwecken vermag. Unser Genius lebt in Erwartung des Unbekannten ganz so, wie wir den neuen Tag erwarten. Er fordert uns auf, unsere Erlebnisse bis in die tiefen Schichten hinein wach wahrzunehmen, die Freuden und Leiden des Lebens gelassen aufzunehmen und das Unbekannte zu erspüren, das unablässig darauf wartet, dass wir seiner Einladung folgen. Wie können wir eine beständigere, geregelte Beziehung zu unserem Genius aufbauen?

Bei jedem Zusammentreffen mit Menschen, die wacher sind als ich, habe ich den inneren Widerstreit zwischen Zaudern und Bezauberung, zwischen Unmut und Ungestüm empfunden und das Verlangen gespürt, ihnen nachzueifern, gegenwärtiger und lebendiger zu werden. Die folgende Geschichte über den Buddha fängt die Gefühle einer solchen Begegnung ein.2

Kurz nach seiner Erleuchtung, so wird erzählt, ging der Buddha auf der Straße an einem Mann vorbei, der, von seiner außergewöhnlichen Präsenz betroffen, stehen blieb und fragte:

«Freund, was bist du? Bist du ein himmlisches Wesen oder ein Gott?»

«Nein», sagte der Buddha.

«Dann bist du vielleicht eine Art Magier oder Zauberer?»

Wieder antwortete der Buddha: «Nein.»

«Bist du ein Mensch?»

«Nein.»

«Nun, mein Freund, was bist du dann?»

Der Buddha antwortete: «Ich bin erwacht.»

Der Name Buddha bedeutet: Einer, der erwacht ist. Die Wachheit, die der Buddha ausstrahlte, war mit innerem Frieden gepaart, heißt es. Wachheit muss durch Ruhe und Frieden ergänzt werden. Oder anders ausgedrückt: Sollen wir wacher werden, so müssen wir angesichts neuer und bedeutsamer Erfahrungen die Kraft aufbringen, Seelenruhe, Herzensgröße und tiefe, ruhige Gelassenheit in uns zu entwickeln. Ich habe hier Nelson Mandela oder Rigoberta Menchu Tum vor Augen, die dem Leiden ihres Volkes und ihrer Freunde mit offenen Augen und weitem Herzen begegnen, die sich vom Blick auf Not und Elend nicht abkehren, sondern ihm zuwenden. Sie haben über ihr persönliches Leid hinaus das Leiden einer ganzen Volksgemeinschaft mit wachem Bewusstsein wahrgenommen. Diese beiden Menschen sind für uns beispielhaft geworden, weil sie dem Leid Mitleid entgegengebracht und die Wahrheit als Helfer auf dem Weg zur Versöhnung eingesetzt haben, statt auf Rache zu sinnen.

Sehen bedeutet beides, dass wir Leid ertragen und Freude erleben, und je weiter und tiefer unser Blick vordringt, desto mehr Herzensruhe brauchen wir, um das, was Menschen erdulden, auszuhalten. Manchmal stelle ich mir bildhaft vor, dass das Leben – gleich dem Metallarbeiter, der das flüssige Metall in einen Schmelztiegel gibt – die Erfahrungen in das sich weitende, sicher fassende Gefäß des wachsamen Herzens gießt. Die Flamme der Wahrheit formt und bildet uns nach den ihr eigenen Gesetzen, wenn wir die Kraft und Geduld aufbringen, dies zu ertragen. Simone Weil hat es treffend mit diesen Worten beschrieben: «Die Wahrheit lieben heißt die Leere ertragen und also den Tod hinnehmen. Die Wahrheit ist aufseiten des Todes.»3 Mit jeder Veränderung stirbt etwas in uns. Wollen wir dem Wahren in uns Raum schaffen, müssen vertraute, abgelebte Gewohnheiten weichen.

Individuelles Üben und die Suche
nach Gemeinschaft

Wer nach Wachheit, Ruhe und Frieden strebt, wählt oft den Weg der Kontemplation. Ich selbst habe vor etwa fünfunddreißig Jahren angefangen, regelmäßig zu meditieren. Zur selben Zeit begann ich auch mit dem ernsthaften Studium der Physik. Kontemplative Übungen sind zu einem notwendigen Bestandteil meines Lebens, und zwar auch meines naturwissenschaftlichen Arbeitens, geworden. Doch habe ich mich mit meiner beharrlich eigensinnigen Verbindung von Wissenschaft und Kontemplation jahrelang sehr einsam gefühlt. Nur selten stieß ich auf einen Kollegen oder Gefährten, der, wie ich, ein tatkräftiges Wissenschaftlerleben mit kontemplativem Streben verband. Meistens handelte es sich dabei um Humanisten oder Künstler. Aber hier hat nun ein Wandel eingesetzt.

Inzwischen ist die Wirkkraft kontemplativer Übungen klar erwiesen. Hunderte wissenschaftlicher Studien belegen den Wert der Meditation mit vielfältigen positiven Einflüssen auf die Gesundheit. Einen Höhepunkt stellte dabei für mich eine große Konferenz über «Die Erkundung des Bewusstseins»4 dar, die 2003 unter meiner Mitwirkung am Massachusetts Institute of Technology (MIT) zustande gekommen war. Eine erlesene Gruppe buddhistischer Gelehrter und Mönche, darunter auch der Dalai Lama, saß vereint mit einer nicht minder erlesenen Gruppe von Vertretern der Kognitionswissenschaft und Psychologie auf dem Podium. Richard Davidson von der Madison University of Wisconsin stellte Ergebnisse seiner umfassenden Untersuchungen vor, die er über lange Meditationsphasen hin an acht Adepten buddhistischer Meditation durchgeführt hatte.5 Sein Vorgehen war akribisch genau und schloss alle erdenklichen Kontrollmaßnahmen ein, um die Entstehung experimenteller Artefakte auszuschließen. Die Ergebnisse waren fesselnd und eindeutig. Sogar auf neurophysiologischer Ebene waren dramatische, den normalen Schwankungsbereich weit übersteigende Veränderungen evident.

So überzeugend Davidsons Forschungsbericht auch war – letztlich bestätigte er doch nur das, was unzählige Menschen auf der ganzen Welt in Jahrtausenden an sich selbst erfahren haben. Meditation bewirkt tatsächlich etwas, und zwar nicht nur bei Mönchen, sondern auch bei Patienten des Center for Mindfulness an der University of Massachusetts Medical School und an 250 weiteren Zentren dieser Art, die sich auf der ganzen Welt verstreut finden. Sie bewirkt tatsächlich etwas bei Abertausenden Studenten an Studienkollegs und Universitäten, die in jedem Semester neu die Aufnahme von Kontemplationsübungen in ihren Lehrplan als bedeutsame Bereicherung erleben.6 Die positiven Wirkungen der Meditation auf den einzelnen Menschen, seine Gesundheit, Entwicklung und Bildung sowie den Bereich geschäftlicher Beziehungen sind inzwischen gut dokumentiert und werden von Millionen von Amerikanern und unzähligen Menschen auf der ganzen Welt geschätzt.

Dies wurde mir richtig bewusst, als ich in der Funktion des Programmdirektors am Fetzer Institute für das Studienangebot und die Koordination verantwortlich war und Charles Halpern, der Präsident der Nathan Cummings Stiftung, uns darauf hinwies, dass es vielleicht an der Zeit sei, ein «Studienangebot für kontemplative Übungen» ins Leben zu rufen. Ich war sicher, dass sich höchstens eine Handvoll Studenten und Professoren aus religiösen und alternativen Colleges bewerben würde. Aber Charlie ließ nicht locker, und es gelang ihm sogar, den ehrwürdigen American Council for Learned Societies (ACLS) zur Verwaltung der Lehraufträge zu bewegen.7 Die Resonanz auf die Anfragen für ein erstes Lehrveranstaltungsangebot im Jahr 1997 war überwältigend. Als ich die eingereichten Vorschläge las, war ich von ihrer Bandbreite und Gedankentiefe begeistert. Zwischen 1997 und 2007 wurden über 120 Lehraufträge an ein bemerkenswert breites Spektrum von Dozenten vergeben, die Kontemplationsübungen ganz individuell in ihre jeweiligen Lehrveranstaltungen integriert haben. Sie lehren an ausgezeichneten Colleges und Universitäten in ganz Nordamerika. Allein im ersten Jahr beteiligten sich Dozenten der Englischen Seminare von Bryn Mawr, der City University of New York und der Clark University, der Juristischen Fakultät der Suffolk University, des Seminars für Amerikastudien der University of Massachusetts, der Theologischen Fakultät der Colgate University, der Philosophischen Fakultät des Haverford College, des Pädagogischen Seminars der Columbia University, des Fachbereichs Soziologie der University of Colorado, der Musikwissenschaft der University of Michigan, der Architektur von der University of Colorado, Denver, und der Psychiatrie von der University of California, Irvine.

Seit 1997 haben viele Vereinigungen wie die Association of American Colleges and Universities regionale und nationale Konferenzen zum Thema Kontemplation im höheren Bildungswesen abgehalten, unter anderem auch an der Columbia University, am Amherst College und an der University of Michigan. Das Hochschul-Forschungsinstitut an der University of California, Los Angeles, hat ein Studienprojekt zu «Spiritualität im höheren Bildungswesen» initiiert. In den mir unterstellten fünf Colleges haben wir seit einigen Jahren ein offizielles Fünf-College-Fakultätsseminar für Neue Erkenntnistheorien und Kontemplation mit mehr als siebzig Teilnehmern, und die fünf Colleges bieten über fünfunddreißig Lehrveranstaltungen an, die Meditation in irgendeiner Form einbeziehen. Eine zentrale Rolle kommt dem Center for Contemplative Mind in Society zu, das Kontemplationsübungen nicht nur in akademischen Kreisen gefördert hat, sondern auch unter Menschenrechtsaktivisten, Juristen, Leitern von Jugend- und Umweltorganisationen und anderen Gruppierungen. Ich fühle mich nicht mehr einsam, aber ich habe durchaus den Eindruck, dass wir noch ganz am Anfang stehen. Der unschätzbare Wert des Beitrags, den die Meditation allen Lebensbereichen, einschließlich Forschung und Lehre, zu bieten hat, wird gerade erst entdeckt und ausgelotet.

Kontemplatives Forschen heute

Wie viele andere glaube auch ich, dass das wahre Ziel regelmäßiger kontemplativer Übung, ja, des Lebens überhaupt, darin liegt, Erkenntnis und Mitgefühl, Weisheit und Liebe in Einklang zu bringen. Um dies zu erreichen, müssen wir tiefe innere Ruhe finden und lernen, beständig wacher zu werden und so unser ganzes Tun sinnreicher zu gestalten. Wir werden heute auf allen Seiten von Problemen bedrängt: Umweltproblemen, Fragen zu sozialer Gerechtigkeit, Obdachlosigkeit, Gesundheitskatastrophen, Ungerechtigkeiten im Bildungswesen, Hunger und Armut. Für alle diese Probleme werden konkrete, realistische Lösungen gebraucht. Doch muss mit unseren unermüdlichen äußeren Bemühungen eine vergleichbare innere Anstrengung einhergehen, um eine Wesensänderung in uns zu erwirken und, mit Gandhis Worten, selbst zu der uns vorschwebenden Lösung für die Welt zu werden. Wir müssen Wege finden, eine innere Betätigung aufzunehmen, die unserer äußeren Tätigkeit entspricht.

In der Weltsicht des mittelalterlichen Europas wurden zwei Lebensausrichtungen unterschieden: vita activa und vita contemplativa, aktives und kontemplatives Leben. Der Großteil der Menschen widmete sich damals dem produktiven Leben, ob im Handwerk oder in der Landwirtschaft, in der Kriegskunst oder in Aufsichtsinstanzen. In den Klöstern jedoch weihten einige wenige ihr Leben dem Gebet und der Kontemplation. Während die Mönche in den Klostergärten und Küchen für ihren Lebensunterhalt tätig waren, schirmten die Klostermauern sie gegen das Getümmel und Getriebe des aktiven Lebens ab. So wurde für den Mönch des Mittelalters auch die Arbeit selbst zu einer Art Gebet. Laborare est orare hieß es: «Arbeiten ist Beten.»

Doch wer heute ein kontemplatives Leben anstrebt, muss zugleich ein aktives Leben führen. Schützende Klostermauern gibt es dabei nicht mehr. Wir stehen voll in einem weltlichen Leben, dessen Komplexität exponentiell angewachsen ist. Dafür sind wir in anderer Weise von der Welt abgeschnitten und gleichen globetrottenden Einsiedlern, die ihre Höhle als Rucksackgepäck mit sich führen. Und obwohl wir in die Welt aktiver Handlungen eingebunden sind, können wir inmitten vieler Menschen tiefe Einsamkeit empfinden. Um diese Barrieren zu überwinden, sind wir aufgerufen, nach außen tatkräftig zu sein und uns zugleich nach innen gekehrt zu besinnen. Wie Dag Hammarskjöld schrieb: «Der Weg zur Heilung geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln.»8 Wer dies als Widerspruch empfindet, hat damit durchaus recht. Im Zentrum der modernen Existenz hat sich allmählich eine neue, paradoxe Geometrie des Lebens herausgebildet. Es ist gut und richtig, dass wir unser aktives Leben eingebunden in die Welt führen. Doch im hektischen Getriebe sollten wir nicht vergessen, uns bewusst zu machen, worauf der Trappistenmönch Thomas Merton hingewiesen hat: «Wenn wir es zulassen, uns von dem Strudel einander widerstrebender Angelegenheiten mitreißen zu lassen, zu vielen Forderungen nachgeben, uns für zu viele Vorhaben zur Verfügung stellen, wenn wir jedermann jederzeit helfen wollen, dann erliegen wir dem Zwang unserer heutigen Zeit.»9 Hier kommt es darauf an, unsere äußere Tätigkeit durch entsprechende Hingabe an eine innere Tätigkeit zu ergänzen. Für die meisten von uns wird dies jedoch ohne den Rückzug in eine Klostergemeinschaft geschehen. Deshalb brauchen wir Übungsformen, die den veränderten Lebensumständen und dem spezifischen Bewusstsein unserer heutigen Zeit entsprechen.

Mit der in diesem Buch dargelegten Methode des kontemplativen Forschens möchte ich meinen Ansatz zur Einbindung des kontemplativen Lebens in das aktive Leben vorstellen. Gute Vorsätze und Fachkompetenz sind zwar grundlegend, werden aber nicht hinreichen, uns zu den Lehrern, Ärzten, Staatsmännern, Wissenschaftlern und Künstlern zu machen, die die Zukunft braucht. In diesem Punkt schließe ich mich dem Ökologen John Milton an, der die Auffassung vertritt, dass die auf Politik, Wirtschaft und Gesetzgebung basierenden Konzepte für Fortschritt und Entwicklung schlicht und einfach zu flach sind. «Sie allein werden die tief greifenden Veränderungen, die unsere derzeitige Kulturstufe braucht, um die Menschheit zu wahrer Harmonie und Ausgeglichenheit im Umgang miteinander und mit dieser Erde zu führen, nicht bewirken können. Die nun anstehende große Öffnung zu einem ökologischen Weltbild hin wird sich im Inneren der Menschen vollziehen müssen.»10

Die für eine solche Öffnung notwendige Erschließung des Bewusstseins kann auf dem soliden methodischen Fundament von Therapieformen wie dem Achtsamkeitstraining zur Stressreduktion MBSR aufbauen.11 Dort sind die zentralen Übungen der meditativen Tradition so aufgegriffen, dass sie nun universell einsetzbar sind und ihre tief heilsamen, Wandel wirkenden Kräfte entfalten können. Regelmäßige Meditationsübungen und meditatives Forschen haben inzwischen in eine Vielzahl verschiedener Einrichtungen des täglichen Lebens Eingang gefunden, so im Bereich der Medizin, des Gesundheitswesens, Geschäftslebens, Rechtswesens und des Bildungssystems. Sie alle profitieren von der Einführung tieferer Einsichten, die weit über das heute vorherrschende reduktionistische, materialistische Verständnis von Welt und «Wirklichkeit» hinausgehen. Davon, dass einige bedeutende Wissenschaftler versichern, die ganze Natur und die ganze Menschheit seien rein materiell, wird diese Aussage noch nicht richtig. Solch metaphysische Spekulationen müssen losgelöst vom Erfolg ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Theorien betrachtet werden. Wir brauchen neue und umfassendere Erkenntnismethoden, um die großartigen Fortschritte der Wissenschaften aufnehmen zu können, ohne uns dabei durch eine Perspektive begrenzen zu lassen, die dogmatisch auf Materialismus und den darauf aufbauenden Wirtschaftsnutzen ausgerichtet ist. Derartige Ansichten über die Menschheit und den Kosmos sind einfach zu engstirnig und armselig, um Erfolg zu verdienen. Ich teile die Ansicht derer, die sagen, das wahre Ziel kontemplativer Übungen, ja, der Sinn des Lebens liege darin, Erkenntnis und Mitleid, Weisheit und Liebe in Einklang zu bringen. Bei der von Milton befürworteten inneren Öffnung wird uns die Methode des kontemplativen Forschens gewiss helfen, solche Eigenschaften auszubilden und uns zu den Einsichten zu führen, die wir in allen Bereichen unseres Lebens brauchen.

Die Verbindung von Erkenntnis und kontemplativem Streben hat eine lange Tradition. Der Buddhismus erblickt in dem Nicht-Wissen um die wahre Natur der Welt und unserer selbst die Wurzel allen Leides. Einsicht oder vipassana wird deshalb als Grundvoraussetzung für Erleuchtung oder Befreiung verstanden. Auf einer persönlichen Ebene trägt jeder von uns Fragen in sich, die vielleicht durch die Krankheit eines Kindes, eine soziale Krise oder tiefe Besorgnis um die Umwelt aufgeworfen werden und nach Aufklärung verlangen. Wir haben vielfältige Aufgaben zu Hause, am Arbeitsplatz und in unserer Gemeinde. Wie können wir uns zu wahrer Einsicht befähigen, um bessere Wege für ihre Bewältigung zu finden? Bei meinen Tätigkeiten als Pädagoge, Wissenschaftler, Aktivist, Vater und Autor ist das kontemplative Forschen für mich zu einer bewährten Methode geworden, Einsichten zu erlangen, die über Grübelei und intellektuelle Analysen hinausgehen, unmittelbar wahr erscheinen und sich auch als fruchtbar erwiesen haben. Was ich Gutes erwirken konnte, geht meist auf Besinnungen dieser Art zurück.

Als Wissenschaftler erfreue ich mich an der Klarheit der Physik und den tiefgründigen philosophischen Rätseln, die sie uns aufgibt, und so geht es mir hier nicht um eine Abwertung der Wissenschaften, sondern darum, ihre Methodik umzuwandeln und zu erweitern. Die grundlegenden Werte naturwissenschaftlicher Forschung – Klarheit, Integrität und Kollegialität – können ebenso in die kontemplative Forschung hineingenommen werden. Erst wenn wir die multidimensionale Natur des Universums und der menschlichen Existenz wirklich erfassen, werden wir eine bessere Basis für den Umgang mit ihren Problemen haben.

Wissenschaft und Meditation habe ich als Wege genutzt, um Einsicht in unsere Welt zu erlangen und herauszufinden, wie ich ihr dienen kann. So entstand die folgende Hinführung zu kontemplativem Üben und Forschen für Menschen, die, wie ich, sehnsüchtig nach Erkenntnis streben und zugleich hilfreich tätig sein wollen. Das Werk Rudolf Steiners ist für mich ein herausragendes Beispiel für das Beschreiten eines meditativen Erkenntnisweges, der zu vielfältigen Anwendungen in Erziehung und Lehre, Landwirtschaft und Medizin geführt hat. Bei meinen Meditationsübungen habe ich mich Schritt für Schritt von seinen Anweisungen leiten lassen, und ein Großteil der folgenden Ausführungen basiert auf seinen Schriften sowie meinen eigenen langjährigen Bemühungen, seinen Empfehlungen zu folgen. Die hier anschließenden Seiten enthalten eine Auswahl derjenigen Übungen, die ich persönlich als nützlich empfunden habe; viele davon habe ich in meine Lehrveranstaltungen am Amherst College übernommen. Meine Studenten haben mir berichtet, dass sich diese Übungen für sie persönlich und zugleich bei der Vertiefung der von uns behandelten Lehrinhalte als hilfreich erwiesen haben. Was ich mit ihnen und an mir selbst erfahren habe, ermutigt mich dazu, meine Ansichten über die Meditation und die Möglichkeiten, die sie uns eröffnet, an meine Leser weiterzugeben.

Ich habe das Buch so aufgebaut, dass ich dem Leser zunächst einen Überblick über den kontemplativen Weg aus meiner Sicht geben möchte. Daran schließe ich, zum Anfang zurückkehrend, ausführlichere Anleitungen für alle mir vertrauten Übungswege an. Die späteren Kapitel werden weit in das Arbeitsfeld kontemplativen Forschens vordringen. Sie werden dem Leser nicht wenig abverlangen. Aber wir können für uns selbst und die Welt beträchtlichen Nutzen daraus ziehen, der sich in meinen Augen als grundlegend für die «große Öffnung» erweisen wird, die wir für die Zukunft brauchen.

Beim Verfassen dieses Buches habe ich mich fortwährend darum bemüht, eine Sprache zu finden, die zugleich verständlich und authentisch ist. Vieles ist aus dem meditativen Sprachgebrauch in unsere Alltagssprache eingeflossen, kommerzialisiert oder anderweitig verzerrt worden. Andererseits stellen Begriffe aus dem religiösen und spirituellen Bereich heute für unzählige Menschen eine Hemmschwelle dar. Infolgedessen versuche ich, mich in meinen Darstellungen unmittelbar an die Übungen und die aus ihnen hervorgehenden Erfahrungen zu halten und spirituelle Begriffe nur dort einzusetzen, wo sie mir notwendig erscheinen. Leser, die die Übungen und Erfahrungen der entsprechenden religiösen und spirituellen Literatur zuordnen wollen, finden Verweise darauf.

Ich stelle diese Übungen und Kommentare nur als Ausübender und nicht als Guru einer Sekte vor. Gewiss dürfen wir Menschen bewundern, die wir als besonders weisheitsvoll und mitfühlend erleben, doch sind die Zeiten, in denen Menschen ihrem Lehrer gehorsam und ehrfürchtig ohne jegliches Hinterfragen folgten, vorbei. Und so sollte der Leser diese Ausführungen als Vorschläge eines Menschen betrachten, der die Meditation ergänzend zu seiner wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit hinzunimmt. Was sich für mich als hilfreich erwiesen hat, mag anderen diesen Dienst versagen. Jeder Leser wird die Methoden und Übungen, die ich vorstelle, für sich erproben müssen, um zu entscheiden, was ihm entspricht. Wenn wir Ratschläge in dieser Weise aufgreifen, übernehmen wir selbst die Rolle des Lehrers. Jeder wird beurteilen können, in welchem Maße sich die Übungen als Stütze für sein Leben erweisen. Wohl liegt die Verantwortung für die hier niedergeschriebenen Worte bei mir, doch wird auch mein Leser Verantwortung übernehmen müssen. Ich hoffe, dass sich die Reise für ihn lohnen wird.

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Der Pfad im Überblick

Die weiteste Reise ist die in unser Inneres.

Dag Hammarskjöld

Bevor wir einzelne Übungen aufgreifen, müssen wir uns mit dem Wesen der Einsamkeit und ihrer Bedeutung in der Meditation befassen. Weiterhin beschäftigen wir uns mit den ethischen Grundlagen der Meditation, was unabdingbar für unsere Ausrichtung auf dem kontemplativen Weg ist. Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir uns verschiedenen Arten von Übungen zuwenden, zunächst denen, die unsere psychische Gesundheit stärken, und dann solchen, die unseren inneren Blick über das Ich hinausführen. Wir werden von der als Grundstimmung zu erlangenden Demut und Ehrfurcht zur Ausbildung innerer Harmonie, emotionaler Ausgeglichenheit und Aufmerksamkeit voranschreiten. Wenn wir diese inneren Fähigkeiten in uns ausgebildet haben, können wir uns den selbstlosen Aufgaben des Meditierens und kontemplativen Forschens zuwenden, die sich als fruchtbar für uns selbst und andere erweisen werden.

Hier gebe ich zu Anfang einen kurzen Überblick über den Pfad aus meiner Sicht. Betrachten Sie ihn als Ouvertüre zu der ausführlicheren Darstellung in nachfolgenden Kapiteln. Die angedeuteten Grundelemente, Themen und Motive sollen später ausgeführt und gründlich erkundet werden. Eine tiefer gehende Behandlung der Stufen und Schwierigkeiten, die mit der kontemplativen Reise verbunden sind, möchte ich mit vielen Übungsvorschlägen verbinden. Wenn wir uns auf den Weg machen, sollten wir uns immer vor Augen halten, dass jeder noch so kleine Schritt, auch wenn sich der Horizont kontemplativer Übungen in unendliche Weiten dehnt, von unschätzbarem Wert ist.

Kontemplatives Forschen in unserer Zeit

Am 12. August 1904 schrieb Rainer Maria Rilke an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus über die Einsamkeit: «Und wenn wir wieder von der Einsamkeit reden, so wird immer klarer, dass das im Grunde nichts ist, was man wählen oder lassen kann. Wir sind einsam. Man kann sich darüber täuschen und tun, als wäre es nicht so. Das ist alles. Wie viel besser ist es aber, einzusehen, dass wir es sind, ja geradezu, davon auszugehen.»12

Kontemplatives Üben heißt unter anderem auch, sich in der Erfahrung der Einsamkeit zu üben. Damit sind weder Grübelei noch selbstbezogene Versonnenheit gemeint, sondern die Ausübung einer speziellen Form der Besinnung auf die Vergangenheit, Achtsamkeit in der Gegenwart und ein Vorstellen der Zukunft in einer Weise, die uns belebend und klärend zu Einsichten verhilft. Wir lernen, in rechter Weise einsam zu sein und unsere tief empfundene Einsamkeit selbstlos und dankbar in die Welt mit hineinzunehmen.

Deshalb ist es wichtig, feste Zeiten für Besinnung, kontemplative Übungen und Meditation freizuhalten. Das mögen dreißig Minuten am Morgen oder Abend sein – oder zu beiden Tageszeiten. Unabhängig von der Dauer wird sich diese Tätigkeit immer wieder eindrücklich als segensreich erweisen. Wenn wir uns beispielsweise darin üben, eine rechte Einstellung zu Gedanken und Gefühlen zu entwickeln, die uns beunruhigen und innerlich stark beschäftigen, so lernen wir dabei, uns richtige Urteile zu bilden und Denkweisen zu entwickeln, die uns in unserem Alltagsleben zugute kommen. Eine wütende Entgegnung, die sich normalerweise sofort auf unsere Lippen drängt, oder eine gewalttätige Reaktion, zu der wir uns in der unmittelbaren Begegnung mit einem Gegenspieler vielleicht hinreißen lassen, wird nun zurückgehalten. In der wiederholten inneren Auseinandersetzung haben wir die Dynamik schwieriger Situationen gründlich kennengelernt, und so wird uns die reale Situation nicht unvorbereitet und ungeschützt treffen. Wir entwickeln langsam das, was Daniel Goldman als «emotionale Intelligenz»13 bezeichnet. Ich werde später auf diesen und andere Vorzüge kontemplativer Übungen zurückkommen, hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass sie weit über die Übungszeit hinaus Früchte tragen.

Es ist durchaus nicht notwendig, dass wir ständig meditieren, und wir sollten dies auch keinesfalls versuchen. Die Zeit, die wir am Morgen oder Abend dafür freihalten, ist genau zu begrenzen. Trotzdem wird die förderliche Wirkung in allen Bereichen unseres Lebens und darüber hinaus auch für andere Menschen wohltuend zu spüren sein. Einen Zeitplan für kontemplative Übungen einzurichten, ist dabei ganz offensichtlich der erste Schritt. Doch gerade dieser wird sich in so manchem Fall als der schwierigste erweisen. Haben wir uns dann zur festgelegten Zeit am Ort unserer Wahl niedergelassen, so scheint mit schöner Regelmäßigkeit ein nicht beachtetes Mobiltelefon zu klingeln oder das Schreien eines geliebten Kindes gellt durch die frische Morgenluft und die geschlossene Tür. In solchen Momenten spüren wir die tiefere Bedeutung des sprichwörtlichen Aufruhrs, der sich mit unserem Einstieg in die Versenkung einstellt.

Gelingt es, dass wir uns über diese von außen oder aus unserem Inneren an uns herandringenden Zerstreuungen erheben, kann die den Übungen gewidmete Zeit grundlegende Veränderungen bewirken. Diese Zeit ist wertvoll, und wenn wir ihren Wert kennen und schätzen lernen, werden wir die dafür benötigte Zeit leichter in unser ausgefülltes Leben integrieren. Kontemplationsübungen schenken neue Kräfte und werden uns gewiss helfen, die Wogen des täglichen Lebens zu glätten, doch bieten sie noch weit mehr. Die Meditation führt uns zu Einblicken in die Welt und unser Inneres, die wir ohne sie gerne übersehen (wie zum Beispiel Unkonzentriertheit und Zerstreutheit, unerwünschte Gereiztheit und Ähnliches), und der Grad der Aufmerksamkeit, mit dem wir uns diesen Dingen nun zuwenden, wird sonst kaum erreicht. Wie oft bleiben die Schönheit dieser Welt und das Mysterium unseres Lebens unbeachtet. Indem wir einfach innehalten und unsere Aufmerksamkeit – sanft und doch bestimmt – auf diese vergessenen Dimensionen der Welt und unseres Lebens richten, erweisen wir einen Dienst, ja, wir erfüllen eine Pflicht damit. Unterbrechen wir denn nicht auch unsere Arbeit, um uns einem geliebten Kind zuzuwenden, selbst wenn wir sehr beschäftigt sind? Sollten wir nicht also ebenso innehalten, um den Weg in die Abgeschiedenheit innerer Ruhe und so zu einem wirklichen Anfang zu finden?

Wenn wir dies erkennen, tritt die Stille gleichberechtigt neben Klang und Laut, das Verharren in Ruhe als wesentlicher Bestandteil zur Geschäftigkeit hinzu. Jedem Partner dieser zwei Paare kommt eine wechselseitig ausgleichende und erdende Funktion zu. Eröffnet sich uns dann die sakrale Dimension, so gewinnen die Übungen an Bedeutsamkeit, und wir werden uns ihnen immer bereitwilliger zuwenden. Schließlich erkennen wir, dass nicht wir selbst, die Entwicklung unserer Persönlichkeit und das Streben nach Verbesserung Ziel und Zweck dieser Bemühungen sind. Kontemplation ist sehr viel objektiver und ihr Wert viel realer als zunächst angenommen. Die innere Aktivität, die bei der Meditation entfaltet wird, ist ein Wert an sich. Den ersten Schritt zu tun, ist nicht nur für uns von Bedeutung, sondern um seiner selbst willen.

Oft werden Meditationsübungen in der Gruppe, insbesondere unter Führung eines kompetenten Lehrers, dem wir vertrauen, als einfacher erlebt. Die Gegenwart anderer Menschen und die Kraft, die sie aufbringen, scheinen bei unseren eigenen Bemühungen mitzuschwingen, fangen deren Dürftigkeit auf und verleihen ihnen mehr Gewicht. Trotzdem ist die Meditation eine letztendlich für sich allein zu leistende Arbeit, die ganz ohne fremde Hilfe und Erleichterungen von jedem selbst erbracht werden kann und soll. Bei gemeinschaftlicher Meditation ist auf jeden Fall die Freiheit des Einzelnen in der Gruppe zu gewährleisten. Doch solange unsere Individualität geachtet wird oder, mit Rilkes Worten, solange unsere Einsamkeit respektiert und geschützt wird, kann sich die freie Gemeinschaft als wertvolle Hilfe bei unseren Bemühungen erweisen.

Einsamkeit ist nicht nur ein Schlüssel zum meditativen Leben. Tatsächlich ist sie, wie Rudolf Steiner einst erklärte und Rilke betonte, der herausragende Wesenszug unserer modernen Zeit. Und er wird sich in Zukunft immer stärker ausprägen.14 Für Rilke zeigt die Geburtsstunde der modernen Lyrik zugleich den Ursprung dieser Charakteristik an. In dem 1898 entstandenen Essay Moderne Lyrik verweist der dreiundzwanzigjährige Dichter auf das Jahr 1292 als Morgendämmerung der modernen Lyrik, die Geburt von dem, was wir unter Literatur und Dichtung verstehen. Das Ereignis, an dem Rilke dies festmacht, ist Dantes Veröffentlichung einer kleinen Gedichtsammlung mit dem Titel Vita nuova (Das erneuerte Leben), in der eine Beschreibung seiner nicht erwiderten Liebe zu Beatrice der Welt übergeben wird. Für Rilke künden Dantes Gedichte und seine auf sich allein gestellte Auseinandersetzung mit der Liebe den Eintritt der Einsamkeit als Grundzug des modernen menschlichen Bewusstseins an. «Seit den ersten Versuchen des Einzelnen, unter der Flut flüchtiger Ereignisse sich selbst zu finden, seit dem ersten Bestreben, mitten im Gelärm des Tages hineinzuhorchen bis in die tiefsten Einsamkeiten des eigenen Wesens, – gibt es eine Moderne Lyrik.»15

Wir sind also bereits «mitten im Gelärm des Tages» Einsiedler und werden dies noch lange bleiben. Als moderne Seelen sind wir «bis in die tiefsten Einsamkeiten des eigenen Wesens» berufen. Somit sollen wir diesen Tatbestand nicht leugnen, sondern annehmen und mit dieser Gewissheit voranschreiten. Geduldiges Üben wird uns helfen, die Stille, die wir alle in unserem Innern tragen, zu vertiefen. Überraschenderweise werden wir durch die Erfahrung der Einsamkeit zu tieferer Erfülltheit in unseren menschlichen Beziehungen finden, und wir werden eine neue Art der Liebe entwickeln, die zwischen den Einsamkeiten gedeiht. Statt uns zu isolieren, wird die Einsamkeit uns auf einer tiefer gehenden Ebene mit einem anderen Menschen verbinden, wie es zuvor nicht möglich war.16 Die Liebe, welche die Individualität – die Einsamkeit des anderen – schätzt und achtet, wird das Prinzip sein, nach dem sich dereinst auf Freiheit gegründete Gemeinschaften bilden werden.17 Einsamkeit und Liebe werden sich zunehmend als untrennbar erweisen.

Die Ausbildung von Tugend

Als meditative Lehrmethoden zur Schulung der Aufmerksamkeit erstmals aus Asien in die westliche Welt gelangten, war die Mossad, die israelische Version der CIA, eine der ersten Gruppierungen, die ihre Vorzüge erkannte und aufgriff. Der Nutzen der samadhi, der «auf einen Punkt gerichteten Aufmerksamkeit», lag für sie auf der Hand. Die Ziele, auf die sich ihre Aufmerksamkeit richtete, waren genau bestimmt. Seither haben viele Militärorganisationen, aber auch Basketballmannschaften und Unternehmen kontemplative Methoden zur Leistungssteigerung und Stressreduktion eingesetzt. Ich greife diesen Punkt hier nicht auf, um die Angemessenheit des Einsatzes der Meditation für die Kommandobefolgung zur Diskussion zu stellen (die Verbindung von Meditation und kriegerischer Handlung wird in der Kriegskunst schon sehr lange praktiziert), vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass keineswegs ein fester Zusammenhang zwischen Tugend und regelmäßig praktizierter Kontemplation besteht. Die Meditation und sogar meditative Fähigkeiten garantieren nicht automatisch, dass der Meditierende über eine gute moralische Urteilsfähigkeit verfügt oder nach ethischen Grundsätzen lebt.

Unzählige Geschichten aus allen Zeiten belegen dies. Der indische Weise Milarepa (um 1052  1135) soll seine wunderwirkenden psychischen Kräfte, die siddhis, dazu genutzt haben, einen habgierigen Pachtherrn, der seine Eltern unmenschlich behandelt hatte, zu vernichten. Schwierigkeiten im Umgang mit dem Zorn waren offensichtlich auch unter den Lehrmeistern lange ein Thema. In den letzten Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass fast jede spirituelle Strömung entweder von finanziellen oder sexuellen Skandalen heimgesucht worden ist. Auch erfahrene Lehrer mit den besten Absichten sind gegen solche Versuchungen nicht gefeit. All dies verweist auf eine grundlegende Wahrheit, nämlich die, dass sich die Ausübung der Meditation, wenn sie positiv für diese Welt wirken soll, auf zusätzliche Bemühungen um eine moralische Entwicklung gründen muss. In der buddhistischen Überlieferung wird dies sila oder «Tugend» genannt und als der Eckpfeiler des «edlen achtgliedrigen Pfades» betrachtet. Nach dieser Überlieferung wird das Praktizieren rechter Rede, rechten Tuns und rechten Lebens als grundlegend für eine moralische Entwicklung angesehen. Wer eine Unterweisung im Rahmen der buddhistischen Überlieferung aufnimmt, muss ethische Vorschriften oder Regeln beachten: fünf sind es für den Laien und 227 für einen geweihten Mönch.

Heute empfinden wir die strenge Befolgung von Vorschriften, mögen sie noch so umsichtig formuliert und wohlgemeint sein, zu Recht als Verletzung unserer Autonomie. Auch wo wir moralische Führung zu schätzen wissen, sind wir doch selbst die letzte Instanz jeder moralischen Bewertung. Gelingt es uns, die Wogen unserer Emotionen zu glätten, werden wir in jeder Situation die richtige Entscheidung klar erkennen können. Als die Mystikerin Marguerite Porete im Mittelalter über die Tugenden schrieb: «Ich verabschiede mich von euch», wurde sie als «freigeistige Ketzerin» auf dem Scheiterhaufen verbrannt.18 Sie bekräftigte ihre Ansicht mit der zukunftsweisenden Aussage, dass ihre Liebe zu Gott hinreichende Führung für ihr Leben sei, und zitierte die berühmten Worte des heiligen Augustinus: «Liebe nur, und dann tue, was du willst.»Doch konnte ihr auch diese Berufung auf ihren angesehenen Vorgänger keine Hilfe bringen. Nach kirchlicher Meinung musste sich dort, wo jeder seiner eigenen Vorstellung von Gut und Böse folgen würde, zwangsläufig Chaos einstellen. Auch wenn wir diese Angst durchaus verstehen können, scheint es für uns heute keine Frage zu sein, dass die moralischen Vorbedingungen für die Kontemplationsausübung nicht von außen gesetzt werden können und dies auch nicht notwendig ist. In gewisser Weise sind wir alle Freigeister und Ketzer – oder sollten es doch sein.

Statt Regeln zu befolgen, kann der Meditationsschüler verschiedene Grundstimmungen oder Haltungen pflegen, die zur Ausbildung von Tugenden führen. Wenn der Übung eine solche Stimmung oder Haltung zugrundeliegt, spüren wir ein solides moralisches Fundament. Die erste Stimmung ist die Demut. Steiner bezeichnet die Demut als das Tor, durch das der Meditierende treten muss.19 Sie bringt uns dazu, von egoistischen Interessen abzusehen und den hohen Wert des anderen anzuerkennen. Demut führt uns weiter auf den «Pfad der Verehrung». Hiermit ist nicht die Verehrung einer Person gemeint, sondern eine solche gegenüber den hohen Prinzipien, die wir in uns aufzunehmen suchen. Die Grundstimmungen Demut und Verehrung schließen jeglichen Egoismus und damit die Ursache vielfältiger moralischer Verirrungen aus.

Wie können wir am Beginn der Übung zu einer solchen Haltung finden? Auch in diesem Punkt ist die Individualität des Einzelnen zu berücksichtigen. Was dem einen helfen mag, wird anderen zum Hindernis. Für den mittelalterlichen Mystiker war das Gebet eine sichere Eintrittspforte. Diese Meditierenden benutzten Bibelworte, um Demut und Andacht in sich zu fördern. Das tun auch heute nicht wenige Menschen. Für andere aber ist das Gebet über die gedankliche Verbindung zur traditionellen Religion so vorbelastet, dass es sich verbietet. Viele gelangen leichter über Staunen und Ehrfurcht angesichts der Natur auf den Pfad der Demut und Verehrung. Wenn wir uns den nächtlichen Sternenhimmel oder die blaue Himmelskuppel vergegenwärtigen oder auch einen persönlichen Rückzugsort, wie einen besonderen Fels, einen Baum oder ein Flussufer, so kann uns dies helfen, zum Tor der Demut und auf den Pfad der Verehrung zu finden.

Bei vielen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, konnte ich eine unmittelbare Freude und tiefe Ruhe spüren, wenn sie bei ihrer Versenkung in die Natur oder das Gebet auf den inneren Andachtsort trafen. Oft wollten sie dann dort verweilen, um ihre Andacht zu vertiefen, und dies nicht nur als einen Schritt auf ihrem Weg zu kontemplativem Forschen, sondern als eigenständige Übung ausführen. Ich werde später auf diese Möglichkeit zurückkommen, hier aber möchte ich zunächst einmal die von Demut, Verehrung und Andacht ausgehende Kraft hervorheben und feststellen, dass die Meditation mit diesen Haltungen auf ein sicheres moralisches Fundament gestellt wird. Mit ihrer Ausbildung üben wir zugleich Tugend. Jede Meditation sollte mit dem Eintritt durch das Tor der Demut und dem Aufsuchen des Pfads der Verehrung beginnen.

Inneres Wohlbefinden

Wenn wir uns zum ersten Mal von äußeren Aktivitäten zurückziehen und unserem Bewusstsein zuwenden, erstaunen wir angesichts des vorherrschenden Durcheinanders scheinbar aus dem Nichts hereinschießender Gedanken. Unser innerer Terminkalender meldet unversehens drei dringendst zu erledigende Aufgaben, die unbedingt notiert werden müssen, bevor wir sie vergessen. Oder unsere Gedanken wenden sich einer nicht weit zurückliegenden Auseinandersetzung mit dem Ehepartner zu und einem leider nicht angebrachten Argument … und so fort. Zunächst wird uns die bloße Vorstellung, dass in unserem Bewusstsein Ruhe und Klarheit herrschen können und wir unsere Gedanken kontrollieren, als äußerst fernliegende Aussicht erscheinen, wenn nicht überhaupt als unmöglich. Lang vergessene oder unterdrückte Gefühle tauchen wieder auf. Gedanken scheinen unbändige Lebenskraft zu haben und mittels einer höchst eigenwilligen assoziativen Logik immerzu neue Gedanken hervorzubringen. Bei einem solchen Zustand des Gedankenlebens wird von der Meditation nicht viel zu erwarten sein. Darum muss es unsere erste Aufgabe sein, ein mentales und emotionales Gleichgewicht zu erarbeiten, also einen Zustand inneren Wohlbefindens herzustellen. Man kann dies als innere Hygiene betrachten. Es handelt sich hier um einen wesentlichen, wiederkehrenden Bestandteil der Übungen, den wir immer brauchen werden.

Systematische Zuordnungen mentaler Leiden und negativer Emotionen finden sich sowohl in der westlichen wie in der buddhistischen Psychologie. Im Buddhismus werden sage und schreibe vierundachtzigtausend verschiedene negative Emotionen erwähnt! Und doch lassen sich alle diese vierundachtzigtausend auf fünf grundlegende Emotionen reduzieren: Hass, Begierde, Verblendung, Stolz und Neid.20 Eine andere nützliche Methode, Störungen einzuordnen, basiert auf dem Bild eines dreifachen inneren Lebens des Menschen: Denken, Fühlen und Wollen. Pathologische Neigungen sind in jedem dieser Bereiche anzutreffen, der Meditierende kann sie wahrnehmen, und es können entsprechende Übungen dazu angegeben werden. Unsere erste Maßnahme betrifft also Übungen, die geeignet sind, derartige Störungen aufzufangen. Davon gibt es sehr viele, einige werde ich im dritten Kapitel angeben, hier jedoch möchte ich eine Übung beschreiben, die auf Rudolf Steiner zurückgeht und Achtsamkeit für unser Gefühlsleben betrifft.21

Normalerweise betrachten wir Erfahrungen, Gefühle und Gedanken aus unserer Innenperspektive. Wir identifizieren uns mit ihnen. Sie gehören zu uns und wir zu ihnen. Wir sind eingebunden in unsere Gefühle und Gedanken und erleben sie als Träger unserer Persönlichkeit oder unseres Selbst. Eine solche Selbsterfahrung ist eine Täuschung und führt zu Schwierigkeiten. Deshalb wurde die erste Übung eigens so gewählt, dass sie uns eine Distanz zu unseren persönlichen Erfahrungen verschafft und uns in die Lage versetzt, sie von außen zu bedenken und aus einem neuen Blickwinkel heraus anzugehen. Diese neue, übergeordnete Perspektive zu entdecken ist nicht immer einfach; haben wir aber erst einmal herausgefunden, wie wir dorthin gelangen, kann sich der schmale Pfad emotionaler Gelassenheit auftun und uns ermöglichen, die heftigsten alltäglichen Gefühlsverstrickungen von dem aus der Meditation vertrauten Blickwinkel mit Würde zu betrachten. Einleitend möchte ich dazu eine Episode aus dem Leben des amerikanischen Menschenrechtlers Dr. Martin Luther King Junior wiedergeben.

Während seines langjährigen Einsatzes für die Rechte der Schwarzen in Amerika plädierte Martin Luther King unermüdlich für Gewaltlosigkeit bei allen Bemühungen, auf die Unterdrückung der Schwarzen, insbesondere im Süden, aufmerksam zu machen. Er erhielt viele Drohbriefe und erlitt eine Reihe von Mordanschlägen. Einmal wurde ein Bombenanschlag auf sein Haus in Montgomery, Alabama, verübt, während er bei einer Versammlung in der Kirche eine Rede hielt.22 Das Vordach und die Straßenseite des Hauses wurden dabei schwer beschädigt. Seine Frau Coretta und die Tochter Yoki hielten sich zu der Zeit im hinteren Teil des Hauses auf, und so wurde niemand verletzt. Bis zu Kings Eintreffen hatte sich eine aufgeregte Menge Hunderter schwarzer Nachbarn versammelt, die zum Vergeltungsschlag gegen die anwesende Polizei ausholen wollte. Ein Anschlag war auf ihren geliebten und verehrten Anführer und seine Familie verübt worden. Angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass es zu Rassenunruhen kommen würde, bat die Polizei King, das Wort an die Menge zu richten. King trat auf die Überreste der Veranda, und als er die Hände erhob, wurden alle still. Er sagte: «Wir glauben an Recht und Ordnung. Unterlasst jedwede panische Reaktion. Keiner soll seine Waffe holen. Wer durch das Schwert lebt, wird durch das Schwert umkommen. Vergesst nicht, dass Gott dies gesagt hat. Wir treten nicht für Gewalt ein. Wir wollen unsere Feinde lieben. Ich möchte, dass ihr unsere Feinde liebt. Seid gut zu ihnen. Liebt sie und zeigt ihnen, dass ihr sie liebt. Ich habe nicht zu diesem Aufstand aufgerufen. Ihr habt mich darum gebeten, euer Sprecher zu sein. Jedermann, überall in diesem Land soll wissen, dass diese Bewegung nicht mit meinem Tod aufhört. Unser Einsatz wird nicht mit meinem Leben aufhören. Denn was wir tun, ist richtig. Was wir tun, ist gerecht. Und Gott ist mit uns.»

Als King geendet hatte, antwortete die Menge mit «Amen» und «Gott segne dich», und ein jeder ging friedlich nach Haus. Viele weinten. Gewiss hatte King angesichts des Anschlags auf seine Familie und sein eigenes Leben ebenso Zorn empfunden wie sie, und doch war es ihm möglich gewesen, einen inneren Standpunkt einzunehmen, von dem aus er sich in Wort und Tat dafür einsetzen konnte, Hass nicht mit Hass zu vergelten, sondern dem Hass Liebe entgegenzusetzen.

Jeder von uns wird in seinem Leben vergleichbare Verletzungen erleben. Und auch wenn sie weit weniger dramatisch sind, können sie doch lange Phasen zornigen Brütens und innerer Unruhe einleiten. Die Übung beginnt damit, dass wir aus unseren persönlichen Erfahrungen eine auswählen, die Anlass zu Hass, Eifersucht, Begierde, Zorn etc. gegeben hat. Die Begebenheit sollte eine starke Reaktion hervorrufen, ohne uns zu überwältigen, und sie sollte etwas weiter zurückliegen. Wenn wir dann unseren Weg durch das Tor der Demut auf den Pfad der Verehrung gefunden haben, durchleben wir die gewählte Begebenheit noch einmal. Dabei ist es wichtig, dass wir auch die mit ihr verbundenen negativen Emotionen (Begierde, Stolz, Zorn usw.) wieder in uns aufsteigen lassen. Wir sollen die Macht, mit der sich diese Gefühle in uns regen, spüren und erleben, wie ein Sog daraus entsteht, der uns schnell wieder in die dunkle, ungezügelte Gefühlsaufwallung der ursprünglichen Situation hineinziehen kann, wenn wir nicht lenkend eingreifen. Nur wenn wir diesen Gefühlen auch Raum geben, werden wir bei unserer Übung dahin kommen, sie zu überwinden und die Situation in einem neuen Licht betrachten zu können. Während die Gefühle langsam von uns Besitz ergreifen, vergleichbar dem Aufmarsch von Martin Luther Kings erzürnten Nachbarn, suchen wir in unserem Innern nach einem höheren Ort, nach